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12 Jahre Uferlos

Teil 4 - Angsthase

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Ich gehe eine dunkle Straße entlang.

Ich komme gerade von einem Freund und will so schnell es geht nach Hause.

Ich muss mich beeilen, denn ich bin schon viel zu spät dran.

Ich sehe keinen einzigen Menschen auf meinem Weg durch die dunkle Stadt.

Ich werde verfolgt.

Ich renne, denn er darf mich nicht kriegen.

Ich bin ihm einmal entkommen, nochmal wird er mich nicht laufen lassen.

Ich werde sterben, wenn er mich erreicht.

Der Weg wird immer länger.

Ich habe das Gefühl, nicht mehr vorwärts zu kommen.

Ich spüre Regentropfen auf meiner Haut.

Ich bleibe stehen und sehe mein Spiegelbild in einer Regenpfütze, es lächelt mich an.

Ich höre Schritte.

Das ist er!

Er kommt wegen mir!

Er ist schnell!

Er ist grausam!

Er will mich töten!

Er wird mich töten!

Ich kann nicht weiter laufen.

Ich habe Angst.

Ich höre seine Stimme.

"Ich komme wegen dir."

Ich drehe mich um.

"Ich komme wegen dir."

Ich sehe Ihn, er kommt auf mich zu.

"Ich werde dich töten."

Ich spüre, wie mein Spiegelbild meine Füße festhält.

"Ich werde dich töten."

Er ist da.

"Ich..."

Er steht vor mir.

"...werde..."

Er reißt mich an meinen Haaren hoch und meine Beine strampeln in der Luft.

"...dich..."

Er schlägt mir ins Gesicht.

"...FICKEN!"

Er macht mit mir, was er will. Denn ich bin schwach und kann nichts dagegen tun. Und er ist stark.

Er ist Markus...

Ich wurde erst wach, als ich meine eigenen Schreie hörte.

Langsam, wie zähflüssiger Sirup perlte der Traum von mir ab und überließ mich wieder der Realität meines dunklen Zimmers.

Meine Wangen waren nass, aber nicht vom Schweiß, der meinen ganzen Körper bedeckte. Ich hatte geweint.

Normalerweise vergaß ich jeden Traum immer gleich wieder. Und das ist auch heute noch so.

Aber diesen Traum könnte ich selbst dann nicht vergessen, wenn ich unter Amnesie leiden würde, denn er begleitet mich, bis heute...

Bis heute wache ich des Öfteren schreiend auf und stelle fest, das ich im Schlaf geweint habe.

Und in dieser Nacht hatte ich ihn zum ersten Mal. Ausgerechnet in dieser!

Sobald der Wecker klingelte, würde ich aufstehen und wieder zur Schule gehen. An den Ort, von dem ich gar nicht weit genug weg sein konnte.

Ich drehte mich auf die Seite, nur um mich sogleich wieder auf den Rücken zu legen, denn meine Schulter tat noch immer weh.

Ich hatte den eingebrannten Wolfskopf mit einem Pflaster abgedeckt, aber die Stelle schmerzte noch immer und hatte ein wenig zu nässen begonnen.

Hätte ich nicht von dieser Nacht träumen können?

Von dieser seltsam schönen Nacht.

Spike, alias Natalie, hatte Nico und mich gestreichelt, während er und ich uns küssten.

Als sie damit aufhörte, wir uns aber noch immer küssten, riss sie uns auseinander und warf mich auf ihr Bett.

Bis heute habe ich immer behauptet, das "Erste Mal" erst später erlebt zu haben. Aber tatsächlich fand es, zumindest mit einer Frau, in dieser Nacht statt.

Sie hatte Nico mit zum Bett geschoben und setzte sich anschließend auf mich drauf...

Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber sie schlief mit mir. Sie schlief mit Nico. Und ich schlief mit Nico.

Über die Erinnerungen an diese Nacht grübelnd, schlief ich schließlich wieder ein.

Und zum Glück blieb der Rest der Nacht ohne Träume und ohne Schreie.


Die Zehn-Minuten-Taste eines Radioweckers muss die wohl schlimmste Erfindung der Menschheitsgeschichte sein! Es ist wirklich verblüffend, dass, wenn man sie einmal betätigte und zehn Minuten weiter schlief, man wieder in einen unglaublich tiefen Schlaf fallen konnte. Genau dies tat ich beim ersten Klingeln. Und auch beim Zweiten. Beim dritten Klingeln sah ich dann das erste Mal auf die Digitalanzeige und stand augenblicklich kerzengerade im Bett. Ich musste mich wirklich beeilen!

