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Herbsterwachen

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Von Oktober 2005 bis April 2006 habe ich hier die Geschichte „Herbsterwachen“ in sieben Teilen veröffentlicht. Irgendwann packte mich die Lust, die Geschichte zu überarbeiten, zu verändern und zu verlängern, so dass sie nun auf zwölf Kapitel angewachsen ist. Ich hoffe, dass die neue Version den Lesern gefällt.

1. Ein freies Wochenende

Freitagabend, achtzehn Uhr. Florian betrat seine Wohnung, schloss die Tür hinter sich und warf die Umhängetasche auf den Stuhl, wo er sie immer hinwarf, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Endlich Feierabend. Wochenende! Besser noch: Ein völlig unverplantes Wochenende, das erste seit langem. Im Gegensatz zu sonst würde Florian heute nicht ein paar Sachen zusammenpacken und sich danach auf die freitäglich verstopfte Autobahn begeben, um in etwas mehr als zwei Stunden bei Stefanie zu sein. Dieses Wochenende gehörte ihm, ihm ganz alleine. Und obwohl er noch keine konkreten Pläne hatte, war er sich sicher, dass er die Zeit mit sich selbst genießen würde, und dass bestimmt keine Langeweile aufkäme.

Nun arbeitete er schon seit einem Monat bei dieser Firma und lebte in dieser Stadt, mehrere hundert Kilometer von seiner Heimat entfernt, der Stadt, wo er geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen war, der Stadt seiner Eltern und seiner alten Freunde, wobei es die meisten von denen inzwischen ebenfalls in alle Himmelsrichtungen verstreut hatte. Damals, kurz vor dem Abitur, hätte er es sich nicht vorstellen können, dass man sich innerhalb einer so kurzen Zeit aus den Augen verlieren würde, jetzt wusste er es besser. Der einzige, zu dem er noch gelegentlich Kontakt hatte, war Simon, damals und lange Zeit sein bester Freund. Bevor sich ihre Lebenswege nach der Schulzeit trennten, hatten sie einen großen Teil ihrer Zeit miteinander verbracht. Sie verstanden sich ohne Worte, lachten oft gemeinsam über denselben Mist, worüber sonst keiner lachen konnte, und kannten einander wie niemand sonst. Noch heute war es, wenn sie sich mal trafen, so, als hätte es die Jahre seit dem Abitur nicht gegeben, die alte Vertrautheit war immer sofort wieder da, als hätten sich ihre Wege niemals getrennt. Dabei konnten Wochen vergehen, in denen sie nichts voneinander hörten, und Monate, in denen sie sich nicht sahen. Das fing schon direkt nach dem Abitur an. Florian hatten der Zivildienst und das anschließende Studium nach Süddeutschland verschlagen, während Simon in Hessen studierte. Insofern war es vielleicht erstaunlich, dass sie überhaupt noch Kontakt hatten. Hinzu kam, dass Simon noch immer mit Anke zusammen war, und die mochte Florian nicht besonders, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Irgendwie konnte er ihr nicht verzeihen, dass sie ihm, Florian, seinen besten Freund ein gutes Jahr vor dem Abi sozusagen ausgespannt hatte, und dass seitdem nicht mehr Florian, sondern sie Simons wichtigste Bezugsperson war. Andererseits war ihm klar, dass das natürlich Blödsinn war: eine Freundschaft unter Jungs war das eine, eine Beziehung zwischen Mann und Frau etwas völlig anderes, zwei Dinge, die sich zwar ergänzen, keineswegs jedoch konkurrieren konnten. Oder vielleicht doch? Denn welches von beiden im Zweifelsfall das stärkere Band war, lag auf der Hand, das sah selbst Florian ein, auch wenn er es anfangs nicht wahrhaben wollte, schließlich hatte er ältere Rechte an Simon! Und so herrschte stets eine leicht gespannte Atmosphäre, wenn sie sich mal zu dritt getroffen hatten (wobei Simon dann zwischen den Stühlen saß), daher sahen sie inzwischen von solchen Treffen ab. Wenn Simon Florian traf, dann nur noch ohne Anke, was für alle Beteiligten zweifellos besser war.

Stefanie war Florians – ja, wie sollte er sie nennen – Noch- oder künftige Ex-Freundin. Sie war seine erste Freundin, er hatte sie während des Studiums kennen gelernt, also ziemlich spät, in einem Alter, in dem viele seiner Freunde schon mehrere Beziehungen begonnen und wieder beendet hatten. Er war froh gewesen, endlich eine Freundin gefunden (und endlich Sex) zu haben. Sein Single-Dasein hatte ihm schon lange nicht mehr gefallen, zumal ihn Simon bei jedem ihrer seltener gewordenen Treffen darauf hinwies, dass es ja wohl auch für ihn, Florian, langsam Zeit an der Zeit wäre, dass er endlich unter die Haube käme; er machte sich schon ernsthafte Sorgen, dass Florian eines Tages als alte Jungfer enden und wunderlich werden würde. Gut, die ganz großen Gefühle, die berühmten Schmetterlinge im Bauch, von denen so oft zu hören und lesen war, hatte Florian nicht verspürt, dennoch war es schön, dass da jetzt jemand war, der (oder besser die) zu ihm gehörte. Das ging so auch eine ganze Zeit gut, ohne besondere Höhen und Tiefen. Doch seit ein paar Monaten zeichnete sich ab, dass es wohl zu Ende ging mit den beiden. Wenn sie sich gesehen hatten (also nahezu täglich), hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen. Die gemeinsam verbrachten Wochenenden waren von einer gewissen Langeweile überschattet, Sex hatten sie im Schnitt noch ungefähr einmal in zwei Wochen (wobei Stefanie wohl gerne etwas öfter mit Florian geschlafen hätte, aber sein Interesse daran nahm immer mehr ab). Florian hatte zunehmend das Gefühl, dass sie ihn einengte, ihm die Luft zum Atmen nahm. Und dann war da noch dieser gewisse Punkt, der sich Florian manchmal bemerkbar machte, ganz vage und unbestimmt, wie ein diffuses Licht im dichten Nebel, das kurz aufleuchtete und sofort wieder verschwand, etwas, wovon Florian nicht wusste, was es war. Am liebsten hätte er mit Stefanie Schluss gemacht, aber er hatte keine Ahnung, wie er das angehen sollte, er scheute den Konflikt. So kam ihm das Angebot der Spedition, bei der er jetzt arbeitete, sehr gelegen, bot ihm dies doch die Möglichkeit, zumindest räumlich Abstand von Stefanie zu gewinnen. Verbunden mit dem neuen Job war der Wechsel in diese Stadt, weit genug weg von seinem bisherigen Wohnort und von Stefanie, jedenfalls so weit, dass man sich nicht täglich sehen konnte und musste. Stefanie war über seinen Weggang nicht sonderlich erfreut und hatte ihn gebeten, sich das noch einmal zu überlegen, sicher fand sich noch ein anderer Job in der Nähe. Doch Florian zögerte nicht lange, als er das Angebot bekam, und zog kurzentschlossen um. Nun sahen sie sich nur noch an den Wochenenden. Meistens fuhr Florian zu ihr, weil er, im Gegensatz zu ihr, ein Auto hatte; seltener kam sie zu ihm, was immer mit einer sehr umständlichen Bahnfahrt verbunden war. Ansonsten telefonierten sie täglich.

Florian zog seine Schuhe aus und setzte sich in den Sessel, der am südlichen Fenster stand. Von hier aus hatte er einen wunderbaren Blick über den Garten und den sich daran anschließenden Park, dessen Bäume sich langsam herbstlich zu verfärben begannen. Dieses war sein Lieblingsplatz, hier konnte er stundenlang sitzen und lesen oder einfach nur aus dem Fenster schauen. Er liebte es, hier in dieser Wohnung alleine zu sein. Überhaupt war die Wohnung ein Traum, er hatte sie durch Vermittlung seiner Firma bekommen. Sie befand sich im Obergeschoss einer alten Villa in der Nähe der Innenstadt und bestand aus zwei großen, durch eine Flügeltür verbundenen Räumen mit Parkettfußboden und hohen stuckverzierten Decken, einer kleinen Küche und einem großzügigen Bad mit einer riesigen Wanne. Die Villa gehörte einem pensionierten Geschäftsführer der Firma, der mit seiner Frau im unteren Teil des Hauses wohnte. Florian kam mit seinen Vermietern sehr gut aus. Hinzu kam, dass sie sich meistens auf irgendeiner Reise befanden. Florians Wohnung wurde bis vor kurzem vom Sohn der Vermieter bewohnt, der sich jetzt mit seiner Frau ein eigenes Haus gekauft hatte. So kam es dem älteren Ehepaar sehr gelegen, dass oben wieder jemand wohnte, so dass das Haus nicht ganz verlassen war, wenn sie mal wieder eine Reise unternahmen.

Auf dieses Wochenende also hatte sich Florian besonders gefreut, weil er nicht zu Stefanie fahren würde. Die hatte keine Zeit für ihn, da sie für eine Klausur lernen musste (im Gegensatz zu Florian konnte sie noch immer das Studentenleben genießen). Er würde die Zeit nutzen, um die für ihn noch recht neue Stadt zu erkunden, denn viel hatte er bis jetzt noch nicht davon gesehen. Doch bevor es so weit war, musste er noch einkaufen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich beeilen musste, da die Läden bald schlossen. Mit einem wohligen Seufzer erhob er sich aus seinem Lieblingssessel, zog Schuhe und Jacke wieder an, setzte seinen Rucksack auf und verließ die Wohnung. Kurz darauf streifte er durch die Regale des Supermarktes, der gleich um die Ecke lag. Er schob seinen Einkaufswagen gerade in Richtung Tiefkühlpizzen (eines seiner Grundnahrungsmittel), als er hinter sich eine zwar nicht unbekannte, gleichwohl nicht auf Anhieb zuzuordnende Stimme vernahm:

„Florian? Florian Schwerdt? Bist du das?“

Florian drehte sich um. Ja, das Gesicht kannte er.

„Markus Meyers! Das ist ja ´ne Überraschung. Was machst du denn hier?“ Markus und Florian waren jahrelang in dieselbe Klasse gegangen und hatten zusammen Abitur gemacht, danach hatten sich ihre Wege verloren.

„Ich lebe hier schon seit zwei Jahren. Und du?“

Florian erzählte von seinem neuen Job, der ihn hierher verschlagen hatte. Sie plauderten kurz über alte Zeiten und gemeinsame Bekannte, bis Markus fragte:

„Und was hast du heute noch so vor? Hast du Lust, dass wir uns nachher auf ein Bier treffen?“

Florian hatte, und so verabredeten sie sich für abends um Acht in einer Kneipe nicht sehr weit von seiner Wohnung entfernt. Er beendete seine Einkäufe und ging mit prall gefülltem Rucksack nach Hause. Markus Meyers, dass ich den mal wieder treffen würde, dachte Florian unterwegs. Er dachte zurück an die Schulzeit, an die Klassenfahrt in der Zehn, an die Dinge, die Markus und er damals getan hatten, die er fast vergessen hatte. Nach mehreren Flaschen Bier, die sie damals heimlich getrunken hatten (wovon ihr Lehrer natürlich nichts mitbekommen durfte), kam Markus damals zu Florian unter die Bettdecke gekrochen, wo sie sich, um die anderen nicht zu stören, leise unterhalten hatten. Und es war nicht bei der Unterhaltung geblieben. Irgendwann glitt die Hand des einen hinüber zwischen die Beine des anderen, was dieser nach kurzem Zögern erwiderte. Florian wusste nicht mehr genau, wer von beiden damals angefangen hatte, aber er wusste noch, dass die Situation absolut spannend (die anderen durften das ja nicht bemerken) und überaus geil war. Nachdem sie beide abgespritzt hatten, war Markus wieder leise in sein eigenes Bett verschwunden. Über diese Begebenheit hatten sie hinterher nie mehr gesprochen, und ähnliches hatte sich auch nicht wiederholt. Im Gegenteil, nach dieser Nacht waren sie sich gegenseitig aus dem Weg gegangen, beiden war es irgendwie peinlich, den Schwanz des anderen in der Hand gehabt zu haben. Und doch war etwas davon zurück geblieben bei Florian, die ganze Zeit, etwas undefinierbares, ein vages Gefühl, der Hauch einer Ahnung, nicht wesentlich mehr als das, an das man sich erinnern konnte vom Traum der vergangenen Nacht. Der gewisse Punkt. Nach dem Abitur verloren sich dann ihre Wege, was Florian nicht als besonderen Verlust empfand, denn eine Freundschaft, also so wie mit Simon, war es nicht, was die beiden verband. Im Grunde genommen verband sie gar nichts mehr, vielleicht noch die Erinnerung an jenen Abend. Dennoch freute Florian sich auf den heutigen Abend mit Markus, sicher würde es nett werden, mit ihm, neben der Klärung der üblichen Frage und was machst du jetzt so? über alte Zeiten zu sprechen. Auf den besagten Abend in der Jugendherberge würden sie dabei sicher nicht zu sprechen kommen…

Zuhause angekommen, ließ sich Florian als erstes ein Bad in die große Wanne ein, bevor er die Einkäufe im Kühlschrank verstaute. Der Anrufbeantworter blinkte. Sicher Stefanie, sie hatten heute noch nicht miteinander telefoniert. Mit nur geringer Begeisterung drückte er den Knopf zum Abhören der Nachricht:

„Hallo Schatz, wo bist du?“, hörte er die Stimme seiner Freundin. Wo soll ich schon sein, dachte er. „Ruf doch mal zurück, wenn du wieder zu Hause bist, ja?“ Daran schloss sich ein Geräusch an, das wie ein Kuss klang. Ja, später, dachte Florian, erstmal baden. Darauf freute er sich schon den ganzen Tag. In der ganzen Zeit, in der er hier wohnte, hatte er die Badewanne erst zweimal richtig benutzt. Er ging ins Bad, zog sich aus und stieg in das schaumbekrönte Wasser, ganz langsam, da es ziemlich heiß war. Schließlich lag er komplett drin, bis zum Hals im weißen, duftenden Schaum. Er genoss die Wärme und den Duft, die ihn umgaben, und schloss die Augen.

Er dachte an Markus Meyers. Wäre es, rein theoretisch, möglich, dass so etwas wie damals wieder geschah? Florian erschrak über diesen Gedanken, vor allem, weil es, wie er spürte, mehr war als ein bloßer Gedanke, eher so etwas wie ein versteckter Wunsch, der sich noch nicht traute, in Erscheinung zu treten. Nein, das waren damals die üblichen Spielchen pubertierender Jungs, nichts weiter von Bedeutung. Wenn sich so etwas heute wiederholt hätte, hätte das einen ganz anderen Anstrich gehabt, einen, der Florian nicht gefiel, da war dieses böse Wort, mit dem er nicht in Zusammenhang gebracht werden wollte. Nein, es war ja auch völlig abwegig, schließlich hatte er eine Freundin, und auch wenn es nicht so toll lief zwischen ihnen, so war er sich doch sicher, normal zu sein. Aber warum um alles in der Welt erwischte er sich dann in der letzten Zeit immer öfter bei dem Gedanken, so etwas wie damals mit Markus mal zu wiederholen, mit wem auch immer? Und wozu? Genau das war der gewisse Punkt. Und: War es nicht ein merkwürdiger Zufall, vielleicht sogar ein Wink des Schicksals, dass er ihn ausgerechnet hier und jetzt wiedergetroffen hatte?

Florian betrachtete seine verschrumpelten Fingerspitzen. Zeit, die wohlige Wärme der Wanne zu verlassen, zumal er ja in einer knappen Stunde mit Markus verabredet war und vorher noch pflichtgemäß bei Stefanie anrufen musste. Er zog den Stöpsel und blieb noch liegen, so lange, bis das Wasser fast völlig abgelaufen war und nur noch Schaumreste den Wannenboden und seinen aufgeheizten, nackten Körper bedeckten. Sein Blick fiel auf seinen Schwanz, den das ablaufende Badewasser freigab. Halbsteif reckte er sich ihm entgegen. Florian war geil und verspürte plötzlich Lust, sich einen runter zu holen, was bereits nach wenigen Minuten zu seiner vollen Zufriedenheit erledigt war. An Stefanie dachte er dabei nicht…

Nachdem er den weißen Saft abgeduscht, die Wanne verlassen und sich wieder angezogen hatte, rief er Stefanie an. Sie ließ ihn wissen, dass sie ihn vermisste, was er mit wenig innerer Überzeugung erwiderte. Er erzählte, dass er sich heute mit einem alten Schulfreund treffen würde, sie erzählte von ihren Klausurvorbereitungen.

„Ich muss gleich los“, bemühte sich Florian das Ende des Gesprächs herbeizuführen, was ihm auch gelang. Mach’s gut, bis morgen, ich melde mich. Ein ungutes Gefühl blieb zurück, nachdem Florian aufgelegt hatte. Er musste es ihr sagen, irgendwie, möglichst bald. Aber wie? Ich liebe dich nicht mehr, es ist aus? Nein, das war zu hart. Wie würde sie reagieren? Sie liebte ihn doch noch. Glaubte er jedenfalls. Andererseits, sie musste es doch auch spüren, dass von ihm nicht mehr viel kam. Angeblich sind Frauen doch so sensibel und spüren so etwas sofort. Er hatte einfach zu wenig Erfahrung mit Beziehungen, und erst recht mit deren Beendigung. Vielleicht sollte er sich mal mit Simon darüber unterhalten. Aber der würde ihn wahrscheinlich nur fragen, ob er noch ganz bei Trost wäre, sich von so einer tollen Frau wie Stefanie trennen zu wollen. Nein, Simon wäre ihm hier wahrscheinlich auch keine große Hilfe gewesen. Irgendwie musste er für diese Frage alleine eine Antwort finden. Na gut, vielleicht nicht heute, aber doch möglichst bald…

Florian schaute auf die Uhr. Noch eine knappe halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit Markus. Wenn er halbwegs pünktlich sein wollte, und das wollte er, musste er jetzt los. Er zog Schuhe und Jacke an und machte sich auf den Weg. Die Kneipe war von hier aus zu Fuß gut zu erreichen. Überhaupt war in dieser Stadt fast alles gut zu Fuß zu erreichen. Obwohl der Herbst schon spürbar in der Luft lag, war es ein recht milder Abend. Florian genoss den kurzen Fußmarsch durch den Park. Im Lichtschein einer Laterne begegnete er einem Herrn mittleren Alters, der ihn auffällig-unauffällig musterte. Warum schaute der ihn so an? Kannte er ihn, vielleicht ein Kollege, der ihm noch nicht aufgefallen war? War ja immerhin möglich nach der kurzen Zeit, in der Florian jetzt bei der Firma arbeitete. Egal. Wenige Schritte später hatte Florian den Mann und seinen Blick bereits wieder vergessen. Er verließ den Park, der durch eine hohe Hecke aus Rhododendron-Büschen vom Rest der Stadt abgegrenzt war. Er durchlief eine Straße, die auf beiden Seiten von schönen, alten Häusern und hohen Bäumen gesäumt war, die Florian mit seinen laienhaften botanischen Kenntnissen als Linden zu erkennen glaubte. Obwohl Samstagabend war, war auf den Straßen nicht viel los. An der übernächsten Straßenecke musste nach Markus´ Wegbeschreibung die Kneipe sein, ihr Treffpunkt. Und richtig, drei Minuten später stand Florian vor der Sonderbar, wie die Leuchtschrift über der offenen Tür verkündete. Musik drang nach draußen, Achtzigerjahre, durchaus nicht unangenehm. Markus hatte gesagt, dass die Kneipe ganz nett wäre, und diesen Eindruck machte sie auf Florian auch. Wie er durch die Fenster erkennen konnte, war noch nicht viel los, ein paar Leute, deren Alter er im Schnitt auf Zwanzig bis Dreißig schätzte, saßen an der Theke und an den Tischen. Ob Markus auch schon da war? Florian schaute erneut auf seine Uhr, er war fast zehn Minuten zu früh, hatte den Weg von seiner Wohnung wohl etwas großzügig geplant. Er ging hinein und schaute sich um. Markus konnte er nicht entdecken, sicher kam er gleich. Florian ging durch die Kneipe und setzte sich an einen der hinteren, freien Tische, so, dass er den Eingang im Blick hatte. Er ließ seinen Blick durch die Sonderbar streifen. Von der Einrichtung her wirkte sie etwas alternativ angehaucht, wie eine typische Studentenkneipe, das Publikum war eher gemischt. An der Wand war eine Tafel angebracht, auf der mit Kreide kleinere Speisen zu erstaunlich günstigen Preisen angeboten wurden.

„Was darf ich dir bringen?“, fragte die Bedienung, eine junge Frau ungefähr in Florians Alter, und lächelte ihn an. Florian lächelte zurück und bestellte ein großes Bier. Nett, dachte er und schaute ihr auf ihrem Weg zur Theke hinterher, rief sich innerlich jedoch sogleich zur Ordnung, immerhin hatte er eine Freundin, und da schaut man nicht anderen Mädchen nach und findet sie „nett“. Noch hatte er eine Freundin, aber die war ja jetzt in sicherer Entfernung, und gucken war ja wohl erlaubt… Doch, die Kneipe begann ihm zu gefallen.

Kurz darauf kam Markus herein. Er blieb stehen und schaute sich, wie kurz zuvor Florian, um. Sofort sah er Florian und kam lächelnd auf ihn zu.

„Wartest du schon lange“?

„Nein, bin auch gerade erst gekommen. Schön hier, guter Tipp!“, lobte Florian den Ort ihrer Begegnung. „Gehst du hier oft hin?“

„Nein, nicht oft, meist gehe ich ins Café Fritz, das ist auch nicht weit von hier“, antwortete Markus, der inzwischen seine Jacke, unter der er nur ein T-Shirt trug, ausgezogen und sich schräg neben Florian gesetzt hatte, so dass sie nun über Eck an dem kleinen Tisch aus dunklem Holz saßen, in welches sich im Laufe der Zeit viele Menschen mit eingeritzten Buchstaben, Zahlen und Zeichen verewigt hatten. Das grobe Material des Tisches forderte, in Einklang mit dem gesamten Ambiente der Kneipe, geradezu dazu auf, vollgeritzt zu werden, zum Beispiel „Marc was here, 23.7.1999“ oder noch originellere Botschaften… Auf dem Tisch stand, wie auf allen Tischen hier, eine alte Weinflasche, der das Schicksal Altglascontainer erspart geblieben war und die ihr Überleben der Tatsache verdankte, dass sie als Kerzenhalter diente. Die Vorgängerinnen der aktuell brennenden, und schon halb heruntergebrannten Kerze hatten mit bunten, erstarrten Fäden die Flasche in einen dicken Wachspanzer gehüllt.

Florians Blick fiel wie fremdgesteuert auf Markus´ stark behaarte Unterarme, wohingegen er selbst nur einen zarten, fast jungenhaften Flaum aufzuweisen hatte. Es irritierte ihn eine Sekunde lang, dass seine Aufmerksamkeit diesen Armen galt. Die nette Bedienung brachte Florians Bier und unterbrach seine ungereimten Betrachtungen männlicher Attribute.

„So eins hätte ich auch gerne“, gab Markus seine Bestellung auf. Nach wenigen Sekunden verlegenen Schweigens kam das Gespräch dann in Gang. Sie sprachen über die Zeit nach der Schule, das Studium, ihre Jobs. Markus hatte sein Studium abgebrochen und arbeitete jetzt als Hilfs- und Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei, wie er erzählte.

„Ah ja“, antworte Florian und verkniff sich die Frage, ob ihm, Markus, das genügte, was Florian sich, zumindest für sich selbst, nicht vorstellen konnte. „Aber was verschlägt dich dann ausgerechnet hierher, in diese Stadt?“

„Die Liebe“, antwortete Markus leicht verlegen.

„Das ist allerdings ein Argument“, bemerkte Florian anerkennend, wobei er kurz ein schlechtes Gewissen verspürte, schließlich konnte ihn die Liebe, oder was auch immer es war, was ihn noch mit Stefanie verband, nicht davon abhalten, sie zumindest räumlich des Jobs wegen zu verlassen. „Und wie heißt sie, seid ihr schon verheiratet?“

„Frank. Er heißt Frank.“ Markus knibbelte verlegen an den erstarrten Wachstropfen der Weinflasche herum.

„Wie bitte??“, erwiderte Florian völlig überrascht. „Heißt das, du bist... also du stehst auf…“

„Ja, ich bin schwul“, unterbrach ihn Markus und sprach dieses schreckliche Wort aus, das in letzter Zeit so häufig und so unerwünscht in Florians Kopf herumschwirrte, wie eine lästige Fliege, die man mit einer schnellen Handbewegung verscheucht, die dennoch immer wieder kommt, so lange, bis man sie endlich erschlagen hat, so fern man sie zu fassen bekommt. „Wusstest du das etwa nicht? Ich dachte, das hätte in der Schule damals längst die Runde gemacht.“

„Nein, das wusste ich nicht…“, antwortete Florian leise, und er spürte, dass er rot wurde. Sofort musste er wieder an den bewussten Abend auf ihrer Klassenfahrt denken. Wenn er damals gewusst hätte, dass Markus… schwul (selbst das Wort auch nur in Gedanken auszusprechen fiel Florian schwer) war, hätte er ihn dann überhaupt in sein Bett gelassen? War es also doch mehr als spätpubertäres Gefummel, zumindest für Markus?

„Bist du jetzt geschockt?“, fragte Markus.

Das war in der Tat eine sehr gute Frage. Florian wusste nicht, was er jetzt war. Geschockt? Nein, höchstens überrascht. Angeekelt, so wie es vielleicht viele andere in dieser Situation gewesen wären? Nein, erstaunlicherweise nicht im Geringsten. Neugierig. Ja, das traf es am besten. Der Abend versprach wesentlich interessanter und womöglich für ihn aufschlussreicher zu werden, als er sich das zunächst erhofft hatte.

„Nein, das nicht, ich hatte nur nicht damit gerechnet. Schließlich erzählt einem nicht täglich jemand, dass er …, also dass er auf Typen steht.“

„Du darfst ruhig schwul sagen, das ist keine Beleidigung“, erwiderte Markus lächelnd.

„Und seit wann weißt du, dass du… schwul bist?“ Jetzt hatte er dieses schreckliche Wort zum ersten Mal ausgesprochen, ohne es als Schimpfwort zu gebrauchen. Ihm wurde heiß, wahrscheinlich war er jetzt knallrot, dachte er. Gab es dafür eigentlich kein besseres Wort?

„Eigentlich schon immer. Ich fand Jungs immer interessanter als Mädchen.“

„Hast du denn schon mal mit einer Frau geschlafen?“, fragte Florian.

„Nein, noch nie, das kann ich mir auch nicht vorstellen.“ Markus´ Gesicht nahm einen fast angeekelten Ausdruck an, so als ob er gefragt worden wäre, ob er schon mal eine Ziege gefickt hätte.

„Aber woher willst du dann wissen, dass du auf Typen stehst, wenn du keinen Vergleich hast?“

„Und woher willst du wissen, dass du auf Frauen stehst, wenn du noch nie was mit einem Kerl hattest? Du hast doch sicher eine Freundin, nehme ich mal an“, entgegnete Markus spitz.

Volltreffer, dachte Florian, dem er wenig entgegen zu setzen hatte. Aber wieso behauptete Markus, dass er, Florian, es noch nie mit einem Jungen probiert hatte? Hatte er den bewussten Abend in der Jugendherberge etwa schon vergessen? Sollte er ihn darauf ansprechen? Ja, warum eigentlich nicht?

„Ja schon, ich habe eine Freundin. Und mit einem Jungen habe ich auch schon mal was gemacht, daran solltest du dich eigentlich erinnern. Oder war ich so schlecht?“, grinste er Markus an und staunte, dass ihm das so leicht, ja geradezu keck über die Lippen ging.

„Ach du meinst das bisschen Rumgewichse damals auf der Klassenfahrt? Ja, das war schon ganz geil, du hast echt Talent!“ Jetzt grinste Markus, und Florian wurde wieder rot. „Aber mal ehrlich“, setzte Markus fort, „das war doch kein Sex, das machen doch in dem Alter fast alle. Trotzdem bezeichnen sie unsereins später als schwule Sau und schlagen uns deswegen vielleicht sogar zusammen.“ Jetzt grinste er nicht mehr.

„Hast du das schon mal erlebt?“, wollte Florian wissen. Er wollte plötzlich überhaupt alles zu dem Thema wissen, wahrscheinlich würde dieser Abend und dieses Wochenende gar nicht ausreichen für all die Fragen, die er plötzlich hatte.

„Nein, ich nicht. Aber ein guter Freund von mir. Den haben sie nachts im Park überfallen und krankenhausreif geschlagen“.

„Was treibt er sich auch nachts im Park rum. Damit muss man doch rechnen, egal ob schwul oder nicht.“ Da war es wieder, dieses Wort, dieses Mal konnte er es schon ohne Stocken und Rotwerden aussprechen. Vielleicht musste er das erstmal üben, abends vor dem Spiegel: schwul, schwul, schwul…

„Das war ja nicht irgendein Park, das war schon unser Park. Und sie haben ihn auch nicht beraubt, sondern nur zusammengeschlagen, einfach so.“

„Was heißt das, unser Park?“

„Oje, du brauchst wohl erstmal einen Einführungskurs in die schöne schwule Welt, was? Ich meine den kleinen Park an der Beethovenallee, wo mann sich nachts trifft, um etwas Spaß miteinander zu haben.“

Park an der Beethovenallee? Das war der Park in der Nähe von Florians Wohnung, auf den er von seinem Lieblingssessel aus so einen schönen Blick und den er heute Abend auf dem Weg hierher durchquert hatte.

„Du meinst, man trifft sich dort nachts, um miteinander…?“, fragte Florian ungläubig.

„Ja klar, was meinst du, was dort in lauen Sommernächten abgeht? Und alles umsonst, also ohne zu bezahlen, meine ich. Wenn es so was für die Heten gäbe, bekäme man dort wahrscheinlich kein Bein an die Erde.“

„Heten? Ach so, du meinst…“

„… Leute wie du und andere, oder Normale, wie ihr euch wahrscheinlich nennen würdet.“ Markus´ Stimme wurde leicht aggressiv.

„Was ist schon normal…“, versuchte Florian zu beschwichtigen. Nun fiel ihm auch wieder der Mann ein, der ihn auf dem Weg hierher im Park so merkwürdig angeschaut hatte. „Und wo ist dein Freund heute Abend?“, wechselte er das Thema.

„Welcher Freund?“ fragte Markus.

„Na du sagtest doch vorhin, dass du wegen deiner großen Liebe hierher…“

„Ach du meinst Frank. Ha, von wegen große Liebe. Kaum war ich hierher gezogen, hat er einen anderen kennen gelernt und mich sitzen gelassen. So sind sie, die Kerle…“

„Oh, das tut mir leid“.

„Ach was, das muss dir nicht leid tun, der Kerl war ein Arschloch, gut dass ich das so schnell gemerkt habe. – Und deine Liebe, wo ist die?“

Florian erzählte von Stefanie, die er nur noch am Wochenende sah, wenn überhaupt. Von seinen Zweifeln, die er zunehmend an seinen Gefühlen für sie hatte, erzählte er nichts. Noch nicht, erstmal wollte er selber verstehen, was da noch war.

Sie merkten kaum, wie die Zeit verging, ständig fielen Florian neue Fragen ein, die er Markus wissbegierig stellte und die dieser gerne beantwortete. Einige Stunden und noch mehr Biere später machte sich dann doch langsam die Müdigkeit der zu Ende gehenden Arbeitswoche bemerkbar.

„Wollen wir noch woanders hingehen?“, fragte Markus.

„Nee, lass mal, ich glaube für mich wird’s höchste Zeit“, gähnte Florian.

„Jetzt schon, und alleine?“, grinste Markus ihn an.

„Wieso, willste mitkommen?“, fragte Florian ohne jede Ernsthaftigkeit in seiner Frage.

„Also wenn das ein Angebot sein soll, nehme ich es gerne an!“, ging Markus darauf ein, mit scheinbar genauso wenig Ernst.

„Lieber nicht, du willst doch wohl nicht einen unschuldigen Hetero verführen, oder?“

„Bist du denn einer?“

„Was, unschuldig oder Hetero?“

„Sowohl als auch.“

„Aber sicher, Hetero und völlig unschuldig.“

„Schade, wie langweilig! Wenn du es dir mal anders überlegst, lass es mich wissen, ja?“, sagte Markus breit grinsend.

„Du wirst der erste sein, der es erfährt, versprochen!“, antworte Florian, ebenso breit grinsend. Dieses Spielchen, dessen diffusen Hintergrund er noch nicht so ganz begriff, begann, ihm Spaß zu machen.

„Bleiben wir in Verbindung, gehen demnächst mal wieder was trinken?“, fragte Markus, jetzt ohne Grinsen.

Klar würden sie, und sie tauschten ihre Telefonnummern aus. Dann bezahlten sie bei der Netten und verließen die Kneipe.

„Ich muss da lang“, sagte Florian und zeigte in seine Richtung. „Was machst du jetzt noch?“

„Ich geh noch mal kurz ins Café Fritz.“

„Was gibt’s da?“

„Mal sehen, vielleicht reiße ich noch was Nettes auf für die Nacht.“

„Ach so ein Laden ist das…“, begriff Florian.

„Kannst ja mal mitkommen. Natürlich nur rein interessehalber“, grinste Markus.

„Ja vielleicht, mal sehen, irgendwann.“ Sie gaben sich zum Abschied brav die Hand, dann gingen sie auseinander, jeder in seine Richtung. Florian spürte jetzt den Alkohol, den er im Laufe des Abends konsumiert hatte. Hinzu kam die Nachtluft, die deutlich kühler geworden war. Er knöpfte seine Jeansjacke zu, schlug den Kragen hoch und versenkte die Hände in den Hosentaschen. Mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Hals machte er sich, weiße Dampfwolken ausatmend, auf den Weg.

*

Unterwegs dachte Florian über den Abend nach. Markus war also tatsächlich schwul. Und irgendetwas daran beunruhigte ihn, etwas, wie Florian immer deutlicher merkte, das nichts unmittelbar mit Markus zu tun hatte, sondern viel mehr mit ihm selbst. Ich bin doch ein unschuldiger Hetero, oder wie hatte Markus das genannt, eine Hete, dachte Florian. Ja, unschuldig auf jeden Fall, was ja wiederum eine Frage der Definition war, und Florian befand, dass er sich bislang nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Aber Hetero, so richtig, voll und ganz, ohne wenn und aber? Hatte Markus nicht am Ende sogar Recht, konnte man das nicht wirklich erst beantworten, wenn man beides mal ausprobiert hatte? Immerhin, ziemlich geil war das schon damals auf der Klassenfahrt, auch wenn das in Markus´ Augen noch kein richtiger Sex war. Wie geil musste dann erst richtiger Sex mit einem Kerl sein? Wenn er da an den Sex mit Stefanie dachte… er empfand es immer mehr als eine Pflichtübung: Man machte es miteinander, weil sich das für ein Paar eben so gehört und weil alle, einschließlich man selbst, es von einem erwarten; aber so richtige Leidenschaft, Ekstase oder was auch immer angeblich mit Sex verbunden sein sollte, hatte er nie dabei erlebt, im Gegenteil, manchmal war er froh, wenn er überhaupt einen hoch bekam und nach vollendeter Tat noch ein wenig kuscheln und dann einschlafen durfte. Ja, im Grunde genommen fand er es nicht wesentlich geiler, als sich selbst gepflegt einen runter zu holen. Schon beim ersten Mal, als er mit Stefanie geschlafen hatte (ein blödes Wort, denn geschlafen hatten sie in dem Moment ja nun wirklich nicht!), konnte er nicht verstehen, warum alle Welt so einen Wirbel um diese Sache macht. Irgendetwas musste da doch dran sein, was er noch nicht kennen gelernt hatte. Aber was? War Stefanie in dieser Hinsicht vielleicht nicht die richtige, sollte er es mal mit anderen Frauen ausprobieren? Nein, auf keinen Fall, jedenfalls nicht so lange er mit ihr zusammen war, dabei hätte er sich extrem mies gefühlt und wahrscheinlich erst recht keinen hoch gekriegt. Aber wäre es nicht – mal rein theoretisch überlegt – etwas völlig anderes, wenn er es mal mit einem Kerl ausprobieren würde, einfach nur so, um mal zu erfahren wie das ist? Wäre das auch ein Betrug gegenüber Stefanie gewesen? Gute Frage…

Während Florian diese Gedanken durch den Kopf gingen, näherte er sich den Rhododendron-Büschen, hinter denen der Park, unser Park, wie Markus ihn nannte, im Dunkeln, nur durch ein paar wenige Laternen beleuchtet, schlief. Florian hatte zwei Möglichkeiten, um nach Hause zu kommen: entweder durch den Park, welchen er normalerweise um diese Zeit gemieden hätte, oder außen herum, was auch nicht viel weiter gewesen wäre. Sein Mut, durch Alkohol gestärkt, und die Neugierde darauf, dort möglicherweise etwas zu sehen, was er sich noch nicht so recht vorstellen konnte, ließen ihn den Weg durch den Park nehmen. Nach wenigen Schritten hatte er das Licht der Straße hinter sich gelassen, Dunkelheit umgab ihn. Bis zur nächsten Laterne waren es schätzungsweise hundert Meter. Nun wurde es ihm doch etwas unheimlich. Sollte er umkehren und doch den Weg außen herum nehmen? Nein, jetzt war er hier, was sollte schon passieren. Dennoch lief er unbewusst ein paar Schritte schneller. Kurz nach der Laterne, die an einer Weggabelung stand und um die sich eine größere Anzahl Insekten tummelte, näherte er sich einer Parkbank, auf der, wie er schon von weitem sehen konnte, jemand saß und rauchte. Florian fand es ungewöhnlich, bei diesen Temperaturen und weit nach Mitternacht auf einer einsamen Parkbank zu sitzen und zu rauchen. Aber vermutlich war das schon einer, von denen Markus erzählt hatte und die Florian jetzt zu sehen gehofft hatte, so weit man bei diesem knappen Licht überhaupt etwas sehen konnte. Florian verlangsamte seinen Schritt und ging betont beiläufig an der Bank vorbei, den Sitzenden aus den Augenwinkeln beobachtend. Dieser verfolgte, ebenso beiläufig, Florian mit den Augen, wobei sich ihre Blicke trotz der herrschenden Dunkelheit kurz trafen. Florian ging weiter und blieb an der nächsten Ecke hinter einem Busch stehen, von wo aus er die Bank mit dem immer noch darauf sitzenden beobachten konnte, ohne dass dieser ihn sah. Ein weiterer Mann trat aus der Dunkelheit hervor und setzte sich ebenfalls auf die Bank, ohne mit dem ersten zu sprechen, soweit Florian das aus der Ferne beobachten konnte. Der Hinzugekommene zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Nach wenigen Minuten verschwand der erste im Gebüsch hinter der Bank, der zweite folgte ihm kurz darauf. Jetzt waren beide aus Florians Blickfeld verschwunden, der in Anbetracht der Tatsache, dass diese beiden ihm (und vielleicht auch einander) völlig unbekannten Typen sich nun im Gesträuch vermutlich miteinander vergnügten, eine starke innere Unruhe verspürte, die es ihm unmöglich machte, einfach nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, als wäre nichts gewesen, ja die ihn vielmehr dazu drängte, zurück zu gehen und zu schauen, was da im Buschwerk nun abging. Nach einem nur kurzen inneren Kampf, dessen Ausgang nicht zuletzt durch seinen von Bier gestärkten Mut entschieden wurde, ging er zurück zur Bank, verließ den Parkweg und schlich in Richtung der Büsche, welche kurz vorher die beiden Kerle verschluckt hatten. Was mache ich hier eigentlich, dachte sich Florian, nahm aber nochmals all seinen Mut zusammen und ging weiter bis an den Rand des Gebüsches, wo er eine schmale Schneise in die Dunkelheit entdeckte. Soll ich wirklich…? Na los, weiter!, befahl er sich selbst. Er schlüpfte durch die Schneise und sah – erstmal gar nichts. Leichte Panik stieg in ihm auf, die ihn unter normalen Umständen dazu veranlasst hätte, sofort zu verschwinden, nach Hause, ins warme Bett. Doch eine Mischung aus Neugierde, unerklärlichem Mut und etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte, zwang ihn, hier zu bleiben. Nach wenigen Sekunden hatten sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt und er konnte zumindest erahnen, was hier abging. Nicht weit von ihm, vielleicht drei Meter entfernt, machte er zwei Männer aus, bei denen es sich wohl um die beiden Banksitzer von eben handelte, ganz sicher war er sich nicht, das spielte jetzt aber auch keine Rolle. Der eine von ihnen stand aufrecht, der andere kniete davor, und trotz der Dunkelheit hatte Florian keine Schwierigkeiten, zu erkennen, was die beiden miteinander trieben. Er blieb regungslos stehen und schaute den beiden zu, so gut es ging. Er spürte, wie sich bei diesem Anblick in seiner Hose etwas regte. Am liebsten hätte er jetzt seinen Schwanz herausgeholt, um sich an Ort und Stelle… aber nein, das traute er sich nun wirklich nicht. Plötzlich erschrak Florian heftig, als er einen weiteren Kerl ausmachte, der nicht weit von den beiden, und somit auch nicht weit von ihm entfernt, an einem Baum lehnte, sich die Hose rieb und auffordernd, soweit Florian das erkennen konnte, zu ihm herüber schaute. Florian fühlte sich wie erstarrt. Was sollte er jetzt tun? Abhauen? Sich darauf einlassen, zu dem Kerl hingehen und sehen, was der dann mit ihm machte? Unfähig, eine Entscheidung zu treffen, und unfähig, sich zu bewegen, starrte Florian zurück, abwechselnd ins Gesicht des Reibenden und auf die geriebene Stelle seiner Hose. Florian bekam innerhalb weniger Sekunden eine ausgewachsene Erektion. Der Angestarrte löste sich von seinem Standplatz und kam in Richtung Florian. Einen knappen Meter neben ihm blieb er stehen, öffnete seine Hose und blickte Florian auffordernd an. Florian konnte nicht anders, als auf den Riesenschwanz zu schauen, der ihm präsentiert wurde. Sein Herz pochte spürbar, auch in seiner Hose pulsierte das Blut. Sollte er seinen jetzt auch herausholen? Sicher erwartete der andere das von ihm. Der machte einen weiteren Schritt, so dass er nun direkt neben Florian stand, während er mit der rechten Hand seinen entblößten Schwanz bearbeitete. Auch die linke blieb nicht untätig und wanderte herüber zu Florian. Sie strich kurz über seinen Hintern, wanderte dann herum und begann seine ausgebeulte Vorderhose zu kneten. Florian schloss die Augen. Hör sofort auf damit, dachte er. Mach weiter, flüsterte eine andere Stimme unhörbar. Der Unbekannte stellte sich vor Florian, seinen Schwanz direkt auf ihn gerichtet wie eine Kanone, die auf den Befehl „Feuer frei“ wartete, und begann, Florians Jeansjacke aufzuknöpfen. Dann machte er sich an Florians Hosengürtel zu schaffen.

Das war nun doch zu viel. Florian verließ das Gebüsch so schnell er konnte, und lief wie von Panik getrieben nach Hause. Während er seine Jacke wieder zuknöpfte, drehte er sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass ihm keine von diesen Schwuchteln folgte und womöglich mitbekam, wo er wohnte. Kurz darauf stand er vor der Haustür, drehte sich nochmals um, schloss auf und ging möglichst leise (als ob seine Vermieter, falls sie überhaupt zu Hause waren, nicht mitbekommen sollten, dass er jetzt direkt aus dem Park kam) die Treppe hinauf in seine Wohnung. Angetrunken und verwirrt über die Frage, was ihn getrieben hatte, den Männern ins Gebüsch zu folgen und über die dann folgende Begegnung mit dem fremden Riesenschwanz, lag er kurz darauf in seinem Bett und schlief sofort ein.

2. Neue Freiheit

Am nächsten Morgen wachte Florian zur gewohnten Zeit auf, also kurz nach Sieben. Normalerweise hätte er sich jetzt, da Samstag war und er nicht aufstehen musste, umgedreht und genüsslich weiter geschlafen. Manchmal vergaß er sogar absichtlich, Freitagabend vor dem Einschlafen den Wecker auszuschalten, nur um am Samstagmorgen um Sieben den Genuss des Weiterschlafendürfens erleben zu können. Doch heute brauchte er keinen Wecker, er war hellwach, wacher als sonst unter der Woche, wenn er, im Gegensatz zu heute, aufstehen musste. Verkehrte Welt. Und so sehr er sich auch bemühte, eine weitere Runde zu schlafen, es gelang nicht. Zum einen dröhnte sein Kopf etwas (die letzten Biere gestern hätten wohl nicht mehr unbedingt sein müssen), zum anderen schwirrten so viele diffuse Gedanken durch seinen Kopf, Gedanken an den Abend mit Markus und den Rückweg durch den Park. Nach einer Stunde, die er sich hin und her wälzend im Bett verbracht hatte, stand er auf; es hatte ja auch was Gutes, wenn man den freien Tag nicht bis zum Mittag im Bett verbrachte. Auf dem Weg ins Bad stellte er nach einem kurzen Blick aus dem Fenster fest, dass es regnete. Na toll, so viel zum Thema „Die Stadt erkunden“.

Nach der Dusche ging es ihm schon besser; kurz darauf löffelte er lustlos an seinen Cornflakes und überlegte, was er an diesem kühlen und verregneten Herbsttag sinnvolles machen könnte. Vielleicht einfach nur gemütlich in seinem Lieblingssessel ein Buch lesen? Ja, das war eine gute Option: Etwas Musik, dazu das Trommeln der Regentropfen, die der Wind gegen das Fenster blies, und ein Buch. Er spülte das Frühstücksgeschirr kurz ab (in dieser Hinsicht war er ein sehr ordnungsliebender Mensch, er hasste es, wenn solche Sachen lange herum standen) und ging zum Bücherregal im Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf Der Name der Rose von Umberto Eco, das er vor langer Zeit mal zu lesen begonnen, aber aus Zeitgründen nie zu Ende gelesen hatte. Ja, das wäre genau das Richtige für heute. Er nahm das Buch, setzte sich, ohne es aufzuschlagen, in den Sessel und schaute aus dem Fenster in den verregneten Garten seiner Vermieter. Offenbar verbrachten sie viel Zeit mit seiner Pflege, denn der sah aus wie ein Muster aus Schöner Wohnen oder ähnlichen Zeitschriften. Dabei wirkte er aber in keiner Weise wie das Werk eines pedantischen Unkrautzupfers, sondern gab ein in sich stimmiges Bild ab. Die annähernd ovale Rasenfläche war umsäumt von Beeten, in denen die Büsche und Sträucher in herbstlichen Farbtönen um die Wette leuchteten, zumindest wenn die Sonne schien. In einer Ecke des Gartens war ein kleiner Teich angelegt, der heute grau die hineinfallenden Regentropfen aufnahm, daneben eine Art Terrasse, deren Untergrund alte Ziegelsteine bildeten. Darauf wiederum stand ein hölzerner Gartentisch, daneben zwei reichlich verwitterte Klappstühle aus Metall mit Sitzfläche und Rückenlehne aus Holzlatten, so wie man sie aus bayrischen Biergärten kennt. Auf einem dieser Stühle stand ein tönerner Blumentopf mit Herbstastern, deren leuchtendes Violett einen reizvollen Kontrast bildete zum übrigen Gelb-Rot-Braun, das im Garten ansonsten vorherrschte und zu der stumpfen abblätternden, ehemals offenbar hellblauen Farbe des Stuhls, auf dem der Topf stand. Die andere, dem Teich gegenüberliegende Ecke des Gartens war beherrscht von den rot leuchtenden Blättern eines Essigbaumes. Das Zentrum des Gartens bildete ein großer Ahornbaum mitten auf der Rasenfläche, dessen große Blätter trotz des trüben Wetters goldgelb leuchteten und die dadurch einen Optimismus verbreiteten, der dem Wetter und der allgemeinen Stimmung dieses Tages nicht angemessen erschien.

An den Garten schloss sich, durch eine hohe Hecke und einen eisernen Zaun getrennt, der Park an, der jetzt unschuldig in seiner beginnenden, herbstlichen Verfärbung dalag, als wäre nichts gewesen. Eigentlich war ja auch nichts, oder? Florian schlug das Buch auf. Die Stelle zu suchen, bis zu der er das letzte Mal gekommen war, hatte keinen Sinn, das war einfach zu lange her. Daher begann er von vorne. Nun stellt der Name der Rose sicher alles andere als leichte Kost dar, aber allein daran lag es nicht, dass sich bei Florian der Lesegenuss nicht so recht einstellen wollte. Es gelang ihm einfach nicht, sich auf das Gelesene zu konzentrieren, immer wieder schweiften seine Gedanken ab, der Blick fiel in Richtung Park. Er musste an Gebüsch denken, und er fühlte, dass ihn dieser Gedanke alles andere als kalt ließ. Und wieder kamen diese Zweifel in ihm hoch, die ihn in Verbindung brachten mit diesem schrecklichen Wort, das er - im Gegensatz zu Markus - nicht aussprechen wollte. Nein, verdammt, dachte er, ich bin nicht… Ich bin hetero, eine Hete, wie Markus es ausdrückte, ich habe eine Freundin, und das ist gut so.

