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Müller
Teil 2
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Ich schloss die Augen und fuhr mit der Hand durch das lockige Haar…und sah ein Gesicht vor mir. Sein Gesicht! Blonde, strubbelige Haare, blaue Augen mit Lachfältchen, die Grübchen in den Wangen, den schönen Mund mit den leicht schief stehenden Schneidezähnen, die Nase, die sich beim Lachen so lustig krauste… Christian! Ganz deutlich sah ich ihn vor mir. Meine Hand griff fester in die Haare, ich lehnte meine Stirn gegen seine… ein Glückgefühl stieg in mir auf. Dann fühlte ich seine Hände, die mich zurückdrängten und Müller sagte mit fester Stimme:
„Hör auf, Josch, ich bin nicht blond, habe keine blauen Augen und meine Nase wird auch nicht kraus, wenn ich lache. Du meinst nicht mich, und ich will kein Abenteuer mit dir.“
Entsetzt riss ich die Augen auf und blickte in sein ernstes Gesicht. Ich rückte von ihm ab und ein schlechter Geschmack erfüllte meinen Mund. Ich spülte ihn mit einem kräftigen Schluck Rotwein runter und stand auf.
„Ach so! Ach so ist das. Warum bin ich da nicht gleich drauf gekommen? Was bin ich doch für ein Hornochse, dass ich mich dermaßen von euch beiden verarschen lasse!“
Ich klatschte mir mit der flachen Hand gegen die Stirn und spürte, wie Wut in mir hochstieg. Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Natürlich, es war nicht mein lieber Kollege, der sich rächen wollte, es war Christian! Christian hatte diesen Typen hier engagiert, um… um… ich konnte einfach nicht klar denken. Warum? Er hatte MICH doch betrogen und hintergangen, warum wollte er sich jetzt rächen? Weil ich ihm auf die Schliche gekommen war? Weil ich sein mieses Spiel durchschaut hatte?
„Okay, Müller, das Spiel ist aus, hau einfach ab und sieh zu, dass du mir nicht mehr begegnest, es könnte böse enden!“
Mit einem finsteren Blick zu Müller stürmte ich aus der Wohnung und rannte durch die Straßen. Voller Wut stürmte ich die Treppe hoch, als ich bei Christian ankam und klingelte Sturm. Chris riss die Tür auf, seine Augen weiteten sich überrascht, aber bevor er etwas sagen konnte, brüllte ich auf ihn ein:
„Du miese Ratte hältst mich wohl immer noch für total bescheuert, ja? Hast du im Ernst geglaubt, ich falle auf diesen billigen Schauspieler rein? Wie viel hast du ihm gezahlt? Ist er dein neuer Lover? Früher hattest du mal einen besseren Geschmack, der Typ ist zu alt für dich. Oder sollte er mich verführen und anschließend wolltet ihr beide euch köstlich über mich amüsieren, ja? Aber das ist daneben gegangen, der Typ ist einfach nur schlecht, und ich rate euch beiden: kommt mir nie wieder unter die Augen oder ihr werdet es bereuen!“
Ich stürmte die Treppe wieder hinunter und rannte über die Straße in den Park, dort blieb ich keuchend stehen. Und da bei dem großen Baum…ich traute meinen Augen nicht…stand Müller mit dem Rücken zu mir und zündete sich eine Zigarette an. Während ich vor Wut noch schäumte, stand er da in seinem langen Mantel und mit dem Schlapphut und rauchte seelenruhig, das durfte doch wohl nicht wahr sein. Unwillkürlich musste ich grinsen: ein rauchender Geist. Erwischt!
Ich schlich mich zu ihm und mit einem schweren Schlag auf seine Schulter raunte ich ihm zu:
„Im Himmel wird aber nicht geraucht, du böser kleiner Engel, du.“
Ich sah die Faust zwar nicht, aber ich spürte sie und zwar heftig! Unsanft kam ich auf dem Boden an, als sich der Typ, der nun ganz bestimmt nicht Müller war, mit bösem Gesicht über mich beugte, die erhobene Faust vor mir schüttelte und mir mit nach billigstem Fusel stinkendem Atem ins Gesicht schleuderte:
„Tu das nie wieder! Nie wieder! Sich bei Dunkelheit von hinten an mich ran zu schleichen könnte tödlich enden!“
Er schüttelte noch einmal die Faust, blies noch einmal seinen Atem in mein Gesicht, worauf ich innerlich ein Schnellgebet sprach: „Steak, bleib unten, ich habe dich noch nicht verdaut.“
Dann erhob er sich, gab mir noch einen Tritt zum Abschied und verschwand. Puh!
Benommen versuchte ich, auf die Beine zu kommen, was beim 2. Anlauf auch gelang. Ich rieb mein schmerzendes Kinn und trat den geordneten Rückzug an. Unterwegs kam ich an meiner Kneipe vorbei und änderte spontan meinen Wunsch, nach Hause zu gehen.
„Mann, siehst du scheiße aus“, empfing mich der Wirt meines Vertrauens und kam besorgt hinter der Theke hervor. Woher kannte ich diesen Satz? Egal.
„Gib mir was zu trinken und lass mich einfach in Ruhe“, kommentierte ich sein sorgenvolles Verhalten. Brummelnd ging er wieder zurück und goss mir ein Glas Roten ein.
„Na wunderbar, wie immer bestens gelaunt. Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass in letzter Zeit nichts mehr mit dir los ist? Es ist gar nicht mehr so lustig, dich hier als Gast zu haben, du hast dich sehr verändert, Jonas.“
„ Dann kann ich ja gehen! Ich bin auf dich und deine blöde Kneipe nicht angewiesen!“ Wütend leerte ich das Glas auf ex, knallte Geld auf den Tresen und stampfte raus. Schimpfend lief ich zu meiner Wohnung, in der Hoffnung, diesen Schmierenkomödianten doch noch anzutreffen, um an ihm meine Wut auszulassen. Die Wohnung war dunkel, also niemand mehr da. Ich machte Licht und musste mich einen Moment am Türrahmen festhalten. Die Schläge oder der schnelle Wein oder beides, was auch immer, irgendwie ging es mir gerade nicht so gut. Ich taumelte ins Wohnzimmer und fiel direkt Müller in die Arme, der mir aus dem Dunklen entgegen kam. Eigentlich wollte ich ihn fragen, warum er noch da sei, aber eigentlich war es mir auch wieder egal und eigentlich wollte ich nur noch ins Bett. Wie einen Abend vorher verfrachtete Müller mich ins Bett, murmelte dabei vor sich hin, aber das verstand ich nicht mehr. Ich kuschelte mich in die Decke, nahm das Kissen fest in den Arm und dann knipste jemand das Licht aus. Gute Nacht, ihr lieben Sorgen! L. m. a. A.! Bis morgen!