Innerhalb von ungefähr zwanzig Minuten war ich fertig mit allem. Mit Zähne putzen, mit Duschen, mit frühstücken und mit der Welt.

Als die Haustür knallend hinter mir ins Schloss fiel, hatte dieser Klang etwas Endgültiges. Es fühlte sich fast so an, als würde ich nie wieder durch diese Tür gehen können. Als gäbe es kein Zurück mehr.

Mit jedem Schritt in Richtung Straßenbahn fühlten sich meine Beine schwerer an. Ein sehr unangenehmes Gefühl kroch durch meinen Körper.

Ich glaube, man könnte es am besten mit einem Hasen beschreiben.

Er hoppelt des Nachts über eine Straße.

Plötzlich sieht er zwei helle Lichter auf sich zu rasen.

Er hat Angst und will weg rennen, aber er kann nicht.

Die Natur lässt es nicht zu, dass dieses kleine, niedliche Tier überleben wird.

Denn die Natur hat es so vorgesehen, dass das Tier, obwohl es Angst haben muss, sich nicht von der Stelle rühren kann.

Es bleibt also einfach wie angewurzelt stehen und ergibt sich in sein Schicksal.

Nun, mir ging es an diesem Morgen ähnlich, obwohl der Hase einen Vorteil mir gegenüber hatte.

Für ihn würde es schnell vorbei sein. Für mich jedoch sollte es noch sehr lange weiter gehen.

Da ich leider nicht wie angewurzelt stehen bleiben konnte, erreichte ich natürlich auch irgendwann die Haltestelle und mit ihr die Straßenbahn.

Die ersten Schüler saßen schon drinnen und obwohl ich keinen von ihnen kannte, hatte ich das seltsame Gefühl, als ob sie alle mit dem Finger auf mich zeigen und tuscheln würden.

Mit einem leisen Seufzer setzte ich mich auf einen freien Platz, wohlwissend, dass es noch schlimmer werden würde...

Ein paar Haltestellen später würde eine ganze Horde von Schülern die Bahn stürmen und unter ihnen würde mich der eine oder andere erkennen.

Und dann würde es losgehen...

SCHWANZLUTSCHER!

HINTERLADER!

ARSCHFICKER!

Wie der Hase beschloss ich, mich in mein Schicksal zu fügen.

Aber nichts geschah.

So, als würde man eine Pistole auf mich richten und abdrücken, aber sie war nur mit Platzpatronen geladen.

Als dann die Haltestelle kam, vor der ich mich am meisten fürchtete, weil ich dort aussteigen musste, war immer noch nichts geschehen.

Aber wieso?

Wo war die aufgebrachte Meute mit ihren Fackeln und den Mistgabeln, die mich zu Tode hetzte?

Allmählich keimte so etwas wie Hoffnung in mir auf.

Vielleicht wurden die Ereignisse jener Nacht ja doch nicht weitergetragen.

Nein, das konnte nicht sein, wie hätten dann Spike und Nico davon wissen können?

Vielleicht hatten die Leute es ja schon wieder vergessen. Immerhin gab es jeden Tag immer wieder neue Nachrichten, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten.

Ja, das musste es sein!

Voller Hoffnung verließ ich die Bahn und ging auf das Schulgebäude zu.

Ja, genau so musste es sein! Sie hatten es einfach schon wieder vergessen!

Ich hörte die Schulglocke, die zur ersten Stunde läutete.

Heute weiß ich es besser...

Es gab andere Neuigkeiten.

Viel schlimmere...


Die erste große Pause war der nächste Test für meine Nerven.

Während der ersten zwei Schulstunden, in denen niemand mit mir redete, aber das war normal, dachte ich darüber nach, was ich in der Pause machen sollte. Immerhin gab es nun einige Orte, die ich besser meiden sollte, wenn ich nicht gewissen Personen begegnen wollte.

Also hielt ich mich von der Raucherecke hinter der Sporthalle fern. Auch von den Tischtennisplatten, da ich wusste, das ich dort Markus antreffen konnte.

Mein schützendes Asyl fand ich schließlich in der Kantine. Und dort fand ich auch Nico. Er saß mit zwei Jungs, die wohl in seine Klasse gingen, an einem Tisch und unterhielt sich.

