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Drei schwere Wörter

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Inhaltsverzeichnis

 

Oliver sitzt an seinem Schreibtisch und beobachtet den Bildschirmschoner seines Computers. Normalerweise wäre er jetzt mit seinen Freunden unterwegs. Am Wetter liegt es nicht, dass er zu Hause hockt. Die Sonne scheint zwar nicht, es regnet allerdings auch nicht. Heute hat er einfach keinen Bock. Seit fast zwei Stunden sitzt Oliver nun schon so da und blickt gedankenversunken mal aus dem Fenster, mal zu seinem Bildschirm.

Heute in der Schule hat er sich mächtig über einen von Bülents dummen Sprüchen aufgeregt. Oliver spielt seit langem Handball im Sportverein. Bülent hingegen spielt im Fußballteam desselben Vereins mit. In der großen Pause hat er dann einfach vor versammelter Schülerschaft laut herausposaunt, Handball sei was für Mädchen, echte Männer würden Fußball spielen.

Oliver ist sofort auf 180 gewesen und es hätte nur eines einzigen weiteren Wortes in dieser Richtung bedurft und Bülent hätte sich eine von ihm gefangen. Oliver hat sich nur mühsam im Zaume halten können.

Warum hat ihn dieser Spruch so geärgert? Bülent ist seit jeher bekannt für seine Machosprüche. Oliver hat ihn und sein Gerede eigentlich nie richtig für voll genommen. Außer heute. Da hat er ihn zum Kochen gebracht. Haben sich seine italienischen Gene gemeldet, die er von seinem Vater mitbekommen hat?

Ach ja, sein Vater. Er hat ihn nie kennengelernt, da er sich gleich nach seiner Geburt in seine Heimat Italien abgesetzt hat. Seitdem hört oder liest er nur zu Geburtstagen oder Weihnachten von ihm. Vermisst hat er ihn nie. Mit seiner Mutter hat er eigentlich immer über alles reden können. Sie hat immer ein offenes Ohr für ihn und manchmal sogar den einen oder anderen brauchbaren Ratschlag.

Was ihn jetzt allerdings grübeln lässt, kann er irgendwie doch nicht mit seiner Mutter besprechen. Was ihn jetzt bewegt, ist zu intim, als dass er es mit einer Frau besprechen könnte. Das geht schon eine ganze Weile so, spätestens seit er sich vor einem guten Jahr entschlossen hat, sich regelmäßig zu rasieren. Bart und Koteletten sind ihm doch zu albern geworden. Da hat er zum ersten Mal bemerkt, dass es Dinge gibt, die er nicht mit seiner Mutter besprechen kann – oder will.

Egal, er hat sich einfach Klingen und Rasierschaum besorgt und geübt. Zwischenzeitlich haben sich ein paar Härchen auf seiner Brust gezeigt. Die rasiert er sich auch einfach mit weg.

Neulich allerdings ist ihm nach dem Handballtraining Giovanni beim Duschen aufgefallen. Giovanni ist in Italien geboren und erst vor einigen Jahren mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Deutschland gekommen. Zum ersten Mal ist ihm aufgefallen, dass er ziemlich viele Haare auf Bauch und Brust hat. Und das, obwohl Giovanni kaum ein halbes Jahr älter ist als Oliver. Giovanni muss sich wohl auch im Gesicht häufiger rasieren. Oliver scheint in dieser Hinsicht wohl doch eher die Gene seiner Mutter geerbt zu haben: Einen Vollbart könnte er sich wohl längst noch nicht wachsen lassen. Auch hat Oliver viel hellere Haare als Giovanni und auch nicht so dicke. Giovanni hat eine blauschwarze Matte auf dem Kopf.

Noch während Oliver ihn gedankenverloren betrachtet hat – immer vorsichtig, dass das nicht zu sehr auffällt – ist Sven aus der Dusche in den Umkleideraum gekommen und hat vor dem Spiegel posiert und seine Muskeln begutachtet.

Giovanni hat ihn dazu nur in seinem komischen Deutsch angequatscht: „Hey, was guckstu disch so an? Schieke Muskeln, aber nicht mal Haare auf der Bruust.“

Sven hat kurz aufgelacht und nur lakonisch erwidert: „Mach dir mal keinen Schädel. Auf Stahl wächst eben nichts.“ Dabei trommelte er mit seinen Fäusten auf die Brust.

Giovanni hat nur dumm geguckt. Die anderen haben angefangen zu lachen.

Oliver mag Sven. Der ist fast immer gut gelaunt und zu jeder noch so dummen Bemerkung hat er stets einen coolen Spruch parat. Und Sven hat Muskeln, kurze blonde Haare und stahlblaue Augen. Er ist der Hingucker.

An dem Tag in der Umkleide ist Oliver etwas aufgefallen. Giovanni hat sich nicht nur einfach umgezogen. Nein, Giovanni hat Oliver seinen auf Bauch und Brust behaarten Körper, seine ebenso haarigen Beine und seine etwas dunklere Haut gezeigt. Oliver hat das nicht kalt gelassen.

Auch Sven hat nicht einfach nur seine Muskeln vorgeführt. Sven hat in ihm genauso den Wunsch hervorgerufen, diese Muskeln zu berühren, ihm über den Bauch zu streicheln und …

Erst Svens eindeutig leicht belustigter Blick in Olivers Körpermitte hat ihn neulich darauf aufmerksam gemacht, dass ihn der Anblick seiner beiden nackten Sportkameraden erregt hat. Schnell hat er sich seine Hosen angezogen und nur verschmitzt zurückgelächelt.

Oliver überlegt. Über seinen Computerbildschirm huschen Fotos von Jungs und jungen Männern mit freien Oberkörpern, in Badehosen oder engen Jeans und offenen Hemden.

Vor jenem Tag in der Umkleidekabine ist ihm nicht bewusst gewesen, was ein nackter Jungenkörper in ihm auslöst, welche Begierde ihn plötzlich erfasst. Ja, mit einem Male verspürt er große Lust, seine Freunde nicht nur anzuschauen, sondern auch zu berühren. Was gäbe er dafür, Giovanni küssen zu dürfen, seine vollen dunkelroten Lippen? Oder den hellhäutigen Sven einfach in den Arm nehmen und an sich drücken?

So sehr er sich die Berührung seiner beiden Freunde herbeisehnt, so sehr er sich wünscht, ihre Wärme zu fühlen, sie anzufassen, sich von ihnen streicheln zu lassen, sich mit ihnen zu küssen – so sehr fürchtet er sich vor Ablehnung. Wenn auch Homosexualität nicht grundsätzlich abgelehnt wird in seinem Verein, bietet sie immer wieder Anlass, sich darüber lustig zu machen. In seinem Verein ist ihm kein Schwuler bekannt. Was, wenn seine eigenen Sehnsüchte unter seinen Kameraden bekannt werden? Was, wenn sie ihn für schwul halten?

Er muss sich etwas einfallen lassen. Der Anblick seiner nackten Freunde beim Duschen und danach macht ihn an. Und niemand darf etwas davon merken. Wie soll er das anstellen? Wie soll er verhindern, dass er einen hochbekommt? Was würden die sonst von ihm denken? Wie würden sie reagieren?

Soll er sich überhaupt noch zusammen mit den anderen in die Dusche wagen?

Er spielt gerne Handball. Dieser Gruppensport ist sein Ein und Alles. Die Umarmungen nach jedem geworfenen Tor, das Klopfen auf die Schultern, wenn ein Wurf misslungen ist. Bisher ist alles sportlich und kumpelhaft gewesen. Jetzt verspürt Oliver mehr, wenn er nur daran denkt.

Gerade denkt er über das Für und Wider nach, vorerst nicht mehr zum Handball zu gehen, als er die Wohnungstür hört: Seine Mutter kommt nach Hause.

Manuela ruft ein fröhliches „Guten Abend! Jemand zu Hause?“ in die Wohnung und schließt die Tür.

Oliver antwortet: „Hallo. Ich bin schon da.“ Mit einer Mausbewegung beendet er rasch die Diashow auf seinem Bildschirm.

Schon öffnet seine Mutter die Tür, steckt ihren Kopf ins Zimmer hinein und sagt: „Hallo Schatz, ich mach dann mal was zu essen.“

Er nickt ihr lächelnd zu. Schatz ist fast noch schlimmer als Olli.

„Oliver, hilfst du mir eben? Essen ist gleich fertig“, hört er sie nach einiger Zeit nach ihm rufen.

Er schlurft in die Küche, deckt den Tisch. Seine Mutter kommt mit den Schüsseln.