Und plötzlich, wie schon lange nicht mehr, vermisste er Stefanie, ihr Gesicht, ihre Stimme, ihren Duft. Und ihren Körper. Und spontan beschloss er, zu ihr zu fahren. Sie würde sich sicher darüber freuen, ihn zu sehen, auch wenn sie nicht viel Zeit für ihn hatte. Aber vom Lernen brauchte sie auch mal etwas Abwechslung, und die würde er ihr verschaffen. Zum ersten Mal seit wer weiß wie langer Zeit freute er sich auf sie. Gut, dass er heute schon so früh aufgestanden war, so konnte er schon kurz nach Mittag bei ihr sein. Er packte schnell ein paar Sachen zusammen und setzte sich in sein Auto. Er verzichtete darauf, sie vorher anzurufen und sein Kommen anzukündigen, wozu auch, er wollte sie überraschen. Gut zwei Stunden Autofahrt, und sie würden sich in den Armen liegen…

*

„Wo kommst du denn her?“, fragte Stefanie völlig überrascht, aber augenscheinlich nicht besonders erfreut, als Florian mit seiner Sporttasche vor ihrer Wohnungstür stand und sie erwartungsvoll anlächelte.

„Ich habe dich halt vermisst…“, antwortete er, umarmte sie und gab ihr einen Kuss, den sie auffallend passiv mit herunterhängenden Armen in Empfang nahm, eher wie eine Fremde, die den Kuss als eine Belästigung empfand. Florian, der eine etwas ausdrücklichere Wiedersehensfreude erwartet hatte, merkte, dass irgendetwas nicht stimmte: „Was ist los, freust du dich nicht?“

„Doch schon… ich habe nicht mit dir gerechnet.“

„Darf ich trotzdem reinkommen?“, fragte Florian, der noch immer im Hausflur stand.

„Ach so, ja, natürlich… es ist nur… ich habe Besuch, wir… lernen gerade zusammen.“

Florian betrat in Erwartung einer kleineren Lerngruppe die Wohnung. Stattdessen fand er nur einen ziemlich schmalbrüstigen, augenscheinlich knapp zwanzigjährigen Jungen vor, der auf dem Sofa saß und ihn nervös anschaute. Die Lerngruppe war offenbar wesentlich kleiner...

„Das ist Tobias, mein… ein Kommilitone von mir; Tobias, das ist Florian, mein Freund“, stellte Stefanie die beiden vor, nicht minder nervös.

„Hallo…“, entwich es dem Schmalbrüstigen tonlos, mit einem Blick, der zu sagen schien bitte nicht schlagen, ich gehe ja schon, was Florian nicht zur Kenntnis nahm.

Was Florian vor sich sah, erweckte nicht gerade den Eindruck von Klausurvorbereitungen: Tobias war nur mit einer Jeans und einem T-Shirt bekleidet, trug weder Socken noch Schuhe. Der Grund für diese der Jahreszeit nicht unbedingt angemessene Bekleidung war leicht zu durchschauen, zumal weit und breit keine Lernunterlagen oder ähnliche Papiere zu sehen waren; dafür standen eine geöffnete Sektflasche und zwei halb gefüllte Sektgläser auf dem Tisch, in denen die Bläschen perlenkettenartig nach oben strebten. Erst jetzt fiel Florian auf, dass Stefanie auch nicht mehr als eine Jeans und ein T-Shirt trug, dafür entdeckte er einige Kleidungsstücke, die auf und neben dem Sofa verstreut lagen. Anscheinend war er gerade in Übungen eines sehr speziellen, nicht klausurrelevanten Faches hineingeplatzt, und zwar so plötzlich, dass nicht einmal mehr Zeit geblieben war, die Spuren halbwegs zu beseitigen.

„Ach so ist das…“, sagte Florian leise. Er überlegte, wie er sich jetzt verhalten sollte. Sollte er eine klassische Szene machen, herumbrüllen, diesem Abiturienten Prügel androhen und ihn formvollendet aus der Wohnung werfen? Oder sollte er beleidigt abziehen? Verdammt, wie verhält man sich in einer solchen Situation?

„Also ich geh dann mal besser“, sagte Tobias mehr zu sich selbst und begann, nach seinen Socken zu suchen. Florian stand wort- und regungslos im Raum und überlegte immer noch, was er tun sollte, welche Reaktion seinerseits der Situation angemessen war und vielleicht sogar von den beiden anderen erwartet wurde. Er schaute aus dem Fenster auf die ungepflegte Rasenfläche hinter dem Haus, aus der einige Birken und angerostete Teppichstangen herauswuchsen.

Auch Stefanie fehlten die Worte, sie stand wortlos im Türrahmen und starrte auf Florian; Tobias nahm sie nicht mehr wahr. Der hatte inzwischen seine Socken und Turnschuhe wiedergefunden und angezogen. Mit einem Ausdruck der Ratlosigkeit drückte er sich wortlos an Stefanie vorbei, dann hörte man, wie er im Flur seine Jacke anzog, kurz darauf klappte die Wohnungstür ins Schloss. Florian starrte noch immer nach draußen auf die Sechzigerjahre-Mietshäuser gegenüber. Nein, eine filmreife klassische Eifersuchtsszene hielt er jetzt für völlig unangebracht. Dazu fehlte ihm einfach die Wut, die hierfür nötig gewesen wäre. Irgendwie fand er die Vorstellung, dass Stefanie hier vor wenigen Minuten mit diesem schmalbrüstigen Knaben, welchen er durchaus nicht hässlich fand (warum musste er das jetzt denken?), wer weiß was gemacht oder zumindest zu machen beabsichtigt hatte, erregend. Schon wieder so ein völlig unpassender Gedanke: Soeben hat er seine Freundin mit einem anderen erwischt, oder zumindest fast, und er findet die Vorstellung geil! Er spürte plötzlich, wie er gegen ein leichtes Grinsen ankämpfen musste, vielleicht ein Anflug beginnenden Wahnsinns? Das allerdings wäre nun völlig unpassend und dem an sich dramatischen Augenblick nicht angemessen gewesen. Gut, dass er gerade aus dem Fenster schaute…

„Das nennst du also Lernen…“, begann Florian nach einer Weile des beiderseitigen Schweigens in einem, wie er selbst fand, erstaunlich ruhigen Ton.

„Ich… ich…“, stammelte Stefanie.

„Und wie lange lernst du schon mit dem? Konntest du ihm schon was beibringen?“ Florians Ton wurde schärfer; er drehte sich um und ging auf Stefanie zu, die noch immer im Türrahmen stand und ein hilfloses Bild abgab. Ihr Gesicht war kreidebleich, inzwischen rannen ihr einige Tränen die Wangen herunter. Plötzlich tat sie ihm leid, ja er bekam fast ein schlechtes Gewissen darüber, dass er unangemeldet hineingeplatzt war und sie nun dazu nötigte, eine Erklärung abzugeben für etwas, das im Grunde keiner weiteren Erklärung mehr bedurfte. Heute war anscheinend der Tag der absurden Gedanken.

„Es tut mir so leid…“, hauchte sie leise. Er konnte nicht anders als sie in den Arm zu nehmen. Sie küssten sich. Erst zart, dann heftiger und leidenschaftlicher. Sie gingen, sich immer noch küssend, langsam hinüber zum Sofa und rissen sich mit hektischen Bewegungen die Kleidung vom Leib. Kurz darauf setzten sie das fort, bei dem Florian Stefanie und diesen hübschen Knaben offenbar unterbrochen hatte. Und Florian fand es geil, so wie schon lange nicht mehr. Derweil stiegen in zwei vergessenen Sektgläsern weiterhin die Bläschen auf…

„Und wie geht das jetzt weiter mit uns?“, fragte Florian später, nachdem sie einige Minuten schweigend nebeneinander gelegen hatten.

„Ich weiß es nicht…“, antwortete Stefanie. „Kannst du mir verzeihen?“

„Verzeihen… gute Frage. Ich glaube, wir sollten uns erstmal nicht mehr sehen.“

„Heißt das, du und ich… also, es ist aus zwischen uns?“

„Keine Ahnung. Ich glaube ich brauche erstmal etwas Abstand.“

Stefanie schwieg. Sie sah ein, dass es jetzt wohl wenig Sinn hatte, zu versuchen, Florian zu halten. Dazu musste er jetzt zu verletzt sein. Obwohl er davon wenig erkennen ließ. Seit wann war er so cool? Oder war er am Ende gar nicht so sehr verletzt? Müßig, jetzt darüber nachzudenken, was geschehen war, war geschehen und ließ sich auch nicht wieder rückgängig machen. Vermutlich hatte er Recht, vielleicht war etwas Abstand jetzt wirklich das, was für beide das Beste war.

Florian wollte wissen, ob das schon lange lief mit diesem Typen. Stefanie erzählte ihm, dass sie sich anfangs wirklich nur zum Lernen getroffen hatten, aber sehr schnell merkten, dass beide nicht abgeneigt waren, die Treffen etwas weniger fachbezogen zu gestalten. Ob sie Tobias liebte? Nein, das nicht, sie suchte nur etwas Nähe, weil er, Florian, doch die ganze Woche weg war und sie sich immer nur am Wochenende sahen, wenn überhaupt. Und immer nur zu telefonieren konnte auf Dauer auch nicht alle Bedürfnisse erfüllen. Insgeheim hatte Florian sogar Verständnis dafür, was er natürlich niemals zugegeben hätte.

Florian erhob sich vom Sofa, auf dem sie bis jetzt nackt gelegen hatten und begann, sich wieder anzuziehen.

„Ich fahre dann mal wieder“, sagte er überflüssigerweise, alles andere wäre jetzt auch sinnlos gewesen.

„Es tut mir so leid…“, wiederholte Stefanie.

Florian küsste sie auf die Stirn.

Kurz darauf saß er wieder in seinem Auto. Es regnete immer noch. Seit einer halben Stunde schlich Florian hinter einem LKW her, ohne daran zu denken, ihn zu überholen. Die Wasserwolke, die der LKW hinter sich herzog, traf Florians Wagen voll, die Scheibenwischer hatten gut zu tun. Aber das alles interessierte ihn jetzt nicht. Seine Gedanken waren nicht auf der Straße. Und er hatte es auch nicht eilig, nach Hause zu kommen, was sollte er da. Noch immer konnte er nicht so recht fassen, was geschehen war, und noch weniger konnte er fassen, wie wenig ihn das im Grunde genommen berührte. Seine Freundin fickte mit einem anderen, wegen so was hatte es schon Morde gegeben, aber an ihm prallte das ab, als wenn es ihn nichts anginge, im Gegenteil, er fand es auch noch irgendwie geil, so als ob er der unbeteiligte Zuschauer eines Pornofilms wäre. Dann wurde ihm klar: er war frei! Seit Wochen, wenn nicht Monaten, dachte er darüber nach, wie er am besten mit Stefanie Schluss machen könnte, ohne sie all zu sehr zu verletzen, und jetzt hatte sie den Spieß einfach umgedreht, ihm eine erstklassige Vorlage geboten. Vielleicht war dieser Tobias in diesem Augenblick schon wieder bei ihr, die Sektgläser neu gefüllt. Und Florian verspürte nicht eine Spur von Eifersucht, sondern nur ein Gefühl der Befreiung. Er musste grinsen bei dem Gedanken. Das Grinsen wuchs an zu einem Kichern, bis er kopfschüttelnd in ein schallendes Gelächter ausbrach, worüber er sich selbst etwas wunderte. Fühlte sich das so an, wenn der Eizahn des Wahnsinns langsam an der dünnen Schale der Vernunft zu kratzen begann? Ja, er war frei, eine zentnerschwere Last war plötzlich von ihm gefallen. Florian setzte den Blinker und überholte endlich diesen verdammten Lastwagen.

Als er am frühen Nachmittag nach Hause kam, war er gut gelaunt. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Er machte sich einen Tee und legte eine CD von Oasis ein. Da seine Vermieter mal wieder unterwegs waren, konnte er die Anlage richtig aufdrehen, er war ja alleine in dem großen und wunderschönen Haus. Und während Noel Gallagher Don´t look back in anger durch die Wohnung schmetterte, ließ sich Florian mit der Tasse Tee in seinen Lieblingssessel fallen und überlegte, wie er den Rest des Tages verbringen sollte. Soviel war klar: Heute Abend brauchte er Alkohol, nicht um seinen Kummer zu ersäufen, sondern um auf die neu gewonnene Freiheit anzustoßen, mit wem auch immer. Der einzige, der ihm einfiel, war Markus, sonst kannte er hier noch keinen. Sollte er ihn anrufen? Vielleicht später, jetzt erst mal den Augenblick genießen! Ja, manchmal genoss er es sehr, allein zu sein, nur mit sich selbst. Dann gab es aber auch Momente, in denen er sich unendlich einsam fühlte hier in seiner Wohnung in der noch fremden Stadt, fernab seiner Freunde und Bekannten. Von Simon hatte er auch lange nichts mehr gehört, wer von ihnen war eigentlich dran mit Anrufen? Egal, morgen werde ich ihn mal anrufen, dachte Florian. Was würde er wohl zu den Neuigkeiten aus Florians Liebesleben sagen? Wahrscheinlich würde er ihn für verrückt erklären, dass er das ganze so gelassen hinnahm. Florian musste schmunzeln bei dem Gedanken. Ja, irgendwie freute er sich richtig darauf, Simon von seiner Trennung zu erzählen. Er betrachtete es inzwischen als die lange fällige Trennung von Stefanie, nicht nur eine vorübergehende Auszeit. Ob sie das genauso sah? Doch spielte das jetzt noch eine Rolle? Für Florian war die Sache erledigt, es hätte gar nicht besser laufen können. Und ordentlich gevögelt hatten sie zum Abschied auch noch, konnte man sich einen besseren Abschluss vorstellen? Nein, jetzt war er frei, frei für was und wen auch immer, und dieses Gefühl beflügelte ihn geradezu.

Er ging zu seinem Schreibtisch, wo der Zettel mit der Telefonnummer von Markus liegen musste. Er fand ihn schnell und wählte die Nummer. Es dauerte ziemlich lange, bis am anderen Ende abgenommen wurde. - Florian? Ach Florian, schön dass du dich meldest!… Nein, leider heute nicht, ich habe Besuch… ja ein andermal gerne, meld dich wieder! – Das war wohl nichts. Schade, aber egal. Florian war in Trinklaune, wenn es sein musste auch alleine. Heute Abend würde er die Kneipenlandschaft der Stadt erforschen, es würde sich schon wer finden, der mit ihm auf die neue Freiheit anstoßen würde!

3. Café Fritz

In bester Stimmung verließ Florian abends das Haus, was er in Anbetracht der Tatsache, dass er erst wenige Stunden zuvor seine Freundin sozusagen in flagranti mit einem anderen erwischt hatte, recht bemerkenswert fand. Es war schon dunkel und für die Jahreszeit noch immer recht mild. Sein erstes Ziel des heutigen Abends sollte die Sonderbar sein, in der er sich erst gestern mit Markus getroffen hatte. Vielleicht war ja die nette Bedienung von gestern heute wieder da… andererseits, was hätte das genützt? Sicher hatte dieses ohne Zweifel sympathische und gutaussehende Mädel einen Freund, der – im Gegensatz zu Florian – recht unwirsch reagieren würde, wenn irgend so ein hergelaufener Kneipengast versuchte, mit seiner Freundin anzubandeln. Außerdem sah Florian heute Abend keinen Grund, die vermeintliche Schmach des Nachmittags mit gleicher Münze heimzuzahlen. Nein, überhaupt wollte er von Frauen im Allgemeinen und von einer ganz bestimmten im Besonderen erstmal Abstand nehmen, zumindest so lange, bis er sich über ein paar Dinge, die er noch nicht benennen konnte, im Klaren war. Er nahm wieder den Weg durch den Park, wo um diese Zeit noch nicht viel los war, wie er fast enttäuscht bemerkte. Wenig später betrat er die Kneipe, die heute ziemlich voll war. Alle Tische waren besetzt, nur an der Theke waren noch zwei Plätze frei. Florian setzte sich auf einen der freien Hocker, so, dass er einen guten Überblick hatte. Heute bediente ein schlaksiger Typ undefinierbaren Alters mit langen Haaren und einem Heavy-Metal-T-Shirt; das Mädel von gestern hatte wohl frei. Schade. Florian orderte ein Bier, das er schnell austrank. Noch eins bitte. Florian wurde klar, dass er, obwohl von –zig Menschen umgeben, alleine war. Keiner, den er kannte, der mit ihm sprach. Und doch empfand er dieses Alleinsein nicht als Einsamkeit, im Gegenteil, es machte ihm Spaß, die Leute um sich herum zu beobachten. Rechts neben ihm saß ein Pärchen Ende Dreißig, das sich unentwegt küsste. Vermutlich junges Glück, dachte Florian. Zu seiner Linken saß ein Mann, den Florian auf Anfang bis Mitte Vierzig schätzte. Der schien auch alleine zu sein; seine wesentliche Beschäftigung bestand darin, dem Barmann beim Gläser spülen zuzuschauen und dabei ein Bier nach dem anderen zu kippen. Würde Florian in einigen Jahren hier auch so sitzen, alleine mit seinem Bier?, überlegte er. Er verspürte wenig Lust, mit diesem (zumindest dem äußeren Anschein nach) bedauernswerten Menschen ins Gespräch zu kommen. Allerdings schien auch der kein Interesse an jeglicher Unterhaltung zu haben. Vielleicht hatte er Kummer, vielleicht hatte er seine Frau oder Freundin gerade mit einem anderen erwischt…

Mittlerweile war es richtig voll geworden, viele standen mit ihrem Bier (oder was sie sonst so tranken) im Raum und unterhielten sich angeregt. Die Musik war inzwischen lauter, entsprechend lauter auch die Stimmen der Besucher. Der Altersdurchschnitt der Leute lag irgendwo zwischen Zwanzig und Dreißig, also genau Florians Altersgruppe, wie er zufrieden feststellte. Und er entdeckte darunter viele nette Gesichter, mit denen er gerne ins Gespräch gekommen wäre, sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechts. Aber wie sollte er das anstellen? Er war nicht unbedingt der Typ, der von sich aus auf andere zuging. Also verhielt er sich abwartend, wie ein außenstehender Beobachter, und bestellte sich noch ein Bier. Sein Blick verfing sich immer wieder gleichsam automatisch in einer Gruppe aus fünf Personen, die an einem Stehtisch rechts gegenüber von ihm standen und sich unterhielten, drei Jungs und zwei Mädchen. Sie lachten viel und hatten augenscheinlich viel Spaß. Insbesondere einer der drei Jungs erregte immer wieder ungewollt Florians Aufmerksamkeit. Er war schlank und hatte kurze dunkle Haare, und Gesichtszüge, die Florian immer wieder zwangen, zu ihm hinzuschauen. Im Gegensatz zu den vier anderen, die vielleicht zwei Paare waren, war dieser Junge eher still und etwas zurückhaltend. Irgendetwas Undefinierbares ging von ihm aus, das ihn für Florian von den anderen vieren, ja von allen anderen hier in der Kneipe abhob, das ihn in unerklärlicher Weise interessant machte. Florian hatte von seinem Platz aus einen guten Überblick, immer wieder ließ er seinen Blick durch die Kneipe wandern, doch endete jeder visuelle Rundgang stets bei diesem Einen. Nicht bei einem der hier zahlreich anwesenden und durchaus attraktiven Mädchen, sondern bei einem Jungen. Geradezu zwanghaft, wie von einem Magneten angezogen, blieb Florians Blick völlig automatisch an ihm haften. Und jedes Mal, wenn es Florian bewusst wurde, schaute er schnell wieder weg, in eine andere Richtung, so, als ob er sich gerade selbst bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Doch das war nie von Dauer, wenige Sekunden später hatte er ihn schon wieder ungewollt und wie fremdgesteuert im Visier. Na und wenn schon, dachte Florian. Das hatte doch nichts zu bedeuten.

Nach dem vierten Bier entschied sich Florian, seine persönliche Kneipentour fortzusetzen und das Lokal zu wechseln. Er bezahlte, stimmt so, schob sich durch die Menge und ging hinaus, wo ihm ein kühler Luftzug um die Nase wehte. Er knöpfte die Jeansjacke zu (was zwar uncool aussah, aber besser uncool aussehen als cool frieren). Wohin jetzt? Florian ließ sich treiben und ging die Straße ein Stück weiter hinunter, bis er eine andere Lokalität finden würde, die ihn zur Einkehr bewegte. Er hatte kein Ziel, woher auch, für ihn war diese Stadt mit ihren ihm unbekannten Möglichkeiten ja noch neu. Nach wenigen hundert Metern leuchtete ihm das Markenzeichen eines bekannten Bieres entgegen, um ihm, einem Leuchtturm gleich, den Weg zur nächsten Gaststätte zu weisen.

Kurz darauf stand er davor: Das Café Fritz! Dies war also die Stammkneipe und das Jagdrevier von Markus. Von außen war nichts Besonderes zu entdecken. Man konnte auch nicht hineinschauen, da die Fenster aus vielen kleinen bunten undurchsichtigen Scheiben bestanden, so wie bei einer alt eingesessenen Dorfschänke. Nein, hier würde er nicht alleine hineingehen, dachte Florian. Immerhin wusste er jetzt, wo das Café Fritz war, falls er sich mal mit Markus hier verabreden sollte. Heute wollte er jedoch sein nächstes Bier lieber in einer normalen Kneipe trinken. Andererseits, warum eigentlich? Was sprach dagegen, für die Länge eines Bieres einen Blick auf das andere Ufer zu werfen? Vielleicht war ja sogar Markus da, der würde sicher Augen machen, wenn Florian plötzlich auftauchte. Außerdem war wohl kaum zu befürchten, dass sie ihn jenseits der kleinen bunten Scheiben direkt vergewaltigen würden. Und nach nur kurzem innerem Kampf ging Florian zur Eingangstür. Die ließ sich jedoch nicht einfach öffnen, wie Florian nach Drücken und anschließendem Ziehen des Türgriffs feststellte. Warum nicht? Geschlossen war das Lokal nicht, das konnte er durch die blinden Fenster deutlich sehen; es drang auch Musik nach draußen. Vielleicht musste man so etwas Ähnliches wie „Sesam öffne dich“ sagen? So ähnlich, ja, jedoch weniger magisch: Er entdeckte einen Klingelknopf im Türrahmen, darunter ein Schild „Clublokal“. Nein, das war nun wirklich zu viel, klingeln, um in eine Kneipe zu kommen… vielleicht verbargen sich hinter dieser Tür mit der kleinen Sichtklappe darin ja doch Dinge, die den Rahmen dessen, was zu sehen Florian mit purer Neugierde so gerade noch hätte entschuldigen können, überstiegen, wilde Orgien und schlimmeres? Nach dem kurzen eindrucksvollen Erlebnis der letzten Nacht im Park hätte ihn das nicht mehr gewundert. Diese Schwulen schienen wirklich gar keine Hemmungen zu kennen.

Gerade wollte er sich der Vernunft gehorchend umdrehen und weitergehen, da wurde die Tür von innen geöffnet und zwei ältere Männer traten heraus. Wie vor Schreck erstarrt schaute Florian die beiden an, wie zwei reißende Bestien, die soeben aus ihrem Gehege im Zoo ausgebrochen waren.

„Willst du nicht endlich ´rein kommen? Es wird kalt…“, hörte Florian eine Stimme von drinnen. Sie gehörte dem Wirt oder wer auch immer das war, jedenfalls einer, zu dessen Aufgaben es gehörte, Einlass begehrenden Schwulen (oder wer hier sonst noch so verkehrte) die Tür zu öffnen. Er hielt die Tür auf und schaute Florian auffordernd an.

„Nein, ich…ich wollte nur…“, stammelte Florian, und ehe er weiter überlegen konnte, ob er nun die Flucht vor diesem zweifellos sündigen Orte ergreifen sollte, stand er auch schon mitten darin. Nach welchen Kriterien mochte der Tür-Öffner wohl entscheiden, ob er jemandem Zutritt verschaffte oder nicht?, fragte sich Florian. Welche auch immer es waren, offenbar erfüllte Florian sie. Na toll, die schwule Welt akzeptierte ihn! Er schaute sich um. Auf den ersten Blick sah es nicht anders aus als in anderen Kneipen, keine Folterinstrumente oder halb- bis ganz nackte Personen, die über ihn herzufallen drohten. Doch stand er kurz im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, was ihm nicht gerade angenehm war: Für kurze Zeit waren alle Blicke auf ihn gerichtet; er fühlte sich wie ein Stück Frischfleisch, das soeben zur allgemeinen Fleischbeschau bereitgestellt wurde. Florian ging schnell zu einem der freien Tische, wo er sich einigermaßen sicher fühlte. Die meisten Blicke waren inzwischen wieder von ihm gewichen, so interessant war er denn offenbar doch nicht. Oder spürten die Betrachter, dass er vom aus ihrer Sicht anderen Ufer und somit für sie uninteressant war, ging von ihm vielleicht ein spezifischer Hetenduft aus, der alle weitergehenden Bemühungen der anwesenden Herren in die Zwecklosigkeit verwies?

Jetzt war er es, der seinen Blick schweifen ließ. Er kam sich vor wie ein Kind, das zum ersten Mal im Zoo ist. Es war deutlich leerer als in der Sonderbar, und der Altersdurchschnitt lag wesentlich höher. Die meisten saßen an der Theke, einige unterhielten sich angeregt und laut miteinander oder mit dem Barmann, so, dass alle in der Kneipe Anwesenden dem Gespräch problemlos lauschen konnte, ob sie nun wollten oder nicht. Das Thema war im weitesten Sinne, wie Florian mit leichtem Erstaunen feststellte und in dieser offenen Ungehemmtheit nicht gewohnt war – Sex. Andere saßen daneben und tranken schweigend. An einem der Tische spielte eine Gruppe, bestehend aus vier jüngeren Männern und einer auffallend dicken Frau undefinierbaren Alters, irgendein Würfelspiel, wobei sie sehr viel Spaß zu haben schienen, wenn der Würfelbecher krachend auf die Tischplatte schmetterte, denn sie lachten immer wieder sehr laut und teilweise sehr schrill, vor allem die Männer, was Florian ein wenig gewöhnungsbedürftig fand.

Einer hatte seinen Blick noch nicht von Florian abgelassen. Der saß auf einem Barhocker an der Wand Florian direkt gegenüber und trank eine Cola. Er war deutlich jünger als die meisten anderen hier, ungefähr Anfang bis Mitte Zwanzig, hatte ein nettes Gesicht und wirkte auf Florian sehr sympathisch, in gewisser Weise interessant. Ihre Blicke trafen sich, und nicht nur das, dieser Kerl lächelte sogar herüber. Verunsichert riss Florian sofort seinen Blick los von seinem Gegenüber. Etwa zur selben Zeit kam die Bedienung, derselbe, der Florian Einlass in diese Stätte gewährt hatte, ein Bursche, der seinen muskulösen Oberkörper nur knapp mit einem ärmellosen Shirt verhüllte, an Florians Tisch.

„Du warst noch nie hier, oder?“, stellte er zutreffend fest, was Florian nur mit einem verlegenen Lächeln beantworte. Nach seinem Getränkewunsch befragt, bestellte Florian ein Bier (was sonst), und der Muskelknabe schwebte wieder davon, um kurz darauf mit einem gefüllten Bierglas und einem Schnapsglas mit einem undefinierbaren Inhalt, unten dunkelbraun, darüber ein kakaobetreutes Sahnehäubchen, in dem ein kleines Papierschirmchen steckte, zurück zu kehren. Sehr zum Wohl, das sei ein Orgasmus, den bekämen alle neuen Gäste hier. Danke. Florian stürzte den Schluck des Hauses herunter, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Bierglas und schaute im Trinken wie zufällig zu seinem Gegenüber hinüber. Der tippte gerade gelangweilt auf seinem Handy herum. Florians anfängliche Unsicherheit war inzwischen einem neugierigen Interesse gewichen. Es klingelte, das heißt, es war weniger ein Klingeln, das von einer Glocke herrührte, sondern mehr ein zweitöniges Pfeifen, das entfernt an eine rückwärts laufende Schwarzwälder Kuckucksuhr erinnerte. Der Muskelknabe schwebte zur Tür, öffnete das Sichtfenster und strahlte. Sofort öffnete er die Tür und ein leicht rundlicher Mann Anfang Fünfzig kam herein, den der Muskulöse mit „Hallo Heinz“, einer Umarmung und einem Küsschen begrüßte. Heinz schien innerhalb dieser Wände eine gewisse Prominenz zu genießen, denn er wurde von den Würfelspielern laut kreischend begrüßt, wobei mit Umarmungen und Küsschen nicht gegeizt wurde, und auch an der Theke stand er sofort im Mittelpunkt der allgemeinen Unterhaltung.

Florian hätte sich jetzt auch gerne unterhalten, am liebsten mit dem sympathischen Typen gegenüber, dem das vermutlich auch gar nicht unangenehm gewesen wäre. Aber wenn er jetzt einfach zu ihm hinüber gegangen wäre, was hätte er dann gedacht von Florian? Und überhaupt, wie sollte Florian das Gespräch eröffnen? Vielleicht so: „Hallo, ich bin Florian, heterosexuell, also mach dir keine falschen Hoffnungen, ich bin nur zufällig hier, aber ich finde dich trotzdem sympathisch und würde mich gerne mit dir unterhalten.“ Ziemlich dämlich… Zwischenzeitlich schaute der Kerl immer wieder herüber. Florian versuchte zu vermeiden, dass sich ihre Blicke trafen, was jedoch andauernd passierte, woraufhin Florian sich stets ertappt fühlte und seinen Blick schnell abwendete.

Sein Gegenüber zog erneut sein Handy aus der Hosentasche und schaute auf das Display. Dann, plötzlich, nahm er seinen Bierdeckel, ging zur Theke und bezahlte. Als er auf dem Weg zum Ausgang an Florian vorbei kam, lächelte er ihn erneut an, und ließ ein Tschüss fallen. Hiervon war Florian völlig überrascht, so dass er weder zurücklächeln noch das Tschüss erwidern konnte. Er schaute noch lange zur Tür, nachdem diese sich hinter dem netten Unbekannten wieder verschlossen hatte. Und irgendwie beschlich ihn das ärgerliche Gefühl, soeben eine Chance vertan zu haben, was ihn wiederum verwirrte. Denn eine Chance auf was? Auf eine nette Unterhaltung? Oder mehr? Aber wenn mehr, dann was? Es ärgerte ihn, nicht mit dem Typen ins Gespräch gekommen zu sein. Das hätte doch nicht so schwer sein können. Nun war es zu spät, er war weg, und es war unwahrscheinlich, dass man sich noch mal zufällig begegnete, es sei denn, Florian wäre hier Stammgast geworden, so wie Heinz. Und das hatte er, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, nicht vor. Wo mochte der Typ hingegangen sein? Vielleicht zu einem Date, welches er zuvor per SMS verabredet hatte? Oder zu seinem Freund? Beides Gedanken, die in Florian ein diffuses Unbehagen erzeugten, welches er nicht erklären konnte. Seine Laune verschlechterte sich. Der Muskelkellner stellte ein neues Bier vor Florian hin, was ihn verwunderte, da er weder sein erstes ausgetrunken noch ein neues bestellt hatte.

„Du bist eingeladen von den Jungs da drüben“, erklärte der Überbringer, der Florians fragenden Gesichtsausdruck richtig deutete. Florian schaute in Richtung Theke, von wo aus ihm die Jungs, die sich als gestandene Herren gehobenen Alters erwiesen, inmitten von ihnen Heinz, lächelnd zuprosteten. Florian erhob das soeben gebrachte Glas und lächelte verlegen zurück. Was sollte er jetzt tun? Zu den Jungs hinübergehen? Und dann? Würden sie ihn dann vielleicht auch umarmen, küssen, begrabschen und wer weiß was noch? Andererseits war es sicher unhöflich, wenn er jetzt einfach hier sitzen blieb, Löcher in die Wand starrte und das kostenlos dargereichte Bier, welches er nicht umkommen lassen wollte, alleine austrank. Vielleicht konnte man sich ja mit denen durchaus nett unterhalten. Also nahm er seine zwei Biergläser und ging hinüber zu den freundlichen Spendern.

„Guten Abend…“, brachte Florian schüchtern hervor und lächelte verlegen, als er an der Theke angekommen war.

„Hallo schöner Mann! Endlich mal ein neues Gesicht hier“, ergriff Heinz (wer sonst) das Wort. Sicher war er es auch, der Florian das Bier ausgegeben hatte.

„Nein, das Gesicht habe ich schon länger“, antwortete Florian und staunte selbst über seinen spontanen, wenn auch in diesem Falle nur beschränkt tiefgründigen Wortwitz, den die Herren dennoch mit einem ehrlichen, laut kreischenden Lachen quittierten.

„Wo ist dein Freund?“, fragte einer, der links von Heinz stand.

Florian, der den eigentlichen Zweck dieser Frage durchaus erkannte, antwortete wahrheitsgemäß: „Ich habe keinen“, und fügte in Gedanken hinzu: Bis heute Mittag hatte ich noch eine Freundin, haha. Und überhaupt, was mache ich hier eigentlich?

„Wie kann das denn sein, dass so ein hübscher Kerl alleine durch die Welt läuft?“

Florian lächelte verlegen. Gleichzeitig fühlte er sich geschmeichelt, wenngleich er dem im Moment keine größere Bedeutung beimaß, dazu kam ihm die ganze augenblickliche Situation zu absurd vor. Ja, absurd, das war es wohl: Er, Florian Schwerdt, Sternzeichen Hetero, stand in einer Schwulenkneipe, in die er eigentlich gar nicht hinein wollte, und empfing gerade Komplimente von irgendwelchen Herren, die vom Alter her gut und gerne seine Väter hätten sein können und die mit ihren Parfumdüften, güldenen Armkettchen, blondierten Frisuren und femininen Sprechweisen so ziemlich jedes Klischee bedienten, das der unbedarfte Hetero in sich trug. Aber jetzt war es auch egal, sie würden ihm schon nichts tun, warum also sollte er die Flucht ergreifen? Außerdem waren die gar nicht mal unsympathisch, sondern im Gegenteil sogar recht witzig. Zumindest unterhielt er sich im Moment besser als vorher in der Sonderbar, wo er sich eher als Zuschauer gefühlt hatte. Es folgte die Vorstellungsrunde: Heinz, was Florian ja schon wusste, dann Karl, Günther (mit „th“, wie er extra betonte), Rolf und Georg. Sie unterhielten sich angeregt und lachten viel; und kaum dass Florian ausgetrunken hatte, stand schon wieder ein neues Bier vor ihm. Die wollen mich willenlos machen, um dann gemeinsam über mich herzufallen, dachte Florian ohne jeden Ernst und musste leicht grinsen über diesen Gedanken. Obwohl, so ganz abwegig war dieser Gedanke vielleicht gar nicht mal, denn einer von denen (hieß der jetzt Günther mit th oder Karl?) schaute ihn ständig sehr interessiert an, was Florian nicht sonderlich behagte. Wenig später stand er „zufällig“ direkt neben Florian, kurz darauf legte er seinen Arm um Florians Schulter. Das war ihm nun doch etwas zu viel der Nähe, aber er traute sich nicht, sich aus der Umarmung zu lösen. Vielleicht hatte das ja auch gar nichts zu bedeuten, aber Florian spürte, wie ihm die Situation langsam unheimlich wurde. Hinzu kam ein weiteres „Problem“: Das Bier drückte inzwischen sehr auf seine Blase, aber was mochte passieren, wenn er jetzt auf die Toilette ging? Vielleicht wäre ihm sein neuer Verehrer dorthin gefolgt mit unabsehbaren Folgen. Ihm blieb nur noch die Notbremse: Schnell bezahlen und gehen. Und hoffen, dass die anderen noch bleiben wollen…

„Och nee, jetzt wird’s doch gerade erst gemütlich!“, klagte Heinz, als Florian den Wunsch, zu bezahlen, geäußert hatte. „Komm, eins trinkst du doch noch mit uns, ja?“

Im Grunde wäre Florian dieser Einladung gerne noch gefolgt, aber der Druck seiner Blase und so etwas wie eine leichte Panik ließen keine weitere Verzögerung zu.

„Ich muss morgen früh raus, meine Eltern kommen zu Besuch“, log er und bezahlte. Dann verabschiedete er sich von den Herren und ging unter allgemeinem Bedauern und in schwebender Begleitung des Muskelkellners zur Tür, die dieser ihm öffnete, um ihn hinaus zu lassen. Keine Minute später beglückte Florian eine kleine Hecke auf der anderen Straßenseite, was ihm unendliche Erleichterung verschaffte. Nach dem Ablassen von gefühlten zehn Litern Flüssigkeit machte sich Florian leicht benebelt auf den Heimweg. Für heute war es genug, in jeder Hinsicht…

4. Zwei Kater

Florian wachte um kurz nach Acht auf. Sein Kopf tat weh, sein Mund war trocken, und seine Blase drückte. Scheiß Bier… Er hatte einen ausgewachsenen Kater, allerdings nicht nur den bekannten, der vom Alkohol geweckt worden war, sondern auch einen mentalen. Der erste würde sich wohl im Laufe des angebrochenen Tages verzogen haben, der zweite blieb ihm vermutlich noch etwas länger erhalten. Doch Florian fühlte sich jetzt noch nicht in der Lage, über den zurückliegenden Abend nachzudenken. Widerwillig stand er auf, um dem Ruf seiner Blase zu folgen. Puh, das tat gut… ein Problem weniger. Im Badezimmerspiegel blickte er in zwei dunkel unterränderte, halb geschlossene Augen, umgeben von einem blassen Gesicht. Schnell wieder zurück ins Bett, schließlich war heute Sonntag. Vorher noch einen kurzen Abstecher in die Küche, um die Trockenheit seines Mundes mit einem kräftigen Schluck Wasser zumindest vorübergehend zu beseitigen. Kurz darauf lag er wieder in seinem Bett und schlief auch schnell wieder ein.

Um Zwölf wachte er wieder auf. Dieses Mal war es das Telefon, das ihn aus dem Schlaf riss. Wer wagte es, zu dieser nachtschlafenden Zeit zu stören? Er war versucht, einfach liegen zu bleiben, die Decke über den Kopf zu ziehen und die weitere Kommunikation seinem Anrufbeantworter zu überlassen. Doch seine Neugierde war stärker; missmutig stapfte er zum Telefon, das auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer stand. Der Anrufbeantworter hatte schon begonnen, seinen Text abzuspulen: „Hallo, Sie haben die Nummer von Florian Schwerdt gewählt. Leider kann ich…“

„Ja??“, unterbrach Florian die gespeicherte Ansage seiner eigenen Stimme mit einem Ausdruck, der auch dem unsensibelsten Anrufer deutlich machen musste, dass Florian an einem längeren Gespräch im Moment nur wenig interessiert war.

„Florian… störe ich dich gerade?“, fragte eine weibliche Stimme, die er unschwer Stefanie zuordnen konnte.

„Nein, fast gar nicht“, antwortete er wenig überzeugend. Stefanie, auch das noch! Warum war er nicht im Bett geblieben und hätte sie später zurückgerufen? Sicher wollte sie jetzt eine Beziehungsdiskussion mit ihm anfangen, und dazu hatte er in diesem leidvollen Moment körperlicher und mentaler Undisponiertheit wirklich keine Lust. Gut, irgendwann würden sie darüber reden müssen, aber bitte nicht jetzt.

„Du klingst so komisch… bist du krank?“, fragte sie mit weiblichem Einfühlungsvermögen.

Ja, irgendwie war er krank, jedenfalls fühlte er sich so. Dennoch antwortete er mannhaft: „Nein, mir geht’s gut. Ich war gestern ein bisschen raus, waren wohl ein bis zwei Bier zu viel.“

„Hast du dich betrunken?“

„Hm… ja, kann man wohl so nennen.“

„Flo, es tut mir so leid…“, hauchte sie mit einem Ausdruck schlechten Gewissens, diesen Satz, den er von ihr in den letzten zwei Tagen schon öfter gehört hatte.

„Ja, mir auch“, antwortete er kurz angebunden, weil er zum einen nicht wusste, was er sonst darauf antworten sollte, und zum anderen das Gespräch auch nicht unnötig in die Länge ziehen wollte.

„Flo?“ Sie ließ nicht locker.

„Was??“, antwortete er, schon leicht genervt.

„Ich verstehe ja, dass du jetzt sauer auf mich bist, du hast ja auch allen Grund dazu. Ich war einfach eine dumme Ziege.“

Ein kleines Luder, ergänzte Florian in Gedanken. Hätte ich dir gar nicht zugetraut…

„Es ist nur…“, setzte sie fort, „ich liebe dich doch immer noch. Mensch, nun mach es mir doch nicht so schwer. Ja, verdammt, ich habe großen Mist gebaut. Aber das mit Tobias, das war nichts.“

„Ja, das habe ich gesehen“, streute Florian eine Prise Salz in die Wunde.

„Flo, glaub mir doch! Wir sehen uns nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so. Er bedeutet mir nichts, wirklich. Der einzige Mann, für den ich was empfinde, bist du!“

Schweigen.

„Flo?? Sag doch was!“

„Mir fällt nichts ein. Was soll ich dazu sagen? Soll ich vielleicht sagen lass es uns einfach vergessen, tun wir so als wäre nichts gewesen? Nein, so einfach ist das nicht, und das weißt du ja wohl.“ Florian fühlte sich wohl in seiner Rolle als gehörnter Freund. Sie hatte es ihm so herrlich leicht gemacht. Aber das durfte er sie jetzt nicht spüren lassen. Also musste er noch ein wenig den Gekränkten spielen, obwohl sie ihm im Grunde jetzt schon leid tat.

„Ja, ich weiß… aber kannst du mir nicht verzeihen? Wenn auch nicht jetzt sofort, dann vielleicht irgendwann?“

„Wir werden sehen. Ich brauch´ jetzt echt mal ´ne Pause. Lass uns die Tage nochmal telefonieren, ja? Mir dröhnt jetzt der Kopf.“ Und das war nicht gelogen, in seinem Schädel hämmerte eine Dampframme in höchster Schlagzahl.

„Wie du willst…“, antwortete sie enttäuscht. „Ich rufe dich wieder an, ja?“

„Ja, mach das“, antwortete Florian mit wenig Begeisterung. Ja, wenn du unbedingt willst, dachte er. Aber glaub bloß nicht, dass das noch was ändert. Sichtlich zufrieden mit dem Verlauf des Gespräches legte Florian auf. Jetzt erstmal unter die Dusche, und dann überlegen, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Kaum hatte er sich abgetrocknet, meldete sich das Telefon schon wieder. Nochmal Stefanie, die jetzt vielleicht versuchte, ihn durch Telefonterror zurück zu gewinnen? Während er sich die Unterhose anzog, ging er dran.

„Hi Alter, hier ist Simon! Alles im Lot bei dir?“

„Simon, altes Scheißhausgebläse, das ist ja mal ´ne schöne Überraschung! Jau, so weit alles klar, und bei dir?“ Florian freute sich, die Stimme seines alten und immer noch besten Freundes zu hören. Es war schon wieder einige Wochen her seit dem letzten Mal. Florians Kater hatte seine Krallen nach der Dusche schon ein wenig eingefahren. Zumindest der, der vom Saufen kam, der andere schnurrte noch vor sich hin. Aber das war jetzt egal, Simons Stimme sorgte für eine sofortige Verbesserung seiner Laune.

Simon erzählte, dass er in der kommenden Woche beruflich in der Nähe zu tun hätte, ob sie sich nicht abends auf ein paar Bier treffen wollten. Klar wollte Florian, und sie verabreden sich für Donnerstagabend.

„Und sonst… wie geht’s Stefanie?“, fragte Simon.

Da war sie, die Frage, die Florian die ganze Zeit erwartet und befürchtet hatte. Was sollte er sagen? Belügen wollte er seinen besten Freund nicht, daher erzählte er, was vorgefallen war. Der fiel wie erwartet aus allen Wolken.

„Was hat sie gemacht?“, fragte er fassungslos. „Nee, das glaube ich jetzt nicht. Ey Alter, das hätte ich ihr nie zugetraut! Und jetzt?“

„Keine Ahnung. Erstmal ist Funkstille.“

„Was is´n das für´n Typ? Was sagt sie denn, ist das was Ernstes?

„Sie sagt, sie liebt mich noch. Angeblich war´s nur so´n Zwischenspiel. Was willste machen…“

„Zwischenspiel? Was willste machen?? Mann, den Arsch würde ich fertig machen! Wie soll das denn jetzt weiter gehen mit euch? Anke würde ich das wahrscheinlich nie verzeihen, wenn sie was mit ´nem anderen hätte, auch wenn´s nur ein Zwischenspiel ist. Oh Mann, Frauen…“

„Ja, am besten, man wird schwul“, rutschte es Florian heraus. Der leise schnurrende mentale Kater fuhr kurz seine Krallen aus…

„Wie??“, kam es vom anderen Ende.

„Ach nichts, nur so´n Joke.“

„Joke? Sag mal Alter, wie kannst du dabei so cool bleiben? Deine Frau hat mit ´nem anderen ´rumgepoppt, ich würde ausrasten an deiner Stelle!“

Du bist aber nicht an meiner Stelle, dachte Florian, dem nichts ferner lag als über diesen Umstand auszurasten. Im Gegenteil, am liebsten hätte er diesem Kerl, Tobias oder wie der noch mal hieß, ein Dankschreiben zukommen lassen. Aber das musste er Simon ja nicht erzählen, sonst wäre der noch völlig vom Glauben abgefallen. „Ich staune ja selber über mich. Aber irgendwie lässt mich das im Moment ziemlich kalt.“

„Was willst du denn jetzt machen? Meinst du, das wird nochmal wieder was mit euch?“

„Keine Ahnung. Ich glaube, ich muss mir selbst über ein paar Dinge erstmal klar werden.“

„Verstehe…“, antwortete Simon.

Das würde mich jetzt allerdings sehr wundern, wenn du das verstehst, dachte Florian. „Lass uns am Donnerstag über alles quatschen, ja? Freue mich echt, dich zu sehen!“

*

Es regnete schon den ganzen Tag, der Himmel war grau, ohne die kleinste blaue Öffnung. Nass und farblos lag der Garten unter dem Fenster. Das herbstliche Farbenspiel, das den Garten sonst in der Oktobersonne erleuchten ließ, erschien heute matt und grau. Dennoch beschloss Florian, einen Spaziergang am Fluss zu machen. Frische Luft würde ihm jetzt gut tun und vielleicht dabei helfen, den ersten Kater endgültig zu verscheuchen und den zweiten zu zähmen.

Der Fluss durchzog ungefähr eine Viertelstunde zu Fuß von Florians Haus entfernt die Stadt. Am diesseitigen Ufer war eine Promenade angelegt, auf der sich bei schönem Wetter sonntags Spaziergänger, Fahrradfahrer und Läufer drängten. Heute hatte Florian hier jedoch viel Platz, bei diesem Wetter blieben die Leute wohl lieber zu Hause vor dem Fernseher. Nur ab und zu wurde er von einem Läufer überholt, der sich durch das herbstliche Schmuddelwetter nicht von seiner sportlichen Betätigung abhalten ließ. Ich sollte auch mehr Sport machen, dachte Florian. Aber bislang war der innere Schweinehund immer stärker als die Einsicht, dass ihm Bewegung gut täte. Nicht, dass seine Figur die Erfordernis sportlicher Betätigung deutlich gemacht hätte, im Gegenteil, ein paar Kilo mehr hätten ihm durchaus nicht geschadet. Aber so manches Treppenhaus zeigte ihm doch, dass da durchaus etwas zu verbessern war. Florian lehnte sich auf das eiserne Geländer, das die Uferpromenade zum Fluss hin begrenzte, und schaute hinüber zum anderen Ufer. Dort ragte eine lange Reihe von Pappeln auf, die bereits einen Teil ihrer inzwischen gelben Blätter verloren hatten. In ihren Kronen hatte sich eine Rabenkrähen-Kolonie niedergelassen, deren Gekrähe herüber schallte. Der Geruch vermodernder Blätter lag in der Luft. Florian genoss die herbstlich-trübe Stimmung, der Regen störte ihn überhaupt nicht. Geschützt durch seine Regenjacke mit Kapuze schlenderte er langsam die Uferpromenade hinab. Nach einigen hundert Metern ging die schmucke Uferpromenade über in einen nur grob asphaltierten Uferweg, der vermutlich über mehrere Kilometer dem Flusslauf folgte. Hier war er nun erst recht alleine.

Florian dachte an gestern Abend. Er wollte doch bloß ein paar Bier trinken und vielleicht ein paar nette Leute in seinem Alter kennen lernen. Nun, irgendwie war ihm das ja auch gelungen, abgesehen davon, dass aus den paar Bier ein paar mehr geworden waren und dass die netten Leute (was Heinz und Co. zweifellos waren) nicht ganz seine Altersklasse repräsentierten. Warum hatte er den meisten Spaß ausgerechnet in einer Schwulenkneipe? Warum war er dort überhaupt? Dann fiel ihm wieder dieser Typ ein, der ihn so nett angelächelt und der zum Abschied so nett „tschüss“ gesagt hatte. Warum hatte Florian es bedauert, als der plötzlich ging?