Als er mich sah, sagte er kurz etwas zu den beiden, stand auf und kam lächelnd auf mich zu.

"Hi, ich hatte echt schon Angst, du würdest nicht kommen." Er nahm mich in den Arm, als er mich erreicht hatte.

"Um ganz ehrlich zu sein, ich auch", entgegnete ich auf seine begrüßenden Worte. "Wo ist Spike?"

"Keine Ahnung, sie war heute nicht im Unterricht. Vielleicht ist sie krank oder so was. Sag mal, tut deine Schulter auch noch so weh?"

Ich kam nicht umhin, ein breites Grinsen aufzusetzen, "Nein, natürlich nicht, wie kommst du denn darauf?"

"Patrick, kann ich kurz mal mit dir reden?", hörte ich plötzlich eine Mädchenstimme hinter mir.

Und diese Stimme kannte ich nur all zu gut. Ich drehte mich noch nicht einmal um, als ich antwortete.

"Aber gerne doch Judith, nur leider ist die Pause fast schon vorbei. Wie wäre es, wenn wir uns nach der Schule im Einkaufszentrum treffen? Ich habe nach der sechsten Stunde Schluss und dann warte ich davor auf dich, o.k.?"

"O.k., aber bitte sei da. Es ist wirklich wichtig."

Dann ging sie.

Aber natürlich!

Ich hatte in Wahrheit schon nach der vierten Stunde Schluss, da einer meiner Kurse ausfiel.

Also würde ich natürlich schon längst zu Hause sein, wenn diese eingebildete Schlampe auf mich warten würde.

"Hey, Musik fällt doch heute aus, wollen wir nach der Vierten noch kurz ins Einkaufszentrum, 'n Eis essen?", grinste ich Nico an.


Gesagt, getan.

Ich war heilfroh, dass mir an diesem Tag weder Marian noch Markus über den Weg gelaufen waren. Die Tatsache, dass mich Judith kurz belästigt hatte, war dagegen eher eine Kleinigkeit.

"Sag mal, macht ihr so was eigentlich öfter?", durchbrach ich das Schweigen, welches fast den gesamten Weg zum Einkaufszentrum vorherrschte.

Nico blieb stehen. "Was meinst du denn?"

"Na, das von neulich Nacht."

Jetzt war es Nico, der grinsen musste. Eigentlich fand ich ihn mittlerweile richtig süß. "Natürlich. Wir machen so was ständig. Außerdem treiben wir es noch mit Toten, Katzen, Schweinen und Ziegen. Wir haben es auch mal mit Hunden probiert, aber die Steuern waren uns dann doch zu hoch."

Wir brachen beide in lautes Gelächter aus.

"Nein, das war das erste Mal. Zumindest für mich. Um ganz ehrlich zu sein, kenne ich Spike selbst noch nicht so lange. Sie ist auch von einer anderen Schule hierher gekommen, ungefähr einen Monat vor dir und, da ihre Mutter und mein Vater beim Sicherheitsdienst vom Einkaufszentrum arbeiten war es bloß eine Frage der Zeit, bis sich unsere Wege kreuzen würden. Aber soweit ich weiß ist sie nicht umgezogen oder so was. Ich hab sie schon mal nach dem Grund gefragt, warum sie die Schule gewechselt hat, aber sie wollte ihn mir nicht sagen. Wenn ich es recht bedenke war sie danach auch ziemlich stinkig. Ich schätze mal, das ist ein Thema, über das sie nicht besonders gerne redet, also solltest du sie besser gar nicht erst danach fragen."

Wir gingen langsam weiter und ich beschloss, die einzige Zigarette, die ich an diesem Morgen erbeuten konnte, anzustecken. Zwischen zwei Zügen fragte ich ihn: "Und was ist mit dir? Wie lange bist du schon an dieser Schule?"

"Ich würde sagen, lange genug, um rauszufinden, dass sich in den Köpfen der meisten Schüler hier nur ein Gemisch aus Müll und Scheiße befindet. Ich war noch keine ganze Woche an dieser Schule, da wurde ich von dem übelsten Typen, den wir hier haben, zusammengeschlagen. Und das nur, weil ich nun mal etwas anders rumlaufe, als die anderen."