„Wie war dein Tag?“

„Geht so.“

„Und in der Schule, alles OK?“

„Jepp.“

„Und? War alles gut?“

„Jepp.“

„Herrgott nochmal, kannst du auch mal in ganzen Sätzen reden?“

„Jepp.“

„Ach Olli … äh … Oliver, schau, ich mache mir halt Gedanken. Du sagst kaum noch was, wir reden gar nicht mehr miteinander, du wirkst immer so abwesend, und ich habe keine Ahnung, was in deinem Kopf so vorgeht! Muss ich mir über irgendwas Sorgen machen?“

„Nein, es ist nichts, es ist gar nihiiichts, okay? Ich bin in letzter Zeit ein wenig müde und abgespannt von der Schule, wird nicht gerade leichter, diese Lernerei!“

„War heute nicht auch Handballtraining?“

„Nein, ist erst morgen, da gehe ich aber nicht hin.“

Sie schaut ihn erstaunt an: „Warum das denn nicht? Ist was?“

„Neihiin! Wir schreiben bald Mathe. Da muss ich noch lernen für.“

Manuela seufzt. Sie merkt ganz genau, dass er nicht reden will, und gibt auf. Auch sie ist müde und abgespannt, der Tag war stressig. Wenn er jetzt nicht reden will, wird sie ihn nicht dazu bringen.

Oliver hilft ihr noch beim Abräumen. Sie macht Ordnung in der Küche, legt sich dann mit einem Buch auf das Sofa und ist ein paar Minuten später eingeschlafen.

Er holt sich noch ein Glas Limo aus der Küche, sieht sie da so liegen und ein leichtes, wehmütiges Gefühl erfasst ihn. Früher, als er noch klein war, hat er sich dann immer noch ein paar Minuten zu ihr gekuschelt, sie haben leise über den Tag gesprochen, dann hat sie ihn ins Bad geschickt, ihm auch noch was vorgelesen, obwohl er schon selber lesen konnte, aber es war immer so schön gemütlich.

Er zuckt mit den Schultern und geht in sein Zimmer.

Dort angekommen lässt er den Computer wieder hochfahren. Er will noch ein bisschen surfen. Ein Thema lässt ihn nicht mehr los: Ist er schwul? Ist es eine Phase? Woran merkt man eigentlich, dass man schwul ist, wenn man außer gucken und träumen noch nie etwas mit einem Jungen gehabt hat?

Wann kann man sich sicher sein, ob man schwul ist oder es nur eine Phase ist? Oliver ist jetzt schon 17 Jahre alt. Seinen Geburtstag hat er abends mit seinen Freunden gefeiert. Der Freitagabend hat förmlich dazu aufgefordert. Am Mittag danach, als er aufgestanden ist, hat er seine Mutter aufgefordert, ihn nicht mehr Olli zu nennen. Immerhin sei er jetzt schon sehr erwachsen.

Sie hat ihm einfach nur geantwortet: „OK, Olli“, und ihn schräg angesehen und so wissend gelächelt.

Er mag sie eigentlich auch nicht mehr „Mutti“ nennen. Das ist irgendwie kindisch. Aber wie denn? Bei ihrem Vornamen? Manu? Ela? Oder gar Manuela? Das macht Kevin bei seinen Eltern. Es ist schon irgendwie komisch, so anders, so ungewohnt.

Kevin ist sein bester Freund in der Schule seit der siebten Klasse. Bis zu den letzten Sommerferien haben sie auch immer nebeneinander gesessen. Jetzt sitzt Kevin mit Sabrina zusammen. So wie sie sich immer anschauen, sind sie jetzt ein Paar. In den großen Pausen sind die beiden stets unsichtbar. Sie ist nicht mehr bei ihren Mädels und Kevin nicht mehr bei Oliver und seiner Clique zu finden.

Oliver grübelt. Was stört ihn eigentlich daran? Er freut sich eigentlich für Kevin, dass er sich verliebt hat. Dennoch hat er so ein merkwürdiges Gefühl zwischen Trauer und Wut. Jacqueline, die jetzt in der Schule neben ihm sitzt, meint, das sei ganz klar Eifersucht.

Eifersucht? Auf wen ist er eifersüchtig? Was würde er ändern, wenn er die Gelegenheit dazu hätte? Eins ist klar, ihm fehlt Kevin. Sein Freund Kevin. Sein Lächeln. Seine lustigen Sprüche. Die Sachen, die sie immer gemeinsam gemacht haben. Seine Augen. Er wär so gern an Sabrinas Stelle.

Wenn Kevin in seiner Handballertruppe wäre, würde er mit keiner Silbe darüber nachdenken, nicht mehr hinzugehen. Neben Kevin hat er sich eigentlich immer wohlgefühlt.

Auf Olivers Bildschirm huschen längst schon wieder die Knabenbilder seines Bildschirmschoners. Es ist ziemlich spät geworden mittlerweile. Eigentlich ist er müde, will dennoch nicht ins Bett gehen. So sitzt er bewegungslos an seinem Schreibtisch und beobachtet die nackten und halbnackten Körper vor seinen Augen.

Plötzlich hört er ein Geräusch hinter ihm an seiner Zimmertür. Er greift schnell nach seiner Maus, die er nicht gleich findet, und beendet diese besondere Diashow. Als er sich dann endlich bewegt und verstohlen zur Tür blickt, sieht er nur noch, wie diese langsam leise von außen geschlossen wird.

Scheiße. Scheiße. Scheiße. Scheiße, denkt er, hat sie gesehen, was für einen Bildschirmschoner ich habe? Oh Gott. Ich muss aufpassen und meine Tür schließen. Oder besser: einen unverfänglichen Bildschirmschoner einstellen.

Müde schaltet er den Computer aus und macht sich bettfertig.


Am nächsten Morgen steht er schneller auf als sonst, bemüht sich, kein unnötiges Geräusch zu machen, und macht sich auf den Weg zur Schule. Seine Mutter lässt er schlafen, sie hat wohl Spätdienst heute, sonst wäre sie schon wach jetzt.

Später am Morgen schaut sie sich amüsiert im Spiegel an und schüttelt dann den Kopf. Welch merkwürdige Gedanken sind ihr denn da durch den Kopf geschossen!

Gut, als sie letzte Nacht von der Toilette gekommen ist, hat sie bemerkt, dass Olivers Zimmertür nur angelehnt gewesen ist, hat sie ihn nur ermahnen wollen, nun endlich mal ins Bett zu gehen, er müsse doch in die Schule. Sie hat leise die Tür weiter geöffnet und auf seinem Computerbildschirm all die Bilder mit den nackten jungen Männern entdeckt, da hat sie halt einen Schrecken bekommen. Oliver hat wohl nichts bemerkt, sodass sie sich leise wieder zurückgezogen hat und total verwirrt ins Bett gegangen ist.

Nun, heute Morgen sieht die Welt wieder anders aus. Lächelnd bürstet sie sich die Haare und legt ein dezentes Make-up auf. Sie sollte sich beeilen, die Arbeit ruft, Oliver ist schon fort.

Der Junge wird verliebt sein, denkt sie sich. Und da ist es doch natürlich, wenn man mal Vergleiche zieht, oder? Oder nicht? Sie weiß es nicht und nun ist einer dieser seltenen Momente, in denen sie Olivers Vater vermisst, ihn hätte sie fragen können. Ob sie ihm mal eine Mail schreibt?

Ach was, lieber nicht. Sie sind all die Jahre gut ohne ihn ausgekommen … obwohl … sie lässt die Hand mit der Bürste sinken … sie ist all die Jahre gut ausgekommen, aber Oliver auch?

Sicher, sie hat nie das Gefühl gehabt, dass er einen Vater vermissen würde, der sich ja gleich nach Olivers Geburt abgesetzt hat nach Italien, weil er doch solches Heimweh nach seinem Land gehabt habe. Hat er gesagt! Egal, er zahlt seitdem regelmäßig, ansonsten hält er sich wie verabredet aus ihrer beider Leben heraus.

Oliver, der die ganze Geschichte kennt, hat nur einmal gemeint, so einen Typen brauche er nicht.

Aber jetzt wünschte sie sich schon, es gäbe einen Vater, der mit dem Sohn mal ein … ein … ja, soll sie es Männergespräch nennen? … führen sollte.

Erschrocken blickt sie auf die Uhr: Sie muss los und zwar jetzt!

Im Bus sinniert sie noch ein wenig vor sich hin: Ihr Junge ist ein unkompliziertes Kind gewesen, ihr Olli! Huch, bloß nicht Olli denken! An seinem 17. Geburtstag, also erst vor einem halben Jahr, hat er sie dringend gebeten, ihn von nun an Oliver zu nennen, und sie hat es versprochen. Dafür wollte er sie nun Manu nennen statt Mutti. Gute Freunde nennen sie auch so. Na ja, sie kann froh sein, dass er nicht auf ihren vollen Vornamen Manuela bestanden hat.

Über alles haben sie reden können, es ist halt auch nicht immer einfach, als alleinerziehende Mutter mit Job ein Kind zu erziehen, den Haushalt in Schuss zu halten und sich nicht selbst zu verlieren.