Als ich am nächsten Morgen oder Mittag erwachte, stand Müller vor mir. Er hielt ein Glas Wasser in der einen Hand und eine Tablette in der anderen.
„Aspirin. Zwieback ist auch noch da. Wie fühlst du dich?“
„Weiß ich noch nicht, aber eines weiß ich: geh mir weg mit dem Zwieback, ich habe einen Mordshunger. Gibt es auch was Vernünftiges? Wie wäre es mit Eiern und Speck?“
Mein Kinn tat mir noch höllisch weh, aber sonst ging es mir eigentlich gut. Also stiefelte ich in die Küche, schnappte mir die Pfanne und brutzelte ein ordentliches Frühstück.
Müller aß natürlich nichts. Anschließend betrachtete ich mich im Badezimmer… nun ja, es hätte schlimmer sein können. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte ich mich wieder als Mensch.
„Müller, komm doch bitte mal her, wir sollten reden.“
Er kam aus der Küche, in der er abgewaschen hatte, das Handtuch hatte er noch in der Hand.
„Okay. „
Er setzte sich in den Sessel und betrachtete mich forschend.
„Was ist passiert gestern Abend?“
„Als guter Geist solltest du das aber wissen.“
„Ich weiß es auch, aber ich würde es gerne von dir hören.“
„Dann weißt du ja, dass ich zu Christian gerannt bin. Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, dass er derjenige ist, der dich engagiert hat. Dann bin ich hier in den Park, habe einen Typen gesehen, von dem ich meinte, du wärest es, habe ihn angequatscht und bautz… gab er mir die Hand… mitten ins Gesicht! Habe mich anschließend in meiner Kneipe mit Charlie verkracht, der hat mich quasi aus seiner Kneipe rausgeschmissen, außerdem muss der Wein schlecht gewesen sein, jedenfalls hast du mich mal wieder ins Bett gebracht. Scheint hier gewohnheitsmäßig einzureißen.“
„Joschi, nun glaub mir doch endlich, dass mich niemand engagiert hat. Ich bin ein Geist! Und ich bin müde, sehr müde. Ich wünsche mir nur noch Ruhe und Frieden, für immer.“
Erschrocken sah ich, wie alt Müller plötzlich aussah. Alt und müde und irgendwie fertig. Herrje, der Job muss ganz schön anstrengend sein. Er tat mit in dem Moment leid, denn er konnte ja nichts für all meine Probleme, wahrscheinlich wurde er auch noch ganz schön mies bezahlt.
„Okay, Müller, dann sag mir, wie es weiter gehen soll mit uns. Was machst du als Schausp… äh... Geist in einer solchen Situation?“
„Nun, da ich dich immer noch nicht überzeugt habe, wie wäre es mit einem Spaziergang?“
„Von mir aus.“
Also zogen wir los, Müller ging mal wieder etwas hinter mir, ich sollte ja nicht mit ihm sprechen. Als wir durch den Park gingen und weit und breit kein Mensch zu sehen war, kam er näher:
„Erzähle mir, was damals hier passiert ist.“
„Das wird dir der liebe Chris ja wohl alles erzählt haben. Ich habe keine Lust, das alles zu wiederholen, ich will es vergessen!“
„Ach ja? Vergessen willst du es? Und wie?“ Müller stand vor mir und blickte mich sehr streng an. „In dem du dir jeden Tag die Kante gibst, deine Freunde verprellst, weil du nur noch schlecht gelaunt bist? Du in deiner Firma kurz davor stehst, dir eine Abmahnung einzuhandeln, weil du seit ein paar Wochen nur noch angetrunken ins Büro kommst, unordentlich gekleidet bist und schlechte Arbeit ablieferst?“
Hoppla! Woher wusste er das mit der Firma? Unser Personalchef hatte mich mal ins Gebet genommen, davon wusste Chris nichts, also war es doch mein Kollege? Aber was bezweckte er damit? Wollte er mir helfen? Dabei hatte ich gedacht, Peter sei scharf auf meinen Posten, sehr merkwürdig, das Ganze. Ich wurde nachdenklich, aber auch wütend.
„Pass auf, egal, wer dich bezahlt und warum, ich komme sehr gut mit meinem Leben klar, okay? Mag zwar im Moment nicht so den Anschein haben, aber ich fange mich schon wieder. Hör einfach auf, dich in mein Leben einzumischen!“
„Nanana, nun beruhige dich mal wieder. Was bist du denn für ein Typ? Stehst hier und führst Selbstgespräche…übst du eine Rede ein? Dann solltest du das irgendwo tun, wo dich keiner sieht, klar? Du scheinst ja ganz schön wütend auf jemanden zu sein. Aber lass dir aus Erfahrung sagen: so was vorher zu proben, hat keinen Sinn, das muss spontan kommen.“
Verdutzt sah ich, dass eine Joggerin vor mir auf und ab hüpfte, ihr Pferdeschwanz hüpfte fröhlich mit. Müller war verschwunden. Sie musste eben um die Ecke gekommen sein, ich hatte sie nicht bemerkt. Nun lief sie um mich herum: „Du, ich muss weiter, ist sonst alles klar bei dir?“
Ich nickte wortlos, und sie rannte davon. Verwirrt sah ich mich um, da trat Müller hinter dem Baum hervor.
„Komm, wir gehen nach Hause, das wäre eben beinahe schief gegangen.“
Ja klar, wäre ihm wohl peinlich, wenn sie ihn gegrüßt hätte. Ich grinste und trabte hinter ihm her.
„Tja, da hätte sich um ein Haar eben dein Job ganz schnell erledigt. Stell dir mal vor, sie hätte dich angequatscht.“ Schlagartig war ich wieder bester Stimmung.
„Da sie mich nicht sehen konnte, hätte sie mich auch nicht anquatschen können. Aber sie hätte dich für total verrückt halten können, wenn du mit jemandem schimpfst, der gar nicht da ist.“
Himmel, der Typ hatte ja eine Ausdauer! Bekam er sein Geld nur bei Erfolg? Aber was war sein Erfolg? Worauf zielte das Ganze hinaus? Das musste doch raus zu kriegen sein.
Zuhause angekommen lies ich mich in den Sessel plumpsen und fragte: „Und was machen wir jetzt?“
„Sauber.“
Und schon trabte er in Richtung Schlafzimmer. Was kam denn jetzt? Ein neuer Verführungsanlauf?
„Wie lange ist es her, dass du dein Bett bezogen hast?“
Mit diesen Worten schnappte er sich die Decke und begann, sie abzuziehen. Vor lauter Verblüffung fiel mir nichts mehr ein. Müller guckte sich um und meinte, ich solle nicht so blöde dastehen, sondern mithelfen. Nun ja, wenn ich mich so umsah….und was sollte es? Er wurde ja schließlich bezahlt, also konnte er auch was tun.