Ich dachte bei seinen Worten sofort an Markus und wollte ihn gerade fragen, ob er von ihm sprach, als er mir zuvor kam: "Nein, es war nicht Markus. Markus ist nur ein perverses Schwein, das nicht mehr Grips hat, als das, was gerade von deiner Kippe fällt. Nein, der Typ den ich meine ist noch viel schlimmer. Er heißt Koda. Ich glaube er ist Albaner oder so was ähnliches. Ist ja auch egal, auf jeden Fall ist er brutal und hat praktisch keine Hemmschwelle. Wenn ihm danach ist, dann rammt er dir einfach 'n Messer in den Bauch. Einfach so. Also hatte ich genau genommen noch echtes Glück, dass ihm an diesem Tag nicht danach war, zuzustechen. Außerdem ist er, wie sollte es auch anders sein, ein guter Freund von Markus."

Ob dieser Koda wirklich schlimmer war als Markus wagte ich zu bezweifeln, aber in diesem Moment wurde mir etwas klar, dass ich, für mein späteres Leben, behalten würde.

Jeder hatte seine ganz persönlichen Dämonen, die ihn Tag für Tag begleiteten.

Und ich war mit Sicherheit nicht der Einzige, der nachts schreiend aufwachte. Und dann kam mir ein eigentlich sinnloser, aber auch erschreckender Gedanke.

Was, wenn man alle Schreie, die durch die Dunkelheit hallen auf einmal hören könnte?

Ein Chor aus lauter gequälten Seelen, die nach ihrer Erlösung suchen, sie aber nicht finden können. Nicht allein.

"Hey!", riss Nico mich zurück in die Wirklichkeit. "Jetzt hör mal auf darüber zu grübeln." Er legte seinen Arm um meine Schulter, zog mich zu sich heran und flüsterte mir ins Ohr: "Es gibt wichtigere Dinge, über die es sich lohnt nachzudenken." Dann hauchte er mir einen Kuss auf die Wange. "Und schönere."

Als er mich aus seiner Umarmung entließ und mich anlächelte, spürte ich etwas, von dem ich glaubte, es wäre schon längst tot und begraben.

Ich mochte Nico.

Ich mochte ihn sogar sehr...

"Und außerdem", nahm er den Gesprächsfaden wieder auf, als wir weitergingen, "sitzt dieses Arschloch sowieso noch ne ganze Weile im Jugendknast."

"Und wieso sitzt er?"

Wir hatten das Einkaufszentrum erreicht und blieben vor dem Eingang stehen, damit ich noch kurz aufrauchen konnte.

"Er hatte wohl noch ein offenes Verfahren am Hals wegen eben dieser Neigung, gerne mal zuzustechen. Das und die Anzeige, die ich gegen ihn erstattet hatte, haben ihm wohl das Genick gebrochen."

Und wieder konnte Nico ein Grinsen nicht unterdrücken, als er noch hinzufügte: "Aber mein Mitleid für ihn hält sich in Grenzen. Vielleicht findet er dort ja an den selben Sachen Gefallen, wie wir beide." Er zwinkerte mir zu.

Mein Gott, fand ich ihn niedlich. Am liebsten hätte ich ihn an die Wand gedrückt und ihn geküsst.

"Und wenn nicht ist das auch nicht weiter schlimm.", grinste Nico nun, noch breiter: "Immerhin sieht er dabei ja in die entgegengesetzte Richtung."


Es machte unheimlichen Spaß, mit Nico durch das Einkaufszentrum zu schlendern. Wir lachten, alberten rum und dann lachten wir noch mehr.

Als wir einen Moment lang alleine waren, da wir mit dem Fahrstuhl eine Etage höher fuhren, beschloss ich alles auf eine Karte zu setzen.

Ich nahm meinen Rucksack ab, stellte ihn auf den Boden des Fahrstuhls, drehte mich dann zu Nico und küsste ihn.

Und, wie ich es gehofft hatte, schien ihm das nur recht zu sein, denn er schlang seine Arme um mich und erwiderte den Kuss.

Als sich die Türen des Fahrstuhls öffneten ließen wir natürlich sofort voneinander ab und verließen den Lift.

Plötzlich fiel mir auf, dass ich meinen Rucksack hatte stehen lassen, und hechtete noch einmal zu den sich schließenden Türen.

Als ich nach meiner Tasche griff, blickte ich zufällig nach oben und entdeckte etwas, das mir alle Farbe aus dem Gesicht trieb.

Eine Kamera!

Ich war ein solcher Vollidiot!