Auch seine Pubertät ist eigentlich problemlos verlaufen. Nun gut, es hat ein paar Streitigkeiten gegeben, aber das ist ja auch normal.

Nur in letzter Zeit … was ist nur mit ihm los? Er wirkt so in sich gekehrt, manchmal ist er richtig abweisend zu ihr. An der Schule kann es doch wohl nicht liegen, gut, er ist kein Überflieger, aber er kommt recht gut durch, und dass er noch nicht konkret weiß, was er nach dem Abi nun machen will … das wird sich finden.

Aber sie wird heute Abend weiterdenken, nun erst mal die Arbeit.


Im Klassenraum angekommen, lässt sich Oliver auf seinen Stuhl fallen und stützt seinen Kopf auf seinen Unterarmen ab. Er registriert nur beiläufig, wie seine Klassenkameradinnen und -kameraden hereinkommen, ihn begrüßen und ihre Plätze aufsuchen. So bemerkt er kaum, wie Jacqueline neben ihm Platz nimmt.

„Morgen Oliver“, sagt sie wie immer.

„Hallo Jäckie“, murmelt er, ohne aufzusehen.

„Was ist los mit dir?“

„Häh? – Ach nichts, hab‘ schlecht geschlafen.“

Jacqueline ist längst schon aufgefallen, dass mit Oliver etwas nicht stimmt. So oft sie ihn auch in der letzten Zeit befragt hat, ist aus ihm nichts herauszubekommen gewesen. Eigentlich mag sie ihn. Er ist so anders als die anderen Jungs, ohne dass sie erkennt, was es ist. Sie hat sich vorgenommen, ihm auf den Zahn zu fühlen. Auf ihre Fragen reagiert er immer nur abweisend. Sie hat einen Plan gefasst.

Dann kommt der Geschichtslehrer herein. Alle Gespräche verstummen. Nach einer Begrüßungsansprache gibt er die korrigierten Klausuren zurück. An Oliver geht das alles nur im Nebel vorbei. Zu sehr brütet er über seine eigenen Gedanken. Schließlich wird neben ihm seine Klausur geworfen.

Der Lehrer spricht ihn an: „Oliver, was haben Sie sich dabei gedacht? Das haben Sie besser drauf. Was ist bloß los mit Ihnen in letzter Zeit?“

Oliver blickt seinen Lehrer nur desinteressiert an. Er hat die Sätze gehört, doch ihr Sinn hat sein Gehirn nicht erreicht.

Der Lehrer geht weiter. Oliver schlägt missmutig die letzte Seite auf und hält die Luft an.

Oh Mist, eine Vier in Geschichte! Und das, obwohl ich so sehr dafür gelernt habe und das auch eigentlich kann. Ich versaue mir gerade meinen Durchschnitt.

Dem Unterricht folgt er die gesamte Doppelstunde nur mit Mühe. Mit dem Klingelzeichen packt er seine Sachen in den Rucksack und verlässt den Raum Richtung Hof. Er merkt nicht einmal, dass Jacqueline ihn anrempelt.

Im Hof angekommen, durchwühlt Oliver seinen Rucksack. Er hat tatsächlich seine Englisch-Hausaufgaben nicht dabei. Stattdessen findet er einen hellblauen Briefumschlag, auf dem in Jacquelines Schrift sein Name steht. Er kennt diese Schrift zu gut, oft genug hat er bei ihr abgeschrieben, seit sie zusammensitzen. Er hat eigentlich vorgehabt, sie um die Englischaufgaben zu bitten, dass er sie abschreiben kann.

Warum schreibt sie ihm nun einen Brief? Was will sie von ihm? Sonst ist sie doch nicht auf den Mund gefallen und sagt stets geradeheraus, was sie will und denkt. Einen Brief von Jacqueline.

Hm, „Willst du mit mir gehen“ wird es wohl nicht sein, denkt er und lächelt kurz.

Er geht in eine Ecke des Schulhofes und reißt den Umschlag vorsichtig auf. Dann zieht er eine Postkarte heraus. Auf der einen Seite ist eine bunte Blume aufgedruckt und ein kurzer Text: „Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren, schmerzlicher wurde als das Risiko, zu blühen.“ - Anaïs Nin -

Was soll das? Was meint sie?

Bedächtig dreht er die Karte um. Dort steht nur ein Satz in Jacquelines sauberer Schrift: Wenn du mal reden willst, weißt du, wo du mich findest. J.

Der Rucksack gleitet ihm aus der Hand. Er lässt ihn auf den Schotter des Hofes rutschen. Dann liest er wieder diesen einen Satz und das Zitat auf der anderen Seite.

Das Risiko zu blühen, geht es ihm durch den Kopf. Meint sie etwa, ich blühe nicht, oder sollte mal blühen? Was heißt hier Risiko? Was geht sie das überhaupt an? … Ahnt sie was? Was ahnt sie und ich bin mir nicht einmal sicher?


Zu Beginn des Schuljahres ist Oliver enttäuscht gewesen, als sein Freund Kevin sich einfach zu Sabrina an den Tisch gesetzt hat und auch keine Anstalten gemacht hat, sich wieder zu ihm zu setzen. Oliver hat da noch gehofft, das würde nur kurzfristig so sein. Zu dem Thema hat Kevin nie mit ihm gesprochen. Wie kann es sein, dass seine neue Flamme Sabrina ihn offensichtlich so bezirzt, dass er seinen besten Freund einfach vergisst.

Sabrina scheint auch nicht mit Jacqueline gesprochen zu haben, die vor den Ferien auf Kevins neuem Platz gesessen hat. Oliver ist sehr enttäuscht von Kevin gewesen.

Nun hat sich Jacqueline neben ihn gesetzt. Es hätte ihn schlimmer treffen können. Sie ist ihm jedenfalls noch nie unsympathisch gewesen.

Direkt nach den Ferien hat sie allerdings angefangen, sich an ihn heranzumachen. Im Unterricht hat sie gefühlt zu nah neben ihm gesessen. Er ist weiter weg gerutscht mit seinem Stuhl. Am nächsten Tag hat sie wieder so eng bei ihm gesessen, dass er wieder weggerutscht ist. Nach ein paar Tagen hat sie es wohl eingesehen.

Nicht nur im Unterricht hat sie ganz offensichtlich seine Nähe gesucht. Seit Kevin nicht mehr in den Pausen mit ihm und den anderen Jungs zusammengestanden hat, ist sie oft ganz unvermittelt neben ihm aufgetaucht und hat ihm irgendwelche Gespräche aufgedrängt.

Oliver hat sie gemocht und mag sie immer noch. Nur die Art und Weise, wie sie sich an ihn herangemacht und manchmal sogar ihre Arme um seine Schultern gelegt hat, ist ihm irgendwie unangenehm gewesen.

Auf der anderen Seite haben sie sich gut über alles Mögliche unterhalten können. Jacqueline ist keine Dumme. Nur hat sie augenscheinlich mehr für ihn empfunden, als er für sie. Oliver hat sie als Freund gerngehabt. Sie hat sich wohl mehr vorgestellt.

Einmal hat sie ihn in der Pause wieder umarmt, ihre Hüfte an seine Seite gedrückt und ihn zu küssen versucht. Er hat nur verkrampft und ist von ihr gewichen. Leider hat sie nicht locker gelassen und einen zweiten Kussversuch gestartet. Das ist zu viel für Oliver gewesen. Er hat nur Wut und Angst zugleich verspürt, sich aus ihrer Umklammerung gelöst und ist einfach weggegangen. Sie hat ihm noch irgendetwas hinterhergerufen, das er nicht verstanden hat. In der nächsten Stunde danach hat er gefehlt, nur um nicht neben ihr sitzen zu müssen.

Die darauffolgenden Tage und Wochen haben sie sich ignoriert oder nur die allernotwendigsten Worte gewechselt. Oliver hat sich nicht mehr getraut, ihr in die Augen zu sehen. Jacqueline ist sicherlich ein wenig beleidigt gewesen. Er hat sich über sich selbst geärgert. Doch was hätte er machen sollen?

Irgendwann ist sie wieder auf ihn zugekommen und hat mit ihm gesprochen. Berührt hat sie ihn allerdings nicht wieder. Geküsst hat sie ihn schon gar nicht. So sind sie so etwas wie Freunde geworden.


Oliver steht in der Ecke auf dem Schulhof und hält den Briefumschlag und die Postkarte fest. Er blickt starr in die Ferne. Knospe. Risiko. Blühen.

Von der Seite sieht er Bülent und Giovanni auf ihn zukommen. Na, da haben sich ja zwei gefunden.

Bülent ruft ihm noch im Ankommen zu: „Na, Olli. Gehste heute wieder zum Mädchenturnen?“

„Ach, halt doch die Fresse und lass mich in Ruhe!“, erwidert er gereizt.

