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Treibgut
Teil 4 - Atemholen
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Informationen
- Story: Treibgut
- Autor: Patrick Kenzie
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama
Inhaltsverzeichnis
Kapitel VII
Zufrieden wälzte sich Hannes auf den Rücken. Sein Kopf war wunderbar leer. Wie immer nach gutem Sex.
Der Junge neben ihm lag einfach nur da und starrte ins Leere. Hannes schätzte ihn auf 16 oder 17. Sein Gesicht war sehr blass und das Auffallendste an ihm waren die blonden, kurzen Haare, die mit jeder Menge Gel in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden.
Hannes zündete sich eine Zigarette an und versuchte sich dabei an den Namen des Jungen zu erinnern, den er gerade gevögelt habe. Irgendwas mit A... Andreas vielleicht.
Sah er aus wie ein Andreas?
Eigentlich nicht.
Egal. Es spielte keine Rolle.
Genussvoll blies er den Zigarettenrauch gegen die Zimmerdecke. Dünne, metallisch-blaue Schwaden tanzten im fahlen Licht der Deckenlampe und verschwanden dann im Zwielicht des übrigen Zimmers. Er liebte diese leere Stille nach dem Sex. Er dachte an nichts mehr, genoss nur die letzten, elektrisierenden Wellen des Orgasmus, die seinen Körper durchliefen. In diesen Momenten gab es kein Gestern und kein Morgen. Er lebte nur noch im Jetzt, ging darin auf und die Sekunden dehnten sich um ihn herum. Als der köstliche Moment langsam zu Ende ging, seufzte er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
Der Junge stand auf und begann seine Sachen zusammenzusuchen. Hannes beobachte ihn ein paar Sekunden lang und stellte überrascht fest, dass ihn der Junge irgendwie an Tom erinnerte. Schnell schob er den Gedanken beiseite.
„Warte“, sagte er leise aber bestimmt.
Blondie hörte sofort auf und sah ihn verängstigt an. So als würde er sich fragen, was da noch kommen konnte. Hannes kannte diesen Blick. Hatte ihn schon bei vielen seiner Schützlinge gesehen. Manchmal genoss er ihn und manchmal machte er ihn wütend. Aber diesmal war es anders. Diesmal fühlte er sich schuldig.
„Lass uns noch ein paar Minuten reden.“
Panik kroch in die wässrig-blauen Augen des Jungen, als er sich neben Hannes auf das Bett setzte. Er vermied jeden Blickkontakt und starrte auf seine Füße wie ein verdammtes Schulkind.
„Wie heißt du?“ Hannes bemühte sich, seine Stimme ganz ruhig klingen zu lassen.
„Alex“, antworte Blondie leise.
„Sieh mich an, Alex.“ Nach kurzem Zögern hob Alex den Blick und sah Hannes in die Augen. Er sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Bei dem Anblick verkrampfte sich Hannes’ Magen zu einem zähen Klumpen.
„Wie lange bist du schon bei uns?“
„Seit einem halben Jahr.“ Blondies Stimme zitterte und wechselte wild durch diverse Oktaven.
„Und wieso bist du zu uns gekommen?“
„Die Pflegefamilie, bei der ich vorher war, wollte mich nicht mehr.“
„Und wieso nicht?“
Blondie zuckte mit den Schultern.
„Einfach so.“
Hannes sah ihn fest und abschätzend an.
„Nein …“, sagte er dann leise, „… nicht einfach so. Irgendwas ist passiert, oder? Was war los?“
Der Junge starrte weiter auf seine Füße.
„Es war ein Missverständnis.“
„Ein Missverständnis?“
„Sie haben gedacht, dass ich sie beklaut habe.“
„Und? Hast du?“
Alex schüttelte energisch den Kopf.
„Nein. Das war Frank, ihr richtiger Sohn. Aber das haben sie mir nicht geglaubt.“
„Nein, natürlich nicht“, meinte Hannes. „Und weißt du auch wieso?“
Wieder schüttelte der Junge den Kopf.
„Weil sie dann einsehen müssten, dass sie selbst Scheiße gebaut haben. Sie hätten zugeben müssen, dass sie einen Bastard in diese Welt geboren haben, der seine eigenen Eltern beklaut. Die meisten Leute können das nicht. Also gibt man Leuten wie uns die Schuld. Von uns erwartet man sowieso nichts anderes. Wir sind der Abschaum, die Ausgestoßenen. Wir sind längst nicht mehr Teil dieser wunderbaren, neuen Welt, mein Junge.“
Alex schaute ihn voller Angst und Unverständnis an. Hannes seufzte leise. Was hatte er denn auch erwartet?
„Du kannst jetzt gehen, Alex.“
Blondie stand ohne ein Wort auf, zog sich an und verschwand. Wie ein Geist. Nichts blieb zurück. Nichts erinnerte an ihn. Es war fast so als wäre er nie hier gewesen und Hannes lag wieder alleine im Bett. Er fühlte sich zugleich befriedigt und unbefriedigt. Der Sex war gut gewesen. Keine Frage. Aber irgendetwas hatte gefehlt. Etwas das er bisher nur ein Einziges mal gespürt hatte. Und das ausgerechnet bei Tom.