Warum hatte ich nicht daran gedacht, dass es in einem Einkaufszentrum von Sicherheitskameras nur so wimmelte?

Mit rasendem Herzen dachte ich an das, was Nico mir über seinen Vater erzählt hatte.

"... und, da ihre Mutter und mein Vater beim Sicherheitsdienst vom Einkaufszentrum arbeiten, war es bloß eine Frage der Zeit bis sich unsere Wege kreuzen würden."

"Hey, wo bleibst du denn?"

Ich hörte seine Stimme direkt hinter mir, auch wenn sie für mich aus weiter Ferne zu kommen schien, "Was ist denn mit dir los? Hast du 'n Geist ge..."

Obwohl ich es nicht gesehen hatte wusste ich genau, was hinter mir passiert war...

Während seiner letzten Worte war Nicos Blick dem meinen gefolgt und fand an seinem Ziel dasselbe vor wie ich kurz vorher: Die Kamera.

"Oh Shit!", hörte ich ihn hinter mir."Los komm, lass uns hier verschwinden."

Da war er wieder, der Hase in mir.

Ich sah die Gefahr direkt vor mir und alles was ich tun konnte, war dazustehen und sie anzuglotzen.

Plötzlich spürte ich, wie Nico mich am Arm griff und hinter sich her zog. Nachdem ich beinahe gestolpert wäre, gelang es mir schließlich, doch noch meine Beine zu sortieren, mir meinen Rucksack wieder umzuhängen und mit Nico das Einkaufszentrum zu verlassen.

"Es tut mir leid. Ich..."

...bin ein Vollidiot, wollte ich sagen, aber Nico unterbrach mich sofort: "Vergiss es. Ich bin der Idiot. Immerhin hätte ich daran denken müssen, dass es hier überall Kameras gibt. Wahrscheinlich wird mein Vater das Band gar nicht sehen, immerhin werden die Bänder sowieso immer wieder überspielt. Und wenn heute kein Laden überfallen wird, dann werden die Bänder sowieso nicht gebraucht. Und auf dem Monitor wird er uns auch nicht gesehen haben, weil er um diese Zeit Pause hat. Also mach dir keine Sorgen, es wird rein gar nichts passieren, Ok?"

Mit jedem seiner Worte wurde mir leichter zumute.

"Ok", flüsterte ich.

Er nahm meine Hand. "Außerdem bereue ich absolut nichts von dem, was gerade passiert ist."

Eine Gänsehaut machte sich auf meinem Körper breit.

Warum hatte ich ihn nicht schon viel früher kennen gelernt?

Alles hätte ganz anders sein können.

Ohne Marian, ohne Markus und...

"Ah, da bist du ja. Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen."

...ohne Judith.

So ein verfluchter Mist! Ich hatte so viel Spaß mit Nico, dass ich die Zeit total vergessen hatte und nicht rechtzeitig nach Hause gefahren war, um ihr aus dem Weg zu gehen.

Nun war es sowieso zu spät, also konnte ich mir auch genauso gut anhören, was sie zu sagen hatte.

"Ja, aber wie du siehst bin ich hier. Also was gibt es denn so Wichtiges?"

"Ähh, das würde ich gerne mit dir alleine besprechen."

Nico ließ meine Hand los. "Oh, natürlich. Ich hab sowieso noch was zu erledigen. Treffen wir uns dann gleich, vor der Eisdiele? Ich wollte dir nämlich auch noch was ganz Wichtiges erzählen." Und wieder zwinkerte er mir kurz zu.

Ich hätte Judith in den Arsch treten können, dass sie mich immer dann stören musste, wenn ich mich endlich mal gut fühlte.

"Ja, sicher. Dann bis gleich."

Als Nico wieder im Einkaufszentrum verschwunden war, fing Judith an zu erzählen: "Du weißt, dass es mir Leid tut, was dir passiert ist."

Ich nickte nur kurz.

"Auch wenn ich dir damals gedroht habe, möchte ich, dass du eines weißt: Ich hatte nichts damit zu tun."

Das ist komisch.

Bis sie mir ihre Unschuld an der Nacht meiner Vergewaltigung beteuerte, war mir nie wirklich in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht dahinter gesteckt haben könnte. Und das, obwohl es das Offensichtlichste gewesen wäre.

Als ich nicht antwortete, redete sie weiter. Doch was sie als nächstes sagte, fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an.