Gemeinsam machten wir uns über die Wohnung her, ab und zu war es schon recht peinlich für mich, aber Müller plauderte fröhlich aus seiner Vergangenheit und erzählte ein Erlebnis nach dem anderen. Er hatte ja auch eine Menge „erlebt“, er war richtig gut. Entweder hatte er sich diese Geschichten ausgedacht oder sie irgendwo gelesen, jedenfalls erzählte er flüssig und spannend. Es waren Geschichten rund um die Menschlichkeit, traurig, düster, heiter und komisch, und sie hatten alle ein Happy End. Jedes Mal, wenn er seinen Schützling auf den richtigen Pfad gebracht hatte, ging er weiter zum nächsten. Puh, das musste ganz schön anstrengend sein.
Der Rest des Tages verflog im Nu, die Wohnung war so sauber wie schon seit Wochen nicht mehr, und ich fühlte mich irgendwie gut. Ein wenig kaputt nach dieser ungewohnten Tätigkeit, aber gut. Nach einem herzhaften Schluck aus der Rotweinflasche meldete sich der Hunger, und ich fragte Müller, was wir essen sollten.
„Ich esse gar nichts, wie du weißt. Langsam solltest du es kapieren. Iss was du willst, ich gehe mal nach draußen, möchte ein wenig alleine sein. Bis später.“
Okay, also wie immer das gleiche Spiel. Klar, er musste sich ja auch mal waschen und umziehen, schließlich lief er immer in denselben Klamotten rum, davon musste er gleich eine ganze Menge gekauft haben. Woran man so denken muss, wenn man einen Geist spielen soll. Gar nicht so einfach, dieser Job.
Nach einem ausgiebigen Abendessen machte ich es mir auf dem Sofa bequem und döste vor mich hin. Als Müller wiederkam, schreckte ich aus dem Schlaf hoch und fragte ihn spontan, wo er denn wohne.
„Zur Zeit bei dir“, lautete die Antwort. Dann setzte er sich in den Sessel, schnappte sich die Fernbedienung und meinte: “Lass uns mal die Nachrichten gucken.“
„Ah, mit der heutigen Technik kommst du aber gut klar, ja?“
„Logisch, ich bin ja noch lernfähig. Du glaubst gar nicht, was ich im Laufe der Jahrhunderte alles lernen musste. Sogar meine Sprache musste ich immer wieder anpassen. Gerade am Anfang war das alles nicht einfach. Und auch die Art zu schreiben veränderte sich im Laufe der Zeit ungeheuer.“
Er erzählte mir dann, was er alles für Fehler gemacht hatte, und in welche Fettnäpfchen er immer wieder getreten war, da er ja als Geist noch keine Erfahrung hatte. Ich bog mich zum Teil vor Lachen, während er eine Story nach der anderen erzählte. Ich bekam zwar weder die Nachrichten noch den Krimi mit, aber dieser Mann war einfach besser als Fernsehen.
„ Ich zeige dir mal was“, meinte er und holte sich Zettel und Kuli von meinem Schreibtisch. Dann schrieb er in verschiedenen Schrift:’ Komm doch bitte gleich mal in den Park’. Es sah schon witzig aus, wie die Schrift sich veränderte. Auf jedem Zettel war es anders geschrieben. Dann schob er mir ein paar Zettel hin: „Versuch du auch mal, verschieden zu schreiben.“
Die Versuche misslangen, irgendwie rutschte ich immer wieder in meine Schrift zurück. Es war schon witzig. Gegen Mitternacht, ich wollte grad ins Bett gehen, fiel mir noch was ein: „Als ich dich vorhin fragte, wo du wohnst, wollte ich eigentlich wissen, wo du hingehst, wenn du allein sein möchtest.“
„In die Kirche.“
„In die …aha! Und was tust du da?“
Verblüfft schaute ich ihn an.
„Ich bete.“
„Oh!“
Mehr fiel mir dazu nicht ein.
„Ich schöpfe Kraft aus diesen Gebeten. Sie sind für mich die Nahrung, die du zum Leben brauchst.“
Okay, der Kerl war einfach eine Nummer zu groß für mich, er hatte sich ja auch schließlich auf seine Rolle vorbereiten können, im Gegensatz zu mir. Ich wusste ja noch nicht mal, welche Rolle ich eigentlich zu spielen hatte. Also beschloss ich, erst einmal eine Runde zu schlafen, morgen ist ein neuer Tag.
Am nächsten Morgen weckte mich Müller, ein Frühstück war fertig, sehr angenehm. Ich kam seit langer Zeit mal wieder pünktlich und nüchtern ins Büro. Peter war schon da, also schlenderte ich genüsslich zu ihm rüber, legte ihm mit einem fröhlichen: „Guten Morgen, mein Lieber, gut geschlafen?“ die Hand auf die Schulter. Verblüfft schaute er auf: „Morgen, Jonas, wie geht’s?“
„Oh, danke, sehr gut. Weißt du, der Typ ist einfach Klasse! Der ist sein Geld echt wert, du solltest ihm eine Zulage spendieren, er hat es verdient.“
Sein Gesicht verwandelte sich zu einem Fragezeichen, was ich aber nicht beachtete. So! Natürlich würde er es nie zugeben, aber er sollte jedenfalls wissen, dass ich wusste…oder zu wissen glaubte…oder wie auch immer. Fröhlich pfeifend ging ich zu meinem Schreibtisch und vertiefte mich in die Arbeit.
Nach der Mittagspause war ein Meeting anberaumt, das ich völlig vergessen hatte. Unvorbereitet, wie ich war, konnte ich mich aber erstaunlich gut aus der Affäre ziehen. Lag wahrscheinlich daran, dass ich nicht verkatert war und mich recht gut konzentrieren konnte.
Alles in allem war es also ein erfreulicher Tag gewesen. Ich ging nach Feierabend noch beim Kaufland vorbei und beschloss, mir ein richtig gutes Abendessen zu gönnen. Müller hatte sich den Tag über um meine Wäsche gekümmert, alles lag sauber und gebügelt wieder im Schrank. Ich hatte sogar ein Bügeleisen? Erstaunlich!
Während ich brutzelte, verschwand Müller mal wieder. Der Abend verlief dann ebenso harmonisch wie der letzte. Ich genoss die Erzählungen von Müller, der wie immer amüsant heitere Anekdoten aus seiner Vergangenheit erzählte. Während er „seine“ Erlebnisse schilderte, beobachtete ich ihn. Verdammt, er wurde mir immer sympathischer. Was fühlte ich für ihn? Fühlte er etwas für mich?