Ein Jogger kam ihm entgegen, trotz der nicht gerade sommerlichen Temperatur trug er eine kurze Sporthose. Ohne darüber nachzudenken, schaute Florian zuerst in dessen Gesicht, dann fasziniert auf die muskulösen, stark behaarten Beine. Als der Läufer an ihm vorbeizog, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, drehte Florian sich um und schaute ihm hinterher. Verdammt, warum drehte er sich jetzt schon nach Männern um?, dachte er. Ein Schwarm schwarzer Vögel zog krähend über ihn hinweg. Und wenn er doch…? Vielleicht nicht direkt schwul, aber irgendwas dazwischen? Das sollte es ja geben, Menschen, die sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen was anfangen können; warum sollte das nicht auch für ihn gelten? Markus hatte schon Recht, vielleicht muss man wirklich erstmal beides ausprobiert haben, bevor man sagen kann, worauf man steht. Und wenn Florian es sich recht überlegte, dann war er sich gar nicht mehr sicher, dass er wirklich auf Frauen stand. Was hieß überhaupt Frauen… bis jetzt hatte er ja nur Stefanie, und das war ja so toll nun auch wieder nicht. Aber er hatte auch überhaupt keine Lust, noch andere Frauen auszuprobieren. Aber mal mit ´nem Kerl ins Bett, so richtig mit allem drum und dran… ja, das hätte schon was gehabt, das hätte er wirklich gerne mal ausprobiert. Und vielleicht wurde dann sogar zur Gewissheit, was bislang nicht viel mehr als eine schemenhafte Ahnung war. Vielleicht war er ja wirklich schwul! Ja, je mehr er darüber nachdachte, wurde ihm klar er, dass er Jungs im Grunde interessanter als Mädchen fand. Auf was achtete er denn, wenn er im Sommer durch die Stadt ging? Die kurzen Röcke der Mädchen nahm er doch kaum wahr, wohingegen die Jungs in T-Shirts und Shorts immer wieder sein Interesse (und mehr) erregten. Verdammt, er war schwul… Florian blieb stehen und schaute in den Fluss, der grau und träge dahin floss. Und plötzlich sah er so klar wie schon lange nicht mehr. Ja, das war es, er war schwul, ohne Zweifel, zumindest überwiegend. Und diese Erkenntnis schockierte ihn überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, es kam ihm vor wie eine Befreiung. So viele Empfindungen und Gedanken, die ihn früher verwirrten, ergaben plötzlich einen Sinn, wurden so erklärlich. Warum hatte er sich nur so lange dagegen gewehrt? Er fühlte sich plötzlich erleichtert, geradezu beschwingt. „Ich bin schwul! Ja, ich bin schwul!“, sagte er vor sich hin, während er auf den Fluss starrte, und er musste plötzlich lachen. Schnell drehte er sich um, um sicher zu gehen, dass er noch allein war. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Florian ging zurück in Richtung Stadt. Der trübe, verregnete Sonntag erschien ihm plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Wie sollte es jetzt weiter gehen? Als erstes musste er mal mit jemandem darüber reden. Da fiel ihm zuerst Markus ein, natürlich, wer sonst. Simon… ja, was würde Simon wohl dazu sagen? Käme der überhaupt damit klar? Na, das konnte ja was werden kommenden Donnerstag… Sollte er es ihm überhaupt erzählen, oder lieber noch etwas damit warten? Aber das konnte er sich ja noch überlegen, bis Donnerstag war ja noch etwas Zeit. Bis dahin konnte er sich schon mal die passenden Worte zurechtlegen. Jetzt musste er erst mal mit Markus sprechen. Florian freute sich schon richtig auf den Moment, wenn er es ihm erzählen würde. Nachher würde er ihn anrufen. Und dann war da noch eine ganz andere Frage: Mit wem sollte Florian sein neues Dasein jetzt in die Tat umsetzen, oder, um es praktischer auszudrücken, woher bekam er jetzt einen Kerl, mit dem er „es“ mal ausprobieren konnte? Vielleicht auch Markus? Der wäre vielleicht nicht einmal abgeneigt gewesen, aber irgendwie wäre Florian das komisch vorgekommen, weil sie sich schon so lange kannten. Andererseits, sie hatten ja schon mal das Vergnügen, warum sollten sie das nicht, wenn auch jetzt unter etwas anderen Vorzeichen, mal wiederholen? Aber lieber wäre es ihm schon mit einem anderen gewesen, mit einem, den er noch nicht oder jedenfalls nicht so lange kannte. Zum Beispiel der Unbekannte aus dem Café Fritz, der ihn so nett angelächelt hatte. Ja, das Café Fritz, das würde jetzt wohl auch Florians Stammlokal werden…

Die Uferpromenade kam wieder in Sicht. Erst jetzt merkte Florian, wie weit er den schmalen Uferweg gelaufen war, weit aus der Stadt heraus. Der Rückweg kam ihm jetzt deutlich länger vor als der Hinweg. Seine Hosenbeine waren inzwischen durchnässt von dem Regen, der an seiner Regenjacke herab lief. Aber das störte ihn nicht, er bemerkte es kaum. Er war umgeben von einer merkwürdigen Euphorie, so, als hätte man ihm soeben eröffnet, dass er sechs richtige im Lotto gehabt hätte (was schon allein daran gescheitert wäre, dass er noch nie Lotte gespielt hatte). Ein Wirbelsturm hätte aufziehen können, Florian hätte ihn jetzt nur als ein laues Lüftchen wahrgenommen. Er fühlte sich, als hätte er eine dicke Wand durchbrochen, die ihn bisher vom wahren Leben getrennt hatte. Gut, ob es wirklich das wahre Leben, das gelobte Land war, auf das er nun blickte, war eher zweifelhaft, das war ihm schon klar. Aber ihm eröffneten sich jetzt Perspektiven, die er bis vorhin nicht gesehen hatte, nicht sehen wollte. Und das war es, was ihn jetzt in eine überaus zufriedene Stimmung versetzte, ein Gefühl der inneren Ruhe, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Ja, jetzt und heute begann für Florian so etwas wie ein neuer Lebensabschnitt, einer, der sicher nicht leicht war, dem er gleichwohl mit großer Zuversicht entgegenblickte.

Zurück auf der Uferpromenade, entdeckte Florian ein Café, von dem aus man sicher einen schönen Blick auf den Fluss hatte. Vorausgesetzt, man bekam einen Platz in der Nähe des großen Fensters, was an einem Sonntag wie heute wohl eher unwahrscheinlich war. Eine warme Tasse Kaffee und ein schönes Stück Sahnetorte waren genau das, was Florian jetzt noch gefehlt hatte zu seinem Glück (zumindest kurzfristig; was ihm langfristig fehlte, darüber musste er in den nächsten Tagen und Wochen noch nachdenken). Daher ging er die zwei Stufen von der Promenade aus hoch und betrat das Café. Warme, mit Kaffeeduft und Zigarettenqualm angereicherte Luft waberte ihm entgegen. Er hatte Glück, einer der Tische am Fenster war wohl gerade frei geworden; das Kaffeegeschirr der Vorgänger war noch nicht abgeräumt. Aber auch sonst war es nicht besonders voll. Wahrscheinlich zog es heute, an diesem Tag mit nicht enden wollendem Regen, wirklich niemanden aus dem Haus, jedenfalls nicht, wenn man nicht unbedingt musste. Hatte Florian unbedingt gemusst? Ja, unbedingt. Zu Hause wäre ihm heute wohl sonst die Decke auf den Kopf gefallen, oder der Kater hätte ihn gefressen. Und dieser längere Spaziergang hatte ihm trotz des mehr als trüben Tages die notwendige Klarheit über einen nicht ganz unwesentlichen Aspekt seines Lebens gebracht. Ja. Es musste sein. Florian hatte seine nasse Jacke über die Lehne des zweiten Stuhls an seinem Tisch gehängt (zu weiter entfernten Garderobenhaken in Gaststätten aller Art hatte er grundsätzlich kein Vertrauen; das dort zumeist angebrachte Schild „Für Garderobe wird nicht gehaftet“ tat ein Übriges). Von seinem Platz aus konnte er die menschenleere Uferpromenade und dahinter den noch immer grau und träge dahinfließenden Fluss beobachten. Bei schönem Wetter und im Sommer musste das hier ein wunderbarer Ort sein, den sich Florian merken musste; vielleicht würde es ja irgendwann einen Menschen in seinem Leben geben, mit dem er gerne auf einen Kaffee hierher käme. Und wenn nicht (was ihm zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlicher erschien), würde er auch gerne alleine wieder kommen. Erst jetzt bemerkte Florian, dass er ziemlich durchgefroren war, wozu die durchnässten Hosenbeine und Schuhe einen nicht unwesentlichen Beitrag leisteten. Er genoss die Wärme, die langsam durch seine Kleidung hereindrang, und den schönen Ausblick auf das Flussufer.

„So sieht man sich also wieder“, unterbrach plötzlich eine Stimme seinen stillen Genuss, die von schräg hinten kam. Florian drehte sich um und schaute gegen eine schwarze Kellnerschürze, die zu einer Bedienung gehörte, die jetzt vermutlich den Tisch abräumen wollte. Florian hob den Blick. Oberhalb der Schürze schloss sich ein weißes Hemd an, darüber blickte Florian in ein Gesicht, das er kannte; woher, fiel ihm erst mit etwas Verzögerung ein: Der Kerl aus dem Café Fritz, der ihn so nett angelächelt und dann so plötzlich verlassen hatte! Ja, so sieht man sich also wieder… „Was kann ich dir bringen?“, fragte der und lächelte ihn schon wieder an (und das offenbar nicht nur, weil es sein Job verlangte).

„Oh… hallo!“, stammelte Florian überrascht und lächelte nun seinerseits zurück. Ja, was sollte er bestellen? Einen Kaffee und ein Stück Kuchen halt. Sahnetorte.

„Kuchen suchst du dir am besten vorne am Büffet aus, ich bringe ihn dir dann“, antwortete der immer noch lächelnde, nachdem Florian seine Bestellung herausgebracht hatte. Florian erhob sich von seinem Platz und ging zum Büffet, wo verschiedenste Torten und Kuchen hinter Glas zur Auswahl bereit standen. Er entschied sich für ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Dass der nette Kellner ihn duzte, nahm Florian mit gewisser Freude zu Kenntnis. Es war gerade so, als wenn zwischen ihnen eine Art Einverständnis herrschte, von dem die anderen nichts wussten. Sie kannten einander nicht, wussten nicht mal den Namen des anderen, und doch wussten sie voneinander, etwas verband sie, das die anderen hier nicht sehen konnten und auch nicht sollten. Kaum saß Florian wieder an seinem Tisch am Fenster, brachte der Kellner auch schon den Kaffee und den Kuchen.

„Dann lass es dir schmecken!“, servierte er lächelnd. Am liebsten hätte Florian ihm den zweiten Stuhl angeboten und sich mit ihm unterhalten über seine persönliche Erkenntnis, die jetzt noch keine Stunde alt war, über die endlich durchbrochene Wand und das, was er dahinter vermutete und erhoffte. Ja, was erhoffte er sich? So einen wie diesen netten Kerl, der ihm gerade den Kuchen gebracht hat, und der jetzt mit einem gleichbleibend freundlichen Lächeln zwei Tische weiter einem älteren Ehepaar zwei Kännchen Kaffee servierte? Ja, das wäre nicht das schlechteste gewesen… Florian beobachtete ihn. Er gefiel ihm. Und umgekehrt schien auch eine gewisses Interesse zu bestehen, denn er fand immer wieder Zeit, Florian ein kurzes Lächeln zuzuwerfen, welches ihn jedes Mal traf wie ein angenehmer Blitz, der ihn zusammenzucken ließ. Hatte das Lächeln was zu bedeuten? Gerne wäre Florian noch bis zum Abend hier sitzen geblieben, bis zum Feierabend des Netten. Nein, noch eine Tasse Kaffee, und dann nach Hause. Außerdem wollte er ja noch Markus anrufen und ihm die Neuigkeiten erzählen. Es begann bereits zu dämmern, als Florian die Rechnung anforderte.

„Willst du schon gehen?“, fragte der Nette.

„Ja, so langsam muss ich wohl mal. Wie lange musst du denn heute noch arbeiten?“ Erst nachdem er die Frage gestellt hatte, bemerkte Florian, dass der andere, wenn er gewollt hätte, durchaus gewisse Hintergedanken hätte hinein interpretieren können, was ihm, Florian, natürlich völlig fern lag…

„Bis Neun haben wir heute auf, dann noch etwas aufräumen… warum?“, nahm er den möglichen Hintergedanken bereitwillig auf.

„Och nur so… ich meine, es gibt ja schöneres an einem Sonntag als zu arbeiten“, stammelte Florian und wurde rot. Warum um alles in der Welt hatte er nur diese Frage gestellt, die das Gespräch in eine Richtung lenkte, die er nicht beabsichtigte? Oder vielleicht doch?

„Was denn zum Beispiel?“ Er ließ nicht locker.

„Na ja…“ Florian rang nach möglichst unverfänglichen Worten. Das Blut in seinem Kopf pochte, ihm war jetzt sehr warm. Da ihm spontan nichts Besseres einfiel, sagte er: „Ausschlafen, in Ruhe frühstücken, vielleicht was lesen, spazieren gehen…“

„Und das alles alleine?“

„Ja, wenn sonst keiner da ist…“ Was rede ich hier eigentlich für dummes Zeug?

Der Kellner lächelte nur und verschwand in Richtung Kasse. Kurz darauf kam er mit einem Kassenzettel zurück. Florian bezahlte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit mit einem großzügigen Trinkgeld.

„Also dann, frohes Schaffen noch“, verabschiedete er sich.

„Danke, dir auch noch einen schönen Tag, vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, antwortete der Kellner, Florian strahlend anlächelnd. Ein Lächeln, mit dem er vermutlich bei Bedarf jeden Wunsch erfüllt bekam. Jeden.

„Ja gerne, warum nicht…“ Florian zog seine immer noch feuchte Jacke an. Im Gehen warf er noch mal einen flüchtigen Blick auf den Kassenzettel, der auf dem Tisch lag. Erst jetzt bemerkte er, dass etwas mit Kugelschreiber darauf geschrieben war. Er nahm ihn vom Tisch und las: „Frank“ und eine Telefonnummer. Fast automatisch schaute er in Richtung des Kellners, der gerade damit beschäftigt war, ein paar Tische weiter zu kassieren. Aha, er hieß also Frank und wollte in Kontakt bleiben. Leicht verwirrt steckte Florian den Zettel ein, verließ das Café und ging auf dem kürzesten Wege durch den Regen nach Hause.

Dort angekommen, zog er als erstes die nassen Sachen aus. Dann stellte er die Dusche an und ließ das angenehm warme Wasser über seinen Körper laufen. Er spürte, wie er langsam wieder auf Betriebstemperatur kam. Und er spürte, wie ihn das warme Wasser, das über seinen Schwanz lief, geil werden ließ. Nach wenigen Sekunden streckte sich ihm sein bestes Stück in voller Härte entgegen. Er griff zu und dachte an Frank, was ihm ein paar Minuten später die gewünschte Erleichterung brachte.

Nachdem er sich abgetrocknet und trockene Sachen angezogen hatte, nahm er sich erneut den Zettel mit Markus´ Telefonnummer vor und ging zum Telefon. Erst jetzt bemerkte er, dass der Anrufbeantworter blinkte: Ein Anruf von Stefanie, die ihn mit einer Art Verzweiflung in der Stimme bat, bald zurück zu rufen. Nein, dazu hatte er nun wirklich keine Lust. Jedenfalls nicht heute; das Gespräch von heute Morgen reichte ihm fürs Erste. Was sollte er ihr auch sagen: Vergiss es, aus uns wird nichts mehr, ich bin jetzt schwul? Gut, irgendwann musste er ihr das wohl beibringen, und zwar möglichst schonend. Aber nicht heute, nein, auf gar keinen Fall. Er drückte die Nachricht weg und nahm sich vor, in den nächsten Tagen zurück zu rufen, versprochen. Aber jetzt nicht… Stattdessen wählte er die Nummer von Markus. Der ging auch sofort dran und freute sich hörbar über Florians Anruf. Nach dem ersten Austausch von „wie geht’s“ und weiteren Belanglosigkeiten fragte Florian:

„Können wir uns bald mal wieder treffen? Ich muss dir unbedingt was erzählen.“

„Was denn?“

„Darüber würde ich gerne live und in Farbe mit dir sprechen, nicht am Telefon.“

„Ist was passiert?“, fragte Markus überrascht.

„Passiert… ja, kann man wohl so sagen.“

„Du machst es aber spannend! Wann hast du denn Zeit?“

„Heute Abend…?“

„Heute noch? Dann muss es ja wirklich dringend sein! Du hast Glück, mein Date für heute Abend hat nämlich vorhin abgesagt. Dann habe ich eben eins mit dir, auch schön! Wann und wo wollen wir uns denn treffen?“

„Du kannst gerne zu mir kommen, wenn du Lust hast. Ich habe noch ´ne Flasche Wein im Haus, die könnten wir köpfen, wenn du magst.“

„Du willst mich in deine Bude locken und mit Wein willenlos machen? Na, da sage ich nicht Nein!“

„Erwarte nicht zu viel von einer Hete!“, antwortete Florian lachend, wobei er sich erst, nachdem er es ausgesprochen hatte, daran erinnerte, dass seine Hetentage ja wohl gezählt waren. Gerade darüber wollte er mit Markus sprechen, aber das musste er ihm ja nicht gleich hier am Telefon verraten. Ein bisschen spannend wollte er es schon machen.

*

„Und deswegen willst du dich gleich von ihr trennen, nur weil sie zwischendurch mal ein bisschen Spaß mit einem anderen hatte?“, fragte Markus eine Stunde später, nachdem Florian von seinem Erlebnis in Stefanies Wohnung am Vortag erzählt hatte. „Dass ihr Heten wegen so was immer gleich so ein Drama machen müsst…“

„Na hör mal, was würdest du denn sagen, wenn du deinen Freund, also nehmen wir mal an du hättest einen, sozusagen in flagranti mit einem anderen erwischen würdest?“, entgegnete Florian. Er saß in seinem Sessel am Fenster, Markus hatte auf dem Sofa Platz genommen. Der Regen klatschte an die Fensterscheibe. Auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen stand die geöffnete Rotweinflasche. Sie tranken aus Wassergläsern, weil Weingläser noch nicht Bestandteil von Florians Haushalt waren.

„Das kommt ganz darauf an… wenn er gut aussieht, mache ich mit!“, antwortete Markus mit einem frechen Grinsen. „Baby, entspann dich, es ist doch nur Sex, deswegen muss doch nicht gleich alles zu Ende sein.“

„Kannst du das denn immer so voneinander trennen, Liebe und Sex?“, fragte Florian, der sich kurz vor seinem geistigen Auge ausmalte, wie er bei Stefanie und diesem zugegebenermaßen recht niedlichen Typen „mitgemacht“ hätte, wie Markus es eben ausgedrückt hatte, ein Gedanke, der durchaus nicht ohne Reiz war, den er jedoch sogleich wieder in das Reich absurder Ideen verwies.

„Meistens kann ich das schon, es sei denn, plötzlich ist da noch etwas mehr, was über die übliche Geilheit hinausgeht. Aber das kann dir doch überall passieren, auch ohne Sex, du triffst einen Typen oder in deinem Fall eine Frau und merkst plötzlich, da ist etwas zwischen euch, das du dir nicht erklären kannst und wogegen du völlig machtlos bist, aber du musst ständig an sie denken, und jedes Mal wenn du sie siehst, trifft dich fast der Schlag. Dann kann es aber doch auch ebenso gut sein, dass du mit einer Frau schläfst, weil du eben gerade geil auf sie bist, weil vielleicht gerade die Gelegenheit dazu war, und danach ist absolut nichts mehr zwischen euch, ihr hattet euren Spaß und das war´s dann. Doch, ich glaube, das sind zwei völlig getrennte Dinge. Aber wo ist das Problem bei euch? Sie liebt dich doch noch, und du sie doch auch, oder nicht?“

„Hm, das ist ja genau der Punkt, weshalb ich mit dir sprechen wollte“, antwortete Florian nach einer kurzen Pause, die er mit einem Schluck Wein überbrückte. Nun war wohl der Zeitpunkt gekommen, Markus reinen Wein einzuschenken. Er nahm die gut halbvolle Flasche und füllte die Gläser nach.

„Was meinst du?“, fragte Markus.

„Wie soll ich es sagen… nein, ich bin mir nicht sicher, ob ich sie noch liebe.“ Er nahm einen weiteren Schluck Wein, gerade so, als wollte er sich für die nächsten Sätze noch etwas mehr Mut antrinken, und um etwas Zeit zu gewinnen, die passenden Worte zurecht zu legen. „Nein, das stimmt so nicht ganz. In Wahrheit bin ich mir sogar sehr sicher, dass ich sie nicht mehr liebe.“

„Wegen dieser einen Sache? Jetzt übertreibst du aber.“

„Nein, das ist es nicht.“ Florian rang nach Worten, ihm wurde heiß. Er wusste, dass er jetzt nicht mehr zurück konnte, er musste es Markus sagen. „Du erinnerst dich doch an unser Gespräch am Freitag in der Sonderbar.“

„Na klar, so lange ist das ja noch nicht her…“

„Ich sagte dir, du bist der erste, der es erfährt, wenn ich es mir anders überlege.“ Florian starrte auf sein Glas, Schweiß brach ihm aus.

„Ich verstehe nicht ganz. Was hast du dir anders überlegt?“

„Na ob ich wirklich auf Frauen stehe, ´ne Hete bin, wie du es nennst.“ Florian schaute Markus an: „Ich habe darüber nachgedacht: Ich glaube ich bin es nicht.“

„Du meinst…“

„Ich meine – verdammt, warum ist das so schwer – ja, ich bin auch schwul. So, jetzt ist es endlich raus!“ Florian trank das Glas in einem Zug leer. Er spürte eine große Leichtigkeit in sich aufsteigen, die nur teilweise vom Rotwein herrührte.

„Das glaube ich jetzt nicht…“ Markus schaute Florian ungläubig an, „so ganz plötzlich, von heute auf morgen?“ Dann fing er an zu lachen, Florian grinste ihn nur an. „Das gibt´s doch nicht! Na dann willkommen im Club!“ Jetzt war es Markus, der die Gläser wieder füllte, woraufhin sie anstießen.

„Nein, so ganz plötzlich kam das nicht“, erklärte Florian, und er erzählte Markus von seinen Gefühlen, die ihn in den vergangenen Monaten immer öfter und immer stärker beschlichen, und die zu verdrängen ihm immer schwerer gefallen war. Von seinen Zweifeln wegen Stefanie, von seinen schon länger schwelenden Trennungsabsichten, und von dem wunderbaren Trennungsgrund, den sie ihm nun geliefert hatte. Und von dem Abend im Café Fritz, wobei er Frank jedoch nicht erwähnte.

„Und was willst du jetzt tun?“, fragte Markus, der sich die Geschichte mit wachsender Begeisterung anhörte.

„Ja, wenn ich das wüsste. Ich dachte, dass du mir das vielleicht sagen kannst? Ich denke, als erstes möchte ich mal ein paar Leute kennen lernen mit denen ich mich austauschen kann…“

„… und mit denen du ein paar ganz bestimmte Dinge ausprobieren kannst, stimmt´s?“, ergänzte Markus grinsend.

„Ja, das natürlich auch… und da weiß ich noch am wenigsten, wie ich das anstellen soll.“ Dabei könntest du mir vielleicht behilflich sein, ergänzte er in Gedanken.

„Süßer, darüber mach dir mal keine Gedanken, bei deinem Aussehen wird das wohl das geringste Problem sein.“ Ich würde mich gerne opfern, dachte Markus.

„Oh, ein Kompliment? Danke!“, antwortete Florian mit einem etwas unsicheren Grinsen. Er spürte, wie er rot wurde. Und plötzlich stand etwas Unausgesprochenes im Raum. Sie schwiegen, während jeder von ihnen scheinbar mit seinem Glas beschäftigt war. Noch immer trommelten die Regentropfen, vom Wind getrieben, gegen das Fenster. Florian saß noch immer im Sessel, Markus auf dem Sofa, zwischen ihnen der Tisch. Florian wusste, wenn sie das, woran sie jetzt vermutlich beide dachten, in die Tat umsetzen wollten, musste er sich aus dem Sessel erheben und neben Markus auf das Sofa setzen. Im Grunde genommen ganz einfach. Ob Markus das jetzt wohl erwartete und erhoffte? Und wenn nicht? Wenn Florian sich jetzt auf das Sofa gesetzt und Markus es nicht gewollt hätte, wäre das nicht furchtbar peinlich gewesen? Nein, es ging nicht. Vielleicht stand dem auch nur im Wege, dass sie sich schon so lange kannten. Was auch immer es war, Florian brachte es nicht fertig. Sollte Markus doch anfangen, wenn er es wollte. Der blieb jedoch ebenfalls sitzen und schaute Florian erwartungsvoll an. Dem wurde die Situation immer unerträglicher, so dass er sie beendete, indem er sich kurz räusperte und dann fragte: „Hast du Lust, ins Fritz zu gehen?“

„Jetzt, bei dem Wetter?“ Leichte Enttäuschung schwang in Markus´ Stimme mit.

„Ja, warum nicht? Nur kurz auf ein Bier, nicht so lange, morgen ist ja schließlich Montag.“

„Also gut meinetwegen. Einer muss dich ja in die Szene einführen“, antwortete Markus mit einem zweideutigen Grinsen, welches darüber hinweg täuschte, dass er gerne noch eine ganz andere Einführung vorgenommen hätte.

5. Das erste Mal

„Hallo Markus!“, wurden die beiden sofort vom Muskelkellner begrüßt, als er ihnen die Tür des Café Fritz öffnete.

„Na dich kennen sie hier wohl schon“, bemerkte Florian anerkennend und mit leichter Ironie.

„In dieser Stadt kennt jeder jeden, Süßer, das wirst du auch noch merken. So viele sind wir hier ja nicht.“

Es war sehr leer im Café Fritz. Nur an der Bar saßen ein paar Herren mittleren Alters, die sich kurz zu Florian und Markus umdrehten, sich aber bald wieder ihrer Unterhaltung widmeten. Weder Heinz noch seine Freunde waren heute hier, wie Florian feststellte, wobei er nicht behaupten konnte, dass sie ihm gefehlt hätten. Er ging mit Markus zu einem der hohen Tische an der Wand, wo sie auf den Barhockern Platz nahmen. Markus bestellte ein Wasser und Florian, entgegen aller Vernunft, ein Bier. Er müsste sich mal Gedanken über seinen Alkoholverbrauch machen, dachte er. Irgendwann, aber nicht heute. Nur noch dieses eine Bier, und dann war es genug für ein nicht ganz gewöhnliches Wochenende.

„Na, das wird wohl heute kein großer Beutezug mehr“, bemerkte Markus lästernd, „oder stehst du auf Ältere?“, fragte er grinsend und schaute in Richtung Bar.

„Woher soll ich wissen, worauf ich stehe… Nein, ich glaube eher nicht“, antwortete Florian. Schade, dass heute so gar keine interessanten Typen hier waren. Ob Markus wohl sauer war, dass er ihn jetzt noch hierher geschleppt hatte? Hätte er vorhin doch die Initiative ergreifen sollen? Vielleicht hätten sie dann jetzt schön miteinander kuschelnd in Florians ehedem jungfräulichem Bette gelegen, oder andere nette Dinge miteinander getrieben. Dabei fiel ihm ein, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was sie überhaupt miteinander hätten treiben können, wie richtiger Sex unter Männern abläuft. Schwule ficken sich in den Arsch, das ist ja allgemein bekannt, was auch immer so toll daran sein soll, andererseits, worein sollten sie sich auch sonst… Florian begann, sich ein wenig zu ärgern, dass er die Chance vertan hatte, nun war es zu spät, jedenfalls für heute. Anstatt miteinander zu kuscheln, oder was auch immer sonst, saßen sie nun in dieser fast leeren Kneipe und warteten, ohne dass er gewusst hätte, worauf. Auch Markus machte keinen besonders glücklichen, sondern eher schmallippigen Eindruck. Ein Gespräch wollte zwischen ihnen nicht mehr so recht in Gang kommen. Florian nahm einen Schluck Bier, dann schaute er auf seine Uhr. Schon fast Elf, höchste Zeit zum Schlafengehen, morgen musste er ja wieder fit sein für die neue Arbeitswoche. Er gähnte.

„Wollen wir gleich mal?“, fragte Markus, der sein Wasser längst ausgetrunken hatte.

„Ja, für mich wird es höchste Zeit.“

Der umgekehrte Kuckuck pfiff. Ein neuer Gast. Hallo Frank, hörte Florian hinter seinem Rücken den Muskelmann sagen. Gleichzeitig bemerkte er in Markus´ Gesicht eine Mischung aus Überraschung und Unbehagen. Frank? Doch nicht etwa… Florian drehte sich halbautomatisch um. Tatsächlich, hinter ihm stand Frank, der Frank, der so nett lächeln konnte und dessen Telefonnummer er seit wenigen Stunden besaß. Eine wohlige Nervosität spürte Florian in sich aufkommen, die Müdigkeit war kurzfristig verschwunden.

Nun war es Florian, der zu Frank sagte: „So schnell sieht man sich also wieder!“

„Hallo…“, erwiderte der Angesprochene, der Florian anscheinend nicht sofort erkannt hatte; dann aber, als der Groschen gefallen war, setzte er wieder sein unvergleichliches Lächeln auf. „Hallo Markus, lange nicht gesehen“, fügte er mit einem nicht mehr ganz so strahlenden Lächeln an.

„Ach ihr kennt euch?“, fragte Florian.

„Ja, das kann man wohl so sagen“, antwortete Markus ohne jedes Lächeln, wobei er es vermied, Frank anzuschauen. „Ich muss jetzt wirklich gehen, bin todmüde.“

„Ich komme mit“, sagte Florian, obwohl er jetzt gerne doch noch ein wenig geblieben wäre.

„Schade“, sagte Frank und lächelte Florian vielsagend an. Der grinste mit einem entschuldigenden Schulterzucken zurück. Es half nichts, er musste schlafen gehen, jetzt und sofort, wenn er den morgigen Arbeitstag einigermaßen fit erleben wollte. Und das wollte er.

Markus und Florian bezahlten und verließen das Fritz. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen. Da jeder von ihnen in eine andere Richtung gehen musste, blieben sie noch kurz vor der Tür stehen, die schon wieder ins Schloss gefallen war.

„Dass dieser Arsch ausgerechnet noch auftauchen musste…“, knurrte Markus.

„Wieso Arsch?“

„Das war Frank, mein Exfreund. Habe ich dir doch erzählt.“

„Ach das war der, wegen dem du hierher gezogen bist?“

„Volltreffer, Baby. Sag bloß du kennst ihn auch schon?“

„Kennen wäre zu viel gesagt.“ Florian erzählte von seinem Cafébesuch am Nachmittag, wobei er den Kassenzettel mit der Telefonnummer nicht erwähnte.

„Pass bloß auf bei dem. Der wickelt dich ein mit seinem unvergleichlichen, süßen Lächeln, erzählt dir einen von großer Liebe und so. Aber wenn er erst mit dir im Bett war, kannst du froh sein, wenn er dich hinterher noch grüßt.“ Markus´ Laune war tief gesunken. „Also dann, Süßer, komm gut nach Hause und träum was Schönes von mir.“ Er ging auf Florian zu und umarmte ihn, wovon dieser zunächst etwas überrascht war. Doch dann erwiderte er die Umarmung. Es war ein ungewohntes, aber schönes Gefühl, einem anderen männlichen Körper nahe zu sein, wenn auch nur ganz kurz und durch eine dicke Schicht Jacken und Pullover getrennt. Dann gingen sie auseinander. Florian gingen tausend Dinge durch den Kopf, ein einziges inneres Stimmengewirr wie auf einem orientalischen Marktplatz. Er war wieder hellwach, keine Spur von Müdigkeit mehr, an Schlafen im Moment nicht zu denken. Er blieb stehen und drehte sich um. Die Biermarke über dem Café Fritz leuchtete noch einladend. Markus war längst um die Straßenecke aus Florians Sichtfeld verschwunden. Und umgekehrt. Dass es das einzig Vernünftige gewesen wäre, jetzt nach Hause zu gehen, war Florian klar. Aber warum sollte er immer nur vernünftig sein? War er nicht überhaupt viel zu vernünftig gewesen in der letzten Zeit? Kurzentschlossen, die Vernunft ausgeschaltet wie eine Nachttischlampe, kehrte er um. Sekunden später pfiff der umgekehrte Kuckuck des Café Fritz.

„Hast du etwas vergessen?“, fragte ihn der verdutzte Kellner.

„Ja, kann man so sagen…“, antwortete Florian, und kam sich im selben Augenblick albern vor. Was sollte Frank jetzt von ihm denken? Na, das richtige halt…

„Du schon wieder!“, sagte dieser und grinste Florian breit an.

„Ja, ich schon wieder …“

*

„Möchtest du was trinken?“, rief Frank aus der Küche, er wohnte nur gut zehn Minuten vom Café Fritz entfernt.

„Nein danke“, antworte Florian. Er war nervös. Am liebsten hätte er die Wohnung sofort wieder verlassen. Nach seiner Rückkehr ins Fritz hatten sie sich gut unterhalten und bald gemerkt, dass da so etwas wie eine gegenseitige Sympathie war, und noch etwas anderes, das Florian nicht kannte und noch nicht richtig einschätzen konnte. Irgendwann hatte Frank ihn dann mit einem unbeschreiblichen Blick angeschaut und gefragt, ob er Lust hätte, mit zu ihm zu kommen, dort sei es gemütlicher um sich zu unterhalten. Florian, dessen Vernunft noch immer ausgeschaltet war, war einverstanden, wobei ihm schon klar war, dass der Zweck seines Besuches nicht in erster Linie eine nette Unterhaltung war. Und deshalb war er jetzt extrem nervös. Was würde Frank gleich mit ihm anstellen? Und wie würde er, Florian, sich dabei anstellen? Schließlich hatte er noch nie… Aber egal, einmal musste er ja damit anfangen, auch wenn es schon fast Mitternacht war und er morgen früh aufstehen musste. Er hätte sich seine Entjungferung schon in einem romantischeren Rahmen gewünscht. Andererseits, Frank war wirklich ein netter und überaus attraktiver Kerl (und überhaupt der erste Mann, den Florian ganz bewusst als attraktiv wahrnahm). Jetzt gab es kein Zurück mehr, hier und heute sollte es sein, und das war immer noch besser als in den Büschen des Parkes… Florian saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Frank betrat das Wohnzimmer und setzte sich neben Florian. Er hatte seinen Pullover ausgezogen und trug nur noch ein T-Shirt über der Hose, unter dem sich sein gut gebauter Oberkörper abzeichnete. Florian saß wie erstarrt mit verschränkten Armen auf dem Sofa. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte, daher wartete er erst mal ab, was Frank machen würde. Und der machte… er ließ seine Hand zu Florian herüberwandern und begann ihn am Oberschenkel zu streicheln. Ein wohliger Schauer durchfuhr Florian, der noch immer völlig passiv und bewegungslos dasaß. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er sich direkt Frank gegenüber, der ansetzte, ihn zu küssen. Von da an ging alles fast wie von selbst. Auch Florians Hände begannen jetzt, den anderen Körper zu erkunden. Noch immer war er nervös, sein Herz pochte und jagte das Blut durch sämtliche Adern. Und zu einer ganz bestimmten Stelle seines Körpers, die inzwischen auch durch Franks Hand erkundet wurde. Florian stöhnte leicht auf. Eine Hand fuhr unter seinen Pullover und strich über seine Brust. Langsam entledigten sie sich ihrer Kleidungsstücke, erst Pullover und T-Shirt, dann die Jeans, so dass sie nur noch in Unterhosen nebeneinander saßen, sich gegenseitig streichelten und küssten. Es war ein unbeschreibliches Erlebnis für Florian, er hatte jedes Zeitgefühl verloren.

„Komm!“, sagte Frank leise, nahm Florians Hand und zog den willenlos folgenden hinter sich her ins Schlafzimmer. Kurz darauf fielen auch die Shorts. Florian lag auf dem Rücken, Frank kniete vor ihm und bearbeitete mit der Hand Florians Schwanz, während er ihn mit einem geradezu lüsternen Gesichtsausdruck anschaute. Es war ein vollkommen anderes Gefühl, wenn es ein anderer machte, als wenn man sich selbst einen runterholte, stellte Florian fest. Und es war auch etwas völlig anderes als das, was er bisher mit Stefanie gewohnt war. Vielleicht war es einfach nur der Reiz des Neuen, vielleicht aber auch die Erkenntnis, dass es ein Mann war, der im Begriff war, ihn auf den Gipfel der Lust zu geleiten. Er griff zu Franks Schwanz, der auffordernd in Richtung Florians Gesicht zeigte, und bearbeitete ihn in gleicher Weise. Frank schloss die Augen und stöhnte leicht auf. Dann ergriff er Florians Hand, um ihr in ihrer Tätigkeit Einhalt zu gebieten, sonst wäre für ihn gleich schon alles vorbei gewesen. Frank beugte sich herunter und bearbeitete Florians Schwanz mit seinen Lippen und seiner Zunge, in einer Weise, wie Florian es noch niemals vorher erlebt hatte. Wenn Stefanie ihm mal einen geblasen hatte, was selten genug vorgekommen war, dann war das nicht auch nur annähernd so geil wie das, was Frank in diesem Augenblick geradezu zelebrierte. Florian stöhnte auf, lange konnte er es nicht mehr zurück halten… Frank hörte auf, griff in die Schublade des Nachtschrankes und holte ein Kondom hervor. Gekonnt befreite er es aus seiner Verpackung und rollte es routiniert über Florians Schwanz ab. Ja, darüber hatte sich Florian auch noch keine Gedanken gemacht. Mit Stefanie benutzte er selten ein Kondom, weil sie die Pille nahm, und wenn, dann ging es meist ziemlich verkrampft zu; ehe er das verdammte Ding aus der verdammten Umhüllung heraus hatte, war weiter unten meist schon wieder eine gewisse Erschlaffung eingetreten, die erst nach längerem Bearbeiten durch Stefanie der erforderlichen Standhaftigkeit wich. Doch jetzt lief das fast automatisch ab, Frank hatte darin offenbar große Übung, von Erschlaffung war bei keinem von beiden etwas zu spüren. Florian musste kurz an die traurige Notwendigkeit der Kondombenutzung denken, galt es doch hier, etwas ganz anderes, viel schlimmeres als ungewollten Nachwuchs zu vermeiden, etwas, worüber er bislang auch noch nicht viel nachgedacht hatte. Aber es war anscheinend eine Selbstverständlichkeit für Frank, und so dachte Florian erstmal nicht weiter an dieses unerfreuliche Thema. Ging es nicht im Grunde ein wenig weit, jetzt, bei seinem ersten Sex mit einem anderen Mann, gleich aufs Ganze zu gehen? Aber sollte er Frank jetzt unterbrechen? Nein, dazu waren er, Florian, und die ganze Situation an sich viel zu geil. Er wollte es schließlich kennenlernen, mit allem drum und dran, warum also nicht gleich jetzt? Hinfort all ihr Bedenken und Zweifel, es ist doch gerade so schön… Frank griff erneut in die Nachttischschublade und holte eine große Tube hervor, aus der er eine größere Portion eines wässrigen Gels in seine Hand drückte. Diese verteilte er über Florians eingehüllten Schwanz und in seinem eigenen Arsch. Florian schaute mit einer Mischung aus Interesse und Geilheit zu. Dann begann das große Finale. Frank setzte sich langsam über Florians Schwanz, so dass dieser Zentimeter für Zentimeter in ihn eindrang, wobei er aufstöhnte. Florian spürte, wie etwas Warmes seinen Schwanz fest umschloss, viel fester als das, was er von Stefanies Öffnung gewohnt war, fester und geiler. Frank begann, sich erst langsam, dann schneller rhythmisch auf und ab zu bewegen, wobei sein Stöhnen lauter wurde. Es dauerte nicht lange, bis er einen unterdrückten Schrei losließ und sich stoßartig weiße Fontänen auf Florians Bauch und Brust ergossen. Nun konnte auch Florian es nicht mehr zurückhalten, er bäumte sich leicht auf, stöhnte laut und füllte das Kondom, das noch immer in Frank steckte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so heftig gekommen zu sein…

Als Florian um kurz nach zwei Uhr nachts nach Hause ging, hatte er das Gefühl, er schwebte. Das, was er kurz vorher zusammen mit Frank erlebt hatte, war unbeschreiblich. Nein, so gut konnte Sex mit einer Frau niemals sein, nicht mit Stefanie und auch nicht mit irgendeiner anderen. Seine letzten Zweifel, ob er wirklich schwul war, waren zerstreut. Ja, genau das war es, was er wollte, das und nichts anderes. Frank war so wunderbar. Der Gedanke an ihn ließ Florian lächeln. Er war glücklich. War er verliebt? Ja, so konnte man es wohl nennen. Am liebsten wäre er bei Frank geblieben, die ganze Nacht, und den ganzen nächsten Tag, und alle Nächte und Tage, die noch kommen mochten. Es war so unbeschreiblich schön gewesen, neben ihm zu liegen, seinen Körper zu spüren, seiner Stimme zu lauschen, ihn zu küssen. Aber schließlich hatte doch die Vernunft gesiegt, und Florian machte sich auf den Weg. An morgen früh mochte er noch nicht denken, das war jetzt noch weit weg. Das heißt, so weit leider auch nicht, in nicht einmal fünf Stunden würde ihn der Wecker schon wieder an den Ernst des Lebens erinnern. Na und wenn schon, auch dieser Arbeitstag würde vorüber gehen. Florian hätte jetzt alle Menschen umarmen können, wenn denn um diese Zeit noch welche unterwegs gewesen wären. Aber die Stadt schlief, nur noch in wenigen Fenstern brannte Licht. Er solle sich melden, hatte Frank zum Abschied gesagt, seine Telefonnummer habe er ja. Natürlich würde Florian sich bei ihm melden, schließlich wollte er ihn so bald wie möglich wieder sehen, und nicht nur das… das Leben war schön! Glücklich schlief Florian ein, nachdem er zu Hause angekommen war.

*

„Na Herr Schwerdt, Sie haben ja anscheinend ein schönes Wochenende gehabt, was?“, bemerkte Frau Steinmeier, Florians ältere Kollegin, mit der er in einem Büro saß, am nächsten Morgen. Er kam gut mit ihr aus, wenngleich sie auch manchmal etwas zu neugierig war. Sie hatte ihn mit den Gepflogenheiten der Firma vertraut gemacht, als er hier angefangen hatte vor einem Monat. Manchmal hatte er fast das Gefühl, sie entwickelte so etwas wie Muttergefühle ihm gegenüber, wenn sie ihn mal wieder mit Plätzchen oder Kuchen versorgte, „sie können es sich ja leisten“, pflegte sie dann immer nicht ganz ohne Neid auf seine schlanke Figur zu sagen.

„Ja, hatte ich. Wieso, merkt man das?“, antwortete er freundlich lächelnd.

„Na Sie strahlen ja, als ob Sie frisch verliebt wären!“

Florian grinste und wurde leicht rot, ohne die Bemerkung seiner Kollegin weiter zu kommentieren. Wie recht du hast, dachte er. Sie wusste von Stefanie, seiner Freundin, oder ja jetzt wohl Ex-Freundin. Er sah keine Veranlassung, sie über die aktuellen geänderten Verhältnisse seines Beziehungsgefüges in Kenntnis zu setzen. Das ging sie nun wirklich nichts an, weder sie noch sonst jemanden in der Firma, man konnte ja nie wissen, wie das bei verschiedenen Kollegen und Vorgesetzten ankam. Und über Mobbing hatte er genug gehört und gelesen. Daher hielt er es für besser, weiterhin eine Freundin in einer anderen Stadt in sicherer Entfernung zu haben, jedenfalls fürs Erste.

Die Arbeit ging ihm heute leicht von der Hand, selbst das Aufstehen in der Frühe hatte ihm trotz der kurzen Nacht erstaunlicherweise keine größeren Schwierigkeiten bereitet. Er war von einer inneren Energie getrieben, wie er sie schon lange nicht mehr, oder vielleicht sogar noch nie erlebt hatte. Immer wieder dachte er zwischendurch an Frank, und er musste aufpassen, dass er nicht minutenlang geistesabwesend lächelnd an seinem Schreibtisch saß und träumte… Es war so völlig anders als mit Stefanie. Er hatte sie damals auf der Geburtstagsfeier eines Kommilitonen kennen gelernt. Erst hatte er gar keine Lust gehabt, auf die Party zu gehen, weil er mit dem Kommilitonen sonst nicht viel zu tun hatte, außerdem kam an jenem Abend ein Film im Fernsehen, den sich Florian gerne angesehen hätte. Aber aus irgendeinem Grunde hatte er sich dann doch noch aufgemacht zu der Party. Dort war nicht viel los, die Musik war schlecht, und die meisten Leute hingen mehr oder weniger gelangweilt herum. Kurz gesagt, es herrschte alles andere als ausgelassene Partystimmung, und Florian ärgerte sich, dass er nicht zu Hause vor dem Fernseher geblieben war. Auf dem Weg zum fast abgegrasten Büffet stieß er dann versehentlich mit einem Mädchen zusammen, das ebenfalls versuchte, dort noch etwas Essbares zu ergattern. Sie kamen nach dem kleinen Zusammenstoß ins Gespräch, und von da an war der Abend gerettet. Das Mädchen stellte sich als Stefanie vor, und sie unterhielten sich bestens. So gut, dass sie die letzten Gäste der Party wurden und erst gar nicht bemerkten, dass die Lichter angingen. Und anstatt nach Hause zu gehen, setzten sie sich dann noch auf eine Bank im nahe gelegenen Park und unterhielten sich weiter, bis die Morgendämmerung einsetzte und die ersten Amseln zu singen begannen. Ob er denn keine Freundin habe, fragte sie. Nein. Sie habe auch keinen Freund mehr, mit dem letzten habe sie vor einem halben Jahr Schluss gemacht, weil er mit einer anderen herumgemacht habe. So ein Arsch. Es gefiel Florian, wie locker sie mit ihm sprach, auch schon mal den einen oder anderen nicht ganz feinen Ausdruck gebrauchte. Ja, Stefanie gefiel ihm. Er fragte sich, ob er sie küssen sollte, ob sie das vielleicht sogar von ihm erwartete. Aber er traute sich nicht. Schließlich hatte er bis dahin keinerlei Erfahrung im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Lust gehabt hätte er schon, aber keine Ahnung, wie man das anfängt. Gegen vier Uhr in der Frühe befand Stefanie, dass es nun doch an der Zeit sei, ins Bett zu gehen. Ja, für ihn wurde es auch Zeit, antwortete Florian. Ob sie sich wiedersehen würden, fragte Stefanie. Ja sicher, gerne, und sie tauschten ihre Telefonnummern aus. Ob sie es jetzt weit habe bis nach Hause? Nein, gleich um die Ecke in dem Studentenwohnheim. Er brachte sie bis vor die Haustür. Ob er noch einen Kaffee wolle. Nein danke, es wäre höchste Zeit fürs Bett, antwortete er, wobei er den eigentlichen Zweck ihrer Frage gar nicht erkannt hatte. Sie gab ihm zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange, woraufhin er fast erstarrte vor Schreck. Bevor er reagieren konnte, war sie schon im Haus verschwunden. Florian hatte jetzt noch eine etwa viertelstündige Fahrradfahrt vor sich, die er jedoch in dieser lauen Sommernacht sehr genoss. Der Fahrtwind erzeugte eine angenehme Kühle an seinen Waden, da er die Hosenbeine seiner Jeans aufgekrempelt hatte. Wirklich ein tolles Mädchen, dachte er unterwegs… Am nächsten Tag sahen sie sich wieder. Nachmittags rief sie ihn an, ob er Lust habe, sich mit ihr auf einen Kaffee zu treffen. Er hatte. Sie trafen sich in einem Café in der Stadt, das viel von Studenten besucht wurde. An diesem Nachmittag blieb es dann auch nicht bei einem flüchtigen Kuss auf die Wange… Ja, jetzt habe ich wohl eine Freundin, dachte Florian später, wie schön. Nun war es nicht so, dass er von da an die Welt durch eine rosarote Brille sah oder dass der bloße Gedanke an sie die himmlischen Chöre vor seinem geistigen Ohre jubilieren ließ. Auch die berühmten Schmetterlinge im Bauch, von denen in diesem Zusammenhang immer zu hören und lesen war, spürte er nicht; sicher handelte es sich dabei ohnehin nur um eine romantisierende Übertreibung irgendwelcher Liebesdichter oder Schlagertexter. Und doch war es ein schönes Gefühl, an sie zu denken, mit ihr zusammen zu sein. Mehr konnte man wohl nicht erwarten von der Liebe oder was auch immer das war, das gerade zwischen ihnen im Entstehen begriffen war.