Selbstvergessen fuhr er mit der Hand über die lange Narbe auf seiner Wange. Ein Wirrwarr aus Gefühlen machte sich in seinem Magen breit und schnürte ihm die Kehle zu. Da mischte sich Wut mit Sehnsucht. Und Hoffnung verband sich mit verletztem Stolz zu einem unentwirrbaren Knäuel. Dieser Mistkerl. Hannes schüttelte den Kopf und lächelte ein grimmiges Lächeln. Dieser wunderbare Mistkerl.
Er stand auf und trat nackt an das offene Fenster. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf den See und die dahinter liegenden Berge. Ein riesiger, gelber Mond war gerade aufgegangen und spiegelte sich in dem tiefschwarzen Wasser. Der Anblick war atemberaubend. Hannes sog die kräftige Spätsommerluft tief in seine Lungen.
Er würde ihn finden. Er würde Tom nach Hause bringen. Und wenn es das Letzte war, das er tat.
Kapitel VIII
Es war das Ende der Welt.
Dicke Regentropfen prasselten aus einem tiefschwarzen Himmel. Unablässig zuckten Blitze zwischen den riesigen Wolkenbergen und fuhren hasserfüllt auf die Erde nieder. Der ohrenbetäubende Donner folgte nur Sekundenbruchteile später. Tom spürte ihn mehr, als er ihn hörte. Spürte ihn tief in seinem Bauch. Als wäre sein Körper eine einzige Trommel. Er stand am Geländer des alten Parkhauses, hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und starrte auf den aufgewühlten Fluss hinaus. Die Bäume, die das Ufer säumten, bogen sich wie Grashalme im Sturm. Über ihm trommelte der Regen sein wahnwitziges Stakkato auf das oberste Parkdeck und der Wind heulte wütend durch das verlassene Gebäude.
Daniel trat von hinten an ihn heran und legte seine Arme um ihn. Tom spürte seine Wärme und sein wundervoller Geruch stieg ihm in die Nase. Zufrieden lehnte er sich ein wenig zurück und kuschelte sich in Daniels Umarmung. Er fühlte sich als wäre er Jahre lang unterwegs gewesen und jetzt endlich nach Hause kommen. So ein Gefühl der Geborgenheit hatte er vorher noch bei keinem Menschen kennengelernt.
„Fantastisch, oder?“, fragte Tom. Er musste fast schreien, um gegen den Lärm anzukommen.
„Ja.“ Daniel umarmte ihn ein wenig fester. „Das ist es.“
So standen sie ein paar Minuten am Geländer und genossen das Ehrfurcht gebietende Naturschauspiel.
Seit zwei Tagen waren sie jetzt in diesem alten Parkhaus, das direkt am Fluss lag. Tom hatte sich an den Bau erinnert, war sich aber nicht sicher gewesen, ob er noch stand. Benutzt wurde er auf jeden Fall schon lange nicht mehr. Und sie hatten Glück gehabt. Anscheinend wollte niemand für den Abriss bezahlen und so ließ man es einfach stehen. Vorsichtig hatten sie das Gebäude erkundet. Deck für Deck. Überall blätterte die Farbe von den Wänden und an einigen Stellen sickerte Wasser durch fingerdicke Risse in der Decke. Schließlich hatten sie sich ganz oben, im ersten überdachten Parkdeck häuslich eingerichtet. Außer ein paar Ratten und einigen Skatern, die ab und zu die unteren Decks in Beschlag nahmen, waren sie die einzigen ‚Bewohner’.
„Sieht so aus, als würde es langsam nachlassen“, meinte Daniel.
Tom nickte zustimmend. Die Blitze kamen seltener und jetzt vergingen mehrere Sekunden bis sie den Donner hörten. Der Regen glich allerdings noch immer einer Sintflut.
„Ich hab Hunger. Lass uns mal schauen, was noch zu Essen da ist.“
Tom befürchtete, dass das nicht mehr allzu viel sein würde, sagte aber nichts.
Gemeinsam gingen sie zu ihrem Lager, das sie in einer kleinen Nische neben dem Eingang zum Treppenhaus aufgeschlagen hatten. Dort lagen ihre Isomatten und ihre Rucksäcke auf dem harten Betonboden.
Daniel kramte gerade in seinem Rucksack nach etwas Essbarem, als sich Toms Nackenhaare aufstellten und sich sein Magen verkrampfte.
Irgendwas stimmte nicht. Er konnte es fühlen. Konnte es schmecken. Nervös sah er sich um. Zuerst dachte er, dass ihm seine Einbildung einen Streich gespielt hatte. Doch dann sah er ihn. Im grauen Dämmerlicht des Parkdecks kam eine Gestalt auf sie zu. Es war nur ein Schatten, aber an der Bewegung konnte man erkennen, dass es ein recht kräftiger Mann sein musste. Ohne Eile spazierte er auf Tom und Daniel zu. Er war noch etwa 50 Meter entfernt, als Tom aufstand und ein paar Schritte auf ihn zuging.