"Marian war es."

Plötzlich fühlte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich konnte nichts dagegen tun.

Nein, das konnte nicht wahr sein!

"Das glaube ich dir nicht", presste ich heraus.

"Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Hör einfach nur zu!"

Und das tat ich, obwohl jedes Wort wie ein Messerstich schmerzte.

"Markus wusste, wo er Marian finden würde, weil er es ihm selbst gesagt hatte. Und die Vergewaltigung war von Anfang an geplant gewesen. Ich habe selbst gehört, wie sie darüber gesprochen haben."

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und sah ihr direkt ins Gesicht. "Warum erzählst du mir das? Du müsstest doch froh sein, das ich mich jetzt von Marian fern halte. Du wolltest ihn doch für dich."

Ich drehte mich um und wollte nun selbst das Einkaufszentrum betreten.

"Glückwunsch, nun hast du ihn ganz für dich alleine. Und jetzt lass mich in Ruhe!"

Ich ging ein paar Schritte, als sie mir hinterher rief: "Ich hab's dir erzählt, weil ich in dieser Nacht dort sein sollte, nicht du."

Wie, vor eine unsichtbare Wand gelaufen, blieb ich stehen.

"Marian wollte an diesem Abend mit mir dahin. Aber einen Tag vorher hatte ich die beiden darüber reden gehört, was sie mit mir vor hatten. Ich hatte Angst, was passieren würde, wenn ich sagen würde, dass ich es wusste, also hatte ich Marian gesagt, dass ich zu Hause bleiben muss."

"Und dann hatte er mich gefragt, ob ich bei ihm schlafen will", flüsterte ich.

Jetzt begann ich zu verstehen.

Er hatte mich erst an diesem Tag gefragt, ob ich bei ihm schlafen möchte.

Aber das musste ja bedeuten, dass Markus...

"Genau", brachte Judith meinen Gedanken zu Ende: "Markus wusste nicht, dass Du da sein würdest, und nicht ich. Marian hatte wohl keine Zeit mehr gehabt, ihm Bescheid zu sagen."

Ich drehte mich zu ihr um und merkte, wie mir schwindelig wurde.

"Und als er mich dort vor fand, brannte bei ihm 'ne Sicherung durch. Immerhin wollte er ja Dich ficken. Aber du warst nicht da, sondern nur ein kleiner *Schwanzlutscher*, was ihm dann auch egal war."

Sie nickte nur.

"Aber eine Sache verstehe ich nicht. Dass Markus ein perverser Hurensohn ist, weiß ich ja. Aber..."

Ich musste mich hinknien und verlor nun völlig die Kontrolle.

"Warum? Warum macht Marian so was?", schluchzte ich.

Judith kniete sich neben mich und legte ihre Hand auf meinen Rücken. "Ich weiß es nicht und, um ganz ehrlich zu sein, ist es mir jetzt auch egal. Er wird schon noch seine Strafe bekommen, glaub mir."

Als ich mich wieder etwas gefangen hatte, reichte sie mir ein Taschentuch.

"Was meinst du damit?"

"Komm mit, ich zeig's dir."

Nach kurzem Zögern kam ich wieder gänzlich auf die Beine und betrat mit ihr zusammen das Einkaufszentrum.

Als wir an den ganzen Läden und Boutiquen vorbei gingen erzählte sie mir, was sie damit gemeint hatte.

"Mein Freund wird sich um Marian und Markus kümmern."

"Seit wann hast du einen Freund?"

Da grinste sie mich, zum ersten Mal seit wir uns kannten ohne abfälligen Blick, an.

"Seit Samstag. Ich habe ihn auf einer Party bei 'ner Freundin kennen gelernt. Und glaub mir, der wird kurzen Prozess mit den Beiden machen. Er hat schon 'n paar Anzeigen wegen schwerer Körperverletzung. Aber egal, für mich wird er die beiden platt machen, ist doch genial, oder? Ich treffe mich gleich an der Eisdiele mit ihm. Aber es wäre besser, wenn du dann nicht dabei bist. Er ist nämlich ziemlich eifersüchtig."

"Ok, kein Problem. Bis dahin sind Nico und ich weg, versprochen."

Und das war mein Ernst. Ich hatte kein wirkliches Interesse, so jemanden wie ihn kennen zu lernen.

"Wie heißt dein Freund denn?"

"Koda, wieso?"

Nein, das konnte nicht wahr sein!