Erst jetzt, nachdem er Frank kennen gelernt hatte, bemerkte Florian die Schmetterlinge. Dieses wohlige Gefühl in der Bauchgegend, das ihn bei jedem Gedanken an Frank überkam (und er dachte fast ununterbrochen an ihn), war etwas völlig anderes, völlig neues. Heute würde er früh Feierabend machen, nahm er sich vor. Noch eine Stunde. Dann schnell nach Hause und Frank anrufen. Und ihn vielleicht später treffen, wenn er Zeit hätte. Natürlich hätte er Zeit, er musste einfach Zeit haben für ihn. Hoffentlich…

„Pech gehabt, leider kann ich deinen Anruf nicht persönlich entgegen nehmen. Aber wenn du nach dem Piep eine nette Nachricht hinterlässt, rufe ich dich bestimmt zurück.“ Allein Franks Stimme zu hören, wenn auch nur als Ansage seiner Mobilbox, ließ Florians Glückshormone sprudeln wie ein frisch eingegossenes Glas Champagner. Dass er ihn jetzt nicht erreichte, war zwar in der Tat Pech, aber wiederum auch nicht tragisch. Er hinterließ also, wie vorgeschlagen, eine kurze Nachricht, er wolle sich nur mal melden, und er würde sich sehr über einen Rückruf freuen. Am liebsten hätte er gleich darauf noch mal angerufen, nur um Franks Stimme erneut zu hören. Das tat er natürlich nicht. Stattdessen legte er das Telefon beiseite und wagte es nicht, sich weiter als fünf Meter davon zu entfernen. Schließlich wäre es doch zu schade gewesen, wenn Frank gerade in dem Augenblick angerufen hätte, wo Florian unter der Dusche stand. Stattdessen setzte er sich in den Sessel und schaltete den Fernseher ein. Dort lief um diese Zeit jedoch nichts, was seine Aufmerksamkeit länger als fünf Sekunden hätte fesseln können. Und die Simpsons, die so ziemlich das einzige waren, was er sich regelmäßig anschaute, mal von Nachrichten abgesehen, kamen erst in einer Stunde. Also kein Fernsehen jetzt, auch gut. Vielleicht endlich mal wieder was lesen. Der Name der Rose, dritter Anlauf. Warum ruft er nicht zurück? Bestimmt arbeitet er gerade. Er wird schon anrufen… Das Telefon schwieg. Florian schlug das Buch auf und begann zu lesen. Dieses Mal gelang es ihm sogar, sich auf das Gelesene zu konzentrieren, die Geschichte vor seinem geistigen Auge zu verfolgen. Auf Seite 34 klingelte das Telefon. Hastig schlug Florian das Buch zu (mit dem Erfolg, dass er später die Stelle suchen musste, bis zu der er gekommen war) und ging ebenso hastig ans Telefon. Leider nicht der Erhoffte:

„Hi Florian, hier ist Markus. Wollte mich nur mal kurz melden. Bist du gestern Abend noch gut nach Hause gekommen?“

„Hallo Markus!“ Florian bemühte sich, nicht allzu enttäuscht zu klingen. „Klar, ich hatte es ja nicht so weit. Und selbst?“ Hatte Markus womöglich etwas mitbekommen davon, dass Florian noch einen kleinen Umweg gemacht hatte? Oder sollte er es ihm erzählen? Nein, besser nicht. Er erinnerte sich daran, was Markus über Frank gesagt hatte, bevor sie gestern auseinander gegangen waren. Und das wollte er jetzt nicht noch mal hören. Außerdem war Markus ja mal mit Frank zusammen gewesen, wer weiß wie er reagiert hätte, wenn er erfuhr, dass Florian Frank gestern noch sehr viel näher kennen gelernt hatte…

„Ja ich auch. Ich bin dann auch gleich ins Bett gegangen, war ziemlich müde. Und dann noch deine Enthüllung, das war genug!“ Markus lachte.

„Enthüllung?“ Florian erschrak etwas und dachte sofort daran, wie er sich in Franks Wohnung seiner Klamotten entledigt hatte.

„Na dein Outing, meine ich.“

Ach so. Anscheinend hatte Markus nichts mitbekommen, wie sollte er auch. Gut so. „Und was machst du heute noch?“, fragte Florian, um das Thema entgültig von gestern Abend abzubringen.

„Bis jetzt noch nichts Konkretes. Und du?“

„Heute wohl nichts mehr. Ich werde früh schlafen gehen, ich muss etwas Schlaf nachholen.“ Das war nun wirklich nicht gelogen.

„Wollen wir die Tage wieder was zusammen trinken gehen?“

„Ja gerne. Ich weiß aber im Moment noch nicht, wann ich Zeit habe, ich muss in den nächsten Tagen ziemlich lange arbeiten“, log Florian. Er wollte sich die kommenden Abende unbedingt für Frank frei halten. Außerdem wurde es Zeit, das Gespräch zu beenden, immerhin konnte Frank jeden Moment anrufen… „Ich melde mich die Woche bei dir, ja?“ Und so verblieben sie in aller Unverbindlichkeit. Florian mochte Markus sehr gerne, und er ging auch gerne mit ihm was trinken, schließlich waren sie ja jetzt so etwas wie Verbündete. Doch hatte Frank erst mal eine höhere Priorität. Als er aufgelegt hatte, fragte er sich, ob es jetzt unhöflich gewesen sei, Markus so schnell abzufertigen. Aber das ging jetzt nicht anders. Beim nächsten Mal wieder länger!

Nach einigen Minuten Blättern war Florian wieder auf Seite 34 des Buches angelangt, der Stelle, an der das Telefon die Lektüre unterbrochen hatte. Drei Seiten später ging das Telefon wieder. Ein wohliges und erwartungsvolles Kribbeln durchfuhr Florians Bauchgegend. Dieses Mal legte er das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten auf den Tisch.

„Hallo Flo…“, kam es mit Stefanies Stimme aus dem Hörer.

„Steffi! Was…“ Florian bemühte sich, die Enttäuschung und plötzlich aufkommende unangemessene Wut zu bezähmen, und er begann den noch unausgesprochenen Satz was willst du denn schon wieder, der ihm fast rausgerutscht wäre, noch einmal von vorne und formulierte in um in „wie geht es dir?“, wobei ihm diese Frage, kaum dass sie ausgesprochen war, ziemlich dämlich und hilflos vorkam.

„Nicht so besonders“, kam prompt die nicht anders erwartete Antwort, „und dir?“

„Ausgezeichnet.“ Das war jetzt bestimmt nicht die Antwort, die Stefanie erwartet hatte, und doch war sie nicht gelogen. Ja, es ging Florian so gut wie schon sehr lange nicht mehr.

„Freut mich…“, kam mit wenig Überzeugung vom anderen Ende. „Hör mal Flo, ich halte das so nicht mehr aus. Können wir uns sehen?“

„Nein, ich halte das im Moment für keine so gute Idee.“ Ich muss es ihr sagen, dachte Florian. Aber wie? Ja, es war schon irgendwie ungerecht, es ihr nicht zu sagen und damit ihre Schuldgefühle noch zu verstärken. Vielleicht war es wirklich das Beste, sich zu einem klärenden Gespräch zu treffen. Irgendwann. Aber noch nicht! Mist, Frank konnte jeden Augenblick anrufen, vielleicht versuchte er es jetzt gerade und bekam nur das Besetztzeichen zu hören. Ich muss sie abwimmeln, auch wenn es gemein ist, dachte Florian. Wenn es sein muss, und jetzt musste es sein, mit einer faulen Ausrede. „Ich muss jetzt los, bin jetzt schon viel zu spät dran.“

„Wo willst du denn hin?“

„Ich bin mit ein paar Kollegen zum Bier verabredet“, log er.

„Flo, bitte gib mir noch eine Chance! Ich liebe dich!“

„Ich melde mich am Wochenende bei dir, ja?“

„Das machst du doch sowieso nicht…“, maulte sie.

„Doch, bestimmt. Am Freitagnachmittag rufe ich dich an, versprochen, ja? Ich muss jetzt echt Schluss machen, tschüss!“ Und ohne eine weitere Antwort abzuwarten, legte er auf. Jetzt fühlte er sich so richtig mies ihr gegenüber. Ja, sie hatte ein Recht, den wahren Grund seiner ablehnenden Haltung ihr gegenüber zu erfahren, und zwar so bald wie möglich. Daher nahm er sich vor, sie am Freitag tatsächlich anzurufen. Und bis dahin hatte er noch genug Zeit, darüber nachzudenken, wie er es ihr beibringen würde…

Gerade wollte Florian zum Buch greifen, als das Telefon erneut düdelte. Bitte lass es endlich Frank sein, ließ Florian ein Stoßgebet zum Himmel fahren.

„Hi Kleiner, hier ist Frank.“ Das Gebet war offenbar erhört worden. Freudiges Kribbeln in Florians Bauch war die sofortige Folge. Endlich!

„Frank! Schön dass du anrufst…“ Jetzt, wo er ihn endlich am Telefon hatte, fiel Florian nicht mehr viel ein, was er hätte sagen können, ohne dass es albern oder zumindest pubertär geklungen hätte.

„Na, ist doch wohl klar, dass ich dich zurückrufe! Und, wie war dein Tag?“

„Ganz gut, ich habe heute ziemlich früh Feierabend gemacht“, und ziemlich viel an dich gedacht, fügte Florian in Gedanken hinzu. „Und wie war’s bei dir, hast du bis jetzt gearbeitet?“

„Ja, ich bin gerade nach Hause gekommen und muss auch gleich schon wieder los, ich treffe mich heute Abend mit einer Freundin“.

„Schade…“, sagte Florian enttäuscht. Das Kribbeln im Bauch erfuhr einen leichten Dämpfer.

„Warum?“

„Na ja… ich dachte… also ich würde dich gerne wieder sehen.“

„Das wirst du auch. Aber ich bin mit Petra schon seit Wochen für heute verabredet. Wie sieht’s denn morgen Abend bei dir aus?“

Gut sah es bei Florian aus. Seine Enttäuschung verblasste sofort und machte wieder Platz für das wohlige Kribbeln. Sie verabredeten, dass Frank zu Florian kam. Er platzte fast vor Vorfreude! Wie sollte er die nächsten vierundzwanzig Stunden nur überstehen?

Ungefähr sechsundzwanzig Stunden später öffnete Florian seine Wohnungstür und blickte ins Treppenhaus, wo Frank ihm schon lächelnd entgegen blickte, während er die knarrende Treppe aus dunklem Holz herauf kam. Wortlos, nur mit einem glücklichen Lächeln (welches ein neutraler Beobachter auch für ein idiotisches Grinsen hätte halten können), nahm Florian die Weinflasche entgegen, die Frank mitgebracht hatte, schloss die Tür, nachdem Frank eingetreten war, und umarmte ihn, die Weinflasche noch immer in der Hand. Er spürte Franks Körper mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen, sog seinen Duft ein, den Duft nach frisch geduscht und einem dezenten, nicht aufdringlichen Parfüm, welches Florian nicht benennen konnte, denn von solchen Dingen verstand er nichts. Dann ging alle ganz schnell. Die Umarmung ging über in ein wildes Knutschen, wobei neben Franks Jacke nach und nach auch alle anderen Kleidungsstücke fielen, die kurz darauf eine Spur bildeten von der Wohnungstür über das Sofa bis in Florians Schlafzimmer. Und obwohl die Weinflasche noch ungeöffnet einsam im Eingangsbereich der Wohnung stand, fühlte Florian sich wie in einem Rausch. Frank hatte ein paar Dinge drauf, die Florian sich in seinen wildesten Träumen nicht hätte vorstellen können, und die er gerne und bereitwillig mit sich geschehen ließ, bis der Rausch schließlich in einen grandiosen Höhepunkt mündete. Gut, dass Florians Vermieter mal wieder auf Reisen waren, sonst hätten sie womöglich die Polizei gerufen, in der Annahme, in der oberen Wohnung würde gerade ein Gewaltverbrechen begangen…

„Mann, war das geil…“, sagte Florian, mehr zu sich selbst als zu Frank, als sie nach der ersten Runde in seinem Bett lagen, Florians Kopf auf Franks leicht behaarte Brust gelegt. Und es dauerte nicht lange, bis Frank seine Finger zart über Florians Körper gleiten ließ, so dass dieser leicht kitzelig zusammen zuckte, und so die zweite Runde einläutete…

Später wurde die Weinflasche dann doch noch geöffnet. Sie saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer und plauderten über alles Mögliche. Florian lehnte an Franks Schulter und lauschte seinen Worten, seiner in Florians Ohren unbeschreiblich schönen Stimme. Und er wünschte sich, dieser Moment würde bis in alle Ewigkeit anhalten. Aber wie es in der Natur eines jeden Momentes liegt, ging er vorüber, und zwar etwa zwei Stunden später. Mitternacht war längst durch, und Frank befand, dass es nun an der Zeit sei zu gehen. Auch Florian war inzwischen von einer glücklichen Müdigkeit gefangen genommen. Einen Augenblick lang war er versucht, Frank zu fragen, ob er nicht über Nacht bleiben wollte. Aber er verwarf diesen Gedanken sogleich wieder. Erstens brauchte er unbedingt ein paar Stunden Schlaf, die er, so viel war ihm klar, vermutlich nicht bekommen hätte, wenn Frank geblieben wäre. Zweitens wollte er Frank nicht das Gefühl geben, dass er ihn bedrängte. Irgendwann würden sie schon gemeinsam einschlafen und auch wieder aufwachen. Und etwas musste es ja auch noch geben, auf das sich Florian freuen konnte.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte Florian, als Frank seine Jacke anzog. Am nächsten Abend ging es nicht, da musste Frank arbeiten. Donnerstag ging auch nicht, denn dann kam ja Simon zu Besuch. Sie verabredeten sich für Freitag, vorher würden Sie aber noch telefonieren. Mit einem innigen Kuss und einer festen Umarmung verabschiedete Florian Frank in die Nacht.

„Ich rufe dich an“, sagte Frank, lächelte noch einmal sein unvergleichliches Lächeln, bevor er ging. Dass der Satz ich rufe dich an häufig die Bedeutung leb wohl hatte, daran dachte Florian in diesem Augenblick überhaupt nicht, warum sollte er auch. Er lehnte sich von innen an die wieder geschlossene Wohnungstür und blickte lächelnd zur Decke, so als ob er dankbar zum Himmel schauen würde. „Ja…!“, hauchte er leise, während er mit geballter Faust in die Luft boxte, wie ein Tennisspieler, der soeben den entscheidenden Punkt geholt hatte. Dann ging er ins Wohnzimmer, verkorkte die zu drei Viertel ausgetrunkene Weinflasche und stellte die Gläser auf die Spüle in der Küche. Voller Zärtlichkeit betrachtete er das Glas, aus dem Frank getrunken hatte, und küsste es, so, als ob es an Franks Stelle Florians Gefühle empfangen könnte. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, brachte er das heftig zerwühlte Bett ein wenig in Ordnung. Er glaubte, in der Bettwäsche noch ein wenig von Franks Duft auszumachen…

6. Alte Freundschaft

„Echt geiler Laden hier!“, stellte Simon fest, als Florian und er am Donnerstagabend in der Sonderbar saßen, während er mit erkennbarer Begeisterung dem Mädchen nachsah, das ihnen soeben zwei Bier gebracht hatte. „Ist das deine Stammkneipe?“

„Nicht direkt, ein paar mal war ich schon hier. Ich dachte mir schon, dass es dir hier gefällt. Die ist nett, nicht?“, antwortete Florian mit Blick auf die Bedienung.

„Wer?“, mimte Simon den Unschuldigen. „Ach so, ja, ganz nett…“

Florian grinste Simon an. Er kannte ihn genau und von daher wusste er, dass er sie sogar sehr nett fand. Er verzichtete jedoch darauf, das Thema weiter zu vertiefen. Simon war im Laufe des frühen Abends bei Florian eingetroffen. Florian freute sich, seinen alten Schulfreund und immer noch besten Freund wieder zu sehen. Dabei trat sogar der ständige Gedanke an Frank in den Hintergrund. Diese Freundschaft war etwas völlig anderes, etwas, das, über Jahre gewachsen und gereift, so schnell durch nichts und niemanden zu erschüttern war, und sie war Florian sehr wichtig. Sie hatten früher sehr viel Zeit miteinander verbracht; nicht nur in der Schule, auch in ihrer Freizeit hingen sie fast ständig zusammen, wodurch sie oft „die Zwillinge“ genannt wurden. Das änderte sich erst, als sie etwa sechzehn Jahre alt waren und Simon, wie viele andere in ihrem Alter auch, entdeckte, dass Mädchen nicht nur doof sind, sondern von ihnen gewisse Reize ausgehen, denen man sich als Junge im spätpubertierenden Alter nur schwer entziehen kann. Sie verbrachten zwar immer noch sehr viel Zeit zusammen, aber Florian nahm immer häufiger mit immer weniger Begeisterung zur Kenntnis, dass nicht mehr er es war, dem Simons ungeteilte Aufmerksamkeit zu Teil wurde, sondern irgendein Mädchen, in das sich Simon gerade verschossen hatte. Zwar gelang es Simon nicht sehr oft, das Objekt seiner Begierde zu erobern, aber wenn es dann doch mal so weit war, dass eines der Mädel Feuer gefangen hatte und mit ihm ging, wie es damals so schön hieß, dann war es besonders schlimm für Florian, weil Simon dann natürlich kaum noch Zeit für ihn hatte. Dies führte auch dazu, dass Florian stets ein etwas gespanntes Verhältnis zu Simons Freundinnen hatte. Zwar waren die Mädchen immer sehr freundlich zu ihm, dennoch fühlte er deutlich, dass er eigentlich störte. Zu seinem Glück hielten diese Geschichten nie besonders lange, so dass er Simon schon nach wenigen Tagen, seltener Wochen, wieder ganz für sich alleine hatte; und alles war nach einem zünftigen gemeinsamen Besäufnis, bei welchem Simon stets feststellte, dass Frauen im Grunde scheiße sind, wie vorher. Bis zum nächsten Mädchen, das Simons Interesse und seine jugendlichen Hormone erweckte…

„Wir müssen für dich auch endlich eine finden“, sagte Simon dann immer, „dann können wir zu viert was unternehmen, wäre doch cool.“

Ja, das wäre vielleicht wirklich ganz schön gewesen, schöner jedenfalls, als als geduldeter Dritter wie aus einem Pflichtgefühl heraus mit ins Kino oder in die Kneipe genommen zu werden und am Ende des Abends alleine nach Hause entlassen zu werden, während für Simon der eigentliche Abend, oder besser die eigentliche Nacht erst begann. Andererseits konnte Florian es sich nicht so recht vorstellen, eine Freundin zu haben, für die er ständig Zeit haben musste. Seinetwegen hätte die gemeinsam verbrachte Zeit zu zweit mit Simon und ohne jede weibliche Begleitung bis in alle Ewigkeit so weiter gehen können. Und an so Dinge wie Sex dachte er damals auch noch nicht oft, das hatte noch Zeit.

Während sie in der Sonderbar saßen und Simon von seinem Job erzählte (was Florian nur mäßig interessierte, er sprach nicht gerne über die Arbeit in seiner Freizeit), schaute Florian Simon an und fragte sich, ob er ihn attraktiv fand, ob er ihn, wenn er ihm heute zum ersten Mal begegnet wäre, interessant gefunden hätte, so interessant, dass er ihn angegraben hätte. Nein, wahrscheinlich nicht. Simon war nicht hässlich, etwa einen halben Kopf größer als Florian, von kräftiger Statur, vielleicht ein klein wenig übergewichtig. Er hatte dunkelbraune, fast schwarze Augen und mittellange dunkle Haare, über die er sich offenbar wenig Gedanken machte, denn sie wuchsen geradezu wild auf seinem Kopf, ohne eine erkennbare Ordnung, die man mit gutem Willen als Frisur hätte bezeichnen können, und fielen ihm häufig ins Gesicht, so dass er sie ständig mit einer kurzen Handbewegung nach hinten strich, wo sie jedoch nicht lange blieben. Genau so trug er die Haare schon zu ihrer Schulzeit. Seine Gesichtszüge waren in der Zwischenzeit etwas markanter, weniger jungenhaft geworden, er trug jetzt einen Dreitagebart, der ihm gut stand und der sein Äußeres charakteristisch unterstrich. Simon hatte eine sehr tiefe und etwas raue Stimme, in deren Klang Florian durchaus eine gewisse Erotik ausmachen konnte. Auch was seine Bekleidung anging, hatte sich Simon im Laufe der Jahre überhaupt nicht verändert: Jeans, Turnschuhe einer bestimmten Marke mit drei Streifen und je nach Jahreszeit T-Shirt oder Pullover. Letzteren hatte er jetzt ausgezogen, weil es in der Sonderbar nicht gerade kalt war, so dass er jetzt in einem einfachen weißen T-Shirt am Tisch saß, das seine kräftigen Arme und den Ansatz eines kleinen Bauches hervortreten ließ. Etwas Sport würde ihm gut tun, dachte Florian. Nein, in spezieller Hinsicht war Simon nicht Florians Typ, er hätte ihn nicht angegraben. Aber er hätte im Moment sowieso niemanden angegraben, selbst wenn jetzt statt Simon Mister Germany am Tisch gesessen hätte: Florian hatte nur noch Augen für Frank, und nicht nur Augen. Nein, da hätte jetzt kommen können wer wollte, sein Herz gehörte Frank, keinem anderen. Was mochte der jetzt wohl machen? Sie hatten gestern das letzte Mal telefoniert. Morgen würden sie sich endlich wieder sehen…

„Anke und ich wollen bald heiraten“, unterbrach Simon Florians gedankliche Schwärmerei.

„Was?“, antwortete Florian, zurück in die Gegenwart geholt. Erst jetzt erfasste er den Inhalt des Gesagten. „Ihr wollt heiraten? Das ist doch schön, freut mich für dich!“

„Ja, freut dich das wirklich? Ich hatte immer den Eindruck, dass du sie nicht besonders magst.“

„Na ja, richtige Sympathie kam zwischen uns bis jetzt nie auf, das stimmt wohl. Dabei habe ich ihr doch längst verziehen, dass sie dich mir ausgespannt hat!“, sagte Florian mit einem frechen Grinsen.

„Na dich kann ich ja wohl schlecht heiraten, Alter!“, antwortete Simon lachend. „Obwohl, das geht doch jetzt, dass die Schwulen auch heiraten dürfen, oder?“ Die Art, wie er das Wort „Schwulen“ ohne Ironie und Abscheu ausgesprochen hatte, gab Florian ein wenig Mut, Simon vielleicht doch bald über gewisse seine Person betreffende Dinge ins Bild zu setzen. Dennoch fühle Florian, wie ihm in dem Augenblick, als Simon das Wort nannte, der Schweiß ausbrach, was ihn dazu brachte, jetzt ebenfalls seinen Pullover auszuziehen.

„Ja, ich glaube schon…“, antwortete er fahrig und überlegte angestrengt, wie er das Gespräch möglichst schnell wieder auf ein anderes Thema bringen konnte. „Und wann ist es so weit?“ fragte er und wähnte sich wieder auf sicherem Boden.

„Wahrscheinlich im Mai, der genaue Termin steht noch nicht fest. Ich gebe dir natürlich so schnell wie möglich Bescheid.“

„Na das hoffe ich doch wohl. Und warum wollt ihr…, also ich meine…“

„Ob was unterwegs ist meinst du?“ Simon lachte. „Die gleiche Frage hat Ankes Mutter auch schon gestellt! Nein, noch nichts. Du weißt doch, kein Sex vor dem ersten Kind!“ Er zwinkerte Florian grinsend zu. „Und bei dir? Immer noch sauer auf deine Freundin?“

„Ja, da gibt’s nichts Neues“, antwortete Florian knapp. Das Gespräch drohte erneut eine Richtung einzuschlagen, die ihm nicht gefiel. Dieses Mal durfte es aber schwierig werden, das Thema zu wechseln. Wie schwierig, wurde schnell deutlich, als Simon sagte:

„Sie hat mich übrigens angerufen.“

„Was? Sie hat dich angerufen? Wann? Was wollte sie?“, fragte Florian mit einer Mischung aus Überraschung und Erschrecken.

„Vorgestern. Sie scheint echt verzweifelt zu sein. Sie sagte, dass sie an dich nicht mehr heran kommt, du würdest sie immer abwimmeln am Telefon. Ihr tut das alles anscheinend schrecklich leid.“

„Ja, das hat sie mir auch schon ein paar mal gesagt. Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun? Ihr einfach verzeihen und so tun, als wenn nichts gewesen wäre?“

„Ich weiß, so einfach ist es nicht. Ich sagte dir ja schon am Telefon, wenn Anke so was mit mir machen würde, gäbe es wahrscheinlich einen Mord oder so. Aber sprich wenigstens mit ihr. Vielleicht renkt sich ja alles wieder ein irgendwann.“

„Das kann ich mir kaum vorstellen…“, antwortete Florian mehr zu sich als zu Simon.

„Du solltest ihr noch eine Chance geben, finde ich. Oder liebst du sie nicht mehr?“

Treffer.

„Genau das ist der Punkt, von meiner Seite aus ist da nichts mehr. Genau genommen ist da schon lange nicht mehr viel, aber das hat das Fass jetzt zum Überlaufen gebracht.“ Florian erzählte von seinen Gefühlen zu Stefanie, die immer weniger geworden waren in den vergangenen Monaten, und von seinen Überlegungen, wie er die Sache möglichst schmerzlos beenden konnte, und von der einzigartigen Vorlage, die sie ihm jetzt geboten und die er dankbar aufgegriffen hatte. Dabei fiel ihm auf, dass er Simon fast wörtlich das Gleiche erzählte wie Markus am vergangenen Sonntag in seiner Wohnung, kurz vor seiner Enthüllung, wie Markus es genannt hatte.

„Du solltest ihr das aber sagen, sie macht sich nämlich echt noch Hoffnung, hatte ich den Eindruck.“ Simon strich sich eine Haartolle aus dem Gesicht.

„Ja, morgen rufe ich sie an, das habe ich mir sowieso vorgenommen.“

„Aber wie ich sehe, gibt’s hier ja auch scharfe Bräute, da wirst du wohl schnell Ersatz finden.“ Wie zufällig blickte Simon zu der Bedienung, die gerade am Nebentisch abkassierte. „Oder hast du schon?“

„Ja…“ Mist! Das war Florian so rausgerutscht. Aus der Nummer würde er jetzt nicht so schnell hinauskommen, so viel war klar, denn das war etwas, das Simon mit großer Begeisterung aufnehmen würde und nicht eher Ruhe gäbe, bis er alle Details wusste. Und richtig:

„Ja? Erzähl! Wie heißt sie, wie sieht sie aus? Wie lange kennst du sie schon? Das hätte ich dir ja gar nicht zugetraut, Alter!“

Was jetzt? Sollte Florian schnell ein Mädchen mit allen technischen Daten einschließlich Körbchengröße und sexuellen Vorlieben aus dem Hut zaubern? Was würde das nützen? Irgendwann müsste er ja doch Farbe bekennen. Außerdem war Simon sein Freund, sie waren immer ehrlich zueinander. Florian wäre sich äußerst schlecht vorgekommen, wenn er Simon jetzt eine Lügengeschichte aufgetischt hätte. Nein, er musste die Wahrheit erfahren, warum nicht schon heute. Aber wie sollte er ihm das erklären, wie anfangen? Schweiß brach ihm aus, und er spürte, dass er rot wurde. Simon bemerkte, dass Florian unsicher wurde.

„Was ist los?“, fragte er. „Habe ich da jetzt einen wunden Punkt getroffen?“

„Nein… es ist nur… ich weiß nicht wie ich es sagen soll.“ Florian zerbröselte verlegen einen Bierdeckel.

„Was denn?“, bohrte Simon erbarmungslos weiter. Florian hatte plötzlich eine Idee, wie er sich dem Thema behutsam nähern konnte.

„Erinnerst du dich an Markus, Markus Meyers aus unserer Klasse?“

„Markus Meyers? Ja klar. Der soll es ja nicht so mit den Frauen gehabt haben, hieß es. War aber sonst ganz in Ordnung, glaube ich. Wie kommst du jetzt auf den, was ist mit ihm?“

„Mit dem habe ich mich neulich getroffen, der wohnt auch hier.“

„Echt? Wie klein die Welt doch ist… ja und, worauf willst du jetzt hinaus?“ Die Spannung auf beiden Seiten wuchs.

„Na ja, das stimmt schon, dass er mehr auf Männer steht, ist ja auch nicht schlimm, nicht wahr…“

„Hat er dich etwa angemacht?“

„Nein das nicht.“ Florian nahm einen großen Schluck Bier, danach all seinen Mut zusammen. „Ich würde eher sagen, er hat mir die Augen geöffnet.“ Jetzt war es raus, zumindest gab es jetzt kein Zurück mehr.

„Was meinst du? Verstehe ich jetzt nicht…“

„Na ja…“ Der Bierdeckel bestand nur noch aus kleinsten Pappschnitzeln, Schweißperlen standen Florian auf der Stirn. „Nicht nur Markus steht auf Jungs.“ Das sollte wohl reichen.

„Wieso, wer denn noch? - Moment mal! Willst du damit sagen, dass du… dass du jetzt schwul geworden bist oder was?“ Simons Stimme war deutlich leiser und auch noch rauer geworden; unsicher schaute er sich um, ob ihn womöglich jemand vom Nebentisch gehört haben könnte.

„Ja, so kann man es wohl sagen.“ Florian spürte, wie er langsam innerlich ruhiger wurde. Eine Last war von ihm gefallen, egal welche Folgen diese Eröffnung für ihre Freundschaft auch haben würde. Jetzt nahm Simon einen großen Schluck aus dem Bierglas.

„Alter… nee, das glaube ich jetzt nicht.“ Er war sichtlich geschockt, trotz des schummrigen Kneipenlichtes war zu erkennen, dass er blass geworden war.

„Ist aber so, was soll ich machen.“

„Nur weil einen die Freundin betrügt, wird man doch nicht gleich schwul, das gibt’s doch gar nicht! Ey Alter, wenn du erst ´ne Neue hast, dann sieht die Welt wieder anders aus! Sieh dir die Bedienung hier an, die ist doch…“

„Vergiss es. Ich habe ja längst was Neues.“

„Etwa Markus?“

„Nein, einen anderen hier aus der Stadt. Frank heißt er.“

„Frank…“, wiederholte Simon mit matter Stimme, die seine Fassungslosigkeit deutlich werden ließ. Was dann folgte, war Schweigen. Florian hatte jetzt eigentlich einen Haufen Fragen von Simon erwartet, die er gerne beantwortet hätte, so wie er Markus am vergangenen Freitag mit Fragen gelöchert hatte. Aber Simon fragte nicht. War es ein Fehler, es ihm zu erzählen?, fragte sich Florian. Nein, als sein bester Freund war es sein Recht, es zu erfahren, auch wenn er es erst mal gründlich verdauen musste. Schweigend tranken Sie ihre Biergläser leer.

„Nehmen wir noch eins?“, versuchte Florian, die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen.

„Nein, ich nicht mehr. Ich fahre gleich, ist ja auch schon spät.“

„Spät? Es ist noch nicht mal neun…“

„Tut mir leid, ich bin echt müde.“

„Du willst noch fahren nach dem ganzen Bier? Du kannst doch bei mir pennen, war doch so abgemacht.“

„Kein Problem, die paar Bier. Nee, lass mal, ich fahre lieber, ist glaube ich besser.“

„Hast du etwa Angst, ich könnte heute Nacht über dich herfallen?“, fragte Florian mit einem gereizten Unterton.

„Quatsch…“, antwortete Simon tonlos. Sie bezahlten und gingen. Auf dem Rückweg sagte keiner von beiden einen Ton. Anscheinend hatte der heutige Abend ihrer Freundschaft einen schweren Schlag versetzt. Sie kamen bei Florians Wohnung an, wo Simon seinen Wagen geparkt hatte. Mach’s gut. Gute Fahrt. Weg war er. Leb wohl, dachte Florian, als er den Rücklichtern nachsah… Würde sich ihr Verhältnis wieder irgendwann normalisieren? Florian hoffte es. Jetzt war er erst mal traurig. Und bitter enttäuscht von seinem besten Freund. War er das wirklich noch? Florian hatte sich sehr auf diesen Abend gefreut und nicht damit gerechnet, dass er um halb zehn schon wieder zu Hause wäre. Er hatte noch keine Lust, ins Bett zu gehen, jedenfalls nicht alleine. Sollte er Frank anrufen? Aber der musste ja heute arbeiten. Florian entschied, noch mal loszuziehen, auf ein bis zwei Bier unter Menschen, unter seinesgleichen, also ins Café Fritz.

*

„Je später der Abend, desto schöner die Gäste!“, flötete der Muskelkellner (der übrigens Manuel hieß, wie Florian inzwischen mitbekommen hatte), als er die Tür des Café Fritz öffnete. Für einen Donnerstagabend war es heute recht voll. An der Theke saßen Heinz und seine Freunde, die Florian freundlich zunickten, als sie ihn hereinkommen sahen. Auch die meisten der Tische waren belegt, Muskel-Manuel hatte viel zu tun und flitzte mit seinem verzinkten Tablettchen zwischen den Tischen hin und her, an jedem ein frech-witziges Sprüchlein hinterlassend. Er war offenbar ganz in seinem Element. Florians Blick fiel auf zwei Jungs an einem der Tische, deren einer von schräg hinten Ähnlichkeit mit Frank hatte. Aber der arbeitete ja heute. Florian ging auf dem Weg zum letzten freien Tisch an den beiden vorbei und warf ihnen aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Aber das war ja tatsächlich Frank!

„Frank, was machst du denn hier? Ich dachte du arbeitest heute!“, fragte Florian erstaunt, ohne von Franks Begleiter Notiz zu nehmen. Er war unsicher, ob er sich darüber freuen sollte, Frank hier zu treffen, oder ob es nicht vielmehr ein Grund zur Sorge war, immerhin war er offenbar nicht alleine hier.

„Du bist ja auch hier, ich denke du hast heute Hetenbesuch!“, antwortete Frank spitz. Diesen Ton kannte Florian von Frank bis jetzt noch nicht, auch sein unvergleichliches Lächeln war einem kalten Blick gewichen. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte Florian. Er blieb an dem Tisch stehen und wandte sich nun Franks Begleiter zu. Ein blondiertes Jüngelchen mit gezupften Augenbrauen, das Florian auf höchstens Neunzehn schätzte, und das ihn keines Blickes würdigte, während es seine zwischen Zeige- und Mittelfinger gehaltene Zigarette graziös über seiner Schulter hielt, wo ihr ein dünnes Rauchfähnchen entstieg, direkt in Florians Augen hinein.

„Das ist Enrique“, stellte Frank sein Gegenüber widerwillig vor, nachdem Florian seinen Blick nicht vom diesem lösen zu können schien. „Enrique, das ist… äh…“

„Florian“, sagte selbiger und schaute Frank ungläubig an. Konnte es wirklich sein, dass der seinen Namen nicht auf Anhieb wusste? Was hatte das alles zu bedeuten?

„Hi…“, ließ sich das blondierte Jüngelchen in einer sehr femininen Tonfarbe herab und gönnte Florian einen knappen abschätzigen Blick, woraufhin es sofort wieder am Trinkhalm seines Cocktails herumnuckelte, die Zigarette noch immer auf Kopfhöhe haltend. Auch Frank schenkte Florians Anwesenheit daraufhin demonstrativ wenig Beachtung. Florian störte, das war ihm inzwischen klar. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Hier an dem Tisch stehen bleiben und die beiden weiter stören, so lange, bis dieses Jüngelchen abzog? Sich alleine an einen anderen Tisch zurückziehen und alles Weitere beobachten? Frank eine Szene machen und theatralisch das Lokal verlassen? Keiner der drei sagte noch ein Wort.

„Dann viel Spaß noch…“, sagte Florian leise und ging weiter zur Theke zu Heinz & Co, dort würde er wenigstens etwas angenehme Unterhaltung bekommen. So war es auch. An der Theke angekommen, wurde Florian von den Herren freudig begrüßt und sofort in die Plauderrunde integriert, wobei er Umarmungen und Begrüßungsküsschen bereitwillig über sich ergehen ließ. Er stellte sich so hin, dass er Frank und sein Jüngelchen im Blick hatte, aus welchem er die beiden fortan auch nicht mehr verlor. Von der Unterhaltung der Thekengesellschaft bekam er kaum etwas mit, er stand daneben, trank schweigend sein Bier und beobachtete die beiden, die sich inzwischen wieder angeregt unterhielte. Frank machte diesem Knäblein schöne Augen, das war nicht zu übersehen. Er hatte auch wieder sein unwiderstehliches Lächeln angeknipst. Am liebsten wäre Florian hingegangen, um Frank zur Rede zu stellen. Aber er beherrschte sich und litt still vor sich hin. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah. Ab und zu schaute Frank zu ihm herüber (ohne zu lächeln), schaute aber sofort wieder weg, wenn sich ihre Blicke trafen.

Frank stand auf und ging zur Toilette. Das war die Gelegenheit. Florian stellte sein Glas auf die Theke und ging hinterher, obwohl sein Blasendruck noch keine spürbare Stärke angenommen hatte. Er blieb vor der Tür zum WC stehen und wartete. Er betrachtete desinteressiert die mehr oder weniger lustigen Werbe-Postkarten, die neben der Tür zum kostenlosen Mitnehmen in einem Wandgestell angeboten wurden. Die Tür ging auf, Frank kam heraus. Florian starrte ihn fragend an.

„Was ist?“, fragte Frank unwirsch.

„Kannst du mir mal erklären, was das zu bedeuten hat?“, fragte Florian, zwar sehr erregt, aber dennoch leise. Er zitterte.

„Was denn?“

„Na dieses blondierte Püppchen da oben…“

„Jetzt pass mal auf, Kleiner, mag ja sein, dass das nicht dein Typ ist, aber ich finde den geil und werde mit ihm hoffentlich noch heute in der Kiste landen. Oben sitzen genug herum, da wird wohl einer dabei sein, der es dir heute auch noch besorgt.“

„Darum geht es mir doch gar nicht, das kriege ich zur Not noch ganz gut alleine hin. Aber ich dachte, du und ich… wir beide, das wäre…“

„Was?“, fuhr Frank scharf dazwischen. „Hör zu, wir sind nicht miteinander verheiratet. Das waren zwei echt geile Treffen mit dir, keine Frage, aber mehr nicht. Ich kann in die Kiste steigen mit wem ich will, und das tue ich auch, ob es dir nun passt oder nicht. So, und jetzt lass mich in Ruhe, Enrique wartet!“ Er ließ Florian stehen und ging zurück. Der konnte es nicht fassen. Er fühlte sich, als habe ihm soeben jemand mit einem Gummihammer direkt vor die Stirn geschlagen. Ihm fiel wieder ein, was Markus über Frank gesagt hatte. Es stimmte, Wort für Wort. Jetzt wollte er nur noch weg von hier, nach Hause, ins Bett, niemanden mehr hören und sehen, erst recht keine Schwulen. Scheiß Kerle… Er wischte sich durch die Augen und folgte Frank. Ohne einen Blick zur Seite ging er zur Theke, bezahlte sein noch nicht einmal halb ausgetrunkenes Bier, verabschiedete sich von Heinz & Co und ließ sich vom Muskelkellner zur Tür begleiten. Auf dem Weg dorthin schenkte er Frank einen letzten Blick, den dieser jedoch bewusst ignorierte. Leb wohl, und viel Vergnügen mit diesem blondierten und gezupften Püppchen…

Der Rückweg führte Florian durch den Park. Er fragte sich, ob dort heute, trotz der Kälte, Betrieb sei. Bis vor kurzem hätte er sich nicht vorstellen können, dass es so etwas tatsächlich gab, geschweige denn, selbst an so was teilzunehmen, aber jetzt verspürte er ganz spontan Lust dazu, sozusagen als kurzfristige frustlösende Maßnahme. Nachdem er den Parkeingang hinter sich gelassen hatte, sah er schon von weitem mehrere kleine, fehlfarbenen Glühwürmchen nicht unähnliche Lichtpunkte, die von den Zigarettengluten umherstreifender Spaziergänger herrührten. Also doch, na denn mal los… Florian blieb in der Nähe der Parkbank stehen und wartete ab, was passierte. Nicht weit von ihm entfernt leuchtete eines der rötlichen Glühwürmchen hell auf, bevor es zu Boden fiel, ein paar Funken spuckte und leblos liegen blieb. Florian konnte nicht viel mehr als die Umrisse des Mannes erkennen, der sich von seinem Standplatz löste und hinter der Bank im Gebüsch verschwand. Sollte er hinterher? Ja, er sollte, befand Florian und folgte dem Mann ins Dunkle. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, vernahm er mindestens drei Personen in seiner unmittelbaren Nähe. Dann spürte er plötzlich eine Hand, die vorsichtig über seinen Hintern strich. Und er spürte noch etwas, bei sich, weiter unten… Er schloss die Augen und ließ alles weitere geschehen. Eine zweite Hand kam hinzu. Jemand öffnete seinen Gürtel und seine Hosenknöpfe. Ihm war plötzlich überhaupt nicht mehr kalt…

Musste das sein, fragte sich Florian, als er eine knappe Stunde später ohne jede Müdigkeit in seinem Bett lag. Gut, es war eine interessante Erfahrung, und es war sicher geiler als es sich selbst zu besorgen. Aber es bedurfte keiner baldigen Wiederholung. Und es war mit Abstand nicht so toll wie das, was er wenige Tage zuvor mit Frank erlebt hatte. Ach ja, Frank… Warum konnte es nicht so sein, wie es erst zu sein schien? Maßlose Enttäuschung und Traurigkeit stiegen in Florian auf. Ihm war klar, dass es sinnlos war, weiter darüber nachzudenken, aber es gelang ihm nicht, Frank und die Erinnerungen an die beiden wunderschönen Begegnungen mit ihm aus dem Gedächtnis zu streichen. Das brauchte Zeit, viel Zeit.

*

Als Florian am nächsten Abend von einem endlos zäh dahinfließenden Arbeitstag nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Bitte nicht schon wieder Stefanie! Er würde sie ja heute noch anrufen, wie versprochen, aber erst später, erstmal den Arbeitstag verdauen. Oder war es vielleicht Frank, der ihn um Verzeihung bitten wollte für sein unmögliches Verhalten am Vorabend? Selbst Florian musste einsehen, dass das mehr als unwahrscheinlich war. Während er seine Jacke und Schuhe auszog, hörte er die Nachricht ab. Es war Markus, der anfragte, ob sie heute Abend was trinken wollten. Ja, sehr gerne sogar, dann konnte er sich gleich ein wenig bei ihm ausheulen über die bösen Männer im Allgemeinen und einen ganz bestimmten im Besonderen. Er rief ihn gleich zurück. Sie verabredeten sich, auf Florians Wunsch und Vorschlag hin, zu einem ruhigen Abend mit einer Flasche Wein bei ihm in seiner Wohnung und nicht im Café Fritz, um welches er in den nächsten Tagen und Wochen eine großen Bogen zu machen beabsichtigte.

Als nächstes war Stefanie dran, versprochen ist versprochen. Florian wählte ihre Nummer und hoffte, während es aus dem Hörer tutete, sie würde nicht drangehen, vielleicht war sie ja nicht zu Hause, oder vielleicht suchte und fand sie auch schon wieder Trost bei irgendeinem Knaben. Doch vergeblich gehofft, nach dreimal Tuten wurde am anderen Ende abgenommen und sie nannte ihren Namen. Als sie Florians Stimme vernahm, war ihre freudige Überraschung nicht zu überhören. Anscheinend hoffte sie noch immer auf ein Happy End. Das würde schwierig werden, sie davon abzubringen… Florian hatte keinen Plan, wie er ihr das beibringen sollte, er hatte die zurückliegende Woche nicht genutzt, um sich für dieses Gespräch ein paar passende Worte zurecht zu legen. Bei Simon war das schon schwer genug, und es war ja auch gründlich schief gegangen, aber wie sollte er Stefanie klarmachen, dass weder sie noch jede andere Frau dieser Welt jemals wieder eine Chance bei ihm hatte? Sie fragte, ob sie sich sehen könnten. Da Florian auf Anhieb nichts einfiel, was dagegen sprach, und da es ihm außerdem etwas Zeit verschaffte, darüber nachzudenken, wie er ihr es beibringen konnte, sagte er zu. Am kommenden Sonntag, zum Essen bei Stefanie. Florian hatte es geschickt so gelenkt, dass er zu ihr fuhr und nicht umgekehrt. So konnte er wenigstens jederzeit zurück fahren, wenn es brenzlig wurde, was allemal besser war, als sie zu fortgeschrittener Stunde aus dem Hause zu komplimentieren. Hoffentlich würde sie es ihm, von falschen Hoffnungen getragen, nicht so schwer machen. Es half nichts, das musste er jetzt hinter sich bringen, das war er ihr schuldig, auch wenn ihr Treffen sicher anders enden würde, als Stefanie es erwartete. Als dann, bis Sonntag…

„Habe ich es dir nicht gesagt? Frank ist und bleibt ein echtes Arschloch.“

„Ja schon, aber du kennst ihn ja, seine Art, wie er einen anlächelt, und, na ja, im Bett ist er echt ein Hammer, dass musst du zugeben.“ Florian und Markus saßen nebeneinander auf dem Sofa in Florians Wohnzimmer. Die erste Weinflasche war entkorkt, und Florian hatte soeben von seiner schmerzhaften Erfahrung erzählt. Er war froh, dass Markus heute bei ihm war; der war im Moment vermutlich der einzige Mensch, der ihn verstand. So langsam entwickelte sich zwischen ihnen diese freundschaftliche Vertrautheit, die Florian bisher nur mit Simon kannte. Ach ja, Simon, noch so eine Enttäuschung…

„Ich hätte echt nicht gedacht, dass Simon so ein Problem damit hat, immerhin wart ihr doch immer die besten Freunde“, wunderte sich Markus.

„Männer sind einfach Scheiße, egal ob homo oder hetero“, stellte Florian fest und füllte die Weingläser (inzwischen hatte er welche) nach.

„Danke“, erwiderte Markus gespielt beleidigt.

„Anwesende natürlich ausgeschlossen!“, schränkte Florian schnell ein und grinste ihn an. Und plötzlich lag wieder dieses gewisse Knistern in der Luft, das beide spürten. Dieses Mal saßen beide auf dem Sofa, ihre Beine berührten sich. Markus stellte sein Glas auf den Tisch und schaute Florian auffordernd an. Nun mach schon, dachte Florian. Er schaute ihn kurz an, hielt seinem Blick aber nicht lange stand. Er wurde rot. Endlich ergriff Markus die Initiative und legte seinen Arm um Florians Schulter, was dieser bereitwillig geschehen ließ. Kurz darauf küssten sie sich. Es war anders als mit Frank, aber doch auch schön. Objektiv betrachtet küsste Markus sogar besser als Frank, wie Florian feststellte. Irgendwann müsste er ihm das mal sagen, aber nicht jetzt, dachte Florian. Ihre Hände wanderten inzwischen am Körper des anderen umher. Für einen Augenblick war die Boshaftigkeit der Männer vergessen.

„Sollen wir weiter machen?“, flüsterte Markus.

„Ja, mach…“, hauchte Florian.

Und sie machten weiter.

„Für einen Anfänger gar nicht schlecht“, bemerkte Markus scherzhaft, als sie später nebeneinander in Florians Bett lagen.

„Danke… Ich bin eben gut angelernt worden“, antwortete Florian mit leichter Bitterkeit. Was war nur geschehen? Soeben hatte er Sex mit Markus, seinem alten Schulfreund, seinem neuen Freund, und das war gar nicht schlecht. Gut, nicht ganz so wild und leidenschaftlich wie wenige Tage zuvor mit Frank, jedoch wesentlich besser als im Gebüsch des nächtlichen Parks. Aber was hieß „neuer Freund“? Bedeutete das gerade Geschehene, dass Markus und er nun zusammen waren, ein Paar? Florian versuchte, seine Gefühle zu ergründen, gleichsam in sie hinein zu horchen. Nein, da war nichts, kein Kribbeln in der Bauchgegend, keine Schmetterlinge. Er mochte Markus noch genau so wie vorher, nicht mehr und nicht weniger. Er war nicht verliebt. Und Markus, maß er ihrem kleinen Abenteuer eine größere Bedeutung bei? Sollte Florian ihn danach fragen? Besser nicht, denn was hätte er antworten sollen, wenn Markus ihm jetzt seine Liebe gestanden hätte? Tut mir leid, ich dich nicht, um dann die abgedroschene Floskel „wir können ja Freunde bleiben“ hinzuzufügen? Aber vielleicht machte Florian sich auch schon wieder zu viele Gedanken. Hatte Markus ihm nicht erst kürzlich erklärt, dass Sex und Liebe in seinen Augen zwei getrennte Dinge waren? So langsam begriff Florian, was er damit gemeint hatte. Ja, sie würden Freunde bleiben, jetzt erst recht!

„Man müsste es ihm irgendwie heimzahlen“, sagte Markus plötzlich und riss Florian damit aus seinen beziehungstheoretischen Überlegungen heraus.