„Kann ich Ihnen helfen?“, rief er.
„In der Tat. Das kannst du.“ Tom erkannte die Stimme sofort. Hannes hatte sie gefunden. Keine Ahnung wie, aber er hatte sie gefunden. Er wirbelte herum und sah gerade noch wie Lukas hinter Daniel auftauchte.
„Pass auf!“, schrie er. Aber es war zu spät. Lukas packte seinen Freund und drehte ihm brutal den Arm auf den Rücken. Daniel verzog das Gesicht vor Schmerz, aber er schrie nicht. Tom konnte seinen Schmerz beinahe fühlen, als wäre es sein eigener.
„Ich denke es wird Zeit, dass wir alle nach Hause gehen. Findest du nicht?“ Tom drehte sich wieder zu Hannes um. Der ging noch immer ganz gemächlich auf ihn zu und genoss den Augenblick seines Triumphes in vollen Zügen. Ein Blitz erhellte die Szene für einen Sekundenbruchteil und Tom sah den zufriedenen, selbstgefälligen Ausdruck auf Hannes Gesicht.
Jetzt musste er sich schnell entscheiden. Unter seinem T-Shirt spürte er das beruhigende Gewicht des Jagdmessers, das er praktisch nie ablegte. Sie waren nur zu zweit. Vielleicht hatte er eine Chance. Er war gut mit dem Messer!
„Du bist so ruhig, Tom.“ Hannes Stimme war voller schmieriger Überheblichkeit und breitete sich wie ein Ölfilm in dem Parkdeck aus. „Freust du dich denn gar nicht mich zu sehen?“
Ein leises Klirren ließ Tom herumfahren. Kevin, einer der älteren Jungs in dem Heim und ein echtes Arschloch, stand am Eingang zum Treppenhaus und lächelte ihn an. In seinem Hosenbund steckte ein silbern-glänzender Revolver.
Toms Mut sank. Jetzt konnte er es vergessen. Wie hieß es so schön: Nur ein Idiot kommt mit einem Messer zu einer Schießerei.
Doch welche Möglichkeiten hatte er noch?
Abhauen? Er wollte Daniel auf keinen Fall zurücklassen, aber wenn er nichts tat, waren sie beide dran. Und Gott allein wusste, was Hannes dann mit ihnen machen würde. Und wo sollte er überhaupt hin? Es gab da eigentlich nur eine Richtung und die gefiel ihm überhaupt nicht.
„Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass ich so einfach mitkomme, oder?“, fragte Tom.
Das Lächeln auf Hannes’ Gesicht wurde etwas breiter.
„Ich glaube, dass du keine andere Wahl hast.“
„Es gibt immer eine Wahl.“
Voller Schmerz sah er noch mal zu Daniel.
„Es tut mir leid, Kleiner“, sagte er leise. Dann rannte er los.
Er sprintete mit voller Kraft auf das Geländer zu, an dem er vorher gestanden war. Ohne abzubremsen sprang er ab und katapultierte sich vom Geländer noch höher in die Luft. Alles lief plötzlich wie in Zeitlupe ab. Hinter sich hörte er Daniel schreien und er spürte einen scharfen Schmerz, der sein rechtes Bein durchbohrte.
‚Dieser Scheißkerl hat auf mich geschossen!’, dachte er wütend. Dann fiel er. Fiel in Zeitlupe durch eine wutentbrannte, graue Welt.
Das Wasser traf ihn wie eine Mauer, stauchte seinen ganzen Körper zusammen und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Panisch versuchte er wieder an die Oberfläche zu kommen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er endlich prustend auftauchte. Er schaute sich um und bemerkte, wie stark die Strömung hier eigentlich war. Der Fluss war durch den starken Regen der letzten Tage angeschwollen und breiter als sonst. Aber er wusste genau: nur wenn er das andere Ufer erreichte, hatte er eine Chance zu entkommen. Also begann er zu schwimmen. Sein Bein schmerzte bei jeder Bewegung und das Wasser war saukalt. Nach einer Viertelstunde hatte er etwa die Mitte des Flusses erreicht und musste sich kurz ausruhen. Der Regen trommelte unaufhörlich auf seinen Kopf und seine Augen brannten von dem dreckigen Wasser.
Daniel! Der Gedanke an seinen Freund fuhr ihm wie ein Messer in den Bauch. Er hatte Daniel alleine gelassen. Schlimmer noch: Er hatte ihn bei Hannes gelassen.
Nein. Darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Erstmal musste er das Ufer erreichen. Das war alles, was zählte. Langsam schwamm er weiter. Die Strömung hatte ihn sicher schon mehrere Kilometer abgetrieben. Doch das war nur gut, denn dann würden sie ihn nicht so schnell finden.