Giovanni hält Bülent zurück, als dieser Anstalten macht, auf Oliver zuzugehen und ihm eine zu verpassen.

„Ruisch, Bülli, ruisch. Du weißt doch, wie er reagiert“, versucht Giovanni, ihn zu beruhigen. „Olli, du bist doch nachher beim Handball?“

„Nee, Gio, ich komme heute nicht.“

„Was los? Liebeskummer?“, mischt sich Bülent wieder ein.

„Ach, lasst mich einfach in Ruhe. Ich habe keinen Bock.“

Oliver dreht sich weg, greift sich seinen Rucksack und geht zu den Fahrradständern. Nachdem er sein Fahrrad losgeschlossen hat, verlässt er die Schule. Auf Englisch hat er auch keinen Bock.

Eine ganze Weile fährt er ziellos durch die Stadt. Nach Hause will er noch nicht. Er will nachdenken. So entschließt er sich, an seinen Lieblingsplatz am kleinen Badesee zu fahren. Dort dürfte er um diese Uhrzeit ungestört bleiben.

Oliver steuert die kleine Liegewiese an und fährt bis ans Wasser. Dort legt er sein Fahrrad ins Gras und seinen Rucksack daneben. Dann setzt er sich ins Gras und blickt über die Wasseroberfläche. Ein Entenpaar kommt schnatternd angeflogen und landet auf dem See. Die beiden Vögel schwimmen eine Weile umeinander herum und verschwinden dann im Buschwerk des gegenüberliegenden Ufers.

Knospe. Risiko. Blühen.

Oliver kramt aus seinem Rucksack die Postkarte hervor und starrt sie an.

Jacqueline bietet mir an, mit ihr zu reden. Worüber soll ich nur mit ihr reden? Ich kann ihr doch unmöglich sagen, warum ich sie nicht küssen kann, warum ich nicht dasselbe für sie empfinde, was sie wohl für mich empfindet. Warum kann ich sie eigentlich nicht küssen? Sie ist nett. Man kann sich mit ihr unterhalten, lachen, aber auch ernst sein. Sie hat mir schon so viel über sich erzählt. Und ich?

Was kann ich ihr schon über mich erzählen? Dass ich sie mag, aber nicht küssen kann? Dass ich sie mich gerade noch so umarmen, aber ich sie nicht an mich drücken kann? Dass ich sie nicht liebe, weil sie mich nicht erregt?

Vielleicht eröffne ich ihr auch noch, dass ich einen hochkriege, wenn ich den Jungs beim Duschen zusehe, dass ich so gerne mal dem Giovanni durch die Brusthaare kraulen würde. Nein, das kann ich unmöglich. Was soll sie denn dann von mir halten? Soll sie denken, ich wäre schwul?

Bin ich denn schwul? Ich habe noch nie Sex mit einem Jungen gehabt. Mit Mädchen aber auch nicht. Das geht anderen auch so. Er hat ihnen die Prahlereien über den ach so geilen Sex mit den Mädchen irgendwie noch nie wirklich geglaubt. Wann kann man sagen, dass man schwul ist?

OK, er träumt davon, einen Jungen zu küssen. Er träumt von Sex mit einem Jungen. Wenn er sich in seinem Zimmer selbstbefriedigt, kreisen seine Gedanken um den einen oder anderen Jungen. Er stellt sich dann gerne vor, wie es wäre, nicht seine Hand würde seine Erektion bearbeiten, sondern die von Sven oder Giovanni oder Kevin, diesem Verräter.

Was knutscht dieser Kevin mit Sabrina rum und mich lässt er einfach so hängen?

Oliver wischt sich ein paar Tränen aus den Augen. Wie gern würde er jetzt mit Kevin hier sitzen und einfach nur mit ihm quatschen. Vielleicht würde er ihm auch mal sagen, was er gerade so fühlt. Ob Kevin Verständnis haben würde? Sie haben sich immer so prächtig verstanden. Ob er ihn noch als Freund wollen würde?

Oliver legt sich auf den Rücken und verschränkt die Arme unter dem Kopf. Er schaut in den blauen Himmel, sieht Vögel und Wolken vorbeiziehen.

Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren, schmerzlicher wurde als das Risiko, zu blühen.

Wie kommt Jacqueline nur dazu, ihm so eine Karte zuzustecken? Wie kommt sie darauf, dass es ihm wehtut, dass er nicht aus seiner Haut kann, dass er niemanden zum Reden hat. Warum redet er nicht mit … ja, mit wem denn nur? Mit seiner Mutter? Er liebt sie sehr. Sie ist mehr als eine Mutter für ihn. Er sieht sie auch als Freundin. Solange er denken kann, meistern sie beide ihr gemeinsames Leben. Sie sind ein Team. Er weiß, dass sie ihn nicht minder liebt.

Wird sie mich auch noch genauso lieben, wenn sie DAS erfährt? Wird sie es verstehen? Das ändert doch alles!

Alle Hoffnungen, die sie in ihn setzt, macht er gerade zunichte. Er will es ihr recht machen. Aber wie soll das gehen? Wird sie verstehen, was er selbst nicht versteht, was wahrscheinlich niemand versteht?

Er richtet sich auf, kniet sich hin und versteckt seinen Kopf zwischen die Arme und Oberschenkel. So hockt er ein paar Minuten bewegungslos. Er ist allein. Er weint.

Ein kühler Wind kommt auf, das Laub raschelt. Der Sommer geht langsam, aber sicher seinem Ende entgegen.

Oliver hebt den Kopf und schaut hoch in den Himmel. Es wird zwar kühler, wird aber wohl trocken bleiben. Noch will er nicht nach Hause.

Er greift wieder nach der Postkarte. Wenn du mal reden willst, weißt du, wo du mich findest. J.

Er fühlt sich irgendwie gefangen. Gefangen in seinen Gedanken. Er sitzt in seinen Gedanken wie in einer Knospe. Bisher ist es sehr bequem hier gewesen. Hier fühlt er sich sicher. Wenn er in Ruhe gelassen werden will, braucht er nur die Knospenblätter zu verschließen. Das hat er in letzter Zeit viel zu oft gemacht.

Bisher ist das so auch okay gewesen. Doch jetzt weiß er nicht mehr weiter. Er fühlt sich nicht mehr wohl in der Sicherheit seiner Knospe. Wovor hat er eigentlich Angst? Was kann ihm denn passieren, wenn er herauskommt und blüht? Einfach nur blühen, so wie er es möchte! Was ist denn schon dabei? Was hält ihn vom Blühen ab?

Ich will mit Jäckie reden. Sie wird mich verstehen. Sonst hätte sie mir niemals diese Postkarte zugesteckt.

Oliver schaut auf seine Uhr. Die Schule ist aus, es ist auch für ihn Zeit, nach Hause zu fahren. Er hat Hunger. Gerade als er die Postkarte in seinen Rucksack verstaut, ertönt ein rhythmisches Brummen. Sein Handy vibriert. Wer mag das sein? Er fischt es aus der Seitentasche und blickt auf das Display: Jacqueline! Auch das noch. Nein, jetzt will er nicht mit ihr reden und steckt das Gerät wieder zurück.

Er wartet noch, bis die Vibration verstummt. Dann schultert er seinen Rucksack, schnappt sich sein Fahrrad und macht sich auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen, legt er die Geschichtsklausur auf den Esstisch. Seine Mutter wird ihn eh danach fragen, wenn sie nach Hause kommt. Dann geht er in sein Zimmer, schließt die Tür und setzt sich an seinen Schreibtisch. Den Computer lässt er ausgeschaltet.

Im Rucksack piepst sein Handy. Er holt es heraus und liest die SMS von Jacqueline: „Olli, du warst nicht in Engl. u. Bio. Was is looos? Melde dich bitte. J.“

Morgen. Das hat Zeit bis morgen.


Manuela hat es getan, sie hat es wirklich getan! Sie grinst innerlich in sich hinein. Der neue Kollege aus der anderen Abteilung hat sie für Samstagabend zum Italiener eingeladen, und sie hat zugesagt! Jawoll!

Seit seinem 1. Tag, als er sich in der Kantine zu ihr gesetzt hat und sie ins Plaudern gekommen sind, ist er ihr sympathisch gewesen. Er ist geschieden, hat den Umstand genutzt, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, und ihn an dem Institut bekommen, an dem sie als MTA arbeitet.

Und nun wollen sie zusammen essen gehen, sich einen schönen Abend machen. Ob mehr draus werden würde? Natürlich hat es den einen oder auch anderen Mann in ihrem Leben gegeben, aber es sind kleine Affären gewesen, sie haben nichts außer Abwechslung bedeutet und Sex. Sie hat nie etwas Festes gewollt, niemand hat sie in ihre kleine Familie eindringen, eventuell den Ersatzvater spielen lassen, das käme für sie gar nicht in Frage.