„Was meinst du? Wem willst du was heimzahlen?“

„Na Frank. Ihn erst so richtig schön heiß machen und dann volle Kanne vor die Wand laufen lassen, so wie er das auch immer mit anderen macht.“

„Super Idee. Aber wie willst du das anstellen?“

„Ich glaube ich habe da eine Idee…“

*

Stefanie hatte sämtliche Register ihrer Kochkunst gezogen. Liebe geht durch den Magen, fiel Florian spontan ein, als er den Duft aus der Küche vernahm und den geradezu festlich gedeckten Tisch sah. Arme Stefanie… Sie wirkte sehr aufgekratzt, ständig war sie unterwegs zwischen Tisch und Küche, so, als ob sie die Verantwortung gehabt hätte für ein Festessen zu Ehren eines hohen Staatsgastes, bei dem nichts schief gehen durfte. Aber vielleicht maß sie Florians Anwesenheit ja tatsächlich diese Bedeutung bei. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, wie Florian anerkennend bemerkte. Dass sie gut kochte, wusste er, aber heute hatte sie sich wirklich selbst übertroffen. Fast bekam Florian mit jedem Bissen ein schlechteres Gewissen, war ihm doch klar, welche Absicht hinter diesem Festmahl steckte, ein Versöhnungsessen, eine Geste der Wiedergutmachung vergangener Fehler, gleichsam die Feier eines, ihres Neuanfanges. Umso schwerer fiel es Florian, einen möglichst schmerzarmen Weg zu finden, um auf das bewusste Thema zu kommen. Stefanie setzte an, ihm Wein nachzufüllen, was er jedoch ablehnte mit der Begründung, dass er noch fahren müsse.

„Du kannst doch hier schlafen“, entgegnete sie enttäuscht.

„Heute ist Sonntag, ich muss morgen arbeiten.“ Dieses Argument war nur vorgeschoben, zumal er früher oft erst am Montag in der Frühe direkt von Stefanie zur Arbeit gefahren war. Aber da war sie ja auch noch seine Freundin.

„Aber früher bist du doch auch…“, nahm sie eben dieses Gegenargument auf, brach jedoch den Satz ab, sie wollte ihn nicht bedrängen. „Jedenfalls bin ich froh, dass du heute kommen konntest.“ Sie nahm einen Schluck Wein. „Weißt du, die letzte Woche war echt scheiße. Und bei dir?“

„Ging so…“, antwortete Florian, wobei die negativen Aspekte, die dieser Antwort innewohnten, sich kaum auf Stefanie bezogen, was sie sich vielleicht gewünscht hätte.

„Ach Flo…“, seufzte sie und schaute ihn erwartungsvoll an. Florian erwiderte ihren Blick nicht. Er suchte nach Worten, Worte, die ihr ein für allemal klar machten, dass es keinen Zweck mehr hatte, und die ihr dennoch nicht allzu wehtaten. Er war pappsatt, der Nachtisch drückte ihm auf den Magen. Die Kerzen auf dem Tisch waren halb heruntergebrannt. Im Hintergrund spielte leise Musik, irgendetwas klassisches, was Florian nicht kannte. Aber Oasis wäre jetzt auch unpassend gewesen.

„Du hast mit Simon telefoniert?“, fragte er, nur um etwas zu sagen und ohne eine Idee, wie er so auf das Thema zu sprechen kommen sollte.

„Ja, ich wusste mir nicht anders zu helfen. Du wolltest ja nicht mit mir sprechen.“ Sie begann, das Etikett der Weinflasche zu zerrupfen. Florian schwieg, er wusste dem nichts zu entgegnen, jedenfalls nichts, was nicht gelogen gewesen wäre. Ja, sie hatte Recht, er hatte wirklich nicht mit ihr sprechen wollen. Aber jetzt musste er, denn genau aus dem Grunde war er ja heute hier.

„Ach Flo…“, wiederholte sie, „können wir nicht noch mal von vorne anfangen?“

„So einfach ist das nicht, Steffi…“, antwortete Florian, fest entschlossen, die Sache jetzt ein für allemal zu klären.

„Was soll ich denn noch machen?“ Stefanies Stimme wurde aggressiver. „Gut, ich habe Mist gebaut, sehr großen Mist sogar, weiß ich ja. Und ich habe versucht, mich bei dir dafür zu entschuldigen. Aber es ist nun mal geschehen, ich kann es nicht rückgängig machen, Herrgott noch mal. Also was verlangst du noch, soll ich vor dir auf die Knie fallen? – Entschuldige…“ Tränen liefen ihr über die Wange, sie ärgerte sich über diesen Gefühlsausbruch und bemühte sich, wieder ruhiger zu werden.

„Ach Steffi…“ Florian stand auf, ging um den Tisch herum, setzte sich neben sie und streichelte ihr über den Kopf. „Es geht nicht mehr.“

„Warum nicht?“, fragte sie leise und zog lautstark durch die Nase hoch. „Hast du schon eine andere?“

„Nein. Dann wäre es ja noch einfach.“

„Das verstehe ich nicht. Was meinst du?“

„Wie es aussieht, werde ich nie wieder eine Freundin haben.“

„Wieso, willst du ins Kloster gehen?“ Ein kurzes, sich sofort wieder verflüchtigendes Grinsen durchfuhr ihr Gesicht.

„Ich bin schwul…“, sagte Florian so leise, als wenn er Angst gehabt hätte, sie hätte es verstehen können. Jetzt war es raus. Und er hatte dieses schreckliche Wort gebraucht, welches er vor etwas mehr als einer Woche noch nicht einmal hätte denken wollen, jedenfalls nicht in Verbindung mit seiner Person.

„Flo, auf solche Scherze habe ich jetzt echt keine Lust!“

„Ich auch nicht.“

„Dann lass es auch!“

„Das ist kein Scherz.“

„Red doch keinen Scheiß, du bist nicht schwul, ich muss das ja wohl wissen!“

Es folgte eine längere Erklärung über diese schon lange gehegte Ahnung, die sich nun endlich zur Gewissheit verfestigt habe, über das Gefühl, aus einem Käfig befreit worden zu sein, über den Beginn eines neuen Lebens, über Markus und über Frank. Während Florian sprach, schaute Stefanie ihn zunehmend ungläubiger an. So langsam wurde ihr klar, dass sie ihn verloren hatte, an einen Gegner, gegen den sie vollkommen machtlos war. Wenn es eine andere Frau gewesen wäre, hätte sie kämpfen können um ihn. Doch dieser Gegner war übermächtig, jeder Kampf ohne Aussicht auf Erfolg. Aber konnte das wirklich sein? Florian, ihr Florian, mit dem sie bis vor kurzem noch richtig guten Sex hatte, zumindest aus ihrer Sicht, zog plötzlich das eigene Geschlecht den weiblichen Reizen, von denen sie zweifellos genug besaß, vor? Sollte sie das wirklich glauben, widerspruchslos hinnehmen, akzeptieren? Nein, das konnte einfach nicht sein.

„Ich fasse es nicht…“, sagte sie leise mit einer Mischung aus Resignation und Ungläubigkeit.

„Es tut mir leid…“ Jetzt war es Florian, der diesen Satz gebrauchte. „Ich hätte dir das wirklich gerne erspart, das kannst du mir glauben. Aber ich finde, du hast ein Recht, es zu erfahren, mehr als jeder andere.“

„Na danke“, entgegnete sie bitter.

Florian erzählte von Simon und von seiner, Florians Befürchtung, den besten Freund verloren zu haben. „Ich hoffe, dass wenigstens du noch künftig mit mir sprichst“, fügte er hinzu. Und wieder vermied er die Floskel „wir können ja Freunde bleiben“, obwohl sie hier gut gepasst hätte.

Kurz darauf bedankte er sich artig für das gute Essen, stieg in sein Auto und ließ eine gleichermaßen schockierte wie verwirrte Stefanie zurück. Armes Mädchen, dachte er, als er auf die Autobahnauffahrt abbog.

*

Mit Erleichterung und dem Gefühl, eine schwierige Aufgabe zu seiner Zufriedenheit gelöst zu haben, kam Florian am frühen Abend zu Hause an. Dass er nun gleich zwei ihm nahe stehende Menschen möglicherweise verloren hatte, war zwar sehr schade, aber erstmal nicht zu ändern. Der neue Lebensabschnitt, der begonnen hatte, brachte es hoffentlich mit sich, dass er dafür neue Menschen kennen lernte, die ihm irgendwann mindestens genauso nahe standen. Markus war ja schon mal ein guter Anfang, und weitere würden sicher folgen. Es mussten ja nicht gleich Leute von der Art Frank sein.

Als er in seine Wohnung kam, blinkte ihm schon wieder der Anrufbeantworter entgegen. Es war Simon, wie Florian mit einigermaßen großer Überraschung feststellte. Er wolle sich später noch einmal melden. Florian fragte sich, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war, dass sein alter (und vielleicht ehemaliger) Freund Simon noch einmal mit ihm sprechen wollte. Für einen kurzen Augenblick war Florian versucht, ihn sofort zurückzurufen, aber dann hielt er es für richtiger, Simons erneuten Anruf abzuwarten. Vielleicht wollte er ihn ja davon überzeugen, dass das mit seinem Schwulsein sicher nur so eine vorübergehende Phase war, die in dem Moment vorbei war, wo er eine richtig scharfe Braut kennen lernte. Und darauf hatte Florian nicht die geringste Lust. Nicht auf den Überzeugungsversuch und erst recht nicht auf die scharfe Braut.

Simons Anruf ließ nicht lange auf sich warten, nicht einmal eine halbe Stunde nach Florians Rückkehr rief er wieder an. Er klang ziemlich kleinlaut am anderen Ende.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen“, verkündete er zu Florians großem Erstaunen. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. „Ich habe mich da wohl nicht besonders toll verhalten am Donnerstag dir gegenüber.“

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Florian mit nur wenig Vorwurf in der Stimme. Viel zu sehr freute er sich darüber, was Simon gerade gesagt hatte. Also war ihre Freundschaft vielleicht doch noch nicht ganz verloren.

„Weißt du, Anke hat mir ganz schön den Marsch geblasen, als ich ihr von dir erzählt habe. Sie meinte nur, dass das ja wohl nichts an unserer Freundschaft ändern würde, und da hat sie wohl irgendwie Recht.“ Anke, ausgerechnet Anke, zu der Florian bislang ja ein eher gespanntes Verhältnis hatte.

„Also, wie sieht´s aus, Alter, Schwamm drüber?“, fragte Simon.

„Na klar, Schwamm drüber. Mann, ich bin echt froh. Schade, dass wir das jetzt nicht gleich begießen können“, antwortete Florian erleichtert.

„Was ziehst du auch so weit weg“, scherzte Simon schon wieder.

„Das sagt der Richtige“, entgegnete Florian. Die Gesprächsatmosphäre war plötzlich wieder sehr angenehm, so wie immer, wenn er mit Simon sprach.

„Ich wollte dich noch was fragen“, sagte Simon. „Ich habe dir doch erzählt, dass wir im Mai heiraten wollen, Anke und ich. Und da wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, mein Trauzeuge zu werden. Ich meine, wer soll es denn sonst machen, wenn nicht du?“

Und ob Florian Lust dazu hatte, es war ihm eine Ehre und er freute sich sehr darüber, dass Simon ihn fragte. Kein Zweifel, ihre Freundschaft war wiederhergestellt.

*

Es war ein ruhiger Tag heute im Café, Frank hatte nicht viel zu tun. Vermutlich lag es am schlechten Wetter, das die Leute davon abhielt, aus dem Hause zu gehen. Nur wenige Gäste saßen an den Tischen. So hatte er Zeit, mit dem jungen Mann an Tisch vier zu flirten, den er noch nie hier gesehen hatte, und der immer wieder auffällig-unauffällig zu ihm herüber schaute. Wie zufällig trafen sich ihre Blicke, stets vom Anflug eines Lächelns begleitet, und die Kunst des Lächelns beherrschte Frank ja bis zur Perfektion, das war ihm bewusst. Schon oft hatte ihm genau dieses Lächeln den Weg für die eine der andere Eroberung, das eine oder andere Abenteuer geebnet; er wusste es sehr gezielt einzusetzen. Auch hier schien der Fall klar, der Kerl war eindeutig interessiert an ihm. Also lächelte Frank sein unwiderstehliches Lächeln…

„Bist du zum ersten Mal hier?“, fragte Frank beiläufig, als er dem noch Unbekannten einen weiteren Cappuccino brachte. Er war sich seiner Sache bereits sehr sicher, daher duzte er ihn auch sofort, was natürlich ein gewisses Restrisiko in sich barg, wenn auch nur ein sehr kleines. Ja, der war genau nach Franks Geschmack. Kurze dunkle Haare, blaue Augen, eher schlank, und nicht viel älter als Dreißig, vielleicht sogar noch jünger. Den durfte er sich nicht entgehen lassen. Aber wie es aussah, hatte der ja längst angebissen.

„Ja, ich wohne noch nicht lange hier. Und du arbeitest hier immer, oder jobbst du nur?“ Er duzte ihn zurück, also war wohl alles klar, wie Frank mit innerer Freude feststellte.

„Ja, ich arbeite fest hier, jedenfalls so lange, bis ich was besseres gefunden habe“, erklärte Frank, mit einem vorsichtigen Blick zur Theke. Seine Kollegin hinter dem Kuchen-Büffet musste ja nicht unbedingt mitbekommen, dass er schon seit längerem nach etwas anderem Ausschau hielt. Er hatte den Job in diesem Café vor gut zwei Jahren angenommen, da er nach Abschluss seines Betriebswirtschaftsstudiums nichts entsprechendes gefunden hatte. Seitdem war er hier hängen geblieben. Im Grunde machte er die Arbeit ganz gerne, nur die Bezahlung hätte besser sein können. Immerhin kam er durch diesen Job viel mit Menschen zusammen, und schon viele derjenigen, die er hier bedient hatte, hatte er hinterher in seiner Wohnung oder wo auch immer in ganz anderer Weise zu ihrer vollsten Zufriedenheit nochmals bedient.

„Und wohin gehst du so, wenn du nicht hier arbeitest?“, wollte der gut aussehende Gast wissen.

„Das Café Fritz ist ganz nett“, gab Frank bereitwillig Auskunft.

„Ja, davon habe ich schon gehört“, antwortete der Gast.

Na wunderbar, er hatte vom Fritz gehört, dachte Frank.

„Und da trifft man dich dann?“

„Ja, kann schon sein. Heute Abend zum Beispiel…“

„Heute Abend? Hm, dann könnte ich mir das ja auch mal ansehen, bis jetzt habe ich noch nichts Besseres vor.“

„Na dann vielleicht bis später“, antwortete Frank, und lächelte sein strahlendstes Lächeln. Wenig später schrieb er in bewährter Weise seine Telefonnummer auf den Kassenzettel für Tisch vier.

Da saß er, wie Frank sofort bemerkte, an einem der Tische, ohne Begleitung. Frank war also nicht zu spät, niemand hatte es bis jetzt gewagt, seine Angelrute in Franks Fischteich zu halten. Gut so, dann nichts wie ran. Sofort kamen sie ins Gespräch, der attraktive Gast von heute Nachmittag stellte sich als Christian vor. Das letzte Eis war gebrochen, dafür lag so etwas wie knisterndes Interesse der besonderen Art in der Luft über dem kleinen Tisch. Ja, Frank war sich sicher, Christian war fällig, heute noch. Aber nichts überstürzen, erst noch ein bisschen die Vorfreude bei höflicher Konversation genießen, und dann langsam unter Einsatz seines Lächelns auf einen Ortswechsel hinarbeiten. Das hatte bislang noch immer gut funktioniert.

„Ich muss mal was wegbringen, lass dich nicht von fremden Männern anquatschen“, sagte Frank mit einem Zwinkern und verschwand aufs Klo.

„Natürlich nicht, ich bin ja schließlich ein anständiger Junge!“, entgegnete Christian breit grinsend. Als Frank raus war, tippte er schnell eine SMS.

Als Frank von der Toilette zurückkam, traute er seinen Augen nicht. Seine Eroberung des Tages befand sich inzwischen in Gesellschaft von zwei Jungs. Sein Lächeln erstarrte, seine Augen verengten sich zu messerscharfen Schlitzen: Die Jungs waren ihm keine Unbekannten, es waren Markus und dieser, wie hieß der noch, Florian, der ihn ja fast heiraten wollte. Wochenlang hatten die sich nicht mehr blicken lassen, und ausgerechnet heute mussten sie hier aufkreuzen und, was das Schlimme daran war, in seinen Jagdgründen herumwildern! Jetzt war sofortiges Handeln angezeigt. Ohne die beiden eines Blickes zu würdigen, flüsterte er Christian ins Ohr:

„Komm, lass uns von hier verschwinden, ja? Ich wohne gleich um die Ecke, da ist es gemütlicher.“

„Jetzt schon? Wir sind doch noch keine halbe Stunde hier. Außerdem unterhalte ich mich gerade so gut, darf ich vorstellen, Florian und Markus; und das ist Fr…“

„Nicht nötig, ich kenne sie“, unterbrach ihn Frank leicht gereizt, ohne die Vorgestellten anzuschauen.

„Hallo Frank, lange nicht gesehen“, säuselte Markus. „Wieder mal auf Männerfang?“, und dann, an Christian gewandt: „Vor Frank musst du dich in Acht nehmen, der ist ein ganz schlimmer Finger, vor dem ist keiner sicher, vor allem nicht so gutaussehende Kerle wie du.“

„Ja, das kann ich nur bestätigen“, ergänzte Florian, mit einem bösen Grinsen an Frank gewandt, „der lässt nichts anbrennen.“

„Also was ist nun?“, fragte Frank, sichtlich gereizt, mit einem vernichtenden Blick in Richtung Markus und Florian, „gehen wir?“

„Och nö, noch nicht, ein Bier möchte ich noch trinken, es ist doch gerade so gemütlich hier“, antwortete Christian unschuldig. Florian und Markus warfen sich, von Frank unbemerkt, einen schnellen Blick zu. Frank verdrehte die Augen nach oben.

„Also gut, wenn du meinst, dann trinken wir eben noch eins.“ Und ihr beiden verpisst euch gefälligst, der gehört heute mir, fügte er unausgesprochen und doch mit einem unmissverständlichen Blick an die beiden hinzu. Muskel-Manuel brachte neue Getränke, und ein lebhaftes Gespräch entfachte, vornehmlich zwischen Christian, Florian und Markus, während Frank schweigend dabei stand und mit einem zunehmend nervösen Gesichtsausdruck in immer kürzeren Zeitabständen auf seine Uhr schaute.

„Hast du heute noch Termine, oder warum schaust du ständig auf deine Uhr?“, fragte Markus scheinheilig, dem das nicht entgangen war. „Lass dich durch uns nicht aufhalten!“

„Darüber zerbrich du dir mal nicht deinen Kopf“, antwortete Frank mit einer betonten Süße in seiner Stimme, die seinen Ärger nicht übertünchen konnte.

„Ich habe noch eine schöne Flasche Wein zu Hause“, warf Florian ein, „wie wär´s, wollen wir die vernichten gehen?“ Er warf erst Christian, dann Markus einen fragenden Blick zu, Frank ließ er bewusst außen vor. Fast schon tat er ihm leid, aber er hatte es einfach nicht anders verdient.

„Nein, wir gehen gleich“, warf der nicht angesprochene mit letzter Verzweiflung ein, wurde jedoch von Christian übertönt, der fast gleichzeitig antwortete:

„Prima Idee, das machen wir“, und an Frank gewandt: „Du kommst doch mit?“

„Oder lassen das deine Termine nicht zu?“, setzte Markus mit einer Boshaftigkeit nach, die Florian fast ein wenig erstaunte.

„Nee, keinen Bock…“, antwortete Frank resignierend.

„Och schade“, sagte Christian glaubhaft, „wird doch bestimmt noch lustig.“

„Ja, wirklich schade“, fügte Markus mit einer äußerst geringen Glaubhaftigkeit hinzu. „Dann müssen wir uns eben zu dritt vergnügen, wer nicht will der hat schon, nicht?“

„Viel Spaß…“ wünschte Frank bitter, nahm sein Glas und setzte zum Gehen an.

„Wir sehen uns die Tage, ja?“, sagte Christian zu dem im Gehen begriffenen, „ich rufe dich an, deine Nummer habe ich ja.“ Dafür erntete er einen giftigen Blick von Frank; das mit der Nummer hätte er sich jetzt vor den beiden anderen sparen können, die das offenbar mit dankbarem Interesse aufnahmen und sich einen feixenden Blick zuwarfen. Ohne eine Miene zu verziehen, lachte er mit einem kurzen Schnauben verächtlich durch die Nase, dann zog er ab in Richtung Bar. Er musste sich eingestehen, soeben eine herbe Niederlage erlitten zu haben.

„Du warst einfach Klasse!“, bemerkte Florian wenig später, nachdem sie das Café Fritz verlassen hatten, sich vor Lachen kaum halten könnend. „Er hat dir das bis zuletzt abgenommen.“

„Ja, das hat mir auch riesigen Spaß gemacht. Was für ein arrogantes Arschloch! Und der hat euch beide mal um den Finger gewickelt? Kaum zu glauben.“ Sie gingen durch die spätabendliche Stadt und mussten immer wieder stehen bleiben, weil einer von ihnen in ein Lachen ausbrach, welches die beiden anderen stets sofort mitriss. Sie konnten es noch immer nicht fassen, dass ihr kleiner fieser Plan so wunderbar aufgegangen war.

„Du würdest wirklich den perfekten Schwulen abgeben“, lobte Markus Christians schauspielerische Leistung. „Die entsprechende Verlogenheit beherrschst du jedenfalls!“

„Iiiich?“, fragte Christian gespielt tuckig mit einem nahezu perfekten Kolliergriff, woraufhin sie sofort wieder in ein Lachen verfielen. Christian war ein junger Anwalt, der seit ein paar Wochen in der Kanzlei tätig war, in der auch Markus arbeitete. Er war nur geringfügig älter als Markus, und die beiden verstanden sich auf Anhieb sehr gut. Seit Christian in der Kanzlei war, ging Markus doppelt so gerne zur Arbeit. Dabei war sofort klar, dass er bei ihm nicht landen konnte, weil Christian verheiratet war, so richtig mit einer Frau. Aber das war es auch nicht, weshalb Markus seine Nähe suchte. Er mochte ihn einfach so, wegen seiner sympathischen Art und wegen der gemeinsamen Wellenlänge, auf der sie lagen. Oft lachten sie gemeinsam über Dinge, die bei den anderen Anwesenden nur ein verständnisloses Achselzucken hervorriefen. Und dass er zudem noch sehr gut aussah, war ja kein Nachteil. Die Tatsache, dass Markus schwul war, fand Christian nach seinen eigenen Worten cool, und er wollte alles darüber wissen, er hatte nicht die geringsten Berührungsängste deswegen. So kam Markus die Idee, Christian als Lockvogel für Frank einzusetzen, wofür sich dieser sofort gerne bereit erklärte. Gemeinsam mit Florian heckten sie den Plan aus, ermittelten mit detektivischer Gründlichkeit Franks Dienstplan in dem Café und erklärten Christian genau, wie er sich Frank gegenüber verhalten sollte, wie er ihn anschauen sollte, und dass er sich mit ihm im Café Fritz verabredete. Nachdem das gelungen war, brauchten sich Florian und Markus nur noch vor dem Fritz auf die Lauer zu legen und auf Christians SMS (Stichwort „Zugriff!“) zu warten. Der Rest lief dann wie von selbst.

„Was ist denn nun mit der Flasche Wein?“, fragte Florian.

„Danke für die Einladung, aber ich muss jetzt nach Hause, nicht dass meine Frau sich noch Sorgen macht und glaubt, ich hätte wirklich Geschmack an diesem Kerl gefunden.“ Christian lachte.

„Schade“, fand Florian. „Dann komm gut nach Hause, einen schönen Gruß unbekannter Weise an die Frau Gemahlin, und nochmals vielen, vielen Dank, du warst echt super!“

„War mir ein Vergnügen. Wenn ihr mal wieder einen Köder braucht, jederzeit gerne! Viel Spaß euch beiden noch.“

Den hatten sie dann auch noch; wie, wollte Christian sicher nicht so genau wissen. Und die Weinflasche überlebte die Nacht auch nicht mehr. Nur der bedauernswerte Frank musste sich in dieser Nacht selbst genug sein.

7. Sangesschwestern

„Die Sangesschwestern geben am Samstag ein Konzert in Neustadt, ich fahre mit Christian und Monika dahin, kommst du mit? Wir haben Freikarten bekommen, eine ist übrig, und Platz im Auto wäre auch noch“, fragte Markus begeistert, als er mit Florian telefonierte.

„Nun mal langsam, du bist ja ganz aufgedreht“, antwortete Florian. „Also wer gibt ein Konzert, und welcher Christian und welche Monika?“

„Die Sangesschwestern sind eine A-cappella-Gruppe, die machen super gute Musik, die werden dir sicher auch gefallen. Christian kennst du, der aus der Kanzlei, du weißt schon, den wir auf Frank angesetzt hatten. Und Monika ist seine Frau, auch total nett. Also was ist, Süßer, kommst du mit?“

Florian überlegte kurz. A-cappella-Gesang, das war zwar nicht gerade die Musikrichtung, die ihn vom Stuhle riss, andererseits konnte er sich die ja mal anhören, vielleicht gefiel es ihm ja doch. Außerdem war das eine Gelegenheit, Christian mal wieder zu treffen. Noch jetzt musste Florian lachen, wenn er an die Geschichte mit Frank dachte. Ja, inzwischen konnte er über Frank lachen, auch wenn noch ein ganz kleiner Rest von Schmerz zu spüren war.

Die Disco Z222 war früher das Kesselhaus einer Fabrik, ein altes Ziegelgemäuer, das eigentlich in den Siebziger Jahren, nachdem die Fabrik stillgelegt worden war, abgerissen werden sollte, dann aber unter Denkmalschutz gestellt wurde. Danach stand die Halle erst einige Jahre ungenutzt leer, bis ein paar findige Geschäftsleute die Idee mit der Disco hatten. Nach mehreren Besitzerwechseln befand sich dort nun das Z222, das an den Wochenenden immer gut besucht war. Manchmal, so wie heute, fanden hier besondere Musikveranstaltungen statt. Als Florian, Markus, Christian und Monika den großen Raum betraten, war es noch ziemlich leer. Vorne auf der Bühne beschäftigten sich zwei Techniker mit den Mikrofonen; am anderen Ende des Saales, also im hinteren Bereich, war ein großes Mischpult aufgebaut, hinter dem ein anderer Techniker an den in unüberschaubar großer Zahl vorhandenen Knöpfen und Reglern seine letzten Vorbereitungen traf. Auf der großen Fläche dazwischen, die sonst die Tanzfläche war, waren einige Stehtische aufgestellt, die bis jetzt nur teilweise von Leuten umstellt waren. Aber bis zum Beginn des Konzerts war ja auch noch fast eine halbe Stunde Zeit. Die vier enterten einen freien Tisch ziemlich weit vorne an der Bühne. Christian ging zur Bar und holte Getränke für alle. Im Hintergrund lief Musik in einer Lautstärke, die es zuließ, dass man sich unterhalten konnte, ohne sich anschreien zu müssen.

„Na viel ist hier ja nicht gerade los“, bemerkte Florian skeptisch.

„Wart’s ab, die Massen strömen gleich“, antwortete Markus zuversichtlich. Und er hatte Recht, nach und nach füllte sich die große Fläche, die Stehtische waren bald alle belegt, und auch die freien Lücken dazwischen wurden immer kleiner. Der Altersdurchschnitt des Publikums lag etwas über Florians Alter, wie er feststellte. Natürlich entdeckte er auch das eine oder andere ansprechende Gesicht dazwischen, um welches zu kümmern sich gelohnt hätte. Aber er hatte heute keine Lust, sich zu kümmern, zumal die meisten, die er für kümmernswert befand, sich in weiblicher Begleitung befanden, während er die Wahrscheinlichkeit, dass sich einer derjenigen, die offenbar unbeweibt hier waren, für ihn oder auch nur grundsätzlich für das eigene Geschlecht interessierte, gegen Null tendierend einschätzte. Jedenfalls gelang es Florian nicht, mit einem der in Frage kommenden Augenkontakt aufzunehmen. Auch egal. Er war zurzeit nicht auf der Suche und mit seinem Single-Dasein insgesamt auch ganz zufrieden. Selbst sexuell musste er dank Markus nicht völlig darben. Ab und zu, wenn sie beide Lust hatten, machten sie es miteinander, zur gegenseitigen Triebabfuhr, wie sie es nannten, in aller Freundschaft, und das war in Ordnung so. Keiner von beiden war verliebt in den anderen, es war einfach eine wunderbare, wenn auch vielleicht nicht ganz gewöhnliche Freundschaft. Gut, Florian, hätte nichts dagegen gehabt, mal wieder Bekanntschaft mit einen anderen Schwanz (und seinem Besitzer) zu machen, aber das eilte nicht. Zufrieden trank er einen Schluck Cola (ja, er trank heute Cola, oder zumindest hatte er sich vorgenommen, den Abend zur Abwechslung mal ganz ohne Alkohol zu bestreiten) und nahm wieder an der Unterhaltung der vier teil. Monika war eine sehr patente und sympathische Frau, wie Florian schnell gemerkt hatte, sehr offen und unkonventionell. Christian und sie gaben ein tolles Paar ab. Ihr Umgang miteinander war sehr locker, fast mehr wie gute Freunde denn wie ein Ehepaar. Völlig anders irgendwie als Florian und Stefanie, als sie noch zusammen waren, und auch anders als Simon und Anke. Ein wenig beneidete er die beiden. Und er fragte sich, ob auch er irgendwann einen Freund finden würde, mit dem er so gut harmonieren würde wie es bei Christian und Monika offenbar der Fall war.

Das Licht im Raum verdunkelte sich, die Musik verstummte. Gleichzeitig erstrahlte die Bühne in hellem Scheinwerferlicht. Sofort wurde es ruhiger, fast alle Gespräche und Plaudereien brachen schlagartig ab, wie bei einer Familienfeier, wenn jemand mit dem Löffel gegen ein Weinglas klimpert um sich Gehör für eine launige Ansprache zu verschaffen. Dann ging es los; sechs junge Männer betraten die Bühne, begleitet von vorschießendem Applaus. Sie stellten sich nebeneinander vor die bereit stehenden Mikrofone, und ohne weitere Worte begann einer von ihnen zu singen, ein textloses Dududu…, in das die anderen kurz darauf einstimmten, bis sich das Ganze nach wenigen Takten zu California Dreamin´ entwickelte. Ihr Gesang klang sehr exakt und harmonisch, man merkte schnell, dass die Sechs perfekt aufeinander abgestimmt waren. Selbst Florian, der bislang dieser Art von Musik nicht viel abgewinnen konnte, wurde sofort von den Harmonien bezaubert. Und obwohl die Musik ihn in ihren Bann zog, nahm er die sechs Jungs etwas genauer in Augenschein. Zwei von ihnen sahen durchaus ganz gut aus, wie er feststellte, die vier anderen hätten ihn, rein optisch, nicht weiter interessiert. Aber sie standen ja schließlich in erster Linie wegen ihrer akustischen Vorzüge hier auf der Bühne, und die waren wirklich gut, wie Florian anerkennend bemerkte. Und man merkte ihnen an, dass sie mit großem Spaß bei der Sache waren. Nachdem sie das erste Lied beendet hatten, wurde ihnen tosender Applaus zuteil.

„Und, wie findest du sie?“, fragte Markus, indem er nahe an Florians Ohr herantrat, „Also die Musik, meine ich“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu.

„Wirklich gut“, antwortete Florian aus voller Überzeugung, „und der Dunkelblonde mit dem blauen Hemd sieht ja wohl zum Anbeißen aus“, fügte er, nicht ganz so laut, hinzu, indem er noch näher an Markus´ Ohr rückte und eine Hand schallschützend an den Mund hielt.

„Findest du?“, fragte Markus zurück. „Na wenn du meinst… ich nehme dann lieber den Rothaarigen, der hat so was Wildes!“, lachte er.

„Na, seid ihr schon wieder dabei, die Jungs zu vermessen?“, schaltetet sich Monika in die Unterhaltung ein.

„Na klar, kennst mich doch“, antwortete Markus, „welchen hast du dir ausgesucht?“

„Den hier“, antwortete Monika und gab dem verdutzten Christian einen Kuss, der von der Unterhaltung so gut wie nichts mitbekommen hatte.

„Hast Recht, der ist ja auch besser als alle sechs da oben zusammen“, lachte Markus.

Einer der sechs Sänger ergriff das Mikrofon und sprach ein paar begrüßende Worte an das begeisterte Publikum; mit viel Witz hatte er die Sympathien sofort an sich gezogen. Florians Sympathie galt jedoch inzwischen längst einem anderen auf der Bühne, den er kaum noch aus den Augen lassen konnte und den er ja auch, kraft dessen künstlerischer Funktion heute Abend, unentwegt anstarren durfte, ohne unangenehm aufzufallen. Er hatte dunkelblonde kurze Haare, eine schlanke Figur und ein Gesicht, das Florian bezauberte, mehr als die Musik, die die sechs in nahezu perfekter Harmonie darboten. Vom Alter her schätzte Florian ihn auf Mitte bis Ende Zwanzig. Mit dem konnte er sich so einiges vorstellen, rein theoretisch, verstand sich. Denn sehr wahrscheinlich befand sich hier unten im Publikum ein Mädchen, das ihn in diesem Moment genauso anschmachtete wie Florian, jedoch als des Sängers Freundin deutlich weitergehende Rechte an ihm hatte. Also wozu weiter darüber nachdenken. Aber ein wenig träumen durfte er ja…

Das nächste Lied war Silence is golden, wiederum wunderschön dargebracht von den Sechsen, während Florians Blick auf dem Einen haftete. Für kurze Zeit war ihm, als schaute der Bewunderte zurück, als erwiderte er seinen träumenden Blick. Aber das war sicher nur Florians Wunschdenken, vielleicht stand die vermutete Freundin in derselben Blickrichtung wie Florian.

Die Stimmung war ausgezeichnet. Es folgten So happy together, For the longest time und ein paar weitere Stücke, die Florian nicht alle kannte. Es war erstaunlich, was diese sechs Stimmakrobaten ohne jede Instrumentalbegleitung zustande brachten. Einer von ihnen war in der Lage, mit seiner Stimme fast perfekt ein Schlagzeug zu imitieren, indem er das Mikrofon ganz dicht mit seinen Händen umschlossen vor seinen Mund hielt, ein anderer konnte Töne erzeugen, als habe er eine E-Gitarre verschluckt. Florian, seine Begleiter, der ganze Saal waren völlig begeistert von dem, was ihnen von den sechs Jungs auf der Bühne geboten wurde.

„Warum nennen die sich eigentlich Sangesschwestern?“, fragte Florian in einer kurzen Pause zwischen zwei Stücken.

„Keine Ahnung“, antwortete Christian, „Vielleicht weil es einfach witzig ist.“

„Oder weil sie Schwestern sind“, warf Markus mit einem vielsagenden Grinsen ein.

„Meinst du…?“, fragte Florian ungläubig.

„Keine Ahnung… bei deinem Favoriten könnte ich mir das sogar vorstellen“, antwortete Markus mit einem Ausdruck, der es offen ließ, ob er das wirklich so meinte oder ob er Florian nur ein wenig aufziehen wollte.

Dann geschah in Florians Augen, oder besser Ohren, ein kleines Wunder: Das nächste Lied war Don´t look back in anger, sein Lieblingslied von seiner Lieblingsband Oasis. Er hätte nie für möglich gehalten, dass man dieses Lied als A-capella-Stück arrangieren konnte; wenn es ihm vorher jemand gesagt hätte, hätte er ihn wahrscheinlich für verrückt gehalten und ihn sozusagen eines Sakrilegs bezichtigt. Aber es war möglich, diese sechs konnten es, und Florian sah nicht den geringsten Grund, es ihnen übel zu nehmen. Einige im Saal stimmten beim Refrain sogar mit ein: „So Sally can say…“, was Florian sofort zum Mitmachen animierte, obwohl seine gesanglichen Fähigkeiten eher beschränkt waren. Sein Lieblingssänger schaute schon wieder in seine Richtung. Jetzt lächelte er sogar! Florian drehte sich unwillkürlich um und schaute, ob er jemanden in der Menge entdeckte, dem (oder schlimmer der) dieses Lächeln galt. Er sah niemanden, der (beziehungsweise die) zurück lächelte. Aber es waren auch zu viele Menschen dort, als dass er den Adressaten des Lächelns hätte ausmachen können. Er schaute zurück auf die Bühne, auf seinen Sänger. Kaum dass Florians Blick wieder nach vorne gerichtet war, begann er erneut, Florian oder zumindest jemanden in seiner Richtung anzulächeln, als hätte er nur auf die Rückkehr von Florians Blick gewartet. Versuchsweise lächelte Florian zurück, zunächst etwas gezwungen, dann jedoch, als er merkte, dass anscheinend tatsächlich er es war, dem dieses Lächeln galt, selbstsicherer. Er konnte es noch nicht glauben: War es ihm tatsächlich gelungen, mit dieser Sangesschwester Blickkontakt herzustellen, und signalisierte diese tatsächlich ein Interesse an ihm? Immer wieder trafen sich scheinbar ihre Blicke, stets von einem Lächeln des Sängers begleitet, welches bei Florian zunehmend ein undefinierbares Kribbeln im Bauch hervorrief.

Das letzte Lied wurde angesagt: der alte ABBA-Song Thank you for the music. Wiederum staunte Florian nicht schlecht, dass dieses Lied, das im Original ja von Frauen gesungen wurde, hier durch sechs Männer in perfekter Harmonie dargebracht wurde, so, als wäre es ursprünglich für einen Männerchor komponiert worden. Ein Lachen ging durch den Saal, als der fast glatzköpfige Sänger, der bei diesem Lied die Solostimme hatte, „I am the girl with golden hair“ sang und sich dabei mit der Hand über den kahlen Kopf strich. Auch Florian lächelte wieder, aus anderen Gründen. Nachdem der letzte Akkord verklungen war, erhob sich tosender Applaus, begleitet von gellenden, anerkennenden Pfiffen, und schon bald wurden einzelne Rufe nach einer Zugabe laut, die sich schnell zu einem gemeinsamen Sprechgesang „Zugabe, Zugabe…“ verdichteten, welcher nicht unerhört blieb. Nachdem die Sechs sich mehrfach artig gegen das Publikum verbeugt hatten, nahmen sie nochmals Position vor ihren Mikrofonen ein und warteten, bis der Applaus langsam abebbte, schließlich verstummte. Es folgte Unchained melodie. Zu Florians großer Überraschung war es bei diesem Lied sein Sänger, der die Solostimme hatte und diese geradezu herzzerreißend herüber brachte, wobei er seinen Blick und seine Gestik immer wieder auf ihn, Florian, zu richten schien. Florian kam es geradezu so vor, als würde dieses Lied nur für ihn gesungen: „I need your love…“ Noch einmal schaute Florian sich um, ob dort nicht doch irgendwo ein Mädchen stand, dem die Blicke und Gesten in Wahrheit galten, aber er sah keins, wollte auch keins sehen. Das Kribbeln in seiner Bauchgegend wurde stärker. Ob Markus und die anderen wohl etwas bemerkten? Vorsichtig schaute Florian in die kleine Runde, aber die anderen schenkten ihre volle Aufmerksamkeit offenbar ausschließlich der Musik. Selbst Markus, dem so etwas normalerweise nie entging, schien nichts bemerkt zu haben. Aber vielleicht war da ja auch gar nichts zu bemerken, und noch immer schloss Florian es nicht völlig aus, dass er sich nur wünschte und einbildete, die Blicke und das Lächeln hätten ihm gegolten. Und tatsächlich: Kaum, dass der Applaus sich nach der Zugabe erneut erhob, löste sich ein Mädchen aus der Menge, ging nach vorne zur Bühne und empfing eine Umarmung und einen Kuss von Florians Favoriten, der sich von der Bühne zu ihr herunter beugte. In diesem Augenblick zerplatzte für Florian eine schöne Illusion wie eine Seifenblase, eine Illusion, die ihm das Konzert doppelt schön hatte erscheinen lassen.

„So ein Pech“, stichelte Markus von der Seite und grinste Florian wissend an.

„Was meinst du?“, stellte Florian sich dumm, wobei er eine gewisse Enttäuschung nicht ganz verbergen konnte.

„Na dass dein Schwarm zur Hetenfraktion zählt. Welch tragische Veranlagung…“

Florian gab ihm seufzend Recht. Er hatte jetzt doch Lust auf ein Bier. Das Z222 wandelte sich nach dem Konzert innerhalb kurzer Zeit wieder zur Disco, die Tische wurden von der Tanzfläche geräumt, so dass sie wieder ihre eigentliche Zweckbestimmung annahm. Die vier gingen in den hinteren Barbereich, wo es etwas ruhiger war und wo man sich von der Lautstärke her noch gut unterhalten konnte. Florians Laune hatte sich schnell gebessert, als das kühle Bier in seine Kehle rann. So viel zum Thema heute kein Alkohol… Sie unterhielten sich wieder bestens, wie vorher, bevor das Konzert begonnen hatte. Florian verspürte Lust zu tanzen. Zu True Faith von New Order mischte er sich unter die Tanzenden und genoss es sehr. Es war Monate her, seit Florian das letzte Mal Tanzen war. Nach True Faith folgte Tainted Love von Soft Cell, und Florian blieb gleich hier und tanzte weiter. Seine Sangesschwester hatte er schon wieder vergessen, wozu sollte er sich auch weiter Gedanken darüber machen. Florian ging fast völlig auf in der Musik, die den Raum erfüllte. Ich sollte viel öfter tanzen gehen, dachte er. Dann kam ein Song, den Florian nicht kannte und der ihm auch nicht sonderlich gefiel. Das traf sich ganz gut, denn vom Tanzen hatte er Durst bekommen, so konnte er erst mal eine Pause einlegen und sich ein neues Bier holen. (Den alkoholfreien Abend würde er dann beim nächsten Mal durchziehen, ganz sicher! Aber nicht heute…) Kurz darauf stand er mit einer Bierflasche in der Hand am Rand der Fläche und schaute dem inzwischen dichten Getümmel darauf zu. In der Menge machte er seine drei Begleiter aus, die inzwischen ebenfalls tanzten. Er prostete Markus zu, der ihn am Rande stehend entdeckt hatte und ihm zuwinkte.

„Na, wie hat es dir gefallen?“, fragte plötzlich eine Stimme neben Florian. Er drehte sich um und schaute ins Gesicht von – seinem Sänger, der ihn strahlend anlächelte. Ja, er lächelte ihn, Florian, an, und Florian war es auch, dem diese Frage gegolten hatte, dieses Mal gab es keinen Zweifel. Ein freudiger Schreck durchfuhr ihn.

„Super, ihr seid echt klasse!“, antwortete Florian und rang nach weiteren Worten, die jedoch fürs Erste ausblieben. Dann fügte er hinzu: „Vor allem die Zugabe…“, und er zwinkerte seinem Gegenüber zu.

„Danke, danke… bist du mit deinem Freund hier?“

„Ja, mit meinem… also mit einem guten Freund und zwei Bekannten.“ Florian schaute sein Gegenüber unsicher an: Wieso fragte der nach seinem Freund und nicht, wie es ja naheliegender gewesen wäre, nach seiner Freundin? War es schon so weit, dass wildfremde Menschen es ihm ansahen, und dazu noch Heten? „Und deine Freundin ist auch hier?“, fragte er.

„Meine Freundin?“ Der Sänger lachte. „Wie kommst du darauf, dass ich eine Freundin habe?“

„Na ja, das Mädel vorhin nach eurem Konzert, war das nicht…?“

„Ach du meinst Katrin. Ja, das ist meine beste Freundin, und mein größter Fan sozusagen. Nein, sonst habe ich keine Freundin.“ Er grinste Florian erwartungsvoll an.

„Na wie schön, dann sind wir ja schon zu zweit“, sagte Florian, und wunderte sich sogleich über seine eigenen forschen Worte. Sollte es vorhin etwa doch keine Illusion gewesen sein? Es sah fast danach aus. Und wenn es tatsächlich so war, wonach es aussah, sollte er sich darauf einlassen? Der Stachel der schlechten Erfahrung mit Frank saß noch immer tief. Erstmal abwarten, vielleicht wollte sich sein Gesprächspartner ja auch nur nett mit ihm unterhalten.

„Ich heiße übrigens Sebastian“, streckte er Florian die Hand entgegen, der den Händedruck, seinen Namen sagend, erwiderte. Sie schauten sich ein kurzen Moment lang tief in die Augen. Florian bekam wieder dieses schon bekannte Kribbeln in der Magengegend. Die Musik nahm er nicht mehr wahr, und seine drei Begleiter hatte er auch kurzzeitig ausgeblendet. Wie der ihn anschaute! Ich muss jetzt irgendwas sagen, dachte Florian, aber ihm fiel nichts Gescheites ein.

„Wollen wir uns da hinten hinsetzen? Da ist es etwas ruhiger zum Quatschen“, schlug Sebastian vor und kam Florians Ringen nach Worten zuvor. Ja gerne.

Neben der Bar gab es einen größeren Bereich mit Tischen und Stühlen, in dem man sich vom Tanzen erholen konnte und wo die Musik nicht ganz so laut war. Florian und seine neue Bekanntschaft hatten einen der wenigen noch freien Tische ergattert und saßen sich nun gegenüber. Eine kurze Gesprächspause entstand, die jedoch nicht unangenehm war. Florian betrachtete sein Gegenüber und schaute in dessen braune Augen. Florian war bezaubert; aus der Nähe sah dieser Kerl sogar noch besser aus. Und die Stimme erst… sie klang eher sanft, wirkte jedoch keineswegs feminin, und passte sehr gut zu ihm, wie Florian fand. Während Florian weiter schwärmte, begann Sebastian zu erzählen:

„Du warst mir gleich aufgefallen vorhin im Konzert. Bin echt froh, dass ihr nicht gleich wieder weg gefahren seid und ich dich noch erwischt habe. Bist du hier aus Neustadt?“

Florian erzählte, dass er aus der Nachbarstadt käme und sich erst gar nicht sicher war, ob er überhaupt mitfahren sollte zu dem Konzert. „Aber ich hab´s nicht bereut!“, grinste er Sebastian an. „Wegen eures Konzertes, versteht sich“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, was Sebastian mit einem Lächeln quittierte. Es folgten das übliche Kennenlern-Gespräch, aus dem Florian erfuhr, dass Sebastian ein Jahr älter war als er, in Berlin geboren war und jetzt hier in Neustadt wohnte und bei einer großen Versicherung arbeitete. Das heißt, dies alles hätte Florian erfahren können, wenn er genauer zugehört hätte, was ihm aber nicht gelang, weil er zu sehr abgelenkt war von der Faszination, die Sebastian mit jedem Satz stärker auf ihn ausübte. Am liebsten hätte er ihn auf der Stelle geküsst, um danach mit ihm abzuziehen, irgendwohin, wo sie alleine und ungestört waren. Das verbot sich allerdings im Moment aus verschiedenen Gründen. So plauderten sie eine ganze Weile, und die Vermutung, dass Sebastian an ihm interessiert war, nicht nur zum gemütlichen Plaudern, wurde für Florian immer mehr zur Gewissheit, seine Blicke brachten es unmissverständlich zum Ausdruck. Florian konnte es noch immer nicht fassen. Aber war er nicht schon wieder dabei, sich von einem Kerl um den Finger wickeln zu lassen? Hatte er aus der Sache mit Frank nichts gelernt? Andererseits, gab es jetzt überhaupt noch ein Zurück, war Florian nicht bereits völlig gefangen genommen von Sebastians Charme? Florian ermahnte sich kurz zur Vorsicht, jedoch verhallte seine Ermahnung nahezu ungehört. Und irgendetwas in ihm sagte ihm, dass es richtig war, sich darauf einzulassen. Aus irgendeinem Grund, den Florian nicht hätte nennen können, hielt er Sebastian für ehrlich, ehrlicher als Frank, der ihn mit einem Scherbenhaufen der Gefühle zurück gelassen hatte.

„Hier bist du…“, kam Markus dazu, und nickte dem ihm unbekannten Sebastian freundlich-distanziert zu, bevor er Florian einen kurzen, anerkennenden Blick zuwarf, so als ob er sagen wollte: Donnerwetter, nicht schlecht, wie hast du das denn jetzt geschafft? „Christian und Monika wollen fahren.“

„Schon?“ Florian schaute Markus an wie ein Kind, das noch nicht ins Bett will. Mist, ausgerechnet jetzt, wo der Abend interessant wurde. „Dann muss ich ja wohl mit. Schade… Das ist übrigens Sebastian, und das ist Markus“, stellte er die beiden vor.

„Ihr wart super, hat mir echt wieder gut gefallen euer Konzert“, sagte Markus zu dem Vorgestellten, was Sebastian mit einem dankbaren Lächeln beantwortete.

„Wieso wieder, hast du uns schon mal gehört?“, fragte Sebastian, woraufhin Markus von dem Konzert im letzten Jahr erzählte, bei dem er war und das ihn so begeistert hatte.

„Du kannst doch mit dem Zug nach Hause fahren“, schlug Sebastian Florian vor.

„Ich weiß doch gar nicht, ob heute Nacht überhaupt noch Züge fahren…“, antwortete Florian wenig überzeugt von diesem Vorschlag.

„Wer hat denn gesagt, dass du noch heute Nacht nach Hause fahren sollst?“, grinste Sebastian ihn an.

„Du meinst, ich kann bei dir…“

„Natürlich auf dem Gästesofa. Also wenn du unbedingt willst, meine ich.“ Sebastians Grinsen wurde breiter, jetzt grinste auch Florian. Dann schaute er Markus fragend an, so, als ob er ihn um Erlaubnis fragen müsste.