„Müller, mal eine Frage: hast du dich eigentlich immer nur um Typen gekümmert, die schwul waren?“
„Ja, habe ich. Immerhin war die Homosexualität ja der Grund, warum ich mir das Leben genommen hatte. Und ich sollte ja lernen, dass das eben kein Grund ist, um sich selber weg zu werfen. Inzwischen habe ich es verstanden, deshalb bist du ja auch der letzte Mensch, um den ich mich kümmern muss, dann endlich darf ich ein Engel werden.“
„Hast du dann auch Flügel? Würdest du dann mal um mich herum flattern?“
Ich konnte nicht anders, ich musste einfach losprusten. Es sah so komisch aus, wie dieser gut aussehende markante Mann da vor mir im Sessel saß und vollkommen ernst darüber sprach, dass er ein Engel werden würde. Es war zu blöde, ich musste einfach kichern.
„Muss ich dich dann mit ‚Herr Engel’ anreden oder heißt du dann ‚Engel Müller’?“ Diese Vorstellung fand ich noch spaßiger, so dass ich mit dem Lachen überhaupt nicht mehr aufhören konnte.
Müller schien das überhaupt nicht lustig zu finden, jedenfalls verzog er keine Miene.
„Du wirst überhaupt nicht mit mir reden, denn wir werden uns nie wieder sehen. Und Engel haben keine Flügel, sie sind Lichtgestalten, die zum Kommunizieren keine Worte benutzen.“
Uff…diese Worte brachten mir in Erinnerung, dass er ja eines Tages gehen würde, er konnte ja nicht immer bei mir bleiben, es war ja nur ein Job.
Aber daran wollte ich jetzt nicht denken, also brachte ich das Thema wieder auf die Homosexualität. Ich erzählte ihm vom meinem Coming Out bei meinen Eltern. Ich war 17, völlig begeistert verliebt und wollte dieses große Glück teilen. Im Geiste stellte ich mir vor, dass mein Vater mir anerkennend die Hand auf die Schulter legt und mir zuzwinkert, während meine Mutter ganz aufgeregt den ersten Abend mit meinem Liebsten plant. Die Realität war leider etwas anders: mein Vater verpasste mir eine schallende Ohrfeige, während meine Mutter sich heulend ins Bett verkroch. Über das Thema wurde nicht weiter gesprochen.
Die nächsten Jahre verliefen in leichter Anspannung, deshalb nahm ich auch sofort einen Job neben dem Studium an und konnte mir damit eine kleine eigene Bude finanzieren. Somit wurde das Verhältnis etwas besser. Wenn wir uns sahen, war ich der liebe, fleißige Sohn und alles andere ging sie nichts an. Nach dem Studium bekam ich hier meinen Job, zog also noch weiter weg. Seitdem sehen wir uns so zwei bis dreimal im Jahr, sozusagen Pflichtbesuche. Noch vor einigen Wochen dachte ich, es sollte jetzt doch mal soweit sein, ich würde sie jetzt mal mit ihrem zukünftigen Schwiegersohn konfrontieren, bei dessen Eltern ich mit offenen Armen aufgenommen wurde. Aber noch bevor ich sie darauf vorbereiten konnte… na ja.
„Hey, bist du noch da?“ Müller schaute mich fragend an.
„Ja, alles okay. Ist noch Rotwein da?“ Ich stand auf und ging in die Küche. Alles war sauber und ordentlich, gefiel mir irgendwie.
„Müller, ich wollte mich mal bedanken, du hast hier soviel getan. Kann ich für dich etwas tun? Könntest du dein Spiel nicht mal für ein paar Stunden aufgeben, und wir beide gehen morgen Abend mal schick essen? Ich lade dich ein ja?“
„Nein, das können wir nicht, das weißt du ganz genau. Aber helfen könntest du mir schon. Du bist zwar so halbwegs wieder auf dem richtigen Wege, aber nur äußerlich. Setz dich her und rede über Christian. Du musst einfach mal drüber reden!“
„Hör zu, ich muss gar nichts und ich will auch nicht! Es ist okay, dass du ein paar Tage hier bist, aber wenn du weiterhin mit dem Thema nervst, dann schmeiße ich dich raus, ist das klar?“
Wütend stand ich vor ihm, während er mich ruhig anguckte. Diese Augen… sie waren einfach… wunderschön. Ich schluckte und setzte mich wieder.
Wir redeten noch ein wenig über belanglose Sachen, dann marschierte ich ins Bett. Müller blieb wie immer im dunklen Wohnzimmer sitzen, ganz schön unbequem, aber er wollte es ja nicht anders.
Die nächsten Tage verliefen sehr entspannt. Ich ging morgens zur Firma, sah zu, dass ich immer mehr von der liegen gebliebenen Arbeit aufholte, ging nach Feierabend einkaufen, während ich aß, verschwand Müller für eine Stunde, dann machten wir es uns gemütlich. Inzwischen stand zu meinem Erstaunen eine zweite Tasse Tee auf dem Tisch. Müller meinte, es sei sonst für mich zu ungemütlich. Damit hatte er recht. Er trank zwar nie einen Schluck, aber diese zwei Tassen wirkten besser als nur eine. Seine Selbstbeherrschung musste ich immer wieder bewundern, bei all dem Reden hätte ich mit Sicherheit mal aus Versehen einen Schluck getrunken. Wahrscheinlich trank er im Bad ab und zu mal einen Schluck Wasser. Obwohl….hm, ich hatte es noch nie erlebt, dass Müller mal ins Bad ging, er musste einfach nicht. Nun ja, kein Wunder, wenn er nichts trank. Höchst ungesund.
Der Gedanke, dass jemand zu Hause auf mich wartete gefiel mir außerordentlich. Es machte Spaß, abends heim zu kommen und da war jemand. Nur, wer war da? Wer war er nun wirklich und wie sollte es weitergehen? Ich nahm mir vor, am Wochenende ihn ganz gezielt zu fragen, was dass denn nun alles sollte und wie er sich die Zukunft vorstellt. Allmählich sollte mal Schluss sein mit dem Theater, so nett es auch war. Aber auf Dauer nervte es.
Freitag arbeitete ich konzentriert vor mich hin, als ein Paketbote im Büro erschien und lauthals nach einem Kollegen fragte. Ärgerlich über diese Unterbrechung schaute ich hoch, und dann setzte für einen kleinen Moment mein Herz aus: Christian! Nein, nein, Blödsinn, er war es natürlich nicht, aber dieser Typ sah ihm auf den ersten Blick so ähnlich. Wie konnte es sein, dass ich so erschrocken reagierte? Hatte ich mich nicht endlich damit abgefunden, dass es keinen Christian mehr gab in meinem Leben? Es war doch aus und vorbei, er hatte mich belogen und betrogen… wütend haute ich mit der Faust auf den Schreibtisch.
„Jonas, was ist los?“ Peter schaute zu mir herüber.