Mit letzter Kraft erreichte er schließlich das flache Ufer, das hier aus groben Kieselsteinen bestand. Völlig erschöpft lag er auf dem Rücken und versuchte zu Atem zu kommen. Vor seinen Augen tanzten schwarze Flecken und sein Bein fühlte sich an, als würde ein glühendes Stück Eisen darin stecken. Dicke Tropfen prasselten auf ihn herab und der Wind zerrte an seinem schmächtigen Körper. Schließlich fing er an zu weinen und seine Tränen mischten sich mit dem Regen auf seinem Gesicht. Seine Welt schien ein einziger, alles verzehrender Schmerz zu sein.
„Tom!“, er richtete sich auf und blickte um sich. Der Strand war verlassen. Aber irgendwer hatte gerade seinen Namen gerufen.
„Tom!“ Martin schüttelte seine Schulter. „Wach auf!“
Langsam kämpfte sich Tom aus seinen Träumen und blinzelte in Martins Gesicht.
„Na endlich“, sagte Martin mit einem Lächeln. „Mann, wenn du schläfst, dann schläfst du richtig.“
Tom fuhr sich mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht.
„Oh Mann! Das war heftig“, murmelte er.
„Was hast du denn geträumt?“
Tom setzte an, zögerte dann aber. Er wollte ihm das nicht erzählen. Nicht jetzt.
„Irgendeinen Scheiß. Ich kann mich selbst nicht mehr genau erinnern“, antwortete er schließlich.
Martin setzte sich neben ihn auf die Couch und sah ihn amüsiert an.
„Na ja, du hast auf jeden Fall ziemlich um dich geschlagen und vor dich hin gebrabbelt.“
„Ja, das kommt vor. Danke, dass du mich geweckt hast.“
Im gelben Licht der Couchtischlampe musterte Tom das Gesicht seines Gastgebers. Martin sah müde aus, aber er hatte ein gutes Gesicht. Hart und verschlossen, aber darunter lag viel Güte. So einen großen Bruder hätte Tom gerne gehabt. Vielleicht wäre dann Vieles anders gelaufen.
„Wie spät ist es eigentlich?“
Martins Blick ging über Toms Schulter zu der Uhr, die an der Wand hing.
„Viertel nach drei.“
„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe“, meinte Tom schuldbewusst.
„Hast du nicht. Ich konnte sowieso nicht schlafen. Ich bin es nicht gewohnt, Gäste zu haben. Du bist der Erste, der hier schläft.“
„Ich fühle mich geehrt, aber wieso?“
Martin zuckte mit den Schultern, als hätte er keine Ahnung. Doch Tom sah, wie sich ein Schatten über sein Gesicht legte.
„Ich mag Menschen nicht besonders.“
‚Da sind wir schon zwei’, dachte Tom bitter, aber laut fragte er:
„Menschen im Allgemeinen?“
Martin nickte.
„Menschen im Allgemeinen.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Aber ab und zu gibt es ein paar Ausnahmen …“
„Ja, die gibt es“, stimmte ihm Tom zu, „Zum Glück.“
Für ein paar Sekunden sagte keiner der beiden ein Wort. Aber das Schweigen, das zwischen ihnen im Raum hing, war nicht unangenehm. Irgendwie schien es dem Gesagten Nachdruck zu verleihen.
„Wieso hilfst du mir?“
Wieder zuckte Martin mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht.“
„Du lügst“, stellte Tom sachlich fest.
„Warum ist das denn so wichtig? Was spielt es für eine Rolle, warum ich das tue.“
„Es spielt eine Rolle für mich. Ich würde es einfach gerne verstehen.“ Tom machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu. „Ich würde dich gerne verstehen.“
Martin seufzte genervt. Er schloss die Augen und massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel.
„Sagen wir einfach: Du erinnerst mich an jemanden, den ich vor sehr langer Zeit gekannt habe“, sagte er dann ruhig und stand auf.
„An wen?“, fragte Tom vorsichtig.
Martin hatte ihm den Rücken zugedreht und Tom rechnete eigentlich nicht mehr mit einer Antwort. Doch nach ein paar Sekunden meinte er:
„An mich.“
Damit war für ihn die Unterhaltung beendet und er ging an Tom vorbei nach hinten.
„Gute Nacht, Tom.“
„Gute Nacht.“
Kapitel IX
Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Unruhig wälzte sich Tom hin und her. Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf und jagten sich gegenseitig wie auf einer Autobahn.
Wie es wohl Daniel jetzt ging? Was hatte Hannes mit ihm gemacht? Wie konnte er ihn da wieder rausholen?
Er musste ihn befreien. Schließlich war es seine Schuld, dass er in der Scheiße saß. Zumindest redete er sich das ein. Immer wieder und wieder spielte Tom in Gedanken jenen Abend im Parkhaus durch. Hätte er irgendetwas anders machen können? Was wäre passiert, wenn er geblieben wäre?
Tausend Fragen und keine Antworten.