„Na dann ist ja alles klar“, stellte Markus knapp mit einem leicht zickigen Tonfall fest und wand sich von den beiden ab, um zu Christian und Monika zurück zu gehen.

„Ich bin sofort wieder bei dir“, sagte Florian und erhob sich von seinem Platz. Dann lief er Markus hinterher. „Hey, Süßer, alles klar?“

„Ja, alles klar. Wie hast du den denn geangelt?“

„Ob du es glaubst oder nicht, er hat mich einfach angesprochen vorhin, als ich an der Tanzfläche stand. Sag mal, bist du jetzt etwa sauer?“

„Nein, vielleicht nur etwas überrascht. Hübscher Kerl übrigens…“. Dann, schon wieder versöhnlicher: „Schade, wie es aussieht, muss ich mir ja jetzt wohl einen anderen für die Triebabfuhr suchen, was?“

„Quatsch“, antwortete Florian, „wer sagt denn, dass ich den gleich heiraten werde?“, und er gab Markus, ungeachtet der überwiegend heterosexuellen Umgebung, einen Kuss auf die Wange.

*

Als Florian am nächsten Morgen aufwachte, war er zwar noch müde, aber glücklich. Kurz nachdem Markus, Christian und Monika sich gestern Abend verabschiedet hatten, gab es auch für Sebastian und ihn keinen Grund mehr, länger im Z222 zu bleiben. Sie nahmen ein Taxi und fuhren zu Sebastian. Unterwegs dachte Florian noch einmal kurz darüber nach, ob es richtig war, mit zu ihm zu fahren, aber um es zu ändern, war es ohnehin zu spät. Daher entschied er, dass es richtig sein musste. In Sebastians Wohnung tranken sie noch kurz was, verlagerten den weiteren Abend dann aber bald ins Bett. Was dann folgte, war mindestens so gut wie das, was Florian einige Wochen zuvor mit einem gewissen Frank erlebt hatte, mit dem wesentlichen Unterschied, dass er anschließend mit Sebastian unter der Decke kuschelte und sie so zusammen einschliefen (von dem Angebot, das Gästesofa benutzen zu dürfen, machte er aus naheliegenden Gründen keinen Gebrauch.). Dies war eine völlig neue Erfahrung für Florian, mit einem Mann zusammen einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Gut, viel geschlafen hatte er in dieser Nacht nicht, vielmehr war er zwischendurch immer wieder aufgewacht und, nachdem er sich vergewisserte hatte, dass es wirklich kein Traum war, aus dem man nur ungern erwacht, glücklich wieder eingeschlafen. Doch jetzt war er wach, die Nacht war vorüber. Draußen war es hell, die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb zehn. Sebastian schien noch zu schlafen, er atmete regelmäßig mit einem sanften Schnaufen. Florian legte den Ellenbogen auf das Kissen, stützte den Kopf in der Hand auf und betrachtete den Schlafenden. Er sah einfach zu niedlich aus, gerade jetzt, da er schlief. Stundenlang hätte Florian ihn einfach so betrachten können. Doch daraus wurde nichts. Sebastian öffnete kurz die Augen und schloss sie sogleich wieder. Dann griff er nach Florians freier Hand und führte sie sanft unter die Bettdecke zu einem Körperteil, das nicht mehr schlief…

Florian fuhr erst am frühen Abend nach Hause. Nach dem Frühstück, das sie nur in Boxershorts und T-Shirt eingenommen hatten, fielen sie gleich wieder übereinander her, wie von einer fremden Macht gesteuert. So richtig kamen sie gar nicht mehr aus dem Bett hinaus.

„Ich kann nicht mehr…“, sagte Florian gegen Nachmittag mit gespielter Erschöpfung.

„Wetten doch?“, entgegnete Sebastian und machte sich gleich wieder mit seinen Lippen an Florians bestem Stück zu schaffen, bis es die nötige Größe erreicht hatte, um ein Kondom darüber abzurollen. Er gewann die Wette.

„Weißt du, ich finde dich richtig klasse“, sagte Florian, als sie am Bahnsteig standen.

„Ich dich auch. Und ich habe das gleich gewusst, als dich gestern in der Menge vor der Bühne entdeckt hatte.“ Sebastian gab Florian einen langen Kuss. Der Zug wurde angesagt, kurz darauf näherten sich die drei Lichter der Lokomotive.

„Sehen wir uns wieder?“, fragte Florian mit einem bangen Unterton, so als ob er eine ausweichend-unverbindliche Antwort erwartete, die „mal sehen“ lautete oder so ähnlich.

„Dumme Frage“, antwortete Sebastian gänzlich verbindlich, und nahm Florian noch mal in den Arm, „natürlich sehen wir uns wieder. Also nur wenn du willst natürlich…“

„Ich wüsste nicht, was ich mehr wollte“, antwortete Florian erleichtert. „Wann?“

„Nächstes Wochenende? Freitag?“

„Freitag!“ Florian stieg in den Zug, der mit kreischenden Bremsen zum Stehen gekommen war. Kurz darauf ruckte der Zug und setzte sich in Bewegung. Florian winkte Sebastian durch die verdreckte Fensterscheibe des Wagens zu, bis dieser aus seinem Blickfeld verschwand; dann sah er die vorüber ziehenden Häuser an und fragte sich, ob es möglich sei, dass darin Menschen wohnten, die noch glücklicher waren als er. Unmöglich, kein Mensch konnte in diesem Augenblick glücklicher sein. Bis Freitag…

8. Besser als nichts

Oft ist das Glück wie eine in schönen Farben bunt schillernde Seifenblase: Wenn man sie halten will, zerplatzt sie. Oder wie ein schöner Traum am frühen Morgen, aus dem einen der Wecker erbarmungslos zurück in die Wirklichkeit reißt. Diese Erfahrung machte Florian am Freitag, an dem Tag, dem er während einer endlos langen Arbeitswoche mit der Ungeduld eines kleinen Jungen in Erwartung seines Geburtstagsgeschenkes entgegengefiebert hatte. Es waren zwei Worte aus Sebastians Mund, die einer Nadelspitze gleich die Seifenblase zum Zerplatzen brachten. Als sie miteinander telefoniert hatten, schien sich noch alles in der Weise zu fügen, wie Florian es sich kaum zu erhoffen gewagt hatte. Später, als er nach der ersten Runde glücklich in Sebastians Armen in dessen Bett lag und ihm sanft über die Brust streichelte, sagte dieser eben diese beiden Worte, die für Florian alles wie ein Kartenhaus zum Einsturz brachten: Mein Freund. - Dein was? Florian verstand nicht, was er soeben gehört hatte, wollte es nicht verstehen. Er richtete sich auf und schaute Sebastian ungläubig an. Der erzählte ihm wie völlig selbstverständlich, als mache er eine beiläufige Bemerkung über das Wetter, von seinem Freund, mit dem er seit fast sechs Jahren zusammen war, und von ihrer offenen Beziehung, deren Regeln zwar festlegten, dass sie ein Paar waren, die ihnen jedoch ansonsten, vor allem in sexueller Hinsicht, alle Freiheiten ließen, von denen sie auch reichlich Gebrauch machten. Sebastian erzählte dies alles ohne jedes schlechte Gewissen, so, als sei es das Normalste der Welt. Und wieder fühlte sich Florian, als habe er soeben einen heftigen Schlag vor den Kopf bekommen. Noch immer konnte er es nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Er wusste nicht, wie er sich jetzt verhalten, was er sagen sollte. Er wusste nicht einmal, ob er jetzt traurig, wütend oder einfach nur überrascht war darüber, dass er sich erneut dermaßen getäuscht hatte in einem Menschen, in dessen Worten, dessen Verhalten und den Signalen, die er aussendete. Waren denn alle Schwulen total bekloppt, womöglich er selbst auch, nur dass er es noch nicht gemerkt hatte? Oder hatte er wesentliche Aspekte des schwulen Zusammenlebens einfach noch nicht kapiert, musste er tatsächlich noch so viel lernen? Endlich fand er wieder Worte:

„Dein Freund – wo ist der jetzt?“

„Der ist ein paar Tage zu seinen Eltern nach Hamburg gefahren, irgend ´ne Familienfeier.“

„Und du bist nicht mit?“

„Nein, das geht nicht, die kommen nicht besonders gut klar damit, dass ich keine Möse und dicke Titten habe. Einmal war ich mit, das hat fast Mord und Totschlag gegeben.“ Sebastian lachte, während Florian wie vom Donner gerührt keine Miene verzog.

„Weiß er, dass ich jetzt hier bei dir bin?“

„Ja klar, wir haben vorhin telefoniert“, antwortete Sebastian mit der schon bekannten irritierenden Selbstverständlichkeit.

„Und das stört ihn nicht?“

„Aber nein, überhaupt nicht, er besucht ja heute auch jemanden“, antwortete Sebastian, wobei er bei dem Wort besucht vielsagend zwinkerte.

„Das ist echt der Hammer…“, ließ sich Florian zurück ins Kissen fallen. „Und ich hatte geglaubt, du und ich..., das könnte was werden mit uns.“

„Aber das kann es doch, wir können uns jederzeit wiedersehen, ich finde dich echt nett!“

„Nett…“, wiederholte Florian; kopfschüttelnd schnaubte er einen kurzen trockenen Lacher durch die Nase. Ihm fiel die Geschichte mit Frank ein, die zwar völlig anders und irgendwie doch ähnlich verlaufen war. Anscheinend geriet er immer an die Falschen.

„Ja, und ziemlich scharf dazu“, setzte Sebastian nach, griff unter die Decke und streichelte Florians völlig erschlafftes Glied. „Weißt du, ich liebe Bernd zwar immer noch, aber im Bett läuft nicht mehr viel bei uns, das ist irgendwie vorbei. Ich könnte mir das schon richtig schön mit dir vorstellen, auch für länger und regelmäßig.“

„Ich verstehe nicht ganz...“, erwiderte Florian verwirrt.

„Na wir könnten uns regelmäßig treffen, Spaß miteinander haben, also nicht nur das Eine, meine ich.“

„Du meinst, als Zweitfreund, Sexverhältnis, Affäre? Ich weiß nicht…“ Das stimmte nicht ganz, Florian wusste. Er wusste ziemlich genau, dass er das ganz bestimmt nicht wollte.

„Na ja, wenn du es so nennen willst…“ Sebastians Bemühungen unter der Bettdecke ließen nicht nach, die beabsichtigte Wirkung blieb indes aus. Auf eine weitere Runde hatte Florian jetzt wirklich keine Lust. Er lag regungslos auf dem Rücken und starrte die Zimmerdecke an. Er wollte weg, nur noch nach Hause. „Ich könnte mir vorstellen, dass Bernd dich auch ziemlich scharf findet, du bist genau sein Typ. - Magst du Dreier?“, fragte Sebastian, während sein Zeigefinger langsam zwischen Florians Brust und Schamhaaransatz hin und her fuhr.

„Was??“, antwortete dieser verwirrt.

„Oder hast du noch nie zu dritt…? Solltest du mal ausprobieren, das kann ziemlich geil sein. Doch, wir drei könnten wirklich viel Spaß zusammen haben, glaube ich.“

„Nein, da müsst ihr euch wohl einen anderen Gespielen suchen, fürchte ich.“ Florian stand auf und zog sich an.

„Willst du schon gehen?“, fragte Sebastian, als sei diese Reaktion Florians völlig abwegig.

Florian verzichtete auf weitere Ausführungen über die Möglichkeiten und Vorzüge eines nicht gerade gleichschenkligen Dreiecks.

„Na muss ja auch nicht sein“, unternahm Sebastian, noch immer im Bett liegend, einen letzten Versuch, die Situation zu retten. „Ich meine, nur wir beide, du und ich, das reicht ja auch.“

Ja, in der Tat, es reichte Florian. Während er auf dem Bettrand saß und seine Socken anzog, beschloss er, um alles, was auch nur entfernt mit dem Thema Kerle und Beziehung zu tun hat, vorläufig einen riesengroßen Bogen zu machen.

*

Als Florian nach Hause kam, wollte er nur noch seine Ruhe haben, niemanden hören und sehen, einfach nur still vor sich hin leidend seine ihm soeben zugefügten Wunden lecken. Nicht mal Markus wollte er jetzt sehen, er hatte nicht die geringste Lust, jetzt so einen Satz wie „Das habe ich gleich gewusst“ zu hören. Natürlich würde er ihm bald von seiner Enttäuschung erzählen. Aber nicht heute. Was tun mit dem angebrochenen Abend, den er ja eigentlich in frisch verliebter Zweisamkeit mit Sebastian zu verbringen geplant hatte? Als erstes einen Weg finden, wie er die Gefühle, die jeder Gedanke an Sebastian in ihm auslöste, bändigen konnte. Aber wie bändigt man einen Schwarm wild flatternder Schmetterlinge? Mit Chemikalien. Genauer: mit Alkohol. Und mit Geräusch. Genauer: mit Musik, noch genauer: mit Oasis. Seine Vermieter reisten mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum. Somit waren die Voraussetzungen gegeben für eine gefühlsmindernde Maßnahme, für eine kleine spontane Party im ganz intimen persönlichen Rahmen. Die CD war schnell eingelegt, Wein war auch noch im Haus. So saß Florian kurze Zeit später in seinem Sessel, den Gitarrenklängen lauschend, die eine oder andere Liedzeile mitsingend, ein gefülltes Weinglas in der Hand, die geöffnete Weinflasche vor sich auf dem Tisch. Es half nichts. Weder stellte sich so etwas wie Partystimmung ein, noch gelang es ihm, die Gedanken an Sebastian zu verscheuchen. Mit jedem Schluck Wein, jedem Takt Musik, jedem Atemzug war er gegenwärtig; fast ununterbrochen, wie wenn er gegenüber auf dem Sofa gesessen hätte, hatte Florian dessen Gesicht vor Augen, seine angenehme Stimme im Ohr. Kein Zweifel, Florian hatte es mal wieder richtig erwischt, ein Volltreffer mitten ins Herz. Und da half keine Rotwein-Oasis-Kur, das war etwas längerfristiges, woran er noch eine Zeit zu knabbern haben würde. Schöner Mist… Warum konnte er nicht endlich mal einen kennen lernen, der sich nicht nach kurzer Zeit entweder als Arschloch oder als vergeben entpuppte? Mit dem er wirklich zusammen sein konnte, so wie mit Stefanie? Nein, nicht so wie mit Stefanie. Besser. Oder gab es das unter Schwulen nicht? Waren die vielleicht aufgrund ihrer Gene gar nicht in der Lage, eine längere, halbwegs normale Beziehung zu führen? Es musste doch, genau so wie im Hetenreich, möglich sein, dass Mann und Mann sich treffen, sich gut finden, sich lieben, füreinander da sind, zusammen bleiben, und wenn sie nicht gestorben sind, so ficken sie noch heute. Oder war das zu einfach, zu naiv gedacht? Florian hatte einfach zu wenig Erfahrung mit den Wirren und Fallen des Liebeslebens an sich und den mitunter recht komplizierten Beziehungsgefügen unter Männern im Besonderen, schließlich war er ja erst seit wenigen Wochen dabei. Seit sechs Jahren also war Sebastian mit seinem Freund zusammen. Das war doch schon eine lange Zeit. Aber was war das für eine Beziehung? Für Sex suchten sie sich, entweder jeder für sich oder aber, was sich Florian so gar nicht vorstellen konnte, zusammen, zumeist jemanden anderes. Florian fielen wieder Markus´ Ausführungen ein darüber, dass Liebe und Sex zwei unterschiedliche Dinge wären, die nicht zwangsläufig zusammen gehörten. Womöglich waren Sebastian und sein Freund der beste Beweis dafür, dass diese Theorie stimmte. Womöglich war diese Form der Beziehung sogar die ehrlichere im Vergleich zu anderen Paaren, egal ob hetero oder homo, die sich nur deshalb treu waren, weil sich das einfach so gehörte, weil man es von ihnen erwartete, obwohl sie sich im Bett eigentlich nur noch miteinander langweilten und stattdessen lieber mal auf einer anderen Wiese gegrast hätten, sich aber nicht trauten. Es dann aber doch taten, heimlich, darauf bedacht, dass niemand, vor allem der Partner nicht, etwas davon erfuhr, um anschließend mit einem schlechten Gewissen in die heimischen Gefilde zurück zu kehren. Unzählige Ehemänner hielten sich eine Geliebte, ohne dass Mutti zu Hause etwas davon wissen durfte (und es dennoch vielleicht wusste, es aber als gegeben hinnahm). Und nicht viel weniger Ehefrauen suchten Trost in den Armen ihres heimlichen Helden, während der Herr Gemahl im Jogginganzug vor dem Fernseher saß und die Sportschau guckte. War das nicht im Grunde genommen ganz normal? Natürlich immer nur bei anderen, für einen selbst kam das selbstverständlich nicht in Frage. Fremd gehen, das war ja wohl das Letzte… Florian überlegte: Treue, was genau war denn eigentlich Treue? Klar: Treu zu sein bedeutete zunächst mal, nur mit dem Partner Sex zu haben und nicht mit einem anderen, denn das wäre dann Betrug gewesen. Aber war das wirklich der zentrale Punkt, der Treue ausmachte? Gab es da nicht ein paar Dinge, die viel wichtiger waren als die kurzen Augenblicke intimen Austausches von Körperflüssigkeit? Kam es nicht viel mehr darauf an, zu wissen, zu wem man gehört, mit wem man sein Leben teilt? Kurz: wen man liebt? Und wenn es nun tatsächlich stimmte, dass Liebe und Sex zwei getrennte Dinge waren, war man dann wirklich untreu, wenn man sich aushäusig vergnügte? Je mehr Florian darüber nachdachte, desto richtiger und konsequenter erschien es ihm, so wie Sebastian und sein Freund es miteinander hielten. Vielleicht hätten sie es gar nicht sechs Jahre lang miteinander ausgehalten, wenn sie aus ihrer persönlichen Definition des Begriffs Treue nicht den rein körperlichen Aspekt herausgenommen hätten.

Das Telefon riss Florian aus seinen philosophischen Überlegungen. Er sprang hoch aus dem Sessel, setzte sich jedoch sofort wieder hin. Nein, er wollte jetzt mit niemandem sprechen. Der Anrufbeantworter spulte sein Verslein ab. Dann folgte die Stimme von Markus, der wissen wollte, ob er, der Angerufene, vielleicht zu Hause wäre; das sei aber offenbar ja wohl nicht der Fall, deshalb nehme er, der Anrufer, an, dass Florian wohl bei seiner Sangesschwester sei, schade, na dann bis die Tage, er melde sich. Ende, aufgelegt. Markus klang ein wenig enttäuscht. Hätte Florian nicht doch drangehen sollen, ihm erzählen, was passiert war, ihn auf ein Glas Wein einladen und vielleicht später eine gemeinsame Triebabfuhr? Aber war da heute überhaupt etwas abzuführen bei Florian? Nein, heute nicht. Heute wollte Florian sich nur noch in seinem Leid ergehen, nichts anderes. Fast genoss er es…

Er füllte das Weinglas nach und setzte seine Überlegungen fort. He walks along the open road of love and life surviving if he can, sang Mr. Gallagher. - Wo war er stehen geblieben? Richtig, die Treue. Auf ihre, und vielleicht auf die einzig wahre Weise, waren sich Sebastian und sein Freund also durchaus treu, vielleicht sogar mehr als viele andere Paare, die sich innerlich wie äußerlich schon lange weit voneinander entfernt hatten und nur noch aus Bequemlichkeit oder aufgrund von äußeren Zwängen, vielleicht wegen der Kinder oder des gemeinsamen Hauses, zusammen blieben. Schön und gut. Aber was hatte das alles nun mit ihm, Florian, zu tun? Er hatte das Pech, sich in Sebastian verliebt zu haben, ohne Hoffnung darauf, dass seine Gefühle erwidert würden, jedenfalls nicht in der Weise, wie man es sich wünscht, wenn man verliebt ist. Was wünscht man sich, wenn man verliebt ist, mehr als alles andere? Richtig: dem Objekt seiner Begierde nahe zu sein. Aber war es nicht genau das, was Sebastian ihm ermöglichen wollte, obwohl er einen Freund hatte? Gut, Florian hätte sich natürlich gewünscht, dass er dieser Freund gewesen wäre, aber die Vorstellung, die Rolle des Nebenfreundes, des Geliebten, des Verhältnisses zu spielen, war vielleicht doch gar nicht so abwegig, wie sie ihm anfangs erschienen war; das war immerhin besser als nichts und vielleicht einen Versuch wert. Vielleicht schaffte er es ja sogar, sich zumindest einzubilden, dass Sebastian etwas mehr für ihn empfand als pure Fleischeslust. Wobei eins klar war: wenn, dann nur Sebastian und er; Sebastians Idee einer Dreierkonstellation, wie auch immer die aussehen sollte, kam für ihn nicht in Frage, da konnte sein Freund noch so sympathisch und gutaussehend sein. Er wollte es gar nicht so genau wissen, ihm am besten niemals begegnen; er hätte nicht gewusst, wie er sich ihm gegenüber hätte verhalten sollen, vielleicht so: Hallo, ich bin Florian, ich ficke mit deinem Freund, und was machst du so?

Lag das am Wein, oder konnte er sich das tatsächlich vorstellen, auch morgen noch, wenn die phantasiefördernde Wirkung des Alkohols verflogen war? Andererseits, gab es diese Option überhaupt noch? Immerhin hatte er Sebastian unmissverständlich, wenn auch aus jetziger Sicht vielleicht etwas voreilig, zu verstehen gegeben, dass er an dieser Art der Beziehung nicht interessiert war. Um hierüber Klarheit zu bekommen, musste er Sebastian anrufen. Aber jetzt, heute noch? Es war kurz vor zehn, von daher wäre es kein Problem gewesen. Dennoch traute sich Florian nicht so recht. Was sollte er sagen? Wie würde Sebastian auf seinen plötzlichen Sinneswandel reagieren, womöglich ablehnend? Ach, auf einmal doch? Liebelein, jetzt brauchst du auch nicht mehr angekrochen zu kommen! Florian nahm einen weiteren Schluck Wein, seinen Mut zusammen und das Telefon in die Hand und begann Sebastians Nummer zu wählen. Er musste es versuchen, jetzt sofort; sein Verlangen, Sebastian bald wieder zu sehen, war größer als alle Bedenken. Es tutete an Florians Ohr. Ihm brach der Schweiß aus. Es tutete ein zweites Mal. War Sebastian nicht zu Hause? Vielleicht war er schon wieder auf der Suche nach einem Abenteuer, ein Gedanke, der Florian gar nicht gefiel, schließlich wollte er das Abenteuer sein, wenigstens das. Oder musste er das auch mit anderen teilen? Ein drittes Tuten. Sebastian schien wirklich nicht da zu sein, wie Florian mit einer Mischung aus Enttäuschung und diffuser Erleichterung feststellte. Dann meldete sich der Anrufbeantworter und spulte sein Sprüchlein ab, danach der bekannte Piepton. Florian überlegte, aufzulegen, es morgen noch einmal zu versuchen oder, noch besser, die Sache ganz zu vergessen. Wie hätte er das auch Markus erklären sollen, dass er jetzt die Affäre eines langjährig an einen Anderen gebundenen war, mit Option auf Spielchen zu dritt? Andererseits, war das wichtig, was Markus dachte, dass Markus es verstand? Der Anrufbeantworter wartete auf eine Nachricht. Lange würde er sicher nicht warten, also begann Florian:

„Hallo Sebastian, hier ist Florian… ich… ich wollte mich nur mal melden…“ Der Alkohol behinderte seine Zunge noch nicht, dennoch kamen die Worte nur stockend heraus. „Vielleicht können wir ja… also ich meine, dein Vorschlag, dass du und ich… also falls das noch gilt… jedenfalls würde ich dich gerne wieder sehen. Ich melde mich morgen bei dir, ja?“ Florian legte auf. Er war völlig aufgewühlt. Sein Gestammel gerade war ihm peinlich, sowohl von der Wortwahl als auch erst recht vom Inhalt her. Er verkorkte die etwas mehr als halb ausgetrunkene Weinflasche, genug für heute. Als er sie in die Küche trug, fasste er den Entschluss, in den nächsten Wochen überhaupt keinen Alkohol mehr zu trinken, besser war das. Er zog den Korken wieder heraus, kurz drauf ergoss sich die rote Flüssigkeit gluckernd in die Spüle. Wie würde Sebastian auf Florians dahingestammelten Anruf reagieren? Vor seinem geistigen Auge malte sich Florian aus, wie Sebastian den Anrufbeantworter abhörte, im Beisein seines Freundes oder eines Gespielen:

Florian? Wer ist Florian?, fragt dieser.

Keine Ahnung. Warte mal Florian… ach ja, das war so´n komischer Typ, den ich auf unserem Konzert aufgerissen habe und der mich gleich heiraten wollte. Nicht weiter wichtig.

Dann fallen sie wild und hemmungslos übereinander her.

Florian musste sich ablenken, auf andere Gedanken kommen. Weg von Sebastian. Aber wie? Rausgehen, was trinken? Nein, diese Möglichkeit schied aus, vorläufige Alkoholsperre, soeben verhängt. Außerdem wollte er ja heute allein sein und niemanden sehen, außer Sebastian natürlich. Was lesen? Nein, die dazu notwendige Konzentration hätte er jetzt nicht aufgebracht. Also blieb nur noch eine Möglichkeit: Den Fernseher einschalten und sich sinnlos berieseln lassen. Ja, das war eine zwar nicht gute, aber immerhin akzeptable Idee. Ohne sich weiter für das Gezeigte zu interessieren, schaltete Florian sich durch die angebotenen Programme. Bei einem Krimi, dessen Handlung er nicht folgen konnte, blieb er hängen. Auch egal. Er dachte an Sebastian. Wie gerne hätte er jetzt mit ihm zusammen diesen schwachsinnigen Krimi angeschaut, oder was auch immer. Jede Tätigkeit oder Untätigkeit, und wenn sie noch so zweckfrei war, hätte er als erfüllte Zeit empfunden, wenn Sebastian nur bei ihm gewesen wäre. Nichts zu machen, er ging ihm nicht aus dem Kopf.

Kurz vor Mitternacht schreckte Florian hoch; die Spannung des Krimis hatte nicht verhindern können, dass er vor dem Fernseher eingeschlafen war. Inzwischen lief eine alberne amerikanische Comedy-Serie mit nervtötendem permanentem Hintergrundlachen vom Band, welches den eingelullten Zuschauer auf die witzigen Stellen aufmerksam machte, auf dass er nicht zu lachen vergesse. Er schaltete den Fernseher aus und ging ins Bett, wo er nach wenigen Minuten in das Reich der Träume eintrat.

Das Telefon klingelte. Nicht mit dem gewohnten Düdelton, sondern so richtig mit einer Nerven zerfetzenden Klingel, wie früher das alte graue Bundespost-Wählscheibentelefon seiner Eltern. Florian tastete schlaftrunken nach dem Schalter der Nachttischlampe und drückte ihn. Die Lampe blieb dunkel. Vielleicht war die Birne kaputt oder ein Stromausfall. Florian kümmerte sich nicht weiter darum, stieg umnachtet aus dem Bett und tastete sich im Dunkel zum Telefon vor, das noch immer in seltsamer Schrillheit klingelte. Er nahm ab und meldete sich mit einem unwillig-kurzen „Ja?“. Stefanie war es, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie sprach mit merkwürdig verzerrter Stimme. Das was sie sagte, war nicht weniger merkwürdig.

Es tue ihr leid, dass sie ihn geweckt habe, aber es sei wichtig. Sie sei bei ihrer Ärztin gewesen, es gebe keinen Zweifel: Sie sei schwanger.

Was das mit ihm zu tun habe, fragte Florian, das hätte doch Zeit bis morgen gehabt. Aus irgendeinem Grunde fiel ihm das Sprechen schwer, so, als müsse er in einer fremden Sprache sprechen, die er nicht beherrschte, nach jedem Wort suchend in seinem lückenhaften Vokabelschatz.

Dreimal dürfe er raten, antwortete sie wie durch eine dichte Nebelwand, so dass er sie kaum verstand. Etwas schien mit dem Telefon nicht zu stimmen, erst das merkwürdige Klingeln, dann die kaum zu verstehenden Worte vom anderen Ende der Leitung. Aber das war jetzt unwichtig.

Nein, ausgeschlossen, dass könne nicht sein, er hätte doch immer mit Gummi…

Er solle mal an den Abend denken, als er sie mit Tobias überrascht habe, warf sie ein, als er anschließend wie ein Tier über sie hergefallen sei, was, nebenbei bemerkt, so ziemlich der beste Sex in ihrer ganzen Beziehung gewesen sei.

Florian fühlte, wie ihm er Boden unter den Füßen weggerissen wurde, so, als wäre jedes ihrer undeutlichen Worte ein Boxhieb in seine Magengrube gewesen. Benommen setzte er sich auf den Fußboden. – Ob sie sicher sei, dass er… da kämen doch sicher noch einige andere in Frage.

Nein, kein anderer, da sei sie sich ganz sicher.

Auch nicht dieser Tobias?

Nein, auch nicht Tobias, da hätten sie sehr aufgepasst.

Scheiße…

Ob er sich denn gar nicht freue, nun würde doch noch alles gut, sie wären bald eine kleine Familie.

Er wisse nicht, antwortete er, immer noch nicht glauben könnend, was er eben gehört hatte. Doch er wusste genau, dass er nicht für die Rolle des Familienvaters geboren war, nicht jetzt und auch nicht später. Kinder waren für ihn, seit er selbst keins mehr war, so etwas wie Wesen von einem anderen Stern, er konnte mit ihnen nichts anfangen. Sie nervten ihn, wenn sie auf der Straße, im Bus oder im Supermarkt herumplärrten, so lange, bis sie bei ihren willensschwachen überforderten Eltern endlich ihren Kopf durchgesetzt hatte. Dass er das früher genau so, wie wohl jedes Kind, versucht hatte, blendete er dabei stets erfolgreich aus. Die jungen Väter taten ihm leid, die ihm Kinderwagen schiebend auf der Straße begegneten. Er glaubte in ihren Blicken immer eine gewisse Verzweiflung angesichts ihrer väterlichen Verantwortung auszumachen. Den väterlichen Stolz, der ihnen oft gleichermaßen ins Gesicht geschrieben stand, nahm er nicht wahr. Von jeher war ihm der Gedanke, selbst einmal einen eigenen Ableger in einem Kinderwagen vor sich her zu schieben, völlig fremd. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass er mit dieser Einstellung ziemlich alleine dastand und dass er mit Äußerungen in diese Richtung nur selten auf Verständnis seiner Mitmenschen hoffen konnte, in deren Lebensplanung die Gründung einer Familie früher oder später fest vorgesehen war. Selbst sein Freund Simon plante ja jetzt einen Schritt in diese Richtung, und bestimmt würde es nicht lange dauern, bis seine Anke freudiger Erwartung wäre. Und genau in dieser in Florians Augen alles andere als freudigen Erwartung befand sich Stefanie jetzt auch? Das konnte einfach nicht sein. Er war doch jetzt schwul, und das nicht ungern; Kinder zu machen war den Hetenmännern vorbehalten, damit wollte er nichts zu tun haben. Wenn die sich unbedingt vermehren wollten, sollten sie das gerne tun, aber ihn bitte da raus halten. Überhaupt, wie sollte das denn gehen? Stefanie studierte noch, hatte kein geregeltes Einkommen, wie wollte sie denn das Kind überhaupt ernähren? Oder erwartete sie, dass er jetzt die Rolle des Ernährers übernahm? Würde sie womöglich sogar ihr Studium aufgeben und mit dem Kind zu ihm ziehen wollen, als kleine Familie, wie sie es eben ausgedrückt hatte? Ein Gedanke, der bei Florian in Anbetracht seiner liebgewonnenen Unabhängigkeit größtes Unbehagen hervorrief. Ob sie das Kind wirklich bekommen wolle, fragte er.

Selbstverständlich, antwortete sie, es sei schließlich ihr gemeinsames Kind, er könne doch wohl nicht ernsthaft annehmen, dass sie auch nur entfernt an eine Abtreibung denke. Das Schicksal habe es so gewollt, und sie sei froh darüber, dass es so gekommen sei. Sie habe auch schon ein paar Ideen, wie das Kind heißen solle, fügte sie begeistert hinzu; wenn es ein Junge würde, solle er Sebastian heißen, und ein Mädchen würde sie gerne Maria nennen.

Sebastian, warum ausgerechnet Sebastian, fragte er.

Ob er den Namen nicht schön finde.

Doch schon, es sei nur…

Seine komischen Männergeschichten solle er jetzt vergessen, er würde bald Vater, ein richtiger Mann, so wie die Natur es für ihn und alle anderen Männer auch vorgesehen habe. Das sei ja ohnehin nur so eine Phase gewesen, da sei sie sich ganz sicher, als Frau spüre man so etwas. Er werde schon sehen, wenn der kleine Sebastian oder die kleine Maria erst auf der Welt sei, würde er, Florian, sich selbst sehr wundern über diese vorübergehende Verirrung.

Das sei keine vorübergehende Verirrung, das sei nun einmal so, warum sie das nicht endlich begreifen könne.

Unsinn, fuhr sie dazwischen. Ob er sich denn gar nicht freue auf das Kind.

Bevor Florian antworten konnte, ging das Telefon erneut, dieses Mal mit gewohntem Düdeln. Er schreckte hoch und stellte fest, dass er wieder, oder besser immer noch, in seinem Bett lag, nassgeschwitzt nach einem schlechten Traum. Der Schreck über Stefanies freudige Mitteilung saß ihm noch in den Knochen. Selten war Florian so gerne aus einem Traum erwacht wie jetzt. Ach ja, das Telefon. Er knipste die Nachttischlampe an, die nicht länger die Abgabe von Licht verweigerte, und ging zum Telefon. Wer und was auch immer es war, es konnte nicht so schlimm sein wie kurz zuvor die Verkündung seiner nahenden Vaterschaft. Halbwegs freundlich, jedenfalls so gut wie es eben ging, wenn man aus dem Bett geklingelt wurde, meldete es sich daher nach Abheben des Hörers.

„Hallo Florian, hast du schon geschlafen?“, meldete sich Sebastians Stimme am anderen Ende.

„Ja… das heißt nein“, verfiel Florian sofort wieder ins Stammeln. Sebastian, wie schön! Er war plötzlich hellwach, keine Spur mehr von Müdigkeit. Stattdessen wohlige Wärme in der Bauchgegend. Und vielleicht eine Spur Geilheit.

„Ich komme gerade von einer Geburtstagsfeier nach Hause, und da höre ich deine Nachricht. Ist ja echt ne nette Überraschung! Ich würde dich auch gerne wiedertreffen, weißt du ja. Wann hast du denn Zeit?“

„Jetzt sofort…“, entfuhr es Florian, ohne dass er vorher darüber nachgedacht hatte, und er erschrak sofort über seinen eigenen Vorschlag. Immerhin trennte sie eine knappe Autostunde, und jetzt war es, ja wie spät war es eigentlich? Er schaute auf die Uhr: kurz nach zwei nachts, also eine Zeit, zu der man im Bett liegt und nicht mehr in der Weltgeschichte herum fährt. Aber die Freude über Sebastians Anruf und darüber, dass sein unmoralisches Angebot offenbar immer noch Bestand hatte, war stärker als die zu dieser nächtlichen Stunde gebotene Vernunft. Gerade wollte er sein spontanes Angebot mit einem Satz wie „oder vielleicht besser morgen“ zurück nehmen, als Sebastian antwortete:

„Ja prima, ich kann jetzt sowieso noch nicht schlafen. Willst du herkommen oder soll ich zu dir kommen?“

In Anbetracht der halben Flasche Wein, die Florian hinter sich hatte, entschieden sie sich für die zweite Möglichkeit. Sie konnten dann noch die zweite Hälfte vernichten, bevor sie sich anderen Genüssen hingeben würden. Ach nein, die war ja in der Spüle versickert. Egal, er hatte noch eine Flasche. Und danach würde dann die vorläufige Alkoholsperre für Florian in Kraft treten, wirklich!

Nachdem Florian Sebastian den Weg beschrieben hatte und das Telefongespräch mit „bis gleich!“ beendet worden war, fragte er sich, ob das jetzt wieder nur ein absurder Traum gewesen war. Er dachte an den Vaterschaftstraum. So ganz abwegig war das im Grunde genommen nicht, er hatte an dem bewussten Abend tatsächlich kein Kondom benutzt, darauf hoffend, dass Stefanie ihrerseits alle Vorkehrungen zur Vermeidung unerwünschter Nebenwirkungen getroffen hatte. Seitdem waren jetzt bestimmt sechs Wochen vergangen. Ab wann merkt eine Frau, dass sie schwanger ist? Er hatte sich mit solchen Fragen noch nie beschäftigt, wozu auch, Kinder waren nie ein Thema gewesen zwischen ihnen. Aber nein, wenn da was schief gegangen wäre, hätte sie sich bestimmt schon bei ihm gemeldet. Überhaupt wunderte er sich, dass sie sich seit seinem letzten Besuch bei ihr nicht mehr gemeldet hatte. Anscheinend hatte sie begriffen, dass sie ihn, zumindest als Partner und potenziellen Erzeuger und Ernährer irgendwelcher Kinder, verloren hatte. Vielleicht sollte er sich irgendwann mal wieder bei ihr melden, dachte Florian, schließlich waren sie nicht im Streit auseinander gegangen. Irgendwann mal.

Bis zum Eintreffen von Sebastian hatte er jetzt schätzungsweise noch eine knappe Stunde Zeit. Was sollte er damit anfangen? An Schlafen war jetzt nicht zu denken, dazu war er viel zu aufgekratzt vor Vorfreude. Vorfreude sei die schönste Freude, sagte man. Und in der Tat war die Hauptfreude etwas getrübt durch die Tatsache, dass Sebastian einen Freund hatte und dass der nicht Florian Schwerdt hieß. Aber hierdurch wollte Florian sich die wiederhergestellte gute Laune nicht verderben lassen. Sebastian war auf dem Weg zu ihm, er wollte die bevorstehenden gemeinsamen Stunden mit ihm genießen, alles Weitere sah man dann. Und vielleicht war das ja doch gar nicht so schlecht, der Geliebte zu sein, wobei er ja im engeren Sinne des Wortes gerade nicht der Geliebte war, denn die Liebe Sebastians galt ja eben nicht ihm, Florian, sondern irgendeinem Unbekannten namens Bernd. Gut, bei ehrlicher Betrachtung hätte Florian sich was Besseres vorstellen können. Vielleicht sollte er sich auch einfach nicht so viele Gedanken darüber machen und es stattdessen auf sich zukommen lassen, dachte Florian. Einfach. Als wenn das so einfach gewesen wäre…

Um die Zeit bis zu Sebastians Ankunft irgendwie totzuschlagen, schaltete Florian erneut den Fernseher ein. Ein Ehemann war gerade dahinter gekommen, dass seine Frau seit Monaten etwas mit seinem Arbeitskollegen hatte. Wie einem natürlichen Gesetz folgend, war ihre Ehe am Ende, man trennte sich. „Kommt Papi jetzt nie mehr zurück?“, fragte die kleine Tochter mit großen, unschuldigen Augen, als der Mann in sein Auto stieg. Sie wisse es nicht, antwortete Mami mit leerem Blick. Ein ganz normales Fremdgehdrama, wie es schon tausendfach zu sehen und zu lesen war oder wie man es vielleicht sogar aus dem eigenen Bekanntenkreis kannte: Mann liebt Frau, Mann fängt was mit einer anderen Frau an oder, wie in diesem Falle, umgekehrt, die Ehe ist unheilbar zerrüttet, die Trennung die logische Folge, alles andere wäre undenkbar. Bis vor kurzem hätte Florian das völlig normal und nachvollziehbar gefunden. Jetzt sah er das plötzlich mit anderen Augen. Warum musste ein Seitensprung immer zur Trennung führen? Gut, auch er hatte sich von Stefanie getrennt, nachdem er sie mit einem anderen erwischt hatte. Aber das war doch etwas völlig anderes, schließlich hatte er sowieso vor, sich zu trennen, und da kam ihr Seitensprung doch gerade recht. Andererseits, wäre es anders gelaufen, wenn er nicht vorgehabt hätte, Schluss zu machen? Vermutlich nicht. Aber man ist ja entwicklungsfähig, gestand er sich ein. Während er das Fernsehdrama halbherzig verfolgte, bemerkte er, dass er sich in einem alles andere als empfangsbereiten Zustand befand, eben genau so, wie wenn man gerade aus dem Bett kommt: nur mit Boxershorts und T-Shirt bekleidet, zerzauste Haare und einen schlechten Geschmack im Mund. Die Zeit bis zu Sebastians Eintreffen reichte noch allemal, um diesen Zustand zu ändern. Florian ging ins Bad, putzte sich die Zähne und duschte kurz. Danach zog er sich ein anderes T-Shirt und seine Jeans an. Beides würde er zwar voraussichtlich nach Sebastians Ankunft bald wieder ausziehen, aber zumindest den Anschein gewisser Formen wollte er doch wahren. Zufrieden mit seinem Äußeren und auch innerlich nicht unzufrieden ging er zurück ins Wohnzimmer, wo sich das in Auflösung begriffene Ehepaar gerade um das Sorgerecht für die kleine Tochter stritt. Seht ihr, ohne Kind hättet ihr dieses Problem jetzt nicht, wollte er dem Paar in falscher Selbstzufriedenheit zurufen, bemerkte aber schnell, dass es wohl vermessen war, seine noch neuen persönlichen Maßstäbe als allgemeingültig hinzustellen. Außerdem war es ja bloß ein Spielfilm.

Sebastian musste gleich kommen. Florian freute sich wie ein kleiner Junge zu Weihnachten, kurz bevor das silberne Glöckchen zur Bescherung rief. Auch in etwas tieferen Körperregionen war die Vorfreude nicht zu leugnen.

Draußen fuhr ein Auto vor, eine Autotür wurde zugeschlagen. Das musste er sein, wer sollte sonst um diese Zeit, wo anständige Menschen schlafen, vorfahren. Die Türglocke ging, dem besagten Silberglöckchen gleich. Bescherung. Gleich würde Florian sein Geschenk auspacken, während er selbst auch ausgepackt würde. Er wurde geil, konnte es kaum erwarten, über Sebastian herzufallen.

„Eine tolle Wohnung, die muss doch ein Vermögen kosten!“, bemerkte Sebastian anerkennend, als er das Wohnzimmer betrat. Er machte überhaupt nicht den Eindruck, als wenn er kurz vorher erst von einer Geburtstagsparty gekommen wäre, er roch nicht nach Zigarettenrauch und Alkohol. Offenbar hatte er, genau wie Florian, vorher noch „Toilette gemacht“, bevor er losgefahren war. „Hier, um unser Wiedersehen zu feiern“, sagte er und hielt Florian eine Weinflasche entgegen. Das kam Florian bekannt vor, aber er weigerte sich, jetzt an Frank den Arsch zu denken.

„Na die köpfen wir doch gleich mal“, antwortete Florian, seine vor erst wenigen Stunden verhängte Alkoholsperre vorübergehend außer Kraft setzend.

„Das hat doch Zeit“, entgegnete Sebastian, stellte die Flasche auf dem Wohnzimmertisch ab und fiel Florian um den Hals. Wild knutschend ließen sie sich auf dem Sofa nieder. Florian dachte nicht mehr darüber nach, was er tat, dachte nicht an Sebastians Freund, wo auch immer der jetzt war, und er dachte nicht an Markus, dem er das alles irgendwann mal begreiflich machen musste, was voraussetzte, dass er selbst das alles begriffen hatte. Das alles spielte jetzt keine Rolle. Seine Hände, sein Mund, alles agierte völlig automatisiert. Bald darauf saßen sie ohne T-Shirts und mit zu den Knöcheln heruntergelassenen Hosen nebeneinander auf dem Sofa, die Zunge im Mund des anderen. Derweil wühlten die Hände in der Unterhose des Gegenübers. Florian lehnte sich zurück und stöhnte auf, als sein Schwanz in Sebastians Mund versunken war. Von allen, die Florian bis jetzt hatte (und so viele waren das ja noch nicht), konnte Sebastian am besten mit Mund und Zunge agieren, einschließlich Stefanie, die Florian nur sehr selten in dieser Weise beglückt hatte, und wenn, dann auch nicht besonders geschickt. Was Sebastian jedoch mit seinen Lippen anzustellen wusste, war nahezu unbeschreiblich. Es hätte nicht viel gefehlt, und Florian wäre gekommen. Sebastian schien das gespürt zu haben, denn er unterbrach seine orale Betätigung und fragte mit frechem Blick:

„Zeigst du mir den Rest der Wohnung auch noch?“

Florian nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her. „Hier ist die Küche“, sagte er, wobei er natürlich wusste, dass Sebastians Wunsch einer Wohnungsbesichtigung sich weder auf die Küche noch auf das Gästeklo bezog. Aber um seine eigene Geilheit ein wenig herunterzufahren, wollte er nicht sofort das Schlafzimmer ansteuern.

„Soso, die Küche...,“ wiederholte Sebastian, während er Florian mit einem lüsternen Blick aus halb geschlossenen Augenliedern fixierte. Kurz darauf fand sich Florian rücklings auf seinem eigenen Küchentisch liegend wieder, die Beine in die Höhe und Sebastians Schwanz in sich. Das war zu viel, Florian kam fontänenartig, kurz darauf spritzte auch Sebastian seine Ladung auf Florians Bauch.

Noch immer nackt (Florian hatte in Erwartung der Ereignisse die Heizung im Wohnzimmer etwas höher gedreht als gewöhnlich) saßen sie aneinander geschmiegt auf dem Sofa und tranken den von Sebastian mitgebrachten Rotwein. Keiner sagte etwas, wobei jedoch nicht peinliches Schweigen und krampfhaftes Suchen nach einem Thema im Raume lag, sondern vielmehr einvernehmliche Stille zwischen zwei Menschen, die die Anwesenheit und Nähe des jeweils Anderen genossen, ohne dass darüber Worte zu machen gewesen wären. Florian, dessen Hirn nach der geilen Küchentisch-Nummer und der daraus folgenden Entladung vorläufig wieder frei war für andere Gedanken, musste wieder daran denken, dass nicht er die Nummer Eins war für diesen wunderbaren Menschen, den er gerade in seinem Arm hielt, sondern irgendein unbekannter Bernd. Sebastian ließ ihn das in keiner Weise spüren, und dennoch stand es im Raum wie ein störendes Geräusch. War es wirklich eine gute Idee, noch mal mit Sebastian Kontakt aufzunehmen, mit ihm Sex zu haben? Würde Florian auf Dauer damit klar kommen, immer nur die zweite Geige zu spielen? Er war verliebt, mehr als jemals zuvor, wissend, dass seine Gefühle nicht in gleicher Weise von Sebastian erwidert würden. Konnte das gut gehen, hatte das überhaupt Sinn, war die Idee mit dem Geliebten, oder wie man das auch immer nennen wollte, nicht doch bloß blanke Theorie? Gut, einen Versuch war es wert, aber war dieser Versuch aufgrund der nur einseitig vorhandenen Gefühle nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Florian wusste, ohne sich dieses Wissen einzugestehen, dass er sich auf Dauer nicht in die Rolle des Zweitfreundes fügen konnte. Der Wunsch, den anderen, den er noch nicht einmal kannte, den kennen zu lernen er auch keinen Drang verspürte, auszustechen und irgendwann seinen Platz in Sebastians Leben einzunehmen, würde allgegenwärtig sein, wann immer Florian mit Sebastian zusammen wäre. So gesehen wäre es das vernünftigste gewesen, die Sache sofort zu beenden und sich einen anderen Freund zu suchen. Aber wer fragte schon die Vernunft, wenn der wunderbarste Mensch nackt neben einem auf dem Sofa saß und einen mit seinen wundervollen Augen anschaute? Wozu diesen traumhaften Augenblick durch zweifelnde Gedanken trüben? Sebastian war jetzt hier, das war in diesem Moment das einzige was zählte. Was morgen oder übermorgen oder nächste Woche war, konnte warten. Florian lächelte Sebastian an und gab ihm einen Kuss. Sebastian streichelte Florian am Hinterkopf, dann ließ er seine Hand langsam herunterwandern. Der Vorhang hob sich für den zweiten Akt...

Florian lag erschöpft, aber hellwach in seinem Bett. Sebastian hatte sich an ihn gekuschelt, den Arm um Florians Brust gelegt. Aus seinem regelmäßigen Atmen schloss Florian, dass er tief und fest schlief. Wie schön wäre es gewesen, jeden Abend so zusammen einzuschlafen und am Morgen wieder genauso aufzuwachen. Florian malte sich den nächsten Tag mit Sebastian aus: Aufwachen, ficken, duschen, zusammen frühstücken, noch mal ficken, spazieren gehen, vielleicht in ein Café einkehren, abends zusammen ausgehen, danach ficken, einschlafen... das Leben konnte so schön sein!

Die Realität wich etwas von Florians Planungen ab. Als er gegen neun Uhr wach wurde, hatte Sebastian das Bett schon verlassen und war gerade dabei, sich anzuziehen.