„Ich... äh... da ist ein Fehler im Programm und nun muss ich diesen ganzen Mist hier neu überarbeiten.“
„Soll ich dir helfen?“ Er erhob sich schon halb.
„Nein, danke, ich schaffe das schon, kein Problem, wirklich nicht, geht schon.“
Er setzte sich wieder und ich atmete erst mal tief durch. Nun ja, es war eben ein kurzer Schreck gewesen, weiter nichts. Natürlich hatte ich mit allem abgeschlossen, keine Frage, es war aus, Schluss, vorbei. Basta!
Der Abend begann wie immer. Als Müller wieder da war, kochte er Tee, setzte sich mir gegenüber in den Sessel und erzählte. Ich war unaufmerksam, gereizt, irgendwie ging mir alles auf die Nerven. Erklären konnte ich es nicht.
„Müller, wie soll es eigentlich mit uns weitergehen? Ich meine, ich finde es toll, dass du hier bist, aber ich wüsste doch jetzt mal so langsam den Grund.“
„Oh schön, du bist also bereit, weiterzumachen.“
Den Satz verstand ich ja nun überhaupt nicht, aber bevor ich etwas erwidern konnte, stand Müller auf und setzte sich neben mich auf das Sofa.
„Dann ist es wohl an der Zeit, dass ich dich mal fest in die Arme nehme, du armer Kerl.“
Und schon schlossen sich seine Arme um mich, ganz fest. Ich begriff erst nicht, was das nun sollte, als Müller leise in mein Ohr flüsterte: „Und nun horche mal ganz tief in dich hinein, was fühlst du?“
Hm? Was sollte ich fühlen? Zwei starke Arme umfingen mich. Nun ja, es war ein angenehmes Gefühl. Ich merkte, wie ich begann, mich zu entspannen. Mich ein wenig fallen zu lassen. Ich lehnte mich an ihn. Ich hob meine Arme und umarmte ihn auch. Fest. Immer fester, bis ich mich regelrecht an ihn klammerte und dann kam ein Schluchzen in mir hoch. Als sei ein Damm gebrochen, heulte und heulte ich, bis es mich regelrecht schüttelte. Müller lockerte ein wenig seine Umarmung, um mich mit Taschentüchern zu versorgen. Dann legte er mich auf das Sofa, streichelte mir über die Haare, während ich immer weiter heulen musste.
Irgendwann war es vorbei. Ich schniefte noch ein paar Mal, setzte mich auf und trank erst mal von dem Rotwein, den Müller mir geholt hatte.
Müller sagte kein Wort. Er schaute mich nur an. Die Worte kamen ganz von allein:
„Ich habe ihn geliebt, Müller, ich habe ihn wirklich geliebt. Über die erste Verliebtheitsphase waren wir längst hinaus. Es war mehr. Dachte ich. Wir schmiedeten schon Pläne für die Zukunft. Wenn er nach seinem Studium einen Job hätte, dann wollten wir uns gemeinsam eine Wohnung suchen, wir haben Stunden damit verbracht, sie in unserer Phantasie einzurichten. Wir haben uns vorgestellt, wohin wir im Urlaub fahren, wir haben nette Stunden mit seinen Eltern verbracht, ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mit ihm mal zu meinen Eltern zu fahren. Ich war mir so sicher, meinen Partner fürs Leben gefunden zu haben. Ich war einfach nur glücklich!
Wir haben uns nicht immer gesehen, denn er musste ja viel für das Studium tun. Es stand wieder mal eine Klausur an, und er musste an diesem Abend arbeiten. Das war ja auch nicht schlimm, ich ging also zu Charlie in die Kneipe, spielte eine Runde Darts, hatte Spaß mit den Kumpeln und ging dann wieder nach Hause. Der Abend war noch mild, also ging ich durch den Park. Es war schon fast dunkel, aber eben nur fast, daher konnte ich sie von weitem schon erkennen: sie standen unter dem Baum. Fest umschlungen küssten sie sich. Aber nicht ruhig, sondern voller Leidenschaft, fast wild. Sie streichelten sich, küssten sich, als ob sie es hier und jetzt, gleich an Ort und Stelle… na ja. Ich stand wie angewurzelt da. Mein Chris und ein anderer Mann. Beide voller wilder Leidenschaft. Ich schrie ein „NEIN!“, drehte mich um und rannte fort.
Chris rief irgendwas hinter mir her, ich habe es nicht gehört. Ich bin dann nach Hause. Gefühlt habe ich erst mal nichts. Weißt du, wie es ist, wenn die Welt zusammenbricht? Ich rechnete damit, dass Chris hinter mir her kommt, ich hätte ihn zusammenschlagen wollen, aber er kam nicht.
Jedenfalls nicht an diesem Abend. Ich habe die ganze Nacht hier gesessen, getrunken und Abschied genommen von meiner großen Liebe.“
„ Und was hat Chris dazu gesagt?“
„Nichts.“
„Nichts? Hat er sich nie wieder bei dir gemeldet?“
„Oh doch, ständig quasselte er mir auf den AB, ich solle ihn endlich anrufen, er müsse mit mir reden, aber ich habe nicht angerufen, ich bekam E-Mails, die ich sofort gelöscht habe, 2 Briefe, die ich gleich zerriss. Dreimal klingelte er hier Sturm, aber ich habe nicht geöffnet. Wozu auch? Was hätte er mir sagen wollen, was ich nicht schon wusste. Wozu sollte ich mir aus seinem Mund anhören, dass er einen anderen hat! Sollte ich mir anhören, dass der andere einfach besser sei? Dass er mich nicht mehr liebt? Oh nein, das wollte ich mir nicht auch noch antun, es war grauenhaft genug.“
Müller saß schweigend neben mir, während ich ein Glas nach dem anderen trank. Es war noch nicht vorbei, äußerst schmerzhaft musste ich es erkennen, es tat immer noch saumäßig weh.
„Komm, Kleiner, ich bringe dich ins Bett.“
Ins Bett? Die Idee war gut. Warum nicht? Was Chris konnte, das konnte ich schon lange, und einen Mann wie Müller schubste man nicht von der Bettkante. Ich stand schwankend auf, Müller lachte, zog mich an sich und ging mit mir ins Schlafzimmer. Dort legte er mich auf das Bett, fuhr mir noch einmal durch die Haare und sagte: „Nein, Kleiner, nein. Nicht wir beide.“ Damit ging er hinaus und mich umfing wohltuende Dunkelheit.
Ich schlief sehr lange am nächsten Tag und das Aufwachen verlangte nach einem Aspirin, essen konnte ich erstmal nichts. Nach einer ausgiebigen Dusche ging es mir besser.