Aber nun? Bald würde Oliver sein Abi haben, bald würde er wissen, was er beruflich machen will, bald würde er gehen.

Der normale Lauf in der Mutter-Sohn-Welt.

Und dann?

Dann würde sie zurückbleiben. Aber mit Anfang 40 ewig bis ans Ende alleine? Ob Oliver das verstehen würde?

Nun, sie ist inzwischen überzeugt davon, dass er verknallt ist, dann sollte er es verstehen. Soll sie mal mit ihm drüber reden?

Aber nein, meine Güte, in Gedanken sieht sie sich und Andreas schon zusammenziehen, dabei hat sie gerade mal eine Einladung zum Essen erhalten. Grinsend schüttelt sie den Kopf, nun mal immer langsam!

Sie wird ihm einfach sagen, dass ein neuer Kollege sie zum Essen eingeladen habe, fertig. Alles Weitere wird man dann ja sehen. Immerhin braucht sie schon lange keinen Babysitter mehr, wenn sie mal über Nacht fortbleibt.

Groß drüber geredet haben sie auch nie, wenn sie sich am nächsten Tag zu Hause wieder getroffen haben.

Sollten sie aber mal tun, denkt sie sich, vielleicht ist das ein guter Einstieg. Vielleicht erfahre ich dann etwas mehr über seine Gefühle, seine Gedanken. Was denkt er über Sex? Hat er vielleicht sogar schon mal …?

Sie kann es sich nicht vorstellen und muss schon wieder innerlich lachen: Eltern und Kinder sind jeweils für die anderen per se asexuell!

Aber wenn es mit Andreas mehr werden sollte, wird es nicht nur bei einer Nacht bleiben. Und Oliver sollte verstehen lernen, dass sie langsam den Wunsch hat nach einem Partner. Jemandem, der sie mal in die Arme nimmt, kuschelt, mit dem sie ins Kino geht, mit dem sie kochen kann, lachen kann, ernsthaft sein kann, na ja, das ganze Programm einer Partnerschaft halt.

Also wird sie doch mit ihm drüber reden müssen.


Eine Vier in Geschichte? Reichlich fassungslos blättert sie die Arbeit durch. Das darf doch jetzt aber nicht wahr sein! Empört knallt sie die Blätter auf den Tisch und will schon nach ihm brüllen, da hält sie inne.

Was würde eine Schimpftirade jetzt bringen? Wahrscheinlich ärgert er sich selber schon genug. Verdammt, ihr Tag war anstrengend, sie ist müde und fertig und will sich jetzt nicht mit und über Oliver ärgern.

Sie geht in die Küche, hantiert mit Topf und Pfanne und beruhigt sich langsam wieder. Als die Kartoffeln kochen, grinst sie sogar.

Erwischt!, denkt sie und stellt sich vor, wie er die drei magischen Wörter zu ihr sagt: „Ich bin verliebt.“

„Oliver, Tisch decken, Essen ist fertig.“

Sie sitzen am Tisch und essen. Manuela schweigt, Oliver schaut nur ab und zu zögernd zu ihr hin.

„Tja, dumm gelaufen mit der Arbeit, ja? Du hast doch aber so dafür gelernt!“

„Ja, sicher, ich weiß doch auch nicht, wie das passieren konnte, tut mir wirklich leid.“

„Nun, leidtun reicht nicht, Sohn! Es geht jetzt echt bald hart aufs Abi zu!“

„Ich weiheiß!“

Gereizt schaut er sie an, und sie wechselt schnell die Taktik.

„Was ich dir noch sagen wollte: ich bin am Samstagabend von einem Kollegen, also dem Andreas, eingeladen. Wir wollen in die Pizzeria in der Reuthstraße. Könnte spät werden – oder früh. Oder auch Sonntag. Ist okay für dich, ja?

Verschmitzt schaut sie ihn an. Er verzieht sein Gesicht zu einem leichten Grinsen und nickt.

„Na dann, viel Spaß. Ist er nett?“

„Nee, er ist ein totaler Blödmann, deswegen gehe ich mit ihm essen.“

Oliver grinst jetzt richtig.

„Weißt du, ich denke ja auch manchmal an meine Zukunft. Irgendwann gehst du fort, ist ja ganz natürlich und dann bin ich hier alleine -“

„Ich weiß“, unterbricht er sie, „du musst mir nichts erklären, wenn du mal ausgehen willst. Und jetzt entschuldige, ich muss noch lernen. Wir reden ein andermal, ja?“

Er steht auf, deckt den Tisch ab und verschwindet in seinem Zimmer.

Manuela macht die Küche, sie ist enttäuscht. Er hat sie nicht mal ausreden lassen. Dabei hat sie sich ihre Erklärung als Anfang eines Gesprächs erhofft, aber gut, erzwingen kann man nichts und im Moment bei ihm ohnehin nicht.

Sie holt sich ein Glas Wein, setzt sich auf das Sofa, nimmt ein Kissen in den Arm. In solchen Momenten fühlt sie sich einsam. Sie möchte Oliver fragen, ob sie sich gemeinsam einen Film anschauen wollen, er darf sich sogar was wünschen! Sie grinst. Wie oft haben sie sich drüber gestritten, welchen Film sie sich anschauen wollen, meistens hat er gewonnen. Und wie er sich über ihre Filme mokiert hat. „Mutti guckt wieder einen Heulfilm“, hat er gesagt, wenn sie sich so Filme wie ‚Stadt der Engel‘ oder so angeschaut hat und am Schluss weinen musste.

Aber einmal, da hat sie ihn gelinkt! Sie hat sich diesen wunderschönen Film „Romeo und Julia“, verfilmt von Zeffirelli, besorgt. Er hat natürlich rumgemault: „Och nö, Shakespeare! Geht doch mal gar nicht!“

Doch sie hat drauf bestanden und nachdem er sich zuerst eifrig mit Cola und Chips bedient hat, ist er immer leiser geworden. Und irgendwann kam seine Hand zu ihr rüber und sie hörte ein schniefendes „Gib mal ein Tahaschentuch!“.

Seitdem hat er sich nie wieder lustig über ihre Filme gemacht.

Doch diese Zeiten sind wohl vorüber. Sie seufzt. Ab ins Bett, morgen ist wieder ein neuer, langer Tag.


Oliver betritt den Klassenraum. Jacqueline sitzt schon an ihrem gemeinsamen Tisch.

„Hei“, sagt er und lässt sich auf seinen Stuhl fallen.

„Guten Morgen, Oliver“, erwidert sie, „wo warst du denn gestern?“

Oliver murmelt etwas Unverständliches.

„Menno, Olli. Was ist los mit dir? Du bist so komisch in letzter Zeit. Ich hab dir Englisch und Bio mitgebracht. Hier.“

„Danke.“

Etwas beleidigt dreht sie sich zu Kristina um und flüstert mit ihr.

Mit dem Klingelzeichen betritt Frau Schenk, die Mathematiklehrerin den Klassenraum und beginnt sogleich nach einer üblichen Begrüßung mit dem Unterricht.

Oliver hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Ihm schwirren wieder die Gedanken von gestern durch den Kopf und dann die Karte von Jacqueline. Soll er sie ansprechen? Er hat es sich vorgenommen. Heute? Heute.

Er stößt Jacqueline vorsichtig an und flüstert: „Du, können wir uns heute nach Sport mal kurz treffen?“

Jacqueline wendet sich ihm zu und murmelt noch immer leicht beleidigt: „Was gibt es denn?“

„Das weißt du doch. Also? Ja oder nein?“

„OK, aber ich hab nicht ganz so viel Zeit.“

Ihr Flüstern wird jäh unterbrochen: „Jacqueline und Oliver! Was haben unsere beiden Turteltäubchen so Wichtiges zu besprechen, dass sie damit den Unterricht stören müssen?“ Frau Schenk schaut die beiden böse an. In der Klasse wird getuschelt und gelacht.

Während Oliver nur schweigend errötet, antwortet Jacqueline: „Ach nichts, entschuldigen Sie bitte. Hat ja Zeit bis nachher.“

„Gut“, sagt die Lehrerin und ruft Oliver nach vorne, um ihn eine Gleichung an der Tafel lösen zu lassen. Das gelingt ihm zunächst recht ordentlich, zum Schluss hin schweifen seine Gedanken wieder ab und er kann die Gleichung nicht lösen.