„Was hast du denn schon vor um diese Zeit?“, fragte er schlaftrunken und hoffte auf eine Antwort, die sinngemäß lautete „ich gehe Brötchen holen, bleib nur liegen, ich bin gleich wieder bei dir.“ Jedoch:

„Ich muss zum Flughafen, Bernd abholen, er kommt heute zurück, habe ich das nicht erzählt?“

„Nein, hast du nicht“, antwortete Florian ohne jeden Versuch, seine Enttäuschung zu verbergen. Schlagartig, wie von einem Donnerschlag getroffen, war er wach und setzte sich im Bett auf. Soeben hatte ihn Sebastian, gewollt oder nicht, in seine Rolle als Ersatzfreund verwiesen, mit aller Deutlichkeit. Florian wurde klar, dass ihm das künftig immer wieder passieren würde, so lange er dieses Spiel mitmachen würde, wenn auch vielleicht nicht jedes Mal so überraschend wie jetzt.

„Nicht traurig sein!“, versuchte Sebastian zu trösten und gab Florian einen flüchtigen Kuss. „Sonntagabend fliegt Bernd für eine Woche auf Dienstreise, dann bin ich wieder ganz für dich da.“

„Verstehe...“, antwortete Florian resignierend und wenig überzeugt. „Wie ist er denn eigentlich so, dein Bernd?“, fragte Florian, nicht aus echtem Interesse heraus, sondern vielmehr, um die leicht gereizte Stimmung, die im Raume lag, ein wenig zu überspielen.

„Hier, das ist er“, antwortete Sebastian und hielt Florian ein Bild hin, das er aus seinem Portemonnaie gezogen hatte. Florian sah in das freundlich lächelnde Gesicht eines Herren mittleren Alters, irgendwo zwischen Ende Vierzig und Anfang Fünfzig, wie Florian schätzte. Die wenigen Haare, die ihm verblieben waren, trug er sehr kurz, in Gegensatz zu vielen Männern vergleichbaren Alters und Haarwuchses, die Florian kannte, die ihre wenigen Haare sehr lang wachsen ließen und dann verzweifelt versuchten, durch mehr oder weniger geschicktes Platzieren und Herüberkämmen dem Verbliebenen eine Art Frisur zu verleihen, die jedoch nicht darüber hinweg täuschen konnte, dass da nicht mehr viel zu frisieren war. Dagegen fand Florian die Konsequenz, mit der Bernd zur seinen wenigen Haaren stand, schon ehrlicher. Das also war der Mann, mit dem Sebastian schon so lange zusammen war. Sicher tat er ihm unrecht, und sicherlich hatte Bernd seine Qualitäten, die auf diesem Foto nicht direkt zu erkennen waren, aber wie war es möglich, fragte sich Florian, dass Sebastian diesen, mit Verlaub, alten Knacker, der fast sein Vater sein konnte, ihm, Florian, vorzog? Dass im Bett nicht mehr viel passierte zwischen den beiden, konnte Florian gut nachvollziehen. Ein Wunder eigentlich, dass da überhaupt etwas passierte, und er verspürte wenig Lust, sich Bernd auf dem Küchentisch vorzustellen, während Sebastian ihn... genug.

„Nett...“, entfuhr es Florian, um einen neutralen Ausdruck bemüht. Ihm fiel plötzlich der Satz „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“ ein, den er in dem Roman Zuhause gelesen hatte und den er danach sogleich auf die Liste der Zitate gesetzt hatte, die er sich unbedingt merken wollte. Unbemerkt von Sebastian musste er innerlich kurz aufgrinsen, als dieser wahre Satz vor seinem geistigen Auge aufblendete.

„Ja, ist er auch“, antwortete Sebastian, ohne den geringsten Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er das so meinte. „Auf den ersten Blick sieht man das zwar nicht gleich, aber du kannst mir glauben, er ist der wunderbarste Mensch, der mir je begegnet ist. Dabei ist das ja alles nicht so ganz einfach für mein Bärchen...“, fügte er mit einem liebevollen Blick auf das Foto an.

„Wieso, was meinst du? Er hat doch einen Traummann abbekommen.“ Nun erwachte Florians bis hierhin wenig ausgeprägtes Interesse an seinem Widersacher doch ein wenig. Man muss seinen Gegner kennen, wenn man ihn schlagen will, dachte Florian.

„Alter Schmeichler!“, lachte Sebastian und gab Florian einen Stupser auf die Nase. Dann erzählte er kurz (die Zeit drängte, er musste ja zum Flughafen) die Geschichte von Bernd, der verheiratet gewesen war, zwei Töchter hatte, irgendwann bemerkte, dass er mehr dem eigenen Geschlecht zugetan war, Scheidung, übler Rosenkrieg. Seine Frau brach dann jeden Kontakt zu ihm ab, und mit ihr auch die jüngere Tochter. Nur die ältere, inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt, traf er noch regelmäßig, ein sehr sympathisches Mädchen, Sebastian verstand sich gut mit ihr.

„Du kennst sie?“, fragte Florian verwundert.

„Klar, wir drei unternehmen oft was zusammen.“ Bernd litt sehr darunter, dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Exfrau und der jüngeren Tochter hatte. Kennen gelernt hatte Sebastian ihn in einer Bar, in die er mit seinen Sangesschwestern nach einem Konzert eingefallen war, um den erfolgreichen Abend zu begießen.

„Sind die Sangesschwestern eigentlich alle schwul?“, unterbrach Florian ihn.

„Was glaubst du wohl, warum wir uns so nennen?“, antwortete Sebastian grinsend. Jedenfalls war er mit diesem sympathischen älteren Typen, der sich als Bernd vorstellte, ins Gespräch gekommen, im Verlaufe dessen dieser Bernd ihn durch seine ganze Art mehr und mehr faszinierte. Ja, und seit diesem Abend waren sie ein Paar. „Jedenfalls“, schloss Sebastian seinen kurzen Abriss ihrer Geschichte, „ist er der wichtigste Mensch in meinem Leben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das irgendwann mal ändert.“

Na das ist doch eine klare Ansage, dachte Florian entmutigt. Aber wenn dieser Bernd doch so toll war, wieso vögelte Sebastian dann mit mir? Noch immer bereitete es ihm Schwierigkeiten, die Begriffe Sex und Liebe voneinander trennen. War er einfach noch zu heterosexuell konditioniert (er dachte kurz an den Film, den er vorhin im Fernsehen gesehen hatte) oder ganz einfach zu naiv, um das zu verstehen?

„Was hältst du davon, wenn wir morgen was zusammen unternehmen?“, fragte Sebastian plötzlich. „Dann lernst du Bernd mal kennen.“

Gar nichts hielt Florian davon. Der Geliebte sollte ganz offiziell dem betrogenen Gatten vorgestellt werden, womöglich mit anschließendem näheren Kennenlernen? Das überstieg Florians Verständnis von einer offenen Beziehung, in der er eine Rolle spielen sollte, die er noch nicht völlig beherrschte. Nein, das ging nun wirklich zu weit, oder zumindest einen Schritt zu schnell.

„Nein, ich glaube, lieber nicht...“, antwortete Florian, nach Gründen suchend, warum er das auf gar keinen Fall wollte. „Als was willst du mich denn vorstellen, als eine Sangesschwester vielleicht?“

„Du bist echt süß... mach dir darüber keine Gedanken, wir haben schon über dich gesprochen, Bernd weiß Bescheid über dich, und er würde dich gerne kennen lernen.“

Ich ihn aber nicht, dachte Florian. „Stellt ihr euch eure... äh... Verhältnisse immer gegenseitig vor?“

„Nein, meistens lohnt sich das ja auch gar nicht. Aber in deinem Fall finde ich schon, dass ihr euch kennen solltet.“

„Ihr seid echt ein verrücktes Paar“, stellte Florian fest, ohne weiter zu hinterfragen, warum gerade ihm die Ehre zuteil werden sollte, Bernds Bekanntschaft zu machen. Durfte er sich wirklich als eine Art Stellvertreter fühlen?

„Da könntest du vielleicht sogar recht haben“, bestätigte Sebastian lachend. „Also was ist nun, sehen wir uns morgen?“

„Nein, das geht leider nicht“, antwortete Florian, dem endlich ein Grund eingefallen war. „Ich bin morgen mit Markus verabredet.“ Das stimmte zwar nicht, aber das ließ sich ja ändern. Überhaupt hatte Florian Markus gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil er sich seit Tagen nicht bei ihm gemeldet hatte. Er nahm sich vor, ihn nachher anzurufen und sich mit ihm zu verabreden; es gab viel zu erzählen.

„Es war wieder schön mit dir“, sagte Sebastian, als sie sich im Hausflur verabschiedeten, „ich melde mich bei dir, ja?“

Florian ging zurück ins Bett. Schlafen konnte er jedoch nicht mehr, wie er bald bemerkte, wirre Gedanken umkreisten ihn. Er malte sich aus, wie ein Flugzeug zur Landung ansetzte. Kurz darauf wurde ein nahezu kahlköpfiger älterer Herr von einem attraktiven jungen Mann mit einer roten Rose in der Hand in Empfang genommen. – Kein Fick vor dem Frühstück. Und keinen danach. Florian schob die Bettdecke beiseite, zog die Unterhose ein Stück weit herunter und dachte an Sebastian. Besser als nichts…

9. Stadtbummel

„Ach, lebst du auch noch? Ich dachte schon, du hättest deinen Sänger geheiratet und ihr würdet euch für alle Zeit in seinem Traumschloss verschanzen.“ Der unüberhörbare Vorwurf, der in Markus´ Worten lag, machte Florian mehr als deutlich, dass er es mal wieder geschafft hatte, seinen inzwischen vielleicht einzigen wahren Freund wegen einer neuen Liebe oder dessen, was er dafür hielt, sträflich zu vernachlässigen.

„Ach Schatz“ (sie gaben sich inzwischen gerne Kosenamen; Florian bevorzugte Schatz, während Markus zumeist zwischen Süßer und Baby variierte), „wenn es so einfach wäre“, entgegnete Florian mit einem vernehmlichen Seufzen. „Du weißt doch, im Grunde liebe ich nur dich.“

„Wie bitte?“, kam es ehrlich erstaunt vom anderen Ende der Leitung.

„Ich dachte, das wüsstest du“, fügte Florian mit wenig Ernst in der Stimme hinzu. Da hierauf eine Antwort von Markus ausblieb, was insofern verwunderlich war, als dass Markus um einen schlagfertigen Spruch sonst nie verlegen war, aber vielleicht war er ja noch nicht richtig wach, es war ja erst kurz nach halb elf in der Frühe, fragte Florian: „Sag mal, was machst du heute?“

„Eigentlich war ich mit Sebastian verabredet...“

„Sebastian?!“

„Ja, Sebastian wieso? Ach so, nein keine Sorge, nicht dein Sänger; so´n Typ, den ich vor ein paar Tagen im Fritz kennen gelernt habe. Ganz nett eigentlich, aber wahrscheinlich genau so´n Arsch wie alle. Jedes Mal, wenn wir uns verabredet haben, sagt er kurz vorher ab, immer mit ´ner andern Ausrede. Heute ist seine Katze krank, das muss man sich mal vorstellen! Und da dachte ich mir, da ja keiner Zeit für mich hat“ (da war er wieder, der vorwurfsvolle Unterton, den Markus wirklich perfekt beherrschte), „fahre ich heute mal nach Mannheim, erst ein bisschen Geld ausgeben, dann mal sehen, was es im Kino gibt, und hinterher richtig schön abtanzen. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich danach ja noch was Nettes. – Wieso fragst du, singt ihr heute nicht im Duett?“

„Der singt heute aus einer anderen Partitur, fürchte ich. – Nimmst du mich mit?“

„Na mit dem größten Vergnügen, Baby. Habt ihr etwa schon Stress?“

„Nein, so kann man das nicht nennen. Ich hole dich in einer Stunde ab, ja? Dann erzähle ich dir alles.“

*

„Gib´s zu, du suchst dir immer extra diese komplizierten Typen aus, alles andere ist dir zu langweilig, stimmt´s? Ich kann dir gerne die Nummer von Sebastian geben, also dem mit der Katze, der würde sich gut in deine Sammlung einfügen.“ Sie saßen in Florians Wagen. Florian fuhr heute freiwillig, so war er wenigstens gezwungen, seine selbst auferlegte Alkoholsperre endlich einzuhalten, jedenfalls für diesen Tag. Die Scheibenwischer kämpften schon die ganze Zeit gegen den Regen an, der bereits seit heute morgen nieder ging, und es sah nicht im Entferntesten danach aus, dass sich daran heute noch etwas ändern würde. Zudem war es empfindlich kalt, also eigentlich ein Tag, an dem man lieber im Bett blieb anstatt einen Stadtbummel zu machen. Aber das war jetzt nicht wichtig. Florian freute sich, den ganzen Tag mit Markus verbringen zu können, eine bessere Ablenkung von Sebastian konnte er sich nicht vorstellen. Das heißt, von Ablenkung konnte im Moment keine Rede sein: Während der gesamten bisherigen Fahrt sprachen sie von nichts anderem. Florian hatte Markus in Kurzform die Geschichte von Sebastian, seinem Bernd, dessen Familienverhältnissen und seiner, Florians, Rolle als möglicher Ersatzfreund und seiner Überlegung, darauf einzugehen, erzählt.

„Vergiss es, Baby, das funktioniert nicht“, riet Markus ihm.

„Warum nicht? Einen Versuch ist es doch vielleicht wert“, erwiderte Florian, obwohl er die Antwort selbst kannte und wusste, dass Markus Recht hatte.

„Ganz einfach: Weil du verliebt bist und er nicht. Jedenfalls nicht in dich. Glaub mir, so einseitige Sachen funktionieren nicht, ich kenne mich damit aus. Und nehmen wir mal an, rein hypothetisch, er würde sich von seinem väterlichen Freund trennen und du würdest dessen Platz einnehmen: Glaubst du das würde so toll werden? Sechs Jahre Beziehung, die wirft man nicht mal eben weg, das würdest du schon zu spüren bekommen: ,Mit Bernd habe ich das immer so und so gemacht; Bernd hätte dazu das und das gesagt; Bernd hier, Bernd da.´ Und stell dir mal vor, ihr würdet Bernd irgendwo auf der Straße begegnen, könntest du ihm dann guten Gewissens in die Augen schauen?“

„Ja, ja, du hast ja Recht... och Mann, warum muss das immer so schwierig sein, warum lerne ich nicht endlich mal einen kennen, mit dem es einfach nur funktioniert? Ich glaube ich werde wieder hetero, Stefanie würde mich vielleicht sogar zurück nehmen.“ Mit Unbehagen fiel ihm die traumhafte Vaterschaft der vergangenen Nacht ein. „Nein, besser doch nicht...“

Nach einer Pause sagte Markus: „Manchmal bemerkt man vielleicht gar nicht, dass man sein Glück längst gefunden hat und nur noch zugreifen muss.“

„Was meinst du damit?“

„Fahr mal die nächste Abfahrt runter“, wechselte Markus das Thema, „ich kenne da einen günstigen Parkplatz.“

Den kurzen Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Markus war heute anders als sonst, nicht so locker und witzig wie sonst, hatte Florian den Eindruck. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Hatte er sich vielleicht ein wenig in Katzen-Sebastian verguckt und ärgerte er sich nun, dass der ihn immer nur versetzte? Florian wurde plötzlich klar, dass sie sich die ganze Zeit über nur mit seinen Problemen beschäftigt hatten und er hielt es für richtig, das Thema Sebastian, also seinen oder korrekter: Bernds, für den Rest des Tages nicht mehr anzusprechen.

Als sie in Mannheim ankamen und den Wagen abstellten, war der Regen in ein leichtes Nieseln übergegangen. Nur die fast schon winterliche Kälte zog sofort durch ihre Jacken und Hosenbeine, so dass sie sich so wenig wie nötig draußen aufhielten und stattdessen so schnell wie möglich die angenehme Wärme diverser Kaufhäuser, CD-, Klamotten- (wie Florian es nannte, Markus drückte es mit Boutique etwas gewählter aus) und sonstiger Läden suchten und fanden. Dabei kam das Geldausgeben nicht zu kurz: Markus kaufte sich ein Hemd, eine Jeans, mehrere T-Shirts sowie die DVD eines alten Louis-de-Funés-Films, die er im Sonderangebot entdeckt hatte; Florian erstand mehrere CDs, unter anderem die neue von Oasis, ein Paar Sportschuhe, die, die er schon immer gesucht, aber nie gefunden hatte, einen Pullover sowie das neue Comic von Ralf König. Neue Unterhosen hätte er auch gebraucht, doch hielt er den Erwerb von Unterwäsche, seit seine Mutter das nicht mehr für ihn erledigte, aus unerfindlichen Gründen für etwas sehr intimes, was er stets alleine erledigte, warum auch immer. Selbst Stefanie durfte nie dabei sein.

Fast vier Stunden, die wie im Fluge vergangen waren, und unzählige Einkaufstaschen und –tüten später hatten sie sich mit ihren Neuerwerbungen in einem Café in der Innenstadt niedergelassen, wo sie sich von den mehr oder weniger angenehmen Strapazen der vorangegangenen Einkäufe erholten.

„Geldausgeben macht durstig“, meinte Markus und ließ sich ein großes Bier kommen, während Florian, nicht ganz ohne Herzbluten, gleichwohl seiner eigenen Disziplin gehorchend, mit einem großen (und herrlich warmen) Kaffee und einem Stück Schokoladentorte mit Sahne Vorlieb nahm. Zunächst war er versucht, Eierlikörtorte zu bestellen, aber er wollte das Alkoholverbot heute in aller Konsequenz durchziehen. Erschöpft, aber zufrieden genossen sie schweigend die Wärme, die langsam durch ihre Kleidung drang und sie die eben noch allgegenwärtige Kälte schnell vergessen ließ. Der Regen war wieder stärker geworden, jetzt vermischt mit einzelnen fetten Schneeflocken, die gegen die Fensterscheibe des Cafés platschten, wo sie auseinanderstiebend kurz kleben blieben und dann langsam und sämig eine nasse Spur hinterlassend nach unten glitten. Weitere mit Tüten bepackte Einkaufsbummler betraten das Café, wo sie offenbar kurz entschlossen Zuflucht vor dem unfreundlichen Wetter suchten.

„Und was gibt´s bei dir neues an der Männerfront?“, fragte Florian, der als erster von beiden aufgetaut war und damit ihr einvernehmliches Schweigen beendete.

„Wie soll ich es nennen – eigentlich nicht viel. Es entwickelt sich halt nicht ganz so, wie ich es gerne hätte.“

„Ja, ja, diese blöden Sebastians...“, seufzte Florian, wobei er erst, nachdem er es ausgesprochen hatte, bemerkte, dass er schon wieder bei seinem Thema war, was er doch für den Rest des Tages zu vermeiden beabsichtigt hatte. Offenbar war das leichter gedacht als getan. Dann aber ab jetzt, dachte er: Kein Wort mehr von ihm über Sänger-Sebastian, sonst Alkoholsperre für die nächsten vier Monate, diese Strafe hielt er für angemessen.

„Ach der... nein, den habe ich schon in der Kategorie k.d.v. abgelegt“, antwortete Markus.

„K.d.v.?“

„Kannst du vergessen. Außerdem kann ich Katzen nicht ausstehen. Stell dir mal vor, wir vögeln nett und plötzlich springt so´n Vieh aufs Bett, da fällt doch sofort alles in sich zusammen.“

„Aber was soll sich denn sonst entwickeln, hast du noch wen anderes im Auge?“

„Ja, das heißt nein, eigentlich nicht... ach ich weiß auch nicht.“ Markus spielte sichtlich nervös an dem Gesteck aus künstlichen Blumen herum, das auf ihrem Tisch stand. „Du kennst ihn sogar...“ Jetzt wurde er rot.

„Ich kenne ihn? Interessant.“ Florian ging innerlich die Liste ihrer gemeinsamen Bekannten durch, die jedoch sehr kurz war, wenn man mal die alten Mitschüler von früher beiseite ließ. Darauf standen nach erster Durchsicht nur der Oberarsch Frank, der wohl kaum gemeint sein konnte, und Markus´ überaus sympathischer und dennoch unzweifelhaft heterosexueller Kollege Christian, und seine Frau natürlich (deren Name Florian momentan entfallen war, er konnte sich einfach keine Frauennamen merken, woran auch immer das lag). Von denen konnte es schon mal keiner sein. Aber wer dann, hatte er noch jemanden übersehen? „Nein, keine Ahnung, wen du meinst. Also, wer ist es?“

„Vergiss es“, sagte Markus, während er das künstliche Gesteck langsam aber sicher in seine Einzelteile zerlegte, ohne dass die rote Verfärbung seiner Gesichtshaut an Intensität abgenommen hätte. „Wollen wir gleich mal los und sehen, was es im Kino gibt?“, unternahm er den fast schon verzweifelt zu nennenden Versuch, von diesem ihm sichtlich unangenehmen Thema möglichst schnell möglichst weit abzulenken.

„Jetzt schon? Wir haben doch noch Stunden Zeit.“ Florian schaute erst auf seine Uhr, dann nach draußen, wo inzwischen dichter Schneeregen vom eisigen Wind gegen das Fenster gepeitscht wurde. Hier im Café war es schön warm, und er wollte schon gerne erfahren, auf wen sein Freund Markus ein Auge geworfen hatte, ob ihm das nun unangenehm war oder nicht. Es konnte ja wohl nicht angehen, dass er ihn erst neugierig machte und dann jede weitere Auskunft verweigerte. „Nun sag schon! Eher rühre ich mich nicht vom Fleck.“

Was soll ich sagen?“, fragte Markus überflüssigerweise.

„Na wer dein Herz gebrochen hat“, antwortete Florian grinsend.

„Florian, bitte...“ Markus nannte ihn Florian, was höchst selten, und wenn, dann nur in besonders ernsten Situationen vorkam. Spätestens dies war das Signal für Florian, aufzuhören nachzubohren. Die künstlichen Blumenteile waren inzwischen weiträumig über den Tisch verstreut. Florian wollte gerade aufgeben und das Thema wechseln, als Markus von sich aus weiter sprach, so, als wollte er etwas, das er schon lange mit sich herumgetragen hatte, endlich loswerden. „Weißt du, ich bin total froh darüber, dass wir uns wieder begegnet sind und dass wir uns so gut verstehen.“ Jetzt war Florians unbenutzte Papierserviette dran, die Markus nach und nach in kleine Schnipsel zerrupfte. „Und ich möchte unsere Freundschaft, die mir echt viel bedeutet, das kannst du mir glauben, nicht aufs Spiel setzen.“

„Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Was hat das mit uns zu tun? – Moment mal – ist es etwa Sebastian, mein Sebastian?“ Erschrocken und scheinbar plötzlich völlig klar sehend wollte Florian gerade zwei Personen von der Liste der Menschen, mit denen er künftig noch Umgang pflegen wollte, streichen, doch Markus erwiderte:

„Quatsch, den habe ich doch nur einmal neulich bei dem Konzert gesehen. Den kenne ich doch gar nicht. – Bitte frag nicht weiter, lass uns über was anderes reden. Außerdem bist du doch verliebt. Scheiße...“

„Du meinst – sag mal, kann es sein, dass derjenige, den du meinst, die ganze Zeit hier im Café ist?“ Jetzt war es Florian, dessen Gesichtsfarbe sich veränderte, allerdings ins Blasse.

Markus schaute ihn mit einem entschuldigenden Blick an und nickte stumm.

„Du meinst, ich...?“

„Ich weiß, das ist total bescheuert, aber was soll ich machen? – Vergiss es einfach, ja?“, wiederholte Markus.

„Ach Schatz!“ Florian lächelte Markus an, obwohl er sich noch nicht ganz sicher war, ob das jetzt dessen Ernst war oder ob er nur plötzlich zu seinem sonst üblichen Humor zurück gefunden hatte. Aber danach sah er nicht aus, im Gegenteil, er war sehr verlegen, so, wie Florian ihn bislang noch nie erlebt hatte. Dann langte er über den Tisch und legte seine Hand auf die von Markus, der die Papierschnipsel-Erzeugung kurz zuvor eingestellt hatte. „Und wenn ich es gar nicht vergessen will?“

„Du meinst, wir beide, du und ich, das könnte...“

„Einen Versuch ist es doch wert, oder? Genug geübt haben wir ja wohl schon. Mann, wenn ich gewusst hätte, dass du... Du hattest Recht, manchmal übersieht man sein Glück einfach.“ Sie schauten sich tief in die Augen, immer noch quer über den Tisch Händchen haltend. Die Bedienung kam heran, schaute zuerst missbilligend auf das zerstörte Gesteck, dann auf die ineinander verschlungenen Hände der beiden Jungs, ein für sie offenbar ungewohnter Anblick (die Hände, nicht so sehr das Gesteck, das kam hier öfter vor, wenn auch sonst von wesentlich lautstärkeren Auseinandersetzungen begleitet).

„Darf´s noch etwas sein?“, fragte sie zickig.

„Ja, zwei Glas Sekt bitte!“, antwortete Florian, der es zur Feier des denkwürdigen Momentes für angemessen hielt, sich selbst eine einmalige befristete Ausnahmegenehmigung von seiner Alkoholsperre zu erteilen.

„Aber was ist mit deinem Sänger? Ich denke, du bist so verliebt in ihn“, gab Markus zu bedenken, nachdem sie mit dem Sekt angestoßen und sich über den Tisch hinweg, zur Irritation mancher Café-Gäste, einen Kuss gegeben hatten.

„Was soll mit dem sein? Ich werde weiterhin mit ihm ficken. Liebe und Sex sind zwei getrennte Dinge, das hast du selbst gesagt.“ Florian musste grinsen, da Markus ihn entgeistert ansah. „Nun guck nicht so geschockt, das war ein Scherz. Er wird sich einen anderen Ersatzfreund suchen müssen. Ich habe doch jetzt einen viel besseren!“

„Wenn du es sagst“, strahlte Markus ihn an. „Vielleicht sollte ich mich mal bei ihm bewerben!“

„Untersteh dich!“, lachte Florian.

*

Sie hatten sich für den Film Sommersturm mit Robert Stadlober entschieden. Den hatte Markus zwar schon gesehen, aber er hatte ihm so gut gefallen, dass er ihn sich gerne ein zweites Mal ansah. Ohnehin wäre es ihm völlig egal gewesen, welchen Film sie schauten, selbst wenn es der vierundzwanzigste Terminator-Film gewesen wäre (er hasste Actionfilme aller Art), Hauptsache, Florian saß neben ihm, dessen Hand er halten konnte.

Nach dem Film, als sie mit der Menge in Richtung Ausgang strebten, erblickte Florian das Gesicht eines Herrn mittleren Alters, den er irgendwoher kannte, aber nicht sofort zuordnen konnte. Jemand aus seiner Firma? Nein. Dann fiel es ihm ein: Der Mann war Bernd, der Freund von...

„Florian, was machst du denn hier?“, kam Sebastian auf ihn zugeschossen, sichtlich freudig überrascht, und zog ihn gleich in Richtung seines Freundes. Markus folgte unaufgefordert und von Sebastian unbeachtet. „Darf ich vorstellen“ (zu Bernd), „das ist Florian, von dem ich dir erzählt habe; und“ (zu Florian) „Bernd, mein Freund.“

Das Bärchen, wie Florian belustigt in Gedanken ergänzte.

Die Vorgestellten nickten sich mit einem unterkühlt-knappen Hallo zu, ohne sich die Hand zu geben. Es war nicht zu übersehen, dass beide auf die Bekanntschaft des anderen keinen gesteigerten Wert legten. Florian, dem von Anfang an nicht viel daran gelegen war, wunderte sich dennoch etwas über das distanzierte Verhalten seines Gegenübers. Hatte Sebastian nicht gesagt, Bernd würde ihn gerne kennen lernen? Na gut, das hatte er ja jetzt, und jemanden zu kennen bedeutet ja noch lange nicht, ihn auch zu mögen. Sebastian plapperte unterdessen munter weiter:

„In welchem Film warst du? Was machst du jetzt noch?“ Von Markus, der etwas unglücklich direkt daneben stand, nahm er nach wie vor keine Notiz.

„Du bist das also...“, ergriff nun Bernd- Bärchen das Wort, ohne auf den vorangegangenen Fragenkatalog seines wesentlich jüngeren Freundes einzugehen oder gar die Antworten des Gefragten abzuwarten. Seine Augen, die Florian kühl und durchdringend ansahen, sagten deutlich: „Komm mir bloß nicht ins Gehege, das ist meiner!“ Es war offensichtlich, dass er Florian nicht mochte, was dieser ein Stück weit verstehen konnte – je nachdem, was Sebastian alles erzählt hatte (er musste plötzlich wieder an seinen Küchentisch denken) – und was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Egal, man mochte sich nicht, und Florian sah keinen Grund, daran etwas zu ändern.

„Und das ist Markus, mein Freund“, stellte Florian eben diesen genüsslich vor, und fügte, an Sebastian gewandt, hinzu: „Na ihr kennt euch ja schon“, was diesem einen weiteren misstrauischen Blick seines Bärchens bescherte. Offenbar war ihre Beziehung doch nicht ganz so offen, jedenfalls nicht von Bernd aus, wie Florian mit einem gewissen inneren Genuss bemerkte.

„Dein Freund?“, fragte Sebastian überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass ihr zusammen...“

„Das kannst du auch nicht wissen, das ist ganz frisch“, erklärte Florian und gab Markus einen Kuss.

Das hierauf eingetretene teilweise betretene Schweigen nutzte Florian, um sich und Markus zu verabschieden, bevor Sebastian noch auf die Idee gekommen wäre, vorzuschlagen, man könne an diesem Abend doch gemeinsam was unternehmen. Im Gehen sagte er noch das berühmte Ich-ruf-dich-an zu Sebastian, dann verließen sie das Kino, vorbei an der Warteschlange für die Spätvorstellung.

Später, als sie im Auto saßen auf dem Weg in die Disco Z222, fragte Markus:

„Das war sein Freund, mit dem er schon so lange zusammen ist? Erstaunlich.“

„Ja, ein echter Sympathieträger, nicht?“, lachte Florian. „Aber du weißt ja, wo die Liebe hinfällt...“ Er griff hinüber zu Markus´ Hand, die auf dessen linken Oberschenkel ruhte. Nach einigen Kilometern fragte er: „Seit wann weißt du eigentlich, dass du dir mit mir etwas mehr vorstellen könntest?“

„Na ja, als ich dich nach all den Jahren wieder getroffen habe, dachte ich mir, dass du ein ganz attraktiver Bursche bist, das war mir während der Schulzeit gar nicht so aufgefallen.“

„Da gab´s halt genug noch viel Attraktivere“, kokettierte Florian.

„Ja, die dann alle früher oder später mit einem Mädel an der Hand durch die Gegend liefen. Außerdem, wen an unserer Schule fandest du denn attraktiv?“

„Ich war damals hetero, darfst du nicht vergessen. Obwohl, so rückblickend... nein, fällt mir auf Anhieb keiner ein. – Doch, da war was mit einem auf der Klassenfahrt in der Zehn, ich kann mich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern.“

„Spinner!“, lachte Markus und drückte Florians Hand fest zusammen. „Jedenfalls, richtig gefunkt hat es bei mir, als wir neulich diese Sache mit Frank ausgeheckt haben. Na ja, und als du dann diesen Sänger kennen gelernt hast, war ich zum ersten Mal richtig eifersüchtig. Da war mir klar, dass ich wohl ein bisschen verknallt in dich bin.“

„Deshalb warst du so zickig!“, lachte Florian.

„Ich und zickig? Niemals!“ Lachend fuhren sie durch das verregnete Dunkel ihrem vorläufigen Ziel, dem Z222 entgegen.

*

Vor dem Z222 hatte sich schon eine Schlange gebildet, als sie ankamen. Einige ganz Harte, die das Geld für die Garderobe sparen wollten, hatten ihre Jacken im Auto gelassen und bibberten im T-Shirt in der Kälte, was sie sich nach Möglichkeit natürlich nicht anmerken ließen, bis sie endlich, vorbei an den bulligen kahlköpfigen Türstehern, in die Wärme der großen Halle eintauchen durften, aus der die hämmernden Bässe nach draußen drangen. Florian und Markus hielten es jedoch für gut angelegtes Geld angesichts der Kälte und der Länge der Schlange, die noch vor ihnen war, und behielten ihre Jacken an. Dennoch, um sich gegenseitig etwas zu wärmen, legte Markus seinen Arm um die Schulter seines Freundes.

„Ey guck mal, zwei Schwuchteln!“, hörten sie eine Stimme hinter sich. Florian erschrak und tat so, als hätte er es nicht gehört. Markus nahm seinen Arm von Florians Schulter, drehte sich langsam um und sah sich zwei höchstens zwanzigjährigen Buben gegenüber, die ihn feixend angrinsten.

„Du kleiner dämlicher Pisser“, sprach er einen von beiden an, „hast du irgendein Problem?“

Florian erschrak über den für ihn ungewohnt aggressiven Tonfall seines Freundes, den er nicht erwartet hätte, und rechnete innerhalb der nächsten Sekunden mit dem Beginn einer Schlägerei, zumindest mit einer Rangelei. Die beiden Buben hatten indes wohl auch nicht mit einer solchen Ansprache der Schwuchtel gerechnet; ziemlich kleinlaut entschuldigten sie sich, es sei nicht so gemeint gewesen.

„Dann ist es ja gut“, sagte Markus in einem alles andere als versöhnlichen Ton und drehte sich wieder um.

„Du bist echt mutig“, bemerkte Florian leise, „das hätte auch anders ausgehen können.“

„Habe ich dir nicht erzählt, dass ich Karate mache? Das gibt einem eine gewisse Selbstsicherheit bei solchen Arschlöchern“, antwortete Markus etwas lauter.

„Gut zu wissen, dann muss ich ja künftig vorsichtig bei dir sein“, lachte Florian.

„Ja, pass bloß auf!“, antwortete Markus lachend und zog Florian zu sich heran.

*

Die große Tanzfläche war heute ein brodelndes Meer tanzender Leiber. Und mitten drin Florian und Markus. Sich gegenseitig in die Augen schauend, tanzten sie sich lächelnd an; die um sie herum tanzenden nahmen sie kaum wahr. Florian betrachtete glücklich und stolz seinen Freund, der zu dem hämmernden Rhythmus gerade eine Art Balztanz aufführte. Er trug ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt, und um den Hals eine Kette aus kleinen Muscheln. Seine nach außen hin leicht ansteigenden Augenbrauen unterstrichen seine markanten fast jungenhaften Gesichtszüge mit den dunklen Augen, deren Blick mit Florians verschmolz. Markus hob seine Arme in die Höhe, so dass sich seine Hände über dem Kopf berührten, schloss die wunderbaren Augen und lehnte den Kopf zur Seite gegen den gehobenen Arm, dazu bewegte er die Hüfte in heftigen Ausschlägen zur anderen Seite, dem Schlag der Bässe folgend. Hierdurch hob sich das T-Shirt an und gab einen Blick frei auf seinen Bauchnabel, der von einem Band schwarzer Haare umgeben war, der „Liebesstraße“, wie er es nannte. Natürlich wusste Florian längst, wohin diese Straße in beiden Richtungen führte, und doch sah er diesen Körper vor sich heute mit ganz anderen Augen. Auf der Stelle hätte er über Markus herfallen können. Noch immer fragte er sich, ob es wirklich sein konnte, dass es im Grunde so einfach war, dass er das schon viel früher hätte haben können.

„Wollen wir gleich mal?“, brüllte Florian gegen die Musik an, Markus direkt ins Ohr.

Markus lächelte ihn an, als hätte er schon lange auf diese Frage gewartet, und nickte.

10. Wenn es am schönsten ist...

Das Auto raste durch die Nacht über die freie Autobahn. Der Regen schien sich der Nachtruhe hingegeben zu haben, die Scheibenwischer hatten nichts mehr zu tun. Keiner von beiden sagte etwas. Florian hatte die neu gekaufte Oasis-CD eingelegt, die nur leise die Fahrgeräusche untermalte; laute Musik hatten sie in den vorangegangenen Stunden genug, so dass die leisen Klänge jetzt wohltuend waren für ihre noch etwas tauben Ohren. Florians rechte Hand ruhte wieder in Markus´ linker auf dessen Oberschenkel. Florian freute sich auf ihre erste echte gemeinsame Nacht. Zwar hatten sie schon oft Sex miteinander (worauf sich Florian nicht minder freute), aber noch niemals hatten sie hinterher die Nacht gemeinsam verbracht. Irgendwie hätten das beide als ein unangemessenes Zuviel an Nähe empfunden; ihr bisheriger gemeinsamer Sex diente bislang einzig und allein der freundschaftlichen gegenseitigen Triebabfuhr, mehr nicht. Jedenfalls nannten sie es so. So war es unausgesprochen folgerichtig, dass sie sich nach vollzogener Tat stets trennten, bis zum nächsten Mal. Doch jetzt war die Situation eine andere, zum ersten Mal konnte Florian mit Markus als seinem Freund im Arm einschlafen und ihm am nächsten Morgen das Frühstück bereiten, als Auftakt zu hoffentlich vielen gemeinsamen Nächten, Frühstücken und natürlich Tagen, Tage so schön wie dieser.

Seinen Vorsatz, heute keinen Alkohol zu trinken, hatte Florian, bis auf das Glas Sekt vorhin in dem Café, aber das musste sein und lag Stunden zurück, konsequent eingehalten. Und doch hätte er auch bei umsichtigster Fahrweise das Kommende unmöglich verhindern können. Er sah nicht die Gestalten, die sich im Dunkel der Nacht auf der Brücke aufhielten, die die Autobahn überspannte und der sich der Wagen mit ungefähr Hundertsechzig näherte, und die nur auf das nächste Auto warteten, egal welches, egal wer darin saß. In derselben Sekunde, in der ein großer, schwerer Gegenstand krachend die Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite durchschlug, verriss Florian das Lenkrad, der Wagen überschlug sich mehrfach, schleuderte über die Leitplanke hinweg, raste die Böschung hinab und krachte vor einen Baum.

Dann war nichts mehr. Stille, die keiner wahrnahm.

Im Polizeibericht würde später stehen, dass der Beifahrer nach Einschlag des etwa zehn Kilogramm schweren Feldsteines, den Unbekannte von der Brücke geworfen hatten, auf der Stelle tot war. Der Fahrer wurde mit schweren Verletzungen in das nächstgelegene Krankenhaus eingeliefert. Die Täter, vermutlich Jugendliche aus der näheren Umgebung, konnten noch nicht ermittelt werden.

Es war kein Mord, nur ein Dummer-Jungen-Streich. Ein sehr dummer.

Vielleicht wäre es ein Trost für seine Hinterbliebenen gewesen, dass Markus in dem Augenblick, als für immer das Licht für ihn ausging, so glücklich war wie niemals zuvor.

*

„Sie haben wirklich großes Glück gehabt, Herr Schwerdt“, redete ein weiß gekleideter Mann wie durch eine dichte Nebelwand auf Florian ein. Kurz zuvor war Florian aufgewacht in einer ihm völlig fremden Umgebung, die bestimmt war vom Piepen verschiedener Apparate und Geräte, und die ihm unheimlich war. Sein Kopf tat ihm weh, schlimmer als nach dem schlimmsten Kater, denn er je erlebt hatte (und das waren schon einige, auch einige wirklich schlimme), er spürte starke Schmerzen im Brustbereich, dafür hatte er kein Gefühl in seinem linken Arm, so als ob der nicht mehr da gewesen wäre.

„Wo bin ich?“, hörte es sich fragen. Vielleicht war es auch jemand anders, der für ihn gefragt hatte, er konnte es nicht genau sagen, er war völlig benommen. Wenn Stefanie jetzt dazugekommen wäre mit einem Kleinkind auf dem Arm und den Worten „Guck mal, da ist der Papa“, hätte ihn das nicht besonders verwundert. Vermutlich träumte er wieder, sicher würde er gleich aufwachen und alles wäre wie immer.

„Sie befinden sich im Franziskus-Krankenhaus“, antwortete der Herr in Weiß stattdessen. Möglicherweise hatte er sich auch namentlich vorgestellt, aber Florian konnte sich nicht erinnern. Dann zählte er eine ganze Reihe von Verletzungen auf, die ihm, Florian, widerfahren sein sollten, und die dieser sich nicht gleich alle merken konnte, zu unwirklich kam ihm das ganze vor, noch immer hoffte er, gleich in seinem Bett zu Hause aufzuwachen. Mehrere gebrochene Rippen, komplizierter Bruch des linken Armes, Gehirnerschütterung waren die einzigen Gebrechen, die bei Florian hängen blieben. So langsam kam die Erinnerung wieder: Die Nacht, die Autobahn, der plötzliche laute Knall, der sich überschlagene Wagen, Markus. Markus! Nein, es musste ein Traum sein, es durfte nichts anderes als ein schrecklicher Traum sein, bitte!!

„Warum bin ich hier?“, fragte Florian vorsichtig.

Der Arzt erzählte ihm, was passiert war.

„Was ist mit Markus?“ Scheiß Traum, geh zu Ende, ich will endlich aufwachen!

„Der junge Mann, der mit ihnen im Auto saß? Standen sie ihm nahe?“

„Was ist mit ihm?“, wiederholte Florian etwas energischer, woraufhin sogleich ein messerscharfer Schmerz seinen Brustbereich durchzog.

„Es tut mir sehr leid, der hatte nicht so viel Glück wie Sie.“

„Heißt das, er ist... ist er...“

„Der Stein hatte ihn voll am Kopf getroffen, er war auf der Stelle tot. Es tut mir leid“, wiederholte der Arzt.

Der Schmerz, der Florian daraufhin traf, war schlimmer als die Schmerzen in seiner Brust und im Kopf. Tränen schossen ihm in die Augen, die die unwirkliche Umgebung augenblicklich verschwimmen ließen. Es war kein Traum, wurde ihm schlagartig klar. Das hier war die Wirklichkeit, und die war schlimmer als jeder Traum sein konnte.

„Wie gesagt“, fuhr der Arzt fort, „sie haben wirklich sehr großes Glück gehabt, vor allem dass der Unfall so schnell gemeldet worden ist. Das hätte ganz anders ausgehen können.“

Glück?, fragte sich Florian. Markus, sein Freund, sein Geliebter, war tot, und dieser Mensch redete von Glück? Warum bin ich nicht auch tot, wäre das nicht viel besser?

„Ich denke, dass wir Sie wieder hinbekommen werden, einige Wochen wird es zwar dauern, aber ich gehe davon aus, dass Sie keine bleibenden Schäden davon tragen werden. Was sie jetzt vor allem brauchen, ist Ruhe.“

Keine bleibenden Schäden. Wie wollte dieser Mensch das beurteilen? Die Erinnerung, die Erinnerung an das Geschehene und an Markus, wäre das vielleicht kein bleibender Schaden, schlimmer als jede mögliche Körperbehinderung? Sollen sie mir doch den verdammten linken Arm abnehmen, wenn sie mir dafür Markus zurückbringen würden, dachte Florian. Das konnte keiner, Markus war tot, keiner konnte ihn zurück bringen. Diese Erkenntnis war übermächtig; begleitet von heftigen Brustschmerzen, schluchzte Florian wie seit seiner Kindheit nicht mehr.

*

„Was machst du nur für Sachen, Junge“, sagte Frau Schwerdt den für diese Situationen wohl fest vorgegebenen Text auf, als sie und sein Vater Florian das erste Mal im Krankenhaus besuchten, und machte ein sorgenvolles Gesicht. Sein Vater, nicht weniger sorgenvoll dreinschauend, drückte ihm kurz die rechte Hand und sagte „Wird schon wieder!“. Was sollten sie auch sonst sagen, wenn sie ihren Sohn in der Unfallklinik besuchten. Florian wusste, dass es tröstlich gemeint war, wenn auch die Worte noch so hilflos waren. Sicherlich würde er diese Worte in den nächsten Tagen noch öfter zu hören bekommen, vorausgesetzt, dass ihn noch andere Leute besuchen kämen. Nur der, dessen Besuch am tröstlichsten gewesen wäre, auch ohne jedes Wort, der würde nicht kommen. Schon schossen Florian wieder Tränen in die Augen.

„Hast du starke Schmerzen?“, fragte sein Vater.

„Nur wenn ich lache“, versuchte Florian sich in Humor, was jedoch gründlich misslang. Nach Lachen war ihm jetzt am Allerwenigsten zumute. Dank der Schmerzmittel, die er bekam, hielt sich sein körperliches Leiden in halbwegs erträglichen Grenzen. Dafür quälten ihn seine Gedanken, die immer wieder um seinen verlorenen Freund kreisten, umso schlimmer.

„Weiß Stefanie schon Bescheid?“, fragte seine Mutter.

Florian schüttelte wortlos den Kopf. Ihm wurde klar, dass seine Eltern erschreckend wenig über ihn, über sein Leben, über die aktuellen Entwicklungen wussten. Seit er bei ihnen ausgezogen war, und das lag ja schon ein paar Jahre zurück, telefonierten sie im Schnitt einmal alle zwei Wochen, und ungefähr einmal im Vierteljahr sahen sie sich. Aber er hatte bislang noch mit keinem Wort erwähnt, dass er mit Stefanie auseinander war, obwohl sie seitdem einige Male telefoniert hatten. Nicht, dass er das für so bedeutungslos gehalten hätte, dass es keiner Erwähnung wert gewesen wäre. Er hatte einfach Angst vor der Frage nach dem Warum. Sicher hätte er es sich einfach machen können, indem er erzählt hätte, dass er sie sozusagen in flagranti mit einem anderen erwischt hatte. Aber das war ja noch viel weniger als die halbe Wahrheit. Wie hätte er ihnen erklären sollen, dass er jetzt zum anderen Ufer gewechselt war? Wie ihnen klarmachen, dass von ihm keine Enkelkinder zu erwarten waren? Wo doch sein älterer Bruder immer als leuchtendes Beispiel hingestellt wurde, wenn sein Vater zu ihm sagte: „Sieh dir deinen Bruder an, da ist schon das Zweite unterwegs“, was Florian dann meist mit „Lass Steffi erstmal ihr Studium fertig machen“ beantwortete, was ja durchaus vernünftig klang und ihm Zeit verschaffte, sich mit diesem Thema anzufreunden. Es war ja schon bei Simon und erst recht bei Stefanie schwierig, ihnen die neue Situation zu erklären, wie viel schwieriger musste es erst bei seinen Eltern sein. Weniger Probleme sah er da noch bei seiner Mutter, angeblich hatten Mütter ja ohnehin ein Gespür dafür, wenn mit ihren Söhnen „was nicht stimmte“, aber wie sollte er es seinem Vater beibringen? Nur zu gut war ihm in Erinnerung geblieben, wie sein Vater sich gewisse Sorgen gemacht hatte, bevor Florian mit Stefanie zusammen war. Direkt ausgesprochen hatte er es nicht, aber es war deutlich zu spüren, dass er sich seine Gedanken machte und vor allem, wie er zu gewissen Dingen stand. Eines Abends, Florian wohnte noch bei seinen Eltern, es muss kurz vor dem Abitur gewesen sein, saßen sie vor dem Fernseher, wo in irgendeiner Sendung (vielleicht war es die Lindenstraße, Florian erinnerte sich nicht mehr) zwei Schwule vorkamen. Damals drehte sich sein Vater zu ihm und sagte:

„Guck dir diese Typen an, das sind doch keine Männer! Gib dich bloß nie mit solchen ab, das musst du mir versprechen.“

Florian war damals wie vor den Kopf gestoßen. Wie konnte sein Vater annehmen, dass er, Florian, damit etwas zu tun haben könnte? Er hatte lange darüber nachgedacht, ohne eine Antwort zu finden. Oder hatte sein Vater bereits damals diese gewisse Ahnung, die bei Florian selbst ja erst Jahre später erwachte und die schließlich Gewissheit wurde? Als Florian später seinen Eltern Stefanie vorgestellte, glaubte er zu spüren, wie seinem Vater ein Stein vom Herz fiel, vermutlich hätte nicht viel gefehlt und er hätte „na endlich...“ gesagt.

Es war nicht so, dass Florian sich in den vergangenen Wochen nicht immer wieder Gedanken darüber gemacht hätte, wie er es ihnen am besten beibrachte, aber die richtig gute Idee war ihm bislang nicht gekommen. Ihnen einen Brief zu schreiben wäre ihm zu feige vorgekommen. Vielleicht wäre er einfach eines Tages mit Markus, den sie ja vielleicht noch als seinen ehemaligen Mitschüler in Erinnerung hatten, bei ihnen aufgetaucht, und hätte ihn als seinen Freund vorgestellt. Das wäre zwar zunächst ein kleiner Schock gewesen, aber sie hätten sich davon erholt, dessen war sich Florian sicher. Leider schied diese Möglichkeit ja jetzt aus, jedenfalls mit Markus. Und bis Florian jemanden neues hätte präsentieren können, das konnte dauern. Er war sich nicht einmal sicher, ob er das überhaupt noch wollte. Wieder liefen ihm Tränen aus den Augen. Seiner Mutter, von ihm angesteckt, ebenfalls. Sein Vater schaute betreten und hilflos aus dem Fenster. Obwohl seine Eltern bereits wussten, dass noch jemand mit im Auto gesessen hatte, der dabei ums Leben gekommen war, hatten sie sich noch nicht nach ihm, nach Markus erkundigt; wahrscheinlich wollten sie ihren Sohn schonen, indem sie dieses Thema nicht ansprachen. Erst als Florian auf die mehrere Tage alte Tageszeitung auf dem Tisch hinwies, die in einer kurzen Meldung darüber berichtete (direkt neben einem größeren mehrspaltigen Bereicht über Neuigkeiten aus dem Alltag einer gewissen Paris Hilton), fragte seine Mutter, wer der andere war.