„Müller, ich danke dir fürs Zuhören gestern Abend. Du hast mir geholfen. Ich habe schon erkannt, dass es noch nicht vorbei ist. Und es ist mir auch klar, dass es nicht besser wird, wenn ich mir die Birne zuknalle und mir selber egal bin. Okay, ich werde drüber nachdenken und versuchen, anders mit mir ins Reine zu kommen. Aber nun rede du auch. Erkläre mir jetzt endlich, wer du bist, was du von mir willst, wer dich geschickt hat und wie es weitergehen soll. Ich denke, so langsam bist du mir das schuldig, so mache ich jedenfalls nicht weiter!“
„Gut, du hast Recht. Es ist an der Zeit, dir alles zu erklären. Aber lass uns eben noch einen Spaziergang machen, du bist noch nicht ganz klar in der Birne.“
Der Gedanke hatte was, ich fühlte mich noch nicht ganz frisch und auf eine halbe Stunde kam es nun auch nicht mehr an.
Wir gingen also Richtung Park, Müller blieb hinter mir, im Park war er dann ganz verschwunden. Ich seufzte. Musste dass nun noch sein? Na gut, sollte er ein letztes Mal den unsichtbaren Geist spielen, wenn es ihm denn Spaß machte.
Ich ging ein wenig um die Bäume herum, konnte ihn aber nirgends entdecken. Also setzte ich mich auf die Bank und wartete, irgendwann musste er ja wieder auftauchen. Dann sah ich ihn. Mit großen Schritten kam er auf mich zu. Sein Gesichtsausdruck war finster. Chris! Ich stand schnell auf und wollte davon rennen.
„Bleib stehen, verdammt noch mal! Was willst du von mir?“
Ich drehte mich um, da stand er schon vor mir und blitzte mich wütend an.
„Bitte? Ich von dir? Ich will nichts von dir, nie wieder, hörst du? Verschwinde doch!“
Nun war ich auch wütend. Was fiel dem denn ein?
Chris packte mich derbe am Arm. „So nicht! Erst bestellst du mich nach Wochen des grausamen Schweigens ohne Vorwarnung hier in den Park und jetzt willst du kneifen?“
„Blödsinn! Lass mich los! Ich habe dich nirgends wohin bestellt.“
„Ach nee, dann hat wohl ein Geist eben bei mir Sturm geklingelt, den Zettel dahin gelegt und sich blitzschnell in Luft aufgelöst. Dumm nur, dass es deine Handschrift ist.“
„Verdammt noch mal, ich habe keinen Zet….Müller!“
Die Zettelschreiberei vor ein paar Tagen. Dieses hinterhältige Miststück sollte mir unter die Augen treten… aber das war sekundär, denn noch immer stand Chris wütend vor mir.
„Wer ist Müller?“
„Ein… Bekannter. Er hat sich wohl einen blöden Scherz erlaubt.“
„Sehr komisch, ich lache später. So, und jetzt hör mir mal genau zu! Ich habe versucht, mit dir zu reden, immer wieder, aber du wolltest nicht. Und jetzt will ich nicht mehr. Du hast mich belogen und betrogen, verschwinde aus meinem Leben und zwar für immer!“ Die letzten Worte schrie er beinahe, dann drehte er sich um und ging davon. Diesmal rannte ich hinter ihm her, packte ihn am Arm und drehte ihn wieder zu mir.
„Wie bitte? ICH habe dich belogen und betrogen? Das ist ja wohl nicht zu fassen! Habe ICH etwa an dem Abend hier unter dem Baum mit einem anderen rumgeknuscht?“
Energisch schlug er meinen Arm beiseite. Wie zwei Kampfhähne standen wir uns gegenüber.
„Wir haben nicht rumgeknutscht, du Blödmann, aber ich werde den Teufel tun und dir irgendetwas erklären!“
Inzwischen hatten wir begonnen, uns zu umkreisen. Was sollte das jetzt werden? Würden wir uns gleich prügeln? Von mir aus gerne, mir war grad danach zu Mute. Dann aber sah ich, dass Chris die Tränen in die Augen stiegen. Ich blieb stehen und atmete tief durch. Dann musste ich schlucken, denn plötzlich war mir auch eher nach Heulen.
„Bitte Chris, lass uns reden. Bitte!“
Ich ging zur Bank und setzte mich. Chris kam zögernd dazu. Er setzte sich auch und zündete sich eine Zigarette an, die ich ihm sofort wegnahm und zertrat. Alte Gewohnheiten eben.
„Du sollst doch nicht rauchen.“
Er zündete sich eine neue an und meinte: „Es geht dich überhaupt nichts mehr an, was ich tue.“
„Okay, du hast Recht, sorry. Würdest du mir jetzt erklären, wieso ich dich belogen haben soll?“
Er stand wieder auf, ging vor mir auf und ab und rauchte hektisch.
„DU hast mich glauben lassen, dass du mich liebst! DU hast so getan, als würdest du mir vertrauen! DU hast mir eingeredet, du würdest auch in schlimmen Zeiten zu mir stehen!“
Nun warf er seine Zigarette weg und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er stemmte die Arme in die Hüften und brüllte auf mich ein: „Ich hatte an unsere Liebe geglaubt! Ich hätte dein Vertrauen gebraucht! Ich hätte deine Stärke gebraucht, um alles durchzustehen! Aber du hast alles zerstört! Du hast mich allein gelassen, hast alles, was zwischen uns war mit Füßen getreten!“ Er sank schluchzend auf die Bank. Ich war fassungslos.
„Chris“, heulte ich nun auch los,“ um Himmels Willen, was ist passiert?“
Er zog ein Tempo aus der Hosentasche, gab mir auch eins und zündete sich wieder eine Zigarette an. Diesmal sagte ich nichts. Er atmete tief durch, rauchte schweigend.
„Also“, begann er, nachdem er aufgeraucht hatte, “erinnerst du dich daran, dass ich dir von meinem Freund erzählte? Dem Jan?“
Klar erinnerte ich mich. Zuerst war ich eifersüchtig, als Chris mir von dieser Freundschaft erzählte, aber dann merkte ich schnell, dass ich dafür keinen Grund hatte.
„Und erinnerst du dich noch, wie sehr ich mich gefreut hatte, als Jan schrieb, er und Andi wollten heiraten? Sie hatten uns eingeladen. Ich war so glücklich für die beiden.“
Ja, stimmt, er hatte damals einen regelrechten Freudentanz um den Tisch veranstaltet. Wir müssten die Einladung unbedingt annehmen, er sei Trauzeuge, und dann würde ich den Jan endlich mal kennen lernen, es sei zwar eine weite Fahrt, aber immerhin heiratete ja nicht jeden Tag der beste Freund… ja, ich erinnerte mich wieder.