Doch das spielte keine Rolle mehr. Er konnte sowieso an dem Geschehenen nichts mehr ändern. Es war jetzt nur noch wichtig, wie er Daniel befreien konnte.
Aber wie sollte er das anstellen? Er konnte Hannes nichts im Austausch anbieten. Sein einziger Joker in diesem beschissenen Spiel waren die Beweise, die er gesammelt hatte. Nur lagen die dummerweise bei Hannes zu Hause auf dem Dachboden. Das hieß, dass er absolut nichts in der Hand hatte.
Wie er es auch drehte und wendete, es lief immer darauf hinaus, dass er sich die Beweise besorgen musste. Und das bedeutete, dass er wieder in die Höhle des Löwen zurück musste. Das wäre schon unter normalen Umständen eine Herausforderung. Aber Hannes rechnete mit seinem Besuch und hatte sicher schon entsprechende Vorbereitungen getroffen. Und mit seinem Bein war er auch noch gehandicapt. So sehr er auch nachdachte, die ganze Aktion roch verdächtig nach Selbstmordkommando. Nach einer weiteren Stunde sinnlosen Nachdenkens forderte der anstrengende Tag seinen Tribut und Tom schlief endlich wieder ein.
Als er erwachte schien die Sonne bereits durch die großen Dachfenster und der wunderbare Duft von frischem Kaffee durchzog die Wohnung. Tom schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief ein. Jetzt, genau in diesem kurzen Moment, war seine Welt in Ordnung. Er dachte nicht an Gestern; dachte nicht an Morgen. In diesem wunderbaren Augenblick war er einfach nur. War nur da. Lag auf einem weichen Polster, zugedeckt mit einer kuscheligen Decke und roch frischen Kaffee. In einer Welt voller Unzulänglichkeit, in einem Leben voller Entbehrungen kam dieser eine Moment der Perfektion ziemlich nahe.
Zufrieden seufzte Tom und schlug die Augen auf. Er streckte sich und richtete sich auf.
„Guten Morgen“, kam es fröhlich aus der Tiefe der Wohnung.
Tom rieb sich verschlafen die Augen und sah Martin an dem langen Esstisch sitzen. Es war ein Bild, das ihn an seinen perfekten Moment erinnerte. Martin hatte eine riesige Tasse dampfenden Kaffee in der Hand, vor ihm lag die Morgenzeitung auf dem Tisch und er lächelte Tom amüsiert an.
„Morgen“, sagte Tom und gähnte herzhaft. „Wie spät ist es denn?“
„Halb Zehn“, antwortete Martin. „Willst du auch Kaffee?“
„Oh ja, auf jeden Fall.“ Noch etwas schlaftrunken stand Tom auf und tapste zu Martin an den Tisch.
„Setz dich erstmal.“
Tom konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so ein schönes und ausgiebiges Frühstück hatte. Es gab Eier und Speck, Toast und Nutella und der Kaffee war der beste, den Tom je getrunken hatte.
„Ich hab gestern lange nachgedacht“, fing Tom nach ein paar Minuten des Schweigens an.
Martin faltete die Zeitung zusammen und schaute ihn gespannt an.
„Ich muss die Beweise aus dem Heim holen. Ich brauche irgendwas, das ich Hannes im Austausch für Daniel anbieten kann.“
Martin nippte an seinem Kaffee und ließ Tom nicht aus den Augen. Aber er sagte nichts.
„Was denkst du?“
„Ich denke, dass es einfachere Wege gibt, wenn du dich umbringen willst.“
„Du bist also nicht begeistert von dem Plan.“
„Das kommt darauf an, was du damit erreichen willst. Wenn du erreichen willst, dass Hannes euch beide in die Finger kriegt, dann ist das ein perfekter Plan.“
Langsam war Tom genervt von Martins herablassender Art.
„Und was würdest du vorschlagen? Wie soll ich Daniel da rausholen.“
„Wir“, meinte Martin ruhig.
„Was?“
„Nicht du. Wir. Wie sollen wir Daniel da rausholen.“
Tom sah seinen neuen Freund lange über den Frühstückstisch hinweg an und schüttelte dann den Kopf.
„Nein. Ich kann dich da nicht mit reinziehen. Das ist nicht dein Problem.“
„Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber ich stecke schon mitten drin. Es geht jetzt nur noch drum, wie wir da wieder rauskommen.“
Tom sah sein Gegenüber lange an. In Martins Augen lag eine Härte, die ihn an blanken Stahl erinnerte. Er hatte seine Entscheidung getroffen und nichts auf dieser Welt würde ihn davon abbringen können.