Das war ein Alptraum!

Nur ein Alptraum!

"Koda? Und ihr trefft euch gleich an der Eisdiele?"

Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern rannte sofort los.

Wenn Koda Nico dort stehen sah, würde er ihn umbringen, dessen war ich mir sicher.

Judith holte mich schnell ein. "Was ist denn los?

"Ich dachte Koda sitzt im Jugendknast."

Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich eine alte Frau angerempelt hatte und sie umriss.

Es tut mir heute zwar sehr Leid, aber ich hatte keine Zeit nachzusehen, ob es ihr gut ging.

"Nein, er wurde am Freitag entlassen. Woher kennst du ihn?"

Ich antwortete nicht.

Vor der Eisdiele war es geradezu überlaufen.

Menschen, soweit das Auge reichte. Und nirgends eine Spur von Nico oder Koda.

Vielleicht hatte Nico keine Lust mehr gehabt zu warten und war nach Hause gegangen.

Auf einmal schossen mir die Fetzen meines Traumes durch den Kopf. Wahrscheinlich deshalb, weil ich mich in diesem Augenblick genauso fühlte, wie in diesem Traum

Wie ein Ohrwurm, den man nicht mehr vergessen kann, wiederholte mein Gehirn immer wieder die Worte aus meinem Traum.

"Ich komme wegen dir."

Mein Gefühl sagte mir, dass Nico noch da war. Er musste hier irgendwo sein.

"Ich komme wegen dir."

Plötzlich zog jemand an meinem Ärmel, es war Judith. "Da." Sie zeigte in die Menschenmenge. "Da ist Koda."

Und dann sah ich ihn. Er musste es sein. Mindestens einen Kopf größer als ich, kurz geschorene Haare, breite Schultern und einen eiskalten Blick.

Dieser Mensch wäre imstande gewesen, seine eigenen Kinder zu töten, wenn er wütend wurde.

"Ich werde dich töten."

Da! Da war Nico, nur zwei Meter von Koda entfernt, aber eine Unendlichkeit weit weg von mir.

"Ich werde dich töten."

Ich versuchte mich durch die Menschenmassen zu wühlen, musste aber um jeden Zentimeter, den ich vorwärts kommen wollte, kämpfen.

"Ich..."

"Nico!", rief ich, aber er hörte mich nicht.

"...werde..."

"NICO!" Endlich drehte er sich zu mir um, sah mich und lächelte.

"...dich..."

Dann fiel sein Blick auf Koda, der nun direkt vor ihm stand. Und sein Lächeln gefror.

"...FICKEN!"


Ich kam erst um kurz nach 23 Uhr nach Hause.

Ohne irgendjemanden zu grüßen, ging ich die Treppe rauf.

Ich betrat mein Zimmer, ließ aber das Licht ausgeschaltet.

Meinen Rucksack warf ich achtlos neben mein Bett. An ihm klebte noch immer Blut. Es war schon vor Stunden getrocknet.

Ich ließ mich aufs Bett fallen und starrte an die Decke.

Auf einmal musste ich wieder an den Hasen denken.

Ja, der Hase hatte es schnell hinter sich.

Er wurde einfach überfahren, zerquetscht, zermalmt. Und konnte anschließend vom Kaninchenhimmel aus sehen, wie seine Eingeweide über die Fahrbahn verteilt wurden.

Ich hatte noch sehr viel Zeit.

Die zwei Lichter kamen sehr, sehr langsam auf mich zu.

Ich durfte in aller Ruhe genießen, wie ganz langsam ein Knochen, nach dem anderen zerquetscht wurde.

Bis ich dann endlich den Gnadenstoß erhalten würde, nämlich dann, wenn mein Kopf platzt, wie ein Ballon in den Händen eines ungezogenen Kindes.

Auf diesen Tag warte ich, bis heute...

Plötzlich stand mein Stiefvater in der Tür. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich ihn nicht hatte kommen hören.

"Ach, kommt der Herr auch schon nach Hause, ja? Das wird Konsequenzen haben, mein Freund."

Ich schloss meine Augen, denn ich wollte nicht, dass er mich weinen sah.

Als ich ihm nicht antwortete, hörte ich, wie er wieder ging.

"Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht", rief er. "Sie hatte schon Angst, dass du gar nicht mehr kommst."

"Ja, das höre ich öfter", flüsterte ich in die Dunkelheit.

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