„An dem Abend habe ich für die Klausur gepaukt. Dann hat es geklingelt, und ich dachte sofort an dich. Es war Jan. Total bleich stand er an der Tür. Er war in einem Rutsch die ganzen 600 km gefahren, nachdem er mittags den Anruf bekommen hatte, dass sein Andi bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.“
Ich musste tief Luft holen.
„Er saß einfach nur da und erzählte mit ganz ruhiger Stimme, wie sie beide in den Hochzeitsvorbereitungen gesteckt hatten, wie sie mit ihren Familien überhaupt drüber gesprochen hatten, mit ihren Arbeitgebern… er war völlig ruhig, es war einfach nur unheimlich, verstehst du? Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen, ich musste raus. Ich sagte zu ihm, wir sollten einen Spaziergang machen. Wie eine Marionette stand er auf und trabte neben mir her, erzählte immer weiter mit dieser monotonen Stimme. Und hier, unter diesem Baum, da blieb er plötzlich stehen und fing an zu schreien! Er stand einfach nur da und schrie sich die Seele aus dem Leib! Oh Josch, es war einfach nur grauenhaft!“ Wieder fing er an zu weinen und spontan nahm ich ihn in die Arme. Einen Moment saßen wir ganz ruhig so da, bis er sich beruhigte.
„Von einer Sekunde zur anderen wurde er still. Dann schoss er auf mich zu, und ich fing ihn gerade noch auf. Er zitterte am ganzen Körper, ich versuchte, ihn zu beruhigen, ich küsste ihn… überall hin, auf die Stirn, die Wangen, ja, wohl auch mal auf den Mund, ich weiß es nicht mehr, er wurde immer wilder, umklammerte mich, er sagte kein Wort, hatte einen totalen Nervenzusammenbruch, er war totenbleich, und ich hatte Angst! Und dann hörte ich dich schreien und sah dich davonlaufen!“
Ich saß total starr und konnte nicht fassen, was ich da hörte.
„Ich konnte mir aber keine Gedanken um dich machen, wunderte mich nur kurz, warum du nicht gekommen bist, um mir mit Jan zu helfen. Er brach dann endgültig zusammen. Ich legte ihn hier auf die Bank und rief die Rettung. Die ganze Nacht habe ich an seinem Bett gesessen, der Arzt sprach von einem schweren Schockzustand, ich habe mir die schlimmsten Sorgen gemacht! Ich hätte dich gebraucht, Josch, ich hätte dich verdammt noch mal gebraucht! Aber du bist ja nicht ans Telefon gegangen, ich wusste überhaupt nicht, was mit dir los ist. Zu all meinen Sorgen um Jan kamen auch noch die Sorgen um dich. Warum hattest du im Park geschrien? Warum bist du davongelaufen? Ich verstand es alles nicht.
Erst 2 Tage später war Jan über den Berg. Ich musste in der Zwischenzeit mit seinen Eltern reden,
die ja noch keine Ahnung hatten, sie waren völlig fertig. Sie kamen sofort, um sich um Jan zu kümmern. Wir haben lange zusammen geredet, wie es jetzt weitergehen sollte, alle waren wir ratlos. Wie konnten wir Jan helfen? Sie sind dann mit ihm nach Hause gefahren, ich kam 2 Tage später mit Jans Auto hinterher. Ich hatte dich immer noch nicht erreichen können, bin beinahe ausgeflippt! Wie sehr hätte ich dich gebraucht!
Noch am Abend vor der Beerdigung sprach ich lange mit Jan. Er wollte von mir wissen, was genau passiert sei, bevor er im Krankenhaus aufgewacht war, er hatte den totalen Filmriss. Ich schilderte ihm alles, auch deinen Schrei, und dass du dann davon gelaufen bist, und ich dich nicht mehr erreichen konnte. Er schaute mich nur merkwürdig an und meinte, hoffentlich hättest du uns nicht für ein Liebespaar gehalten. Da stand ich dann wie ein Depp. An diese Möglichkeit hatte ich überhaupt noch nicht gedacht, verstehst du? Das ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen, ich wollte es einfach nicht glauben. Du konntest doch nicht… ich meine, ohne mich zu fragen, ohne dir irgendetwas erklären zu lassen… aber Jan musste recht haben, es war die einzige Erklärung. Und da ist bei mir irgendwas kaputt gegangen, Josch, ganz doll kaputt. DAS sollte also die Liebe sein, von der du immer gesprochen hattest? Du ahnst nicht, was ich in den Tagen damals durchmachte und wie weh es heute noch tut.“
Was sagt man, wenn man gerade festgestellt hat, dass man der größte Idiot auf der ganzen Welt ist?
„Was sagt man, wenn man gerade festgestellt hat, dass man der größte Idiot auf der ganzen Welt ist?“ Ganz ruhig sprach ich aus, was ich gerade gedacht hatte.
„Am besten gar nichts, halt einfach die Klappe.“
„Nein, Chris, lass mich reden. Ich bin ein Idiot. Ich habe einen bösen Fehler gemacht, der mich meine große Liebe gekostet hat. Ich war engstirnig, egoistisch und einfach nur dumm. Aber man kann lernen, Chris. Und ich habe diese Woche viel gelernt. Weißt du, all die Geschichten, die Müller mir erzählt hat… am Anfang dachte ich, er wollte sie einfach nur so erzählen, aber ich habe immer mehr begriffen, was er mir damit sagen wollte. Jeder hat eine zweite Chance verdient, Chris. Bitte gib sie mir auch. Ich weiß, wie grausam ich dich behandelt habe, dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Aber ich habe gelernt. Du sollst mir auch nicht verzeihen, und ich weiß, dass nichts mehr so ist und sein kann wie früher, aber gib mir eine Chance. Lass uns reden, lass uns über alles noch einmal in aller Ruhe reden, mehr erwarte ich gar nicht. Bitte!“
Mein Herz klopfte zum Zerspringen.
„Wer ist denn nun dieser Müller?“
„Müller ist ein Engel, das heißt, nein, ist er noch nicht, er will aber mal einer werden, deswegen ist er jetzt noch ein Geist, das ist er natürlich nicht, eigentlich ist er Schauspieler, den jemand engagiert hat, ich weiß aber nicht, wer es ist, und warum er das getan hat…“
„Stopp mal, das ist mir jetzt alles zu hoch, also noch mal ganz langsam zum Mitdenken.“
„Pass auf, ich denke, Müller ist jetzt ohnehin bei mir in der Wohnung. Gerade heute wollte er mir nämlich alles erklären. Bitte, Chris, komm einfach mit, bitte!“
Ich stand auf und wartete auf seine Reaktion. Meine Knie waren butterweich. Auch er stand auf. Kam auf mich zu und umarmte mich wortlos. Fest drückte ich ihn an mich, wieder kamen mir die Tränen hoch. So standen wir einen Moment ganz ruhig, bis ich eine fröhliche Stimme sagen hörte: „Aber Hallo, das ist doch mal ein netter Anblick.“
Erschrocken fuhren wir auseinander. Die Joggerin hüpfte um uns herum und grinste: „Na, da hat sich wohl die Strafpredigt gelohnt, ja? Aber ich muss weiter, alles Liebe für euch.“ Sie winkte uns zu und lief davon.