Kapitel X
Mit einem glücklichen Seufzen setzte sich Hannes mit seinem Kaffee und der Morgenzeitung an seinen Tisch. Er genoss es, hier unten bei seinen Schützlingen zu frühstücken. Er hatte einen eigenen Tisch in der Ecke, von dem aus er den ganzen Raum überblicken konnte. Hier saß er fast jeden Morgen, trank seinen Kaffee und ließ seinen Blick über die Tische gleiten. An vier langen Holztischen saßen unzählige Kinder und Jugendliche, die gierig ihr Frühstück in sich hinein schaufelten. Das große Zimmer war laut mit ihrem Gelächter und Geschwätz, mit Gläserklirren und Stühlerücken. Es roch nach Tee und Toast und darunter lag ganz schwach ein Geruch nach frischen Träumen und schaler Hoffnung. Zufrieden nippte Hannes an seinem Kaffee. Das waren seine Jungs. Sie gehörten ihm. Gehörten ihm wie seine Uhr oder sein Auto. Die meisten von ihnen wussten das. Die Meisten hatten sich damit abgefunden. Und die Restlichen, die Restlichen würden es bald merken.
Plötzlich schwang die große Schwingtür am Ende des Saales nach innen und Lukas betrat den Raum. Der Geräuschpegel sank schlagartig um einige Dezibel. Diese Wirkung erzielte Lukas fast immer. Selbst wenn man ihn nicht kannte. Er war beinahe zwei Meter groß und hatte eine unglaublich athletische Figur. Seinem Gesicht sah man sofort an, dass er Konflikten nicht aus dem Weg ging, sondern suchte und sie am liebsten mit den Fäusten löste. Dabei durfte man ihn nicht unterschätzen. Er war beileibe kein dummer Schläger. Seine braunen Augen strahlten im Glanz einer verschlagenen Intelligenz, die selbst Hannes manchmal Angst machen konnte. Aber Lukas war unglaublich nützlich. Wenn man ihm einen Auftrag gab, dann konnte man sich hundertprozentig darauf verlassen, dass die Sache erledigt wurde. Auch wenn man immer damit rechnen musste, dass er etwas übereifrig war und über das Ziel hinaus schoss. Seit Lukas für ihn arbeitete, war Hannes wirklich gut darin, sich eine Geschichte für das Krankenhaus oder die Jugendfürsorge einfallen zu lassen.
Lukas bahnte sich seinen Weg zwischen den Tischen hindurch, wie ein Boxer auf dem Weg zum Ring. Fasziniert beobachte Hannes wie sich die Jungs verhielten, als Lukas in ihre Nähe kam. Sie wurden plötzlich sehr schweigsam und starrten auf ihren Teller, als wäre ihr Essen das Wichtigste, was es auf der Welt gab. Um diese Wirkung beneidete ihn Hannes. Er selbst wirkte nie so einschüchternd auf andere. Er hatte sich seinen Respekt immer erarbeiten müssen.
„Morgen Lukas. Setz dich doch“, begrüßte ihn Hannes und faltete seine Zeitung zusammen.
„Morgen“, erwiderte Lukas knapp.
„Hast du was über Toms neuen Freund rausgefunden?“
Lukas setzte sich Hannes gegenüber an den Tisch und strich sich mit der Hand über seinen kahlgeschorenen Schädel.
„Er ist tot.“
Hannes sah ihn hart an und versuchte herauszufinden, ob er grade verarscht wurde.
„Wie bitte?“
„Der Mieter der Hütte ist tot und zwar schon seit 1952. Sein Name war Michael Stimmer und gestorben ist er am 17.3.1952.“
„Und weiter?“
„Ich muss sagen, dass Michael in den letzten Monaten sehr aktiv war, wenn man bedenkt, dass er tot ist. Vor etwa einem halben Jahr ist er hier aufgetaucht und hat die Hütte gemietet von einem Wirt in Saderreuth.“
„Der Kerl verwendet eine falsche Identität?“
Lukas nickte und zog ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche. Er faltete es auseinander und schob es über den Tisch.
„Der Wirt hat eine Kopie von seinem Perso gemacht.“
Hannes sah sich das Blatt genau an. Die Kopie hatte nicht die beste Qualität, aber man konnte trotzdem erkennen, dass es eine ausgezeichnete Fälschung war. Vor allem das Foto überraschte ihn. Der Kerl darauf sah Martin zwar so ähnlich, dass der Ausweis glaubhaft war. Aber Hannes war sich sehr sicher, dass er Martin nur anhand dieses Fotos nicht erkannt hätte. Das war perfekt. Und sicher nicht das Werk eines Anfängers.
„Wer zur Hölle ist dieser Typ?“, meinte Hannes mehr zu sich selbst.
„Keine Ahnung. Ich habe in den umliegenden Dörfern rumgefragt. Nur drei Leute haben ihn gesehen, seit er hier wohnt und jeder liefert eine andere Beschreibung. Mal hat er braune Haare, dann wieder schwarze. Mal trägt er eine Brille, mal nicht.“
„Sonst noch was?“
Lukas schüttelte den Kopf.
„Nein, nichts mehr. Der Kerl ist aus dem Nichts gekommen und ist wieder verschwunden. Und wenn du mich fragst, dann weiß er genau, wie man so was macht. Der weiß genau, wie man untertaucht und seine Spuren verwischt.“
Hannes nickte widerwillig und starrte auf die Ausweiskopie. Ausgerechnet an so Jemand musste Tom geraten. Das würde die Sache nicht gerade einfacher machen.