„Markus, mein Freund...“, antwortete Florian mit tränenerstickter Stimme, ohne darüber nachzudenken. Das „mein Freund“ ging ihm erstaunlich leicht über die Lippen, erzielte aber keinerlei Wirkung bei seinen Eltern. Vermutlich hatten sie nur „ein Freund“ verstanden und sich weiter keine Gedanken dazu gemacht. Allerdings fand Florian, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war für weitergehende Erklärungen. Er hatte so lange damit gewartet, jetzt kam es auf ein paar Wochen mehr auch nicht an.

Die ersten Tage verbrachte Florian, wenn er nicht schlief, überwiegend damit, dass er grübelnd die Decke anstarrte. Er hatte weder Lust, etwas zu lesen, noch fernzusehen. Obwohl er in einem Zweibettzimmer lag, war er alleine, das andere Bett war nicht belegt, was Florian ganz recht war, denn Lust auf Unterhaltung, womöglich über den Unfall (wenn man es so bezeichnen wollte) oder gar die Gebrechen des anderen Zimmergenossen hatte er nicht im Geringsten. Besuch bekam er in den ersten Tagen, außer von seinen Eltern, nicht. Auch darüber war er froh. Er wollte mit niemandem über das Geschehene sprechen. Noch nicht. Und immer wieder fragte er sich, ob er es hätte verhindern können, zum Beispiel indem er langsamer gefahren wäre oder nach dem Einschlag anders reagiert hätte. Hätte, wäre, könnte, alles sinnlose Wörter, wie er befand. Nein, der Arzt hatte gesagt, Markus war sofort tot, da hätte Florian nichts verhindern können. Und doch musste er immer wieder über diese Frage nachdenken, so sinnlos sie ihm auch immer mehr erschien.

Der einzige kleine Lichtblick seines Krankenhausalltages war Julian, der Krankenpfleger. Er sah nicht nur gut aus: Groß, schlank, hellblonde, mittellange Haare, ein hübsches Gesicht mit strahlend blauen Augen, das hinreißend lächeln konnte, er war auch sehr mitfühlend und nett zu Florian, ganz im Gegensatz zu den Schwestern, die sonst Dienst hatten. Vor allem Schwester Hannelore erfüllte voll das Klischee des eher robusten Typs Krankenschwester, der nicht gerade zimperlich mit den Patienten umging. Julian dagegen nahm sich schon mal eine Minute Zeit, um kurz mit Florian zu reden. Von Anfang an duzten sie sich, wie selbstverständlich, zumal sie auch etwa gleich alt waren. Florian fragte sich, ob Julian zu allen Patienten so nett war. Julians Dienstplan hatte Florian bald im Kopf, und er freute sich jedes Mal auf dessen Schicht, auch wenn es fast immer nur Minuten waren, in denen er ihn zu sehen bekam.

Erst nach etwa zwei Wochen kamen auch andere Besucher als Florians Eltern: Simon („Ey Alter, was machst du denn für Sachen“) mit seiner künftigen Frau Anke. Zum Abschied sagte er:

„Bis Mai musst du aber wieder fit sein, du weißt ja, ich brauche dich als Trauzeuge!“

Florian versprach es.

Dann Stefanie („Das wird schon wieder“), in Begleitung eines etwa zehn Jahre älteren Mannes, den sie als ihren neuen Freund (und somit Florians Nachfolger) vorstellte, ein Arzt aus der Klinik, in der sie arbeitete. Alle Achtung, dachte Florian. Und keine Andeutung einer Schwangerschaft, die auf Florians Konto ging, wie er erleichtert bemerkte.

Auch zu Sebastian war die schlechte Nachricht inzwischen vorgedrungen, er ließ sich alle paar Tage blicken. „Netter Krankenpfleger“, stellte er fest. Außerdem hinterließ er stets die besten Genesungswünsche von seinem Freund Bernd. Na, ob das so stimmt, dachte Florian. Die Gefühle, die er noch bis vor kurzem für Sebastian hegte, waren indes völlig verschwunden, so, als hätte die entfachte Liebe zu Markus sie wie ein Schwamm aufgesaugt.

Die größte Überraschung war, als eines Nachmittags Frank, das Arschloch, plötzlich auf leisen Sohlen zur Tür herein kam mit einem Päckchen Pralinen für Florian. Er habe im Fritz von der Sache gehört, so was spricht sich ja schnell herum. Und er habe lange gezögert, ob er ihn wirklich besuchen solle, und ob Florian ihn überhaupt sehen wolle, schließlich sei das alles mit ihnen ja „nicht gerade optimal verlaufen“, wie Frank es ausdrückte. Aber dann habe er gedacht, da er ja auch mal mit Markus etwas mehr als befreundet war, wollte er wenigstens mal sehen, wie es ihm, Florian, gehe, und wenn er gehen solle, dann sollte Florian es nur sagen, dann würde er sofort verschwinden. So etwas wie ein schlechtes Gewissen schwang in seiner Stimme mit. Sein strahlendes Lächeln, mit dem er sonst alle Jungs herum bekam, hatte er ausgeschaltet, und er schien es wirklich so zu meinen, wie er es sagte. Nachdem Florian die erste Überraschung darüber, dass ausgerechnet Frank ihn besuchen kam, überwunden hatte, lächelte er ihn, so gut es ging, an und bedankte sich für die Pralinen, keine billigen aus dem Kaufhaus, sondern welche aus dem Café, in dem Frank arbeitete. Nach kurzem gegenseitigem verlegenem Schweigen kam sogar ein recht freundschaftliches Gespräch in Gang.

„Wenn ich etwas für dich tun kann, lass es mich wissen. Meine Telefonnummer hast du ja vielleicht noch“, sagte Frank zum Abschied. „Übrigens, nettes Pflegepersonal hier...“, und sein Lächeln leuchtete kurz auf.

11. Ein Zimmergenosse

„Ab morgen ist es mit der Ruhe vorbei, sie bekommen dann einen Zimmergenossen aus der Intensivstation hierher“, verkündete Schwester Hannelore in dem ihr eigenen, teils gehetzten, teils militärisch-strengen Tonfall. Als Florian am nächsten Nachmittag aus der Cafeteria zurückkam, er konnte inzwischen sein Bett schon mal ohne größere Schmerzen und fremde Hilfe verlassen, was ihm schon wie ein gewaltiger Fortschritt vorkam, lag ein etwa fünfzehnjähriger Junge im Nachbarbett und starrte, wie Florian zu Beginn seines Aufenthaltes hier auch, wortlos die Zimmerdecke an. Irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen, bemerkte Florian, aber was es war, konnte er nicht sagen.

„Hallo, ich bin Florian Schwerdt“, stellte er sich dem Neuankömmling vor.

„Andy... Andreas Bloch“, antwortete der Junge tonlos, ohne seinen Blick von der Decke zu lösen, wo er einen bestimmten Punkt anzustarren schien.

Florian legte sich auf sein Bett, was ihm noch immer etwas Mühe bereitete, und schaute zu Andy hinüber. Er sah in das blasse Gesicht eines anscheinend ziemlich schmächtigen Jungen, den irgendetwas sehr stark zu bedrücken schien.

„Und warum bist du hier?“, fragte Florian, den es eigentlich nicht besonders interessierte, der sich dennoch irgendwie verpflichtet sah, diese Frage zu stellen. Zumindest hätte er diese Frage auch von seinem Bettnachbarn erwartet, wenn er als zweiter gekommen wäre, ob den das nun interessierte oder nicht.

„Ein Unfall“, antwortete Andy leise. Unverändert fixierte er den Punkt an der Decke. „Ich wollte wie immer die Abkürzung über die Gleise nehmen, da habe ich nicht aufgepasst. Plötzlich war der Zug da, ich konnte mich nicht mehr bewegen vor Schreck...“

„Aber da hast du doch noch Glück gehabt, du könntest tot sein!“ Jetzt rede ich schon wie dieser Doktor an meinem ersten Tag hier, dachte Florian. Markus war tot, und dieser Kerl redete von Glück!

„Ja, Glück...“, wiederholte der Junge. „Nur mein rechtes Bein, das hatte kein Glück, da war nichts mehr zu retten, voll Matsche.“ Tränen liefen ihm die Wange herunter.

„Scheiße...“, antwortete Florian ehrlich geschockt. Er fragte sich, wie er damit umgehen würde, wenn ihm so etwas passiert wäre. Was war schlimmer, ein Bein zu verlieren, für das man eine Prothese bekommen konnte, oder einen geliebten Menschen?, fragte sich Florian. Für Markus gab es kein künstliches Ersatzstück, der war für immer weg. Und dennoch, in so jungen Jahren ein Bein zu verlieren war wohl so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren konnte, dachte Florian. Ihm fiel auch nichts Tröstliches ein, was er dem armen Karl dazu hätte sagen können. „Wird schon wieder“ wäre jedenfalls völlig unzutreffend gewesen. Also schwieg er erstmal. Sicher hatte Andy jetzt auch gar keine Lust, sich zu unterhalten.

„Und warum sind Sie hier?“, fragte Andy plötzlich und schaute, zum ersten Mal, kurz zu Florian herüber.

„Du kannst ruhig du zu mir sagen, sonst fühle ich mich so alt“, sagte Florian lächelnd. Dann erzählte er, was passiert war. Inzwischen gelang es ihm einigermaßen, die Geschichte zu erzählen, ohne dass ihm die Stimme, von Tränen erstickt, versagte. Dennoch war klar, dass es noch sehr lange dauern würde, bis er auch nur halbwegs darüber hinweg sein würde, sofern dieser Zustand überhaupt eines Tages eintreten würde, eintreten konnte. Während Florian erzählte, schaute Andy interessiert und gleichzeitig erschrocken zu ihm herüber.

„Wann war das?“, wollte er wissen. „Und wo?“

Nachdem Florian fertig war mit Erzählen, schaute Andy wieder zur Zimmerdecke, mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, der so etwas wie Schock widerspiegelte.

„War das Ihre... deine Freundin, die mit im Wagen gesessen hat?“

„Nein, mein Freund.“

„Hast du keine Freundin?“, wollte Andy wissen.

„Nein, nicht mehr“, antwortete Florian. „Du denn ?“

„Nein, leider nicht. Mädchen wollen nichts von mir wissen“, sagte er traurig.

„Und ich will von Mädchen nichts mehr wissen“, sagte Florian.

„Warum nicht? Mädchen sind doch das Tollste, was es gibt. Wenn ich eine Freundin hätte, wäre alles anders gelaufen... Nee, verstehe ich nicht, wie kann man von Mädchen nichts mehr wissen wollen?“

„Ich bin schwul“, kam es Florian erstaunlich leicht über die Lippen. Wenn er es doch seinen Eltern gegenüber auch so locker heraus bringen könnte, dachte er. Warum war es gegenüber einem Fremden so unendlich viel einfacher als gegenüber den eigenen Eltern, die doch eigentlich viel eher ein Anrecht darauf hätten, es zu erfahren, fragte sich Florian.

„Aha...“, sagte Andy. Dann, nach einer kurzen Pause: „Und wie ist das so, wenn man... schwul ist?“

„Och, so grundsätzlich, glaube ich, nicht anders als wenn man auf Mädchen steht. Nur dass man eben Jungs geil... also interessanter findet. Wenn man erst den Richtigen gefunden hat, ist es sicher genau so schön wie mit ´ner Freundin.“

„Verstehe... und hast du den richtigen gefunden?“, fragte Andy.

„Ja, ich glaube schon, den hatte ich...“, antwortete Florian traurig. „Aber der lebt jetzt nicht mehr, weil irgendwelche Idioten Steine auf die Autobahn werfen mussten. Wenn sie die erwischen, denen sollte man erst den Schwanz und dann den Kopf abhacken!“ Er bekam wieder dieses Stechen in der Brust, wie immer, wenn er sich aufregte.

Andy starrte wieder zur Decke. Keine weiteren Fragen. Er dachte an die Schule, auf die er erst seit gut einem Jahr ging, seit er mit seinen Eltern hierher gezogen war. Wie schon früher, auf seiner vorherigen Schule, war er auch hier ein Außeneiter, dem es nicht gelang, Anschluss an die anderen zu bekommen. Er wollte es auch nicht, die anderen Jungs in seiner Klasse verachtete er, vor allem die, die sich mit ihren tollen sportlichen Leistungen immer hervortaten. Andy war kein schlechter Schüler, vielleicht eher mittelmäßig. Nur in Sport war er eine absolute Niete, und er sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern. Niemals würde er mit den anderen im Fußball mithalten können, niemals könnte er mit seinen Muskeln protzen. Es interessierte ihn einfach nicht. Dabei hätte ihm das vielleicht geholfen, wenigstens etwas Aufmerksamkeit von den Mädchen zu bekommen. Es gab da schon ein paar sehr hübsche in seiner Klasse, aber an die kam er nicht heran, er wusste nicht, wie er es anstellen sollte, sie schienen sich einfach nicht für ihn zu interessieren, nahmen scheinbar keinerlei Notiz von ihm. Außer Anja, die war immer sehr nett zu ihm. Die hätte ihm auch gut gefallen, nur hatte er keinen blassen Schimmer, wie er ihr das klar machen konnte.

Eines Tages, hatte er sich oft gesagt, werde ich es ihnen allen zeigen, dann werden sie staunen, zu was ich in der Lage bin. Nur was das sein konnte, dazu hatte er keine brauchbare Idee gehabt.

Der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen hatte, war Peter, der Junge aus der Nachbarschaft. Zwar gingen sie nicht zur selben Schule, aber sonst verbrachten sie viel Zeit zusammen. Peter war ein Jahr älter als Andy, und er hatte ein Mofa. Andys Eltern sahen es nicht gerne, dass er so viel mit diesem Peter zusammen war, er sei „kein Umgang für ihn“, sagten sie. Vielleicht hatten sie damit sogar Recht: Peter rauchte, trank gerne Alkohol, und er ließ im Supermarkt ganz gerne mal was mitgehen. Aber das war Andy egal, er mochte Peter. Er war der einzige, bei dem er das Gefühl hatte, dass er ihn so akzeptierte wie er war. Schade, dass Peter kein Mädchen war...

Andy musste wieder an den bewussten Abend denken, die Party in der Schützenhalle. Anja würde auch dort sein, hatte sie ihm tags zuvor in der Schule gesagt, ob er auch komme, sie würde sich freuen. Das hatte vorher noch niemand zu ihm gesagt, schon gar nicht ein Mädchen. Als er abends zusammen mit Peter bei der Schützenhalle ankam, war diese schon gerammelt voll. Laute Musik spielte, es wurde viel getanzt und viel getrunken. Dann entdeckte er Anja irgendwo im Gewühl. Gerade als er sich freudig aufgewühlt zu ihr durchdrängeln wollte, sah er, dass sie nicht alleine hier war. Lukas, eines von diesen Sport-Arschlöchern aus seiner Klasse, hatte sie schon in Beschlag genommen. Als Andy sah, dass sie sich küssten, machte er kehrt und ging direkt zur Theke, wo er sich den für Rest des Abends vollaufen ließ.

„Das war kein Unfall“, sagte Andy leise, kaum hörbar, mehr zu sich selbst als zu Florian, der inzwischen wieder in seinem Buch las.“

„Was meinst du?“, fragte Florian und legte das aufgeschlagene Buch vor sich auf die Brust.

„Das mit meinem Bein. Das war kein Unfall“, wiederholte Andy. Er schwieg, als suchte er nach Worten, dann sagte er: „Ich bin extra auf die Gleise gelaufen, ich wollte mich umbringen, verstehst du? Aber als der Zug dann näher kam, konnte ich es nicht. Tja, und dann bin ich im letzten Moment, als er schon bremste, wieder runter von den Gleisen. Leider etwas zu spät. Oder zu früh, wie man´s nimmt.“

„Aber warum wolltest du dich umbringen? Weil es mit den Mädchen bis jetzt noch nicht geklappt hat? Mann, du bist doch noch jung, wie alt bist du überhaupt?“

„Sechzehn...“

„Sechzehn.“ wiederholte Florian. „Wenn ich jedes Mal, wenn ich bei einem nicht landen konnte, gleich versucht hätte mich umzubringen, wäre ich vermutlich schon lange tot.“ Gut, so lange noch nicht, aber wenigstens seit ein paar Wochen, fügte er in Gedanken hinzu. „Das ist doch kein Beinbruch...“, dann fiel ihm peinlich berührt ein, wie unpassend diese Floskel hier war, und entschuldigte sich sofort dafür.

„Schon gut...“, antwortete Andy teilnahmslos. „Aber das ist nicht der Grund, jedenfalls nicht der Hauptgrund.“ Schweigen. Dann: „Ich habe Mist gebaut, sehr großen Mist sogar.“

„Möchtest du darüber reden?“ Ich klinge schon wie ein zweitklassiger Sozialarbeiter, dachte Florian.

„Nein... ich kann nicht.“ Der Abend in der Schützenhalle. Irgendwann nachts waren sie voll, er selbst und erst recht sein Kumpel Peter. Sie beschlossen, nach Hause zu fahren, hier war nichts mehr zu holen. Sie steckten sich noch ein paar Bierflaschen ein, als Wegzehrung, dann bestiegen sie ihre Räder, Peter sein Mofa und Andy sein altes Fahrrad. Die Schützenhalle lag ein paar Kilometer außerhalb des Ortes, sie mussten die kleine Straße entlang fahren, die über die Autobahn ging. Sie hielten auf der Brücke an und schauten über die um diese Zeit fast unbefahrene Autobahn, deren zweigeteiltes Asphaltband sich in der Dunkelheit verlor. Hier hatte Andy schon oft gestanden, mit und ohne Peter. Manchmal hatte er sich gefragt, wie es wohl wäre, wenn man von der Brücke sprang, direkt vor einen Lastzug, ob man den Schmerz des Aufpralls und des Überrolltwerdens wohl noch spürte, oder ob es vielleicht ganz schnell vorbei ging. Darüber, was der Fahrer des Lastzugs dabei empfand, hatte er sich indes keine Gedanken gemacht. Das wäre dann ja auch nicht mehr sein Problem gewesen. So standen sie also auf der Brücke und tranken schweigend ihre mitgenommenen Bierflaschen aus. Nachdem Peters Flasche leer war, ließ er sie senkrecht nach unten auf die Fahrbahn der Autobahn fallen, wo sie sich mit einem leisen Klirren in kleine Splitter auflöste. Es war sehr leise, geradezu gespenstische Ruhe. Ihr Atem bildete kleine Dampfwolken. Plötzlich ergriff Andy seine noch nicht ganz ausgetrunkene Flasche, schrie aus voller Kehle „Scheiße!“ und warf die Flasche in hohem Bogen auf die Autobahn, wo sie in einiger Entfernung zerklirrte. Noch immer kein Auto.

Es klopfte an der Tür. Zwei Polizisten in Uniform und ein Mann in Zivil betraten das Zimmer.

„Andreas Bloch?“, fragte der Nicht-Uniformierte. Florian machte eine Kopfbewegung zu Andy hinüber, der die eingetretenen Polizisten mit vor Schreck geweiteten Augen ansah. „Wir haben ein paar Fragen an dich.“ Zu Florian: „Wäre es wohl möglich, dass Sie uns eine Viertelstunde alleine lassen?“ Es war möglich, Florian bemühte sich aus seinem Bett und ging hinüber in Richtung Dienstzimmer des Pflegepersonals. Er wusste, dass Julian seit einer halben Stunde Dienst hatte...

„Patient Schwerdt!“, rief dieser ihm freudig entgegen, als er Florian kommen sah.

„Schwester Julian!“, rief Florian, wie immer, zurück.

„Müssten wir nicht längst im Bett sein?“ Mit seiner natürlichen, keineswegs aufgesetzten Fröhlichkeit schaffte Julian es immer wieder, die Stimmung der Patienten innerhalb von Sekunden etwas aufzuhellen. Selten hatte Florian bei jemandem so sehr das Gefühl gehabt, dass hier der richtige Mensch am richtigen Platz war. Ob die Krankenhausleitung wohl wusste, was sie an ihm hatte?

„Wir beide? Gute Idee!“, antwortete Florian. Er liebte es, so mit Julian herumzuflachsen. Florian genoss Julians Nähe sehr, und ein bisschen hatte er das Gefühl, dass Julian zu ihm stets noch ein wenig netter war als zu anderen Patienten. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

„Ich muss doch sehr bitten“, antwortete Julian mit gespielter Entrüstung, „wir sind ein anständiges Haus.“

„Habe ich das je bezweifelt?“, grinste Florian ihn frech an.

„Was kann ich für dich tun?“

„Im Moment nichts weiter, außer mich etwas zu unterhalten. Ich musste sozusagen auf polizeiliche Anordnung mein Bett verlassen.“

„Ach ja, dein Bettgenosse…“

„Du meinst Zimmergenosse!“

„Ja, genau, der hat ja Besuch von den Freunden und Helfern bekommen. Was wollen sie denn von ihm?“

„Keine Ahnung, irgendwas hat er ausgefressen, er hat vorhin so eine Andeutung gemacht. Aber was, wollte er mir nicht sagen.“

„Na was stellen Jungs in dem Alter schon an… vielleicht ihr Mofa frisieren oder ihren Mitschülern die Jacke klauen.“

„Das scheint schon was Ernsteres zu sein, jedenfalls ist er deswegen völlig fertig.“

„Die Jugend von heute…“, stöhnte Julian mit gespielter Empörung. „Was soll aus dem erst werden, wenn er groß ist?“

„Wenn der groß ist, könnte was aus ihm werden“, antwortete Florian und grinste mehrdeutig.

„Stimmt, ist mir auch schon aufgefallen“, grinste Julian zurück. „Wirklich schlimm, das mit seinem Bein… So Herr Schwerdt“, wurde er gespielt förmlich, „genug der Plauderei, ich habe schließlich noch andere Patienten zu versorgen.“

„Ich will dich nicht in deinem Tatendrang bremsen. Ich werde mal langsam zurückgehen, das Verhör wird ja wohl hoffentlich vorüber sein.“ Also doch, dachte er, als er das Zimmer verließ. Wie schön!

Andy war noch blasser als vorher. Er sagte kein Wort, als Florian das Zimmer betrat, starrte nur wieder mit feuchten Augen vor sich hin. Florian fragte nicht; wenn Andy wollte, konnte er es ihm ja erzählen, und wenn nicht, dann eben nicht.

In dem Moment, als die Polizisten den Raum betraten und seinen Namen nannten, war Andy klar, warum sie hier waren. Sie hatten nur solange gewartet, bis er die Intensivstation verlassen konnte. Peter, der Vollidiot, hatte sich gegenüber einigen Mitschülern mit der Heldentat gebrüstet, offensichtlich hat das dann einer von ihnen der Polizei gemeldet. Jetzt saß Peter erstmal in Untersuchungshaft. Andy durfte vorläufig hier bleiben, „da keine Fluchtgefahr bestand“, wie sie sagten, was er angesichts seines fehlenden Beines mehr als zynisch fand. Und dennoch stimmte es ja, vorläufig konnte er gar nichts ohne fremde Hilfe machen, nicht mal Pinkeln.

Irgendwie war er aber auch erleichtert, dass sie es nun wussten. Die Angst, dass sie eines Tages dahinter gekommen wären, hätte ihn auf Dauer vermutlich nicht mehr ruhig schlafen lassen. Jetzt war es raus. Er hatte ihnen alles erzählt, was an dem Abend nach der Party im Schützenhaus geschehen war. Dass Peter und er auf der kleinen Autobahnbrücke standen und zunächst nur die Bierflaschen auf Fahrbahn zersplitterten. Als Peter sagte:

„Warte mal, bin gleich zurück“, und in der Dunkelheit verschwand, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und als er wenig später zurück kam und den dicken schweren Stein anschleppte.

„Was hast du vor?“, hatte Andy gefragt, doch Peter deutete nur auf den dunklen Asphalt der Autobahn. „Bist du wahnsinnig? Das ist Mord!“, rief Andy heiser.

„Quatsch“, antwortete Peter, „wir jagen ihnen nur einen kleinen Schrecken ein, ist doch voll cool!“

Andy dachte daran, was die anderen dazu sagen würden, wenn sie erfuhren, was in der Nacht auf der Autobahn geschehen sein wird. Das wäre doch etwas gewesen, was Eindruck gemacht hätte, auch wenn er natürlich niemals zugeben würde, dass er es war. Aber man würde darüber reden, und im Geheimen war er der unbekannte Held.

„Los, komm!“, sagte Peter, und gemeinsam wuchteten sie den Stein auf das Brückengeländer. Andy ließ alle Bedenken fallen; die Idee, sich zu beweisen, wog stärker als alle Skrupel. Und der Alkohol sorgte für den nötigen Mut. In der Ferne tauchten zwei Lichter auf, die schnell näher kamen. Andy hielt den Atem an.

„Bei drei!“, flüsterte er Peter zu, so, als hätten die Autoinsassen ihn sonst hören können. Als der Wagen nur noch wenige Meter von der Brücke entfernt war, begann Andy zu zählen: eins…, zwei…, bei drei sauste der Stein in die Tiefe, sofort folgte ein Knall, Klirren von Glas, Reifenquietschen. Während sie laut aufjuchzten vor Begeisterung über ihren Volltreffer, drehten sie sich um und sahen zu, wie der Wagen sich überschlug und über die Leitplanke hinweg aus ihrem Sichtfeld verschwand. Kein spektakulärer Feuerball wie im Film, er war einfach weg. Dann diese gespenstige Stille. Keine Spur, kein Gefühl von Heldentat. Was haben wir nur getan? fragte Andy sich plötzlich, und ebenso plötzlich fühlte er sich stocknüchtern, als habe er den ganzen Abend nur Wasser getrunken. „Los, weg hier!“, rief er Peter leise zu, der ihm widerspruchslos folgte. Nachdem sie sich später getrennt hatten, holte Andy sein Mobiltelefon hervor und wählte zitternd die 112. Er machte nur knappe, aber präzise Angaben, und bevor Gegenfragen kommen konnten, schaltete er das Handy aus. Daran, dass man ihn später aufgrund dieses Anrufs identifizieren konnte, dachte er in diesem Augenblick nicht. Er wollte nur retten, was noch zu retten war. Falls noch wer zu retten war.

Am folgenden Tag erfuhr Andy aus dem Radio, was er und sein Kumpel Peter in der Nacht angerichtet hatten. Er erfuhr, dass eine Person in Folge der hinterhältigen Tat, wie sie es im Radio nannten, ums Leben gekommen war, eine weitere schwer verletzt. Hinterhältige Tat, diese beiden Worte brannten sich unauslöschlich ein Andys Kopf ein. Genau so fühlte er sich, hinterhältig. Keine Spur von Heldentum. Wenn sie am Montag in der Schule darüber reden würden, würde er weghören. Schlagartig wurde ihm klar, dass er etwas völlig wahnsinniges getan hatte, etwas unverzeihliches, und dazu vollkommen unnötig. Etwas, woran er für den Rest seines Lebens denken, und wofür er sich schämen musste. Ja, Peter, hatte die Idee, er hatte den Stein aus dem Dunkel angeschleppt. Aber er, Andy, hatte ihn nicht daran gehindert, im Gegenteil, zusammen hatten sie den Stein auf das Brückengeländer gewuchtet und ihn auf sein Kommando hin fallen gelassen, was zu dem tödlichen Treffer geführt hatte. Diese gemeinsame Tat würde ihre Freundschaft ab jetzt belasten. Er hatte Angst davor, Peter wieder zu sehen. Ob der es wohl schon gehört hatte? So wie er Peter kannte, lag der noch im Bett und schlief seinen Rausch aus. Vermutlich würde er auch keine großen Gedanken an die ganze Sache verschwenden. Wir waren halt besoffen, na und? Hat doch keiner mitbekommen, dass wir das waren. Damit wäre es wahrscheinlich für Peter erledigt gewesen, ein kleiner Streich im Rausch auf dem Nachhauseweg von einer beschissenen Party.

Noch am selben Tag fasste Andy den Entschluss, seinem jungen Leben ein Ende zu setzen. Wenigstens das würde die anderen vielleicht beeindrucken, auch wenn er dann erst recht nichts mehr davon hatte. Mit dieser Schuld konnte und wollte er nicht weiter leben. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit, unbemerkt von seinen Eltern, die vor dem Fernseher saßen, verließ er das Haus und fuhr mit dem Fahrrad zur Bahnstrecke, die nicht weit entfernt war. Nachts konnte er, wenn er im Bett lag, die Güterzüge durch die Dunkelheit rauschen hören. Es gab da eine Stelle, wo die Strecke in einem Geländeeinschnitt einen Bogen beschrieb. Der Lokführer würde ihn, wenn überhaupt, erst sehr spät auf den Gleisen bemerken, jedenfalls so spät, dass er den Zug auf gar keinen Fall rechtzeitig zum Halten bringen würde. Der sichere Tod. Andy schob sein Fahrrad achtlos in die Büsche, den Rest würde er zu Fuß zurücklegen müssen. Wenig später stand er am Rand des Geländeeinschnitts und schaute hinunter ins Dunkel, wo die Gleise lagen. In etwa hundert Metern Entfernung links sah er das Vorsignal für den nächsten Bahnhof. Er sah zwei grüne, schräg übereinander stehende Lichter, die dem kommenden Zug freie Fahrt ankündigten. Kurz darauf hörte er unter sich ein Sirren in den Gleisen, dann von rechts drei helle Lichter, die näher kamen, dann war der Einschnitt und alles drum herum vom lauten Poltern des Zuges erfüllt, was Andy erschaudern ließ. Nachdem die dunkle Wagenreihe an ihm vorbei gerauscht war, schaute er dem Güterzug nach, der um die Kurve aus seinem Blickfeld verschwand, das Rauschen und Poltern mit sich nehmend. Aus den zwei grünen Lichtern des Vorsignals wurden zwei gelbe. Andy kletterte den Hang hinunter. An einem Brombeerbusch riss er sich leicht die Hand auf, so dass es blutete. Er nahm keinen Schmerz wahr, zog an seiner Jacke, die sich in dem Strauch verfangen hatte, als wollte er ihn zurück halten und ging weiter, einen Fuß vorsichtig seitwärts vor den anderen setzend, um die Böschung nicht hinunter zu rutschen. Direkt neben den Gleisen blieb er stehen. Welches von beiden sollte er nehmen? Er entschied sich für das hintere, das, auf dem gerade der Güterzug durchgefahren war. Das Vorsignal zeigte noch immer zwei gelbe Lichter. Absolute Stille umgab ihn. Er erklomm das Schotterbett des vorderen Gleises, stieg darüber, dann stand er auf dem hinteren und schaute nach rechts. Von dort würde sein Zug, und mit ihm der Tod, kommen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sich noch keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie man sich am besten auf den Schienen positionierte, um auch sicher und schnell getroffen zu werden. Er setzte sich auf eine Schwelle, inmitten der beiden Schienen, schaute in Richtung des Vorsignals und wartete. Nichts passierte, die Lichter blieben gelb. Dann hörte er ein Rauschen, das langsam lauter wurde. Es kam allerdings aus der Richtung, in die er blickte, der nahende Zug würde auf dem Gleis nebenan durchfahren. Andy überlegte kurz, ob er sich schnell auf das andere Gleis legen sollte, entschied sich dann jedoch, sich schnell zu erheben und sich flach neben die Gleise zu legen, damit der Lokführer des nahenden Zuges ihn nicht bemerkte. Kaum lag er, mit dem Gesicht zum Boden, sirrten die Gleise nebenan, dann donnerte die endlos lange Wagenschlange des Güterzuges an ihm vorbei. Als das Donnern in ein leiser werdendes Rauschen überging, erhob sich Andy und begab sich wieder zwischen die Schienen seines Gleises. Die Abfahrt des Todeszuges für Herrn Andreas Bloch auf Gleis zwei wird sich um wenige Minuten verzögern, wir bitten um Verständnis, dachte Andy. Dann wurden die beiden gelben Lichter grün. Freie Fahrt für seinen Zug! Noch immer Stille. Andy legte sich auf die Schienen, so, dass sein Hals auf der einen und sein Unterkörper auf der anderen lagen, mit dem Gesicht nach oben. Es war stark bewölkt, kein Stern am Himmel zu sehen. Verdammt unbequeme Lage, hoffentlich kam der Scheißzug bald. Irgendwann hatte Andy mal gehört, dass unmittelbar vor Eintritt des Todes das bisherige Leben noch mal wie ein Film vor dem geistigen Auge ablaufen sollte. Doch Andy hatte nur das Bild des sich überschlagenden Wagens im Kopf. Das sollte sein bisheriges Leben gewesen sein? Ja, was für einen Film sollte er auch erwarten, im Grunde hatte er sein Leben ja noch vor sich. Was er bisher erlebt hatte, war doch nur der Vorspann. Aber der Film, den er vor sich wähnte, hatte ein verdammt schlechtes Drehbuch, die Kritiken würden vernichtend sein. Ein Kribbeln am Hals holte ihn in das Jetzt zurück. Aus dem Kribbeln wurde ein leises, dann lauteres Sirren. Automatisch schaute Andy nach links, dorthin, von wo der Zug kommen würde. Etwas in ihm wollte sofort aufspringen, ihn am Kragen packen und von den Schienen zerren. Aber es war nicht stark genug, er blieb liegen und starrte ins Dunkel des Geländeeinschnitts. Dann sah er die drei Lichter der Lokomotive um die Kurve biegen, rasend schnell größer werdend. Während die unbekannte Kraft an seinem Körper zog und zerrte, vergeblich, konnte er seinen Blick nicht abwenden. Er sah den Stein in die Tiefe fallen, hörte das Klirren der Windschutzscheibe und das Quietschen der Reifen, und sah, wie sich der Wagen überschlug, bis er in der Dunkelheit verschwand.

Schlagartig änderte sich das Geräusch des Zuges. Zu dem gleichmäßig lauter werdenden Rauschen, das sich unaufhaltsam näherte, kam plötzlich ein Geräusch, als ob tausendfach Metall auf Metall rieb, ein neues, lauteres Rauschen und Quietschen. Dennoch kamen die drei Lichter mit unverminderter Geschwindigkeit näher. Plötzlich war die unbekannte Kraft stärker als Andys Wille, zu sterben. In letzter Sekunde sprang er auf, versuchte, mit einem Sprung von den Schienen zu kommen. Etwas zog an seinem rechten Bein, hielt es fest. Er sah noch das Drehgestell der Lok, direkt vor seinen Augen, hörte das tausendfach quietschende Reiben der Bremsen, dann riss dieser Film.

Ich bin nicht mal in der Lage, mich umzubringen, dachte Andy, der wie erstarrt in seinem Bett lag. Er würde es wieder tun, sobald er hier raus sein würde, und beim nächsten Mal würde es klappen, das schwor er sich. Komischer Zufall, dass er nun ausgerechnet mit einem Opfer seiner Heldentat auf einem Zimmer lag. Ein netter Kerl, fragte sich nur, ob er genau so nett gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, was sie beide verband. Sollte er es ihm erzählen? Nein, auf keinen Fall. Jedenfalls jetzt noch nicht. Er hatte ohnehin schon viel zu viel erzählt. Verstohlen schaute er kurz zu Florian hinüber, der auf seinem Bett lag und in einem Buch las. Früher hatte Andy auch viel gelesen. Das Lesen eröffnete ihm die Möglichkeit, in eine andere Welt abzutauchen als die seine, die er so wenig mochte. Er liebte die Harry Potter-Bücher. Oft träumte er davon, wie es sei, zaubern zu können, und sich unliebsame Begleiterscheinungen des Lebens, wie die doofen Mitschüler und am besten auch gleich den Sportlehrer, mit dem passenden Zauberspruch in Luft aufzulösen. Oder die Mädchen mit einem Zaubertrank dazu zu bringen, dass sie ihn endlich beachteten und sich reihenweise in ihn verliebten... Schwul war der also. Komisch, Schwule hatte sich Andy immer ganz anders vorgestellt, eher schrill und in Frauenkleidern, halt so, wie er sie im Fernsehen sah, wenn sie ihr komisches Fest, CSD oder wie das hieß, feierten. Aber der hier neben ihm schien ganz normal zu sein. Er hatte noch nicht mal versucht, ihn anzumachen. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er jetzt ein Krüppel war. Niemand würde ihn jetzt noch anmachen, erst recht keine Mädchen mehr. Wenn sie ihn bislang schon uninteressant fanden, so würden sie das jetzt erst recht tun. Welchen Sinn hatte dieses beschissene Leben noch? Bald würde er wahrscheinlich im Knast sitzen, sobald sie ihn hier rauslassen würden. Schöne Aussichten...

12. Nachsorge

Florians Entlassung aus dem Krankenhaus rückte näher. Zwar hatte er noch Schmerzen in der Brust, wenn er sich bewegte, aber längst nicht mehr so schlimm wie anfangs. Sein linker Arm war vom Gips befreit, er musste jetzt regelmäßige krankengymnastische Übungen machen, um die Muskulatur und Bewegungsfähigkeit des Arms wieder herzustellen. Er musste sich noch schonen, arbeiten konnte er noch nicht, und größere körperliche Anstrengungen waren auch noch nicht möglich. Aber immerhin, im Großen und Ganzen war er fast wieder hergestellt, so dass ein weiterer Krankenhausaufenthalt nicht mehr erforderlich war.

„Na, wie geht’s uns denn heute“, sagte Julian, als er das Zimmer betrat, wie jeden Tag, wenn seine Schicht begann, und versprühte dabei die ihm eigene, ansteckende Heiterkeit, die sogar bei Andy jedes Mal ein leichtes Lächeln hervorrief.

„Ach Schwester, wenn ich so liege…“, antwortete Florian wie üblich. Heute war sein letzter Tag hier, morgen käme er raus. „Ich weiß gar nicht, wie ich ohne deine aufopfernde Pflege künftig zurecht kommen soll.“

„Aber, aber, wer wird denn... du kannst doch immerhin schon wieder sehr gut alleine aufstehen, dich waschen...“

„Ja schon... aber was ist mit der menschlichen Zuwendung? Echt, ich glaube du wirst mir fehlen...“, sagte Florian.

„Immer das gleiche“, antwortete Julian, „ich bin einfach zu nett zu den Kassenpatienten, dabei ist das gar nicht im Preis inbegriffen.“

Sie tauschten zum Abschied ihre Adressen und Telefonnummern aus.

*

Bis auf weiteres hatte Florian Zeit, viel Zeit, die er überwiegend lesend und mit kleinen Spaziergängen verbrachte, dazu kamen die regelmäßigen Arztbesuche. Er musste viel an Markus denken, an die gemeinsame Zeit, die sie hinter sich hatten, vielmehr jedoch an die, die sie noch vor sich gehabt hätten. Die körperlichen Verletzungen verheilten mit jedem Tag mehr, die seelischen noch lange nicht. Immer wieder musste er dran denken, was geschehen war, immer wieder fragte er sich warum, ohne auch nur die Spur einer Antwort zu finden. An manchen Tagen blieb er einfach im Bett und fühlte sich inmitten einer unendlichen Leere. Wann er wieder arbeiten konnte, war noch nicht klar, einige Wochen würde es aber wohl noch dauern. Aber von allen Dingen fehlt ihm das auch am wenigsten.

Eines Morgens, als Florian mal wieder gar nicht aus dem Bett fand und sich wünschte, der Tag möge so schnell wie möglich vergehen, trieb ihn das Telefon hoch.

„Guten Morgen Herr Schwerdt, hier ist das Franziskus-Krankenhaus, persönliche Patienten-Nachbetreuung, Bouvier mein Name. Wie ist das werte Befinden?“

„Schwester!“, rief Florian, begleitet von einem kurzen Stechen in seiner Brust, erfreut ins Telefon. Er hatte Julians Stimme sofort erkannt, die bei ihm, wie immer, eine sofortige Stimmungsverbesserung hervor rief. Sofort entwickelte sich eine muntere Plauderei, die Florian seinen Schmerz für einen Augenblick etwas vergessen ließ. Er erkundigte sich nach Andy, seinem jungen Zimmergenossen, und erfuhr, dass dieser gestern auch entlassen werden konnte.

„Beinhaltet die persönliche Patienten-Nachbetreuung eigentlich auch Hausbesuche durch qualifiziertes Pflegepersonal?“, fragte Florian.

„Eigentlich nur bei Privatpatienten oder in besonders schwierigen Fällen.“

„Aber ich bin ein besonders schwieriger Fall.“

„Das stimmt natürlich. Aber bei Kassenpatienten kostet´s extra.“

„Wie viel?“

„Mindestens eine Tasse Kaffee. Lassen Sie mich nachschauen, Herr Schwerdt… ja, morgen Nachmittag könnten wir jemanden vorbei schicken, wäre Ihnen das recht?“

Es war Florian recht, sehr recht sogar.

Es war das erste Mal, dass Florian Julian nicht in seiner weißen Krankenpfleger-Kleidung sah. So wie er jetzt neben ihm auf dem Sofa saß, in Jeans, Turnschuhen und Sweatshirt, gefiel er ihm noch besser. Ihre Blicke trafen sich immer wieder, Florian war wieder mal völlig fasziniert von Julians strahlend blauen Augen, der ihn immer wieder anlächelte. Etwas lag in der Luft, das über ihre übliche lockere Plauderei hinaus ging, das spürten beide.

„Hat dir dein Arzt eigentlich nicht strenge Bettruhe verordnet?“, fragte Julian grinsend und legte seine Hand auf Florians Bein.

„Stimmt, jetzt wo du´s sagst... bringst du mich ins Bett?“ Florian verspürte plötzlich ein vertrautes Gefühl, das er seit Monaten nicht mehr hatte, eine angenehme Nervosität und Vorfreude. Anders ausgedrückt, er wurde so geil wie schon lange nicht mehr.

„Mit dem größten Vergnügen“, antwortete Julian.

Florian lag bewegungslos auf seinem Bett und ließ bereitwillig Julians Betreuungsmaßnahmen über sich ergehen, die so sicherlich in keinem Maßnahmenkatalog der Krankenkassen enthalten waren. Langsam und vorsichtig zog Julian ihm erst den Pullover, dann die Hose aus, so dass er nur noch in T-Shirt und Unterhose auf dem Rücken lag. Er genoss es; sein letzter Sex lag eine Ewigkeit zurück, jedenfalls kam ihm das so vor. Daher zeichnete sich seine Erregung auch deutlich in der Unterhose ab. Ganz behutsam griff ihm Julian unter das T-Shirt und streichelte ihm über die Brust, dann wanderte seine Hand langsam nach unten. Als sie die Ausbeulung seiner Unterhose berührte, stöhnte Florian leise auf. Wie sehr hatte ihm das gefehlt in den letzten Wochen! Julian lächelte ihn an, während er ihm langsam die Unterhose auszog. Danach zog er sich selbst das Sweatshirt aus, so dass er mit freiem Oberkörper auf dem Bettrand saß; die Hose behielt er zunächst an. Dann beugte es sich zu Florian hinunter und ließ seine Zunge und Lippen dort spielen, wo sich eben noch die Unterhose befand.

„Langsam...“, stöhnte Florian leise, der nicht wollte, dass Julians wunderbare Behandlung schon ein vorzeitiges Ende fand. Julian unterbrach sein Spiel und zog sich nun auch seine Hose und Unterhose aus; so kniete er sich über Florian, der immer noch auf dem Rücken lag, sein Schwanz direkt über Florians. Gierig griff Florian zu, es war lange her, dass er einen anderen harten Schwanz in den Händen hielt. Wie schön er sich anfühlte! Er wollte seine Oberkörper erheben, um seinerseits Lippen und Zunge spielen zu lassen, doch Julian drückte ihn sanft zurück ins Kissen.

„Liegenbleiben“, flüsterte er, „nicht in die Behandlung eingreifen.“ Dann nahm er beide Schwänze in die Hand, so dass sie aneinander rieben, und bewegte die Hand auf und ab; zunächst ganz langsam, dann immer schneller. Florian schloss die Augen, dann stöhnte er laut auf. Nahezu gleichzeitig ergossen sich zwei warme weißliche Eruptionen auf Florians Bauch und Brust, bis auf das T-Shirt, das er noch immer anhatte. Oh ja, das hatte ihm gefehlt...

„Um den Behandlungserfolg sicherzustellen“, erklärte Julian, als sie zusammen in Florians Bett lagen, „müssen wir diese Maßnahme noch ein paar mal wiederholen. Ich schlage vor, dass ich jeden Donnerstag vorbei komme. Sind Sie damit einverstanden, Herr Schwerdt?“

„Spinner“, lachte Florian, und gab Julian einen Kuss. „Von mir aus kannst du jeden Tag kommen, brauchst gar nicht mehr wegzugehen.“

„Das geht leider nicht, ich habe noch andere Patienten zu betreuen“, antwortete Julian mit einem Ausdruck, der offen ließ, ob es sich hierbei um eine vergleichbare Art der Betreuung handelte. Als er Florians verunsicherten Blick bemerkte, fügte er lächelnd hinzu: „Keine Sorge, diese Art der Behandlung bekommst nur du!“

„Dann bin ich ja beruhigt...“, sagte Florian. Julian hatte etwas in ihm entfacht, das er nach dem Tod von Markus für immer verloren geglaubt hatte.

Julian küsste Florian. Dann ließ er wieder seine Finger spielen, was nicht ohne Wirkung blieb.

*

Florian bekam einen Brief von der Staatsanwaltschaft. Man teilte ihm mit, dass die zwei Täter ermittelt worden seien. Allerdings habe sich einer von ihnen dem laufenden Verfahren durch Suizid entzogen. Recht so, dachte Florian, den anderen sollten sie gleich hinterher jagen. Mit dem Brief der Staatsanwaltschaft war ein zweiter Brief gekommen. Er trug keinen Absender, und Florians Anschrift war mit einer ziemlich krakeligen kindlich wirkenden Handschrift aufgebracht worden. Florian riss den Umschlag auf und zog ein mit derselben kindlichen Handschrift beschriebenes Blatt karierten Ringbuchpapiers heraus. Er begann zu lesen:

Lieber Florian!

Sicher wunderst du dich, von mir Post zu bekomen. Aber ich habe keine Andere Möglichkeit gesehen, als es dir so zu sagen. Ich wahr einer derjehnigen, die den Stein auf dein Auto geschmissen haben. Es gab keinen besonderen Grund dafür, es ist einfach Passiert, außerdem wahren wir betrunken. Ich weis, daß kann keine entschuldigung sein für daß, was wir getan haben, soll es auch nicht. Du kanst mir glauben, daß es mir unendlich leid tut, das es euch getroffen hat. Als ich dich dann auch noch im Krankenhaus kennengelernt habe (komischer Zufall, nicht?), wurde mir noch mehr klar, daß das, was wir getan haben, absolut Unverzeihlich ist. Deshalb bitte ich dich auch nicht um Verzeihung, höchstens dafür, das ich im Krankenhaus nicht den mut hatte, es dir dierekt zu sagen. Ich bin halt in jeder Hiensicht eine feige Niete. Ich kann nur noch einmal widerholen, wie unendlich leid es mir tut. Ich hoffe, das du dich von deinen Verletzungen möglichst bald erhohlst und das du über den Verlust deines Freundes irgendwann hinweg kommst, falls das überhaupt geht.

Lehb Wohl!

Andy

P.S.: Wenn du diesen Brief ließt, bin ich tod. Ich habe ihn auf meinem letzten Weg in den Briefkasten eingeworfen. Ich will so nicht weiterleben, und ich weis, dieses mal klappt es!

Florian war geschockt. Soeben hielt er den Abschiedsbrief eines Selbstmörders in Händen, etwas, was er bislang nur aus Filmen und Romanen kannte. Er musste sich setzen, mit zitternden Händen las er den Brief noch einmal durch, ohne den Rechtschreibfehlern Beachtung zu schenken, danach noch einmal. Andy! Andy, sein Zimmergenosse im Krankenhaus, dieser schmächtige blasse Bursche war einer der Steinwerfer! Jetzt wusste Florian also, was Andy ausgefressen hatte, und auch, warum er es ihm, Florian, auf keinen Fall erzählen wollte. Und ihm fiel die kurze Meldung ein, die er heute Morgen im Radio gehört hatte. Ein Jogger hatte unterhalb der Bleybachtalbrücke, einer hohen Eisenbahnbrücke in der Nähe, den leblosen Körper eines Sechzehnjährigen gefunden. Die Polizei ging davon aus, dass der Junge in der Nacht in selbstmörderischer Absicht von der Brücke gesprungen war.

Erstaunlich, dachte Florian, wie Andy mit nur einem Bein auf die Brücke gelangt war, es musste unglaublich anstrengend für ihn gewesen sein. Noch einmal las er sich den Brief durch. Dort war von Verzeihen die Rede. Konnte Florian ihm verzeihen? Immerhin war Andy genug gestraft, erst das Bein ab, jetzt der Tod. Aber ihm verzeihen? Nein, dazu war Florian nicht bereit, jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht verzieh Markus ihm ja, falls sie sich im Jenseits begegneten. Und wenn nicht, konnte er ja ein paar Karateübungen an ihm vollziehen.

Es klingelte. Julian kam, wie immer pünktlich, zur persönlichen Nachbetreuung. Florian freute sich auf ein paar neue krankengymnastische Übungen...

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