„Das muss ich jetzt aber nicht verstehen, nein?“
„Ach Chris, ich habe dir soviel zu erzählen. Bitte komm jetzt, lass uns zu mir gehen und schauen, was Müller mir zu sagen hat. Ich bin so gespannt.“
Er nickte und wortlos gingen wir den Weg zu meiner Wohnung. Ich war immer noch total durcheinander von dem, was Chris mir erzählt hatte, aber ich war auch gleichzeitig gespannt auf Müller. Chris war es sicherlich nicht gewesen, das war mir jetzt klar. Aber wer dann? Peter traute ich es auch nicht mehr zu. Vielleicht Charlie, mein Kneipenwirt? Er machte sich immer Gedanken um seine Stammgäste, und ich war ja nun wirklich nicht gut drauf gewesen. Hatte er den Müller oder wie er sonst hieß an seiner Theke kennengelernt? Hatten die beiden einen Plan ausbaldowert? Immerhin hatte ich den Müller ja im wahrsten Sinne des Wortes vor der Kneipe getroffen. Nun, bald würde ich es erfahren.
„Müller? Ich bin wieder da und schau mal, wer noch hier ist.“ Ich stürmte in die Wohnung, Chris kam hinter mir her.
„Müller? Wo bist du?“
Ich rannte durch die Räume, aber er war nicht da. Der Schlüssel fehlte auch, also war er noch unterwegs. Auch gut, er würde schon noch kommen.
Chris und ich machten es uns gemütlich. Ich konnte es noch gar nicht fassen, ihn bei mir zu sehen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfasste mich, aber ich war stets darauf bedacht, einen gewissen Abstand zu wahren, ich wollte ihn nicht überfordern.
Wir redeten und redeten, schwiegen, sahen uns an, redeten wieder. Chris hatte eine verdammt schwere Zeit hinter sich, die Geschichte mit Jan tat mir auch sehr leid. Dann erzählte ich ihm von mir, meinem Absturz, meiner Selbstaufgabe, die ganze Geschichte mit Müller… wo zum Teufel steckte der denn nun?
Irgendwann schliefen wir beide einfach ein. Am nächsten Morgen war Müller immer noch nicht da. Wir duschten und frühstückten, dann wollte Chris zu sich nach Hause, Jan wollte anrufen. Ich ging mit. Nach dem langen Telefonat gingen wir einkaufen, schlenderten durch den Park. Einmal nahm ich kurz seine Hand, er ließ es geschehen.
Wir gingen wieder zu mir. Aha, der Schlüssel lag in der Schale, also war er da.
„Müller, hallo, da bist du ja wieder. Wo hast du denn gesteckt?“ Suchend ging ich ins Wohnzimmer, aber da war er nicht.
„Josch, komm doch mal her.“
Chris war mit der Einkaufstüte gleich in die Küche gegangen. Mein großer alter Küchentisch war voll gestaubt mit Mehl. Jemand hatte Buchstaben hineingemalt.
„ Lieber Jonas, meine Aufgabe ist erfüllt. Nun darf ich gehen. Vergiss mich nicht. Müller“
Was sollte das jetzt? Hatte der Kerl sich einfach aus dem Staub gemacht? Ließ mich hier sitzen ohne ein Wort der Erklärung? Ich schlug wütend mit der flachen Hand auf den Tisch und das Mehl staubte auf.
Chris lachte schallend: „Gut siehst du aus, irgendwie so hübsch bleich.“
Wir alberten herum und hatten dann allerhand zu tun, das Mehl aus der Küche zu entfernen. Wir gingen zum Italiener um die Ecke, anschließend in unsere Kneipe. Charlie begrüßte uns strahlend.
„Na das ist doch aber schön, euch beide hier zu sehen. Was wollt ihr trinken? Wie immer?“
Wir nickten und ließen uns an der Theke nieder.
„Du, Charlie, der Müller ist so sang- und klanglos verschwunden, das finde ich fies. Richte ihm doch einen Gruß aus, ich hätte mich gerne noch mal für alles bedankt, was er für mich getan hat.“
Forschend schaute ich Charlie an. Der zog die Augenbrauen fragend hoch: „Wer? Müller? Kenne ich nicht. Soll der Gast hier sein?“
„Charlie, nun komm, ich habe dich durchschaut. Irgendwann hat jedes Spiel ein Ende, und ich muss gestehen, er hat es toll gespielt.“
„Jonas, ich habe keine Ahnung, was du meinst. Aber es ist toll, dich mit Chris hier zu sehen. Geht es euch gut?“
Okay, er wollte nicht reden. Oder hatte er echt keine Ahnung? Ich wusste es einfach nicht, und irgendwie war es mir grad egal. Ja, ich war mit Chris hier zusammen. DAS war wichtig, sonst nichts.
Nach einer netten Stunde fragte ich Chris mit Herzklopfen, ob er noch mit zu mir käme auf einen Absacker. Er nickte wortlos. Wir gingen hinaus und noch ein Stück durch den Park. Es war dunkel geworden, aber ein klarer Himmel, an dem die Sterne funkelten.
Wieder kam mir Müller in den Sinn. Ich ging auf die Rasenfläche, breitete die Arme aus, drehte mich immer wieder langsam um mich selbst und rief in den Himmel: „Hey Müller! Das kannst du doch nicht machen, du Blödmann! Komm gefälligst zurück und rede mit mir!“
Nichts passierte. Keine Sternschnuppe zeigte sich, es erschienen keine Buchstaben am Himmel, kein Engelschor sang ein hübsches Liedchen. Ich kicherte albern vor mich hin. Wahrscheinlich stand Müller hinter irgendeinem Baum und lachte sich halbtot.
Chris kam kopfschüttelnd auf mich zu, schnappte sich meine Hand und meinte nur: „Komm jetzt.“
Da ging ich nun mit Chris Hand in Hand. Wir waren auf dem Weg zu mir nach Hause. Wir würden wieder viel reden und …und?
Wir standen am Anfang eines Weges. Ob und wie lange wir ihn gemeinsam gingen, würde sich zeigen. Es war eine Chance, ein Anfang. Dass ich diese Chance bekommen hatte, das hatte ich jemandem zu verdanken, von dem ich nicht wusste, wer er war. Aber war das nicht eigentlich auch egal?
Ich drehte mich noch einmal kurz um, schaute in den Park, auf den Baum und kurz in den Himmel.
„Danke, Müller.“
Nachwort
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