Kapitel XI
Daniel war gerade aufgewacht und noch ein wenig orientierungslos. Er hatte keine Ahnung, ob er die Augen offen oder geschlossen hatte. Und für einen wunderschönen, grausamen Moment wusste er nicht, wo er sich befand. Wenn er die Augen aufmachte, würde er durch das Dachfenster in einen strahlend-blauen Tag blinzeln. Seine Eltern wären unten in der Küche beim Frühstück und seine Schwester würde das Bad blockieren. Er würde schlaftrunken nach unten tapsen, seine Eltern umarmen und dann würde er ihnen erzählen, was für einen schrecklichen Alptraum er gehabt hatte.
Doch als er die Augen aufschlug, blinzelte er in dieselbe verdammte Dunkelheit wie in den letzten Tagen. Es war eine Schwärze, die so dick war, dass er sie greifen konnte. Die Luft war kalt und feucht. Es roch nach Schweiß, Urin und Scheiße. In einer Ecke tropfte ständig Wasser von der Decke auf den schmutzigen Betonboden. Das ständige Platsch, Platsch machte ihn noch wahnsinnig. Er drehte sich auf die Seite und tastete den unebenen Boden neben dem Bett ab. Schließlich fand er die dicke Kerze und die Streichhölzer, die Hannes gnädigerweise hiergelassen hatte. Mit klammen Fingern zündete er die Kerze an. Er hatte keine Ahnung, ob es draußen Tag oder Nacht war. Genau so wenig konnte er sagen, wie lange er schon in diesem Drecksloch eingesperrt war. Längst schon hatte er jedes Zeitgefühl verloren.
Langsam schwang er die Beine über den Bettrand und setzte sich auf. Im flackernden Schein der Kerze betrachtete er seine schmutzigen Hände. Vielleicht lag es am Licht, aber er hatte den Eindruck, dass sie leicht zitterten. Er stand auf und ging zu dem Eimer, der ihm als Toilette diente. Er versuchte nur flach zu atmen, während er hineinpisste. Der Gestank war beinahe überwältigend. Dann ging er zu der Ecke, in der es von der Decke tropfte. Er sammelte einige Tropfen in seinen Händen und spritzte sich das kalte Wasser ins Gesicht. Tatsächlich fühlte er sich etwas erfrischt. Noch war er nicht tot. Es würde weitergehen und er würde hier rauskommen. Um wach zu werden, machte er drei Sätze Liegestütze und ein paar Sit-ups. Er musste sich einfach beschäftigen, um nicht durchzudrehen. Rein unterhaltungsmäßig gab seine Zelle nicht viel her. Vielleicht sollte er sich mal beim Management beschweren. Der Service hier war wirklich eine Katastrophe.
Aber wenigstens war Tom noch am Leben. Das war Alles was zählte. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er daran dachte, wie dieser Wahnsinnige aus dem Parkhaus in den reißenden Fluss gesprungen war. Diesen Moment würde er wohl nie vergessen. Er sah ihn immer wieder vor sich, wie einen Film in einer Endlosschleife. Tom, der ihn mit unendlichem Schmerz ansah und sagte, dass es ihm leidtäte. Tom, der auf das Geländer zu sprintete und dann in die Leere sprang. Tom, der von der Kugel aus Kevins Revolver getroffen wurde.
Mit der Kraft der Verzweiflung hatte sich Daniel aus Lukas’ Polizeigriff befreien können. Lukas war wahrscheinlich selbst total überrascht worden. Er rannte auf das Geländer zu, sah es immer näher kommen. Noch 10 Meter, noch 5, noch 2. Aber er konnte es nicht. Er konnte einfach nicht springen. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Er bremste ab und stand am Geländer wie ein verfluchter Idiot. Eine Sekunde später war Lukas bei ihm und drückte ihn zu Boden. Aber für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, Toms Kopf in dem aufgewühlten Wasser sehen zu können. Er hatte es wirklich geschafft. Es muss unglaublich schwierig gewesen sein, bei der Strömung überhaupt das Ufer zu erreichen, aber das Ganze dann auch noch mit einer Kugel im Bein. Daniel schüttelte ungläubig den Kopf. Er konnte seine Gefühle noch nicht ganz einordnen. Einerseits war er froh, dass Tom entkommen war. Aber wenn er ehrlich war, dann musste er zugeben, dass er ihm Vorwürfe machte. Er hatte ihn im Stich gelassen. Er hatte ihn bei Hannes gelassen. Es war ihm absolut klar, dass Tom keine andere Wahl gehabt hatte. Seinem Verstand war das klar. Aber seinem Herz war das egal. Stur bestand es darauf, dass er ihn allein gelassen hatte. Und völlig egal, wie logisch er auch argumentierte sein Herz konnte er nicht überzeugen.