„Ach Oliver, wo haben Sie nur Ihre Gedanken? Sie haben so schön angefangen. Lassen Sie sich nicht zu sehr von Ihren Hormonen leiten. Das können Sie heute Abend wieder oder nachher im Sportunterricht. Jetzt zählen Integrale, Differentiale und Flächeninhalte. Nehmen Sie bitte wieder Platz und schenken Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit unseren mathematischen Aufgabenstellungen. Um Jacquelines Gunst dürfen Sie sich später bemühen.“

Gut, dass sie endlich aufgehört hat zu sprechen. Mit hängendem Kopf setzt er sich wieder hin. Er weiß nicht, ob er lieber vor Wut oder wegen Frau Schenks blöden Sprüchen heulen möchte. Vor seinen Mitschülerinnen und Mitschülern gelingt es ihm gerade so, seine Gefühle zu beruhigen. Jacqueline lächelt ihn milde an, als er sie kurz anschaut.

Der Rest der Doppelstunde Mathematik zieht träge an Oliver vorbei. In der darauffolgenden Pause zieht er sich sofort aufs Klo zurück und bleibt dort bis zum ersten Klingeln sitzen.

Hormone! Scheiße! Die hat doch überhaupt keine Ahnung. Jacquelines Gunst! Ich hab echt andere Sorgen. Was sage ich ihr nachher? Ich muss es loswerden. Hoffentlich behält sie es für sich. Sie ist eigentlich keine Tratsche, aber was ich ihr nachher erzähle, ist schon irgendwie was Besonderes. Hoffentlich wird sie dichthalten. Hoffentlich kann ich mich auf sie verlassen.

Die Deutsch-Doppelstunde vergeht ohne nennenswerte Vorkommnisse. Oliver sitzt still und versucht dem Unterricht zu folgen. Im Sportunterricht holt er alles raus, was in ihm steckt. Er hat das Bedürfnis, sich völlig abzukämpfen. Kaum beendet der Lehrer die Stunde, rennt er in die Umkleidekabine, zieht sich aus, schnappt sich sein Handtuch und stellt sich unter die Dusche. Entweder haben die wieder kein Heizöl gekauft oder die Heizung ist mal wieder kaputt. Das Wasser ist schweinekalt!

Nach einer kurzen Dusche verlässt er den Raum, während seine Mitschüler ihn betreten. Oliver will sich nicht länger als nötig bei ihnen aufhalten. Sonst hat er immer gern verstohlen geguckt, wenn sie sich abgetrocknet und umgezogen haben. Heute mag er keine halbnackten oder gar nackten Klassenkameraden sehen. So ist er schnell angezogen und auf dem Weg zu den Fahrradständern.

Dort wartet Jacqueline auf ihn. Allerdings ist sie nicht alleine: Kristina steht neben ihr und redet auf sie ein. Oliver nähert sich den beiden.

„Hei Jäckie, hei Krissie“, sagt er vorsichtig und stellte sich nah zu Jacqueline.

Kristina hält in ihrem Monolog inne und schaute Oliver von bis unten abschätzend an. Der steht da und schaut Jacqueline verstohlen in die Augen.

„So, Krissie, bis morgen, wir sehen uns“, spricht Jacqueline und macht eine Handbewegung, um Kristina zu bedeuten, sich zu entfernen.

Die scheint diese Geste nicht zu bemerken oder will es vielleicht auch nicht.

„Und ihr beiden hübschen? Was macht ihr noch Schönes?“ Mit ihren Blicken zieht sie Oliver fast aus.

„Nichts Besonderes“, antwortet Jacqueline, „wir haben was zu bereden. Bis morgen dann.“

„Was gibt’s denn?“

„Krissie, wir haben nicht viel Zeit, würdest du uns bitte mal …“

„Jaja, ist ja schon gut. Ich sehe schon, unser Olli bemüht sich um deine Gunst.“ Sie kichert und wendet sich zum Gehen. „Tschüssi, ihr Süßen!“

„Doofe Plunse!“, raunt Oliver.

„Gott sei Dank, die ist weg. Olli, du wolltest mit mir reden?“ Jacqueline lächelt ihm offen ins Gesicht.

„Ja, Jäckie. Ich wollte … ich meine … Danke für deine Karte. Der Spruch hat mich echt berührt.“

„Olli, irgendwas ist mit dir. Du bist so anders.“

„Können wir uns setzen oder musst du gleich los?“

„Mensch, Olli, du bist ja ganz aufgeregt.“

Sie gehen beide zu der Bank, die neben den Fahrradständern steht und setzen sich nebeneinander mit fast einem Meter Abstand hin.

Oliver beugt sich vor und stützt seinen Kopf in seine Arme. „Ich weiß nicht weiter.“

„Olli! Sag schon, was ist los? Wieso weißt du nicht weiter?“

„Jacqueline. Du bist die einzige, der ich es sagen kann. Wenn überhaupt.“

Sie schweigt und schaut ihn an. Er sitzt neben ihr wie ein Häuflein Elend. Was hat er nur?

„Jäckie, du bist sicher noch enttäuscht, wie ich dich habe abblitzen lassen.“

„Ist es das? Mach dir keine Gedanken. Ich komme klar. Du hast es deutlich gezeigt und das ist besser, als wenn du mich verarscht hättest. Wie Thomas die Lara.“

„Nein, das würde ich niemals tun. Dafür mag ich dich viel zu sehr. Aber …“

Sie schaut ihn fragend an. Er blickt vorsichtig hoch. Seine Augen sind rot und feucht.

„Versprichst du mir, dass du es für dich behältst?“

„Was denn? Du sagst ja gar nichts.“

„Es ist … ich will dir den Grund verraten, warum es mit uns nicht geklappt hat.“

„Mach’s nicht so spannend. Was ist es? Magst du meine braunen Haare nicht? Ist was mit meiner Nase? Gefallen dir meine Brüste nicht? Sag schon!“

„Es ist … nichts von dem. Ich finde dich toll, wie du bist. Ich glaube, es liegt an mir.“

Sie schaut ihn weiterhin mit großen Augen an. Er seufzt und holt tief Luft.

„Ich … ich …“ Seine Stimme versagt.

„Du?“, fordert sie ihn heraus.

„Ich steh nicht auf Mädchen.“

„Was willst du damit sagen? Heißt das, dass du …? Nein, das glaube ich nicht!“

Er schaut sie ängstlich an. Oh scheiße, sie versteht es nicht. Ich bin geliefert. Jetzt wird sie rumrennen und es allen sagen. Es ist aus.

„Doch, ich bin … schwul.“

Sie guckt ihn an. Dann schließt sie den Mund. Er zieht die Nase hoch. Ein paar Tränen lösen sich von seinen Augen.

„OK, ich geh dann mal jetzt besser“, flüstert er schniefend und steht auf.

Jacqueline rutscht näher und zieht ihn am Arm wieder zurück auf die Bank.

„Oliver! Warum sagst du das nicht gleich? Ich mag dich echt. Du bist so anders als die anderen aus der Schule. Deswegen kann ich dich wahrscheinlich auch so gut leiden. Jetzt begreife ich erst, wie anders du bist. Komm her!“

Sie legt einen Arm um seine Schulter und schließt vorn den Kreis mit ihrem anderen Arm. Oliver schaut nach unten und zieht wieder die Nase hoch.

„Das heißt …“, beginnt er zaghaft.

Sie unterbricht ihn energisch: „Hör auf! Du bist und bleibst mein Freund. Und damit basta. Ich mag dich wirklich. Du bist wie du bist. Auch wenn es schade für uns Frauen ist!“

Sie küsst ihn sanft an die Schläfe. Er zuckt.

„Es ist so schwer. Was soll ich denn jetzt machen? Alles scheiße.“

„Mensch Olli, was ist scheiße daran, schwul zu sein? Wie hast du das gemerkt?“

„Ich … ich weiß nicht. Es war einfach plötzlich so. Ich stehe halt auf Jungs.“

„Hast du denn schon mal … ich meine … warst du schon mal mit ’nem Jungen im Bett?“

Oliver schüttelt den Kopf.

„Mensch Olli, das ist ja ‘n Ding. Und ich hab schon Depris bekommen, weil ich dachte, dass du mich nicht attraktiv findest.“

Oliver verzieht die Mundwinkel zu einem kurzen Lächeln. Dann wird er wieder ernst.

„Du, Jäckie?“

„Ja?“

„Du behältst es doch für dich, oder?“

„Nein, natürlich nicht! Ich gehe jetzt reihum und erzähle es allen anderen.“

Oliver schaut sie entsetzt an. Jacqueline lacht.

„Was glaubst du denn? Weiß es denn überhaupt schon jemand?“

„Nein, ich hab’s noch niemandem erzählt.“

„Deiner Mutter?“

„Auch nicht.“

„Oha! Aber du willst es ihr doch wohl noch sagen?“

„Ich werde wohl nicht darum herum kommen.“

„Mach das. Sie hat ein Recht, es zu erfahren.“

„Ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll. Und wann.“

„So schnell wie möglich. Eh sie es selbst herausbekommt. Mein einer Cousin wollte es für sich behalten. Dann hat es meine Tante aber doch irgendwie rausbekommen. Die war ganz schön sauer, weil er ihr nicht vertraut hat. Na ja, eher enttäuscht. Und deine Mutter ist in Ordnung. Die wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“

„Meinst du? Ich hab nur Angst, dass sie so sehr hofft, dass ich mal heirate und Kinder habe. Ich glaube, sie wünscht sich so sehr, dass ich mal eine Familie habe, so mit allem was dazugehört. Nicht so eine verkorkste wie unsere.“

„Heiraten kannste doch. Okay, einen Mann dann eben. Und so wie du über Kinder immer lästerst, kann ich mir dich als Vater nicht wirklich vorstellen. Ist wohl besser, wenn du keine Kinder hast.“ Sie lacht.