Da hörte er, wie der schwere Riegel vor der Tür zurückgeschoben wurde. Immer wenn das passierte, hoffte er wie verrückt auf ein Wunder. Hoffte, dass Tom in der Tür stehen würde und ihn in die Arme schließen würde. Aber als die Tür aufgezogen wurde und ein starker Lichtstrahl das Dämmerlicht seiner Zelle durchschnitt, wusste er, dass es Hannes war.
„Guten Morgen, mein Junge. Ich hoffe du hast gut geschlafen?“ Seltsamerweise klang das gar nicht so sarkastisch, wie Hannes es eigentlich beabsichtigt hatte.
„Ich habe geschlafen, wie ein Toter. Danke der Nachfrage.“
„Das freut mich.“ Hannes ging langsam auf ihn zu und reichte ihm einen Teller mit zwei Wurstsemmeln.
„Hier, damit du mir nicht vom Fleisch fällst.“
Gierig fing Daniel an zu essen. In der Zwischenzeit stellte Hannes einen billigen, grünen Klappstuhl zwei Meter vor dem Bett auf und setzte sich. Zufrieden lächelnd schaute er zu, wie Daniel die Reste seines Frühstücks verdrückte.
„Schön zu sehen, dass es dir schmeckt.“
Daniel sagte nichts. Aß einfach weiter.
„Du hältst mich für ein Monster, oder?“
Überrascht blickte Daniel von seinem Teller auf. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Hannes hob müde die Hand.
„Schon gut. Vergiss es. Wahrscheinlich hast du ja recht. Ich bin ein ziemliches Arschloch.“ Er schloss die Augen und strich sich mit der Hand über seine kurz geschorenen Haare.
„Ich weiß, das hört sich jetzt ziemlich seltsam an, aber es tut mir leid, dass ich dir das antun muss.“ Daniel war sich nicht sicher, ob Hannes ihn verarschte. Seine Stimme hörte sich eigentlich sehr aufrichtig an.
„Wieso tust du es dann?“
„Du bist das Einzige, was zwischen mir und dem Gefängnis steht. Du bist das Einzige, was Tom davon abhält, bei der Polizei auszupacken.“
„Und wenn ich dir verspreche, nicht zur Polizei zu gehen?“
Hannes schüttelte den Kopf.
„Wieso sollte ich dir das denn glauben? Ich an deiner Stelle würde sofort zur Polizei laufen, sobald ich hier rauskäme. Und du kannst nicht dafür garantieren, was Tom tun wird.“ Er machte eine kurze Pause. „Oder was sein neuer Freund tun wird.“
Daniel versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber sein Gesicht verriet deutlich seine Überraschung. Neuer Freund, was sollte die Scheiße!
„Was für ein neuer Freund?“
„Hab ich das nicht erwähnt? Wo hab ich nur meinen Kopf?“, fragte Hannes mit einem unschuldigen Lächeln.
„Was für ein Freund?“, wiederholte Daniel gereizt.
„Sein Name ist Martin. Er ist ein recht interessanter Kerl, das muss man sagen. Aus irgendeinem Grund hilft er Tom. Na ja, ich kann mir schon vorstellen wieso. Tom kann ja ziemlich überzeugend sein. Das wissen wir ja beide, oder?“
Wut breitete sich in Daniels Bauch aus. Brannte sich durch seinen Magen und stieg in seinen Hals hoch. Wut auf Hannes, dass er ihm so eine Scheiße erzählte. Aber vor allem Wut auf sich selbst, weil zumindest ein Teil von ihm die Scheiße glaubte.
„So, ich muss wieder los.“ Hannes stand auf und trug den Stuhl nach draußen. In der Tür drehte er sich noch mal um und sah Daniel lächelnd an.
„Ich wünsch dir noch einen schönen Tag.“
In dem Moment wusste es Daniel. Konnte endlich den Gedanken fassen, der lange in den Tiefen seines Bewusstseins geschlummert hatte. Wusste es mit einer Klarheit, die überwältigend war. Endlich wusste er, warum Hannes das alles tat.
„Du liebst ihn, oder?“
Hannes hatte die schwere Tür schon halb geschlossen. Sein Lächeln war gefroren, als er Daniel in die Augen blickte.
„Was hast du gesagt?“
„Tom. Du liebst ihn.“
Hannes lachte kurz und eine Spur zu laut. Daniel hatte anscheinend voll ins Schwarze getroffen
„Tom? Dieses Arschloch? Wie kommst du denn darauf?“
„Ach komm schon. Wem machst du hier was vor? Wieso bist du denn so besessen davon, ihn zurückzuholen?“
„Weil ich nicht zulassen werde, dass er mein Leben zerstört.“
„Blödsinn!“, fuhr Daniel ihn an. „Du vermisst ihn und du willst ihn wiederhaben.“
Hannes stand in der halb-geschlossenen Tür und sah ihn wütend an.
„Mach’s gut, Daniel.“ Mit einem lauten Knall warf er die schwere Tür ins Schloss und schob den Riegel vor.
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