„Nun, wie werden die anderen alle reagieren? Meine Tanten? Oma? Opa? Oder mein Vater?“

„Mach dir darüber mal keine Gedanken. Das muss sie irgendwie geraderücken. Es ändert sich doch gar nichts. Du hast dich doch auch nicht geändert. Hey, Olli, ich will, dass du wieder richtig lachst! Mach dir nicht so einen Kopf. Das wird schon.“

Jacqueline löst ihre Umarmung. Dann stehen beide auf.

„So, ich muss jetzt nach Hause. Danke, dass du es mir gesagt hast.“

„Ich hab Angst. Aber ich wollte mal mit jemandem reden. Ich bin fast geplatzt.“

„Hey Olli, das habe ich gemerkt. Jetzt ist es raus. Ich behalte es auf jeden Fall für mich. Ich will doch meinen einzigen schwulen Freund nicht verlieren!“

Oliver beugt sich zu ihr und umarmt sie. Er gibt ihr noch einen kleinen Kuss auf die Wange.

„Okay, Süßer, wir sehen uns morgen, ich muss los.“

Dann schließen sie beide ihre Räder lose und machen sich auf den Heimweg.


„Wow, dein Sohn hat aber eine süße Freundin!“ Susanne, Manuelas Kollegin und Freundin, bringt ihr aus dem Automaten einen Kaffee vorbei.

„Danke, den kann ich jetzt gebrauchen, ich bin völlig verspannt von dieser blöden Versuchsreihe … was hast du gerade gesagt?“

„Na, ich war doch in der Mittagspause einkaufen und bin an der Schule vorbeigeradelt, da saßen sie auf einer Bank, haben sich umarmt und vorsichtig Küsschen gegeben, sooooo süß! Hach, manchmal möchte ich auch noch mal so jung und richtig verknallt sein! Du, ich muss weitermachen, wir sehen uns morgen, ja? Vielleicht können wir mal wieder abends ausgehen, dann erzählst du mir alles, ja?“

Susanne stürmt wie immer mit schnellen Schritten davon und lässt Manuela ratlos zurück. Dann grinst sie breit, hat sie es doch gewusst!

Ob er ihr davon erzählen wird? Wird er sie mal einladen zum Essen? Auf jeden Fall muss sie ihm das unbedingt vorschlagen – nee, geht ja nicht, offiziell weiß sie ja noch nichts.

Sie kann jetzt nur warten, dass er es ihr erzählt. Oder soll sie ihm sagen, dass Susanne ihn gesehen hat? Knutschend auf der Bank? Hm, könnte ihm peinlich sein. Obwohl, direkt bei der Schule auf einer Bank sitzen und knutschen? Sie könnte wetten, dass alle Mitschüler es schon wissen, nur sie nicht! Seine Mutter! Eigentlich könnte sie jetzt ein bisschen böse sein, aber wie war das bei ihr selbst? Wem hatte sie eigentlich von ihrem ersten Freund vorgeschwärmt? Den Eltern? Sicherlich nicht!

Sie seufzt. Also wird sie weiterhin warten müssen.


Endlich ist es Samstag. Die Woche war anstrengend, diese Versuchsreihe lastet noch auf ihren Schultern, aber sie schüttelt alles ab, heute Abend will sie sich amüsieren und schauen, was so alles passieren wird.

Andreas fragt sie beim Essen, wie es ihrem Sohn ginge. Sie strahlt ihn an:

„Hervorragend! Der Knirps ist verknallt und seine Freundin soll richtig hübsch sein. Ich weiß es von Susanne, sie hat beide in der Nähe der Schule vor ein paar Tagen gesehen.“

„Ach, dir hat er es noch nicht gesagt?“ Andreas schaut sie fragend an.

„Nein, aber erinnerst du dich, wem du damals von deiner ersten Freundin berichtet hast? Deinen Eltern?“

„Hahaha, nein, sicher nicht, das habe ich meinem besten Kumpel damals erzählt. Du hast ja recht, wird wohl noch ein bisschen dauern, bis er sich offenbart, ist ja doch schon was Besonderes für die Kids, so die erste große Liebe. Aber du scheinst dich immerhin zu freuen. Keine Eifersucht?“

„Ach was! Das ist doch ganz natürlich! Seit Jahren denke ich immer mal wieder daran, dass es so sein wird. Er wird sich verlieben, nicht nur einmal, hoffe ich, er wird sein Abi bestehen, fortgehen zum Studium, sich wieder verlieben, unglücklich sein, glücklich sein, dann eines Tages die Richtige kennenlernen, Hochzeit, Kinder – ich wünsche ihm alles Glück dieser Erde und mir eine entzückende Schwiegertochter! Habe ich zu viele Träume?“

„Nein, träumen darf man ja mal, außerdem siehst du entzückend aus, wenn du so laut vor dich hin träumst. Und wer weiß, vielleicht wird dein Traum ja wahr? Zum Wohl, auf einen schönen Abend!“

Er hebt sein Glas und schaut sie strahlend an.

Später werden sie noch in eine Bar gehen, etwas trinken, sich sehr lange und ausführlich unterhalten, flirten, tanzen – und als er sie fragt, ob sie noch einen Kaffee bei ihm trinken möchte, lässt sie alle Bedenken über Bord gehen …

Spät in der Nacht wacht sie auf. Andreas neben ihr schläft tief und fest. Sie betrachtet ihn lange und empfindet viel Zärtlichkeit für ihn. Es war ein schöner Abend und eine wundervolle Nacht, die sie gerne mal wiederholen möchte. Ja, sie kann sich etwas Dauerhaftes mit diesem Mann vorstellen.

Sie kuschelt sich wieder in die Decke, dreht sich auf die Seite. Hm, sie kann nicht mehr einschlafen, sie ist glücklich und überlegt, wann sie mit Oliver drüber sprechen soll. Sie möchte, dass die beiden sich bald kennenlernen.

Sie steht auf, zieht sich leise an, sucht einen Zettel und schreibt ein paar Zeilen. Dann schleicht sie auf leisen Sohlen aus dem Haus. Sie möchte nach Hause gehen und morgen am späten Vormittag mit Oliver in aller Ruhe reden bei einem gemütlichen Frühstück.

Über ihre Empfindungen, über Andreas, über ihre Träume, ihre Ziele, ihre Ängste und vielleicht erzählt er ihr dann auch von – hm, sie weiß den Namen ja nicht mal. Egal, sie wird ihn erfahren.

Beschwingt betritt sie die Wohnung, hängt ihre Jacke an die Garderobe. Nanu? Wo ist denn seine Jacke?

Sie schaut runter, seine Schuhe sind auch nicht da. Besorgt geht sie in sein Zimmer, öffnet leise die Tür - sein Bett ist nicht benutzt, von Oliver keine Spur!

„Oliver“, ruft sie und rennt ins Wohnzimmer, aber es ist alles dunkel, niemand ist da, kein Zettel, nichts. Sie kramt ihr Handy hervor, nein, keine SMS. Sie ruft ihn an, erreicht aber nur die Mailbox. Leicht panisch schreibt sie eine SMS. „Wo bist du? Melde dich. Bin in Sorge!“

Was soll sie tun? Ihr Herz rast, sie ist völlig durcheinander. Gut, er wusste, dass sie eventuell über Nacht wegbleiben würde, aber er ist noch nie eine ganze Nacht einfach so verschwunden. Er muss doch wissen, dass sie sich Sorgen machen würde.

Soll sie die Polizei anrufen? Wahrscheinlich bekommen die einen Lachflash, wenn sie ihren fast 18-jährigen Sohn in einer Samstagnacht als vermisst meldet.

Aber sie wird im Krankenhaus anrufen! Nervös sucht sie die Nummer raus, fast weint sie, als sie verbunden wird und fragt, ob vielleicht ein Junge eingeliefert worden ist.

Nein, bekommt sie zur Antwort, die Nacht sei ruhig bisher, ob er ihr helfen könne? Der junge Mann ist sehr verständig, als sie ihm hektisch erklärt, dass sie ihren Sohn vermisst, aber er gibt ihr genau die Antwort, die sie auch von der Polizei bekommen würde: der kommt schon wieder! Feiert wohl mit Kumpeln in der Diskothek. Ob sie Angst hat wegen Drogen?

„Nein!“, antwortet sie empört. Ihr Sohn und Drogen, so ein Blödsinn. Sie bedankt sich noch und legt dann auf.

Und nun? Sie kocht sich einen Kaffee. Soll sie Andreas anrufen? Er könnte zu ihr kommen – nein, keine gute Idee. Sie haben zwar eine tolle Nacht gehabt, aber ihn jetzt mit ihren Sorgen konfrontieren möchte sie auch nicht. Und wahrscheinlich kommt Oliver gleich mit einem total schlechten Gewissen nach Hause. Na, der kann was erleben! Sie holt sich noch einen Cognac zum Kaffee, setzt sich aufs Sofa und atmet erst mal tief durch. Was soll denn passiert sein? Er hat nicht damit gerechnet, dass sie mitten in der Nacht nach Hause kommt. Ein Kumpel wird angerufen haben, ihn gefragt haben, ob er mit will zur Party oder so, und da ist er jetzt und hat die Zeit vergessen.

Sie wird noch ein wenig warten.

Wenig später ist sie eingeschlafen.


Manuela ist vorhin losgegangen, um sich mit ihrem Kollegen Andreas zu treffen. Sie würde über Nacht wegbleiben. Aha, da ist wohl mehr als nur ein Abendessen zu zweit geplant. Oliver lächelt. Ihm ist klar, dass seine Mutter eine Frau ist, eine alleinstehende Frau, die sich manchmal auch mit einem Mann trifft. Eine fühlende Frau, die sich auch mal verliebt. Eine erwachsene Frau, die bestimmt auch mal mit einem Mann ins Bett geht. Warum auch nicht. Komisch kommt ihm der Gedanke schon vor. Sie ist seine Mutter, nicht irgendeine Frau.

Hach, sie hat es gut. Sie kann heute Abend kuscheln und … Er hält den Gedanken an und schüttelt den Kopf.

Oliver steht an seinem Kleiderschrank und überlegt, was er denn anziehen solle. Es ist Spätsommer, also tagsüber noch recht warm, abends und nachts wird es eher kühl.

Gestern hat ihn Kevin nach der Schule angequatscht. Er hat tatsächlich reden wollen, hat erklären wollen, wie es so mit Sabrina läuft und wie er die Freundschaft zwischen ihm und Oliver sieht. Dass er eigentlich beides wolle, aber nur eins auf die Reihe bekäme.

Oliver hat es einerseits beruhigt, dass sich Kevin noch mit ihm abgeben wolle und ihm an ihrer Freundschaft noch was liege. Andererseits versteht er auch, dass ihn seine Freundin voll in Beschlag nimmt. Er wäre ja so gern selbst verliebt. Kevin bedeutet ihm viel. Offensichtlich fühlt er anders als Oliver. Das macht ihn traurig.

Nach einem längeren, für Oliver nicht gerade ermutigenden Gespräch haben sie sich doch tatsächlich für einen gemeinsamen Diskoabend zu dritt verabredet. Immerhin.

Er sucht sich eine warme Jacke aus seinem Schrank, dazu eine dunkle, fast schwarze Jeans, die er direkt anzieht. Er tritt zurück und schaut in den Spiegel in der Innenseite der Schranktür. Er findet sich ganz passabel. Die Hose betont seinen Hintern und lässt keinen Zweifel, dass auch seine Unterhose vorne gut gefüllt ist. Die Jeans sitzt ein bisschen tief, so dass das weiße Bündchen seines Slips hervorlugt. Er zieht den Gürtel mit der großen Schnalle durch die Ösen und zurrt ihn fest.

Dann kramt er weiter in seinen T-Shirts und Hemden.

Hm, ich brauch mehr schwarze Sachen. Das hier ist alles viel zu hell und viel zu bunt.

Aus der hintersten Ecke zieht er ein dunkles Shirt ohne Ärmel hervor. Das hat er sich vor Jahren mal gekauft. Er zieht es an, blickt in den Spiegel und lächelt.

Ganz schön eng und reichlich kurz, stellt er zufrieden fest. Das Teil reicht kaum bis zur Gürtelschnalle. Das ist es.

Mit den Füßen schlüpft er in seine dunkelblauen Sneakers. So kann er sich sehen lassen.

Nein, halt! Etwas fehlt noch. Er geht ins Bad und öffnet die Seite des kleinen Spiegelschrankes, in dem seine Mutter ihre Schminksachen aufbewahrt. Heute will er es besonders spooky. Er fischt einen Kajalstift heraus und zieht sich vorsichtig eine schwarze Linie um die Augäpfel. Dann entdeckt er den sehr dunkelroten Lippenstift, so dunkel, dass es fast schon blau ist. Er dreht ihn auf, schaut noch einmal in den Spiegel und schüttelt den Kopf. Das wär jetzt doch zu übertrieben, lass mal gut sein, Oliver!

Kurz nach acht schwingt er sich auf sein Rad und fährt zum Jugendclub am anderen Ende der Stadt.

„Hey Olli! Wie geil ist das denn? Hast du heute was Bestimmtes vor?“ Kevin zieht ihn durch die geöffnete Jacke am Shirt und berührt ihn dabei am Bauch, als Oliver vor dem Club ankommt.

„Was glaubst du denn? Du hast ja schon jemanden zum Rumknutschen.“

„Jetzt schmoll nicht schon wieder. Ich hab versucht, es dir zu erklären. – Ah, da kommt Brina. – Halloooo, meine Süße, geiles Teil haste da an. Mach mir nicht die anderen Jungs verrückt!“

Sabrina küsst Kevin mit Geräusch. Oliver schaut verlegen zur Seite und schmollt.

„Lasst uns reingehen. Ich will jetzt tanzen“, nölt er, dreht sich um und geht zum Eingang des Jugendclubs. Kevin umfasst Sabrinas Hüften und folgt ihm.

Sie geben ihre Jacken ab. Sabrina pfeift zwischen die Zähne, als sie Olivers dünnes Leibchen sieht. „Heyyyyy, Olli! Das ist ja oberscharf!“

Er zwinkert sie an und stürmt zur Bar. Mit Mühe folgen ihm Sabrina und Kevin. Sabrina bestellt sich eine Limo, die Jungs starten gleich mit Bier. Die Musik dröhnt ohrenbetäubend durch den Saal.

„Mensch, Olli, du willst es heute richtig krachen lassen, was? Weiß deine Mutti Bescheid?“, brüllt Kevin.

„Die hat heute ein Date. Die sehe ich wohl nicht vor morgen Mittag“, schreit er zurück.

„Was? Deine Mum hat ein Date? Geil!“

Die Musik gefällt Oliver: eine krude Mischung aus Depeche Mode, Sisters of Mercy, Gossip, Mando Diao und anderem, was so in den letzten 40 Jahren durch die Charts getönt ist.

Oliver trinkt nach dem ersten Bier gleich noch ein zweites. Sabrina und Kevin tanzen eng umschlungen. Das heißt, sie zerkauen sich förmlich ihre Münder und kneten sich gegenseitig die Ärsche. Nebenbei reiben sie sich rhythmisch aneinander.

Oliver nimmt gerade den letzten Schluck und steuert schon leicht schwankend wieder auf die Bar zu. Ein weiteres Bier würde ihm jetzt schmecken. Doch dann ertönt ein eingängiger Vier-Viertel-Takt, untermalt mit einer Synthiemelodie und dröhnendem Bass. Er bleibt stehen, lauscht dem neuen Lied.

Er steht längst nicht mehr still. Er tanzt, als würde niemand zuschauen. Der Sänger singt für ihn. Das Lied berührt ihn. Spornt ihn an, gegen die getragen-melancholische Melodie und den fordernden Bass anzutanzen. Der DJ mischt in dieses Lied ein weiteres in diesem Synthiestil, den Oliver so mag, und dann noch eins. Die Rhythmen sind so einfach wie eingängig. Die Bässe spürt er direkt in seiner Mitte.

Oliver tanzt sich die Seele aus dem Leib. Bei bekannten Texten singt er mit. Er ist mit sich allein inmitten vieler anderer Tänzer. Es ist egal, ob sie alle einzeln oder zu zweit tanzen. Er geht unter in der Menge Tanzwütiger und dem lauten Dröhnen aus Bässen, Rhythmus und Gesang.

Dann wird es dunkler auf der Tanzfläche. Die Musik wird langsamer. Oliver dreht sich noch ein paar Mal um sich selbst. Der Schmusesong hat alle Pärchen auf die Bühne zum gemeinsamen Kuscheln und Knutschen geladen. Oliver blickt sich enttäuscht um. Er fühlt sich fehl am Platze. Zeit für ein Bier.

Zurück an der Bar nuckelt er an seiner Flasche. Er beobachtet die tanzenden Paare. Kevin und Sabrina schunkeln wieder und kauen sich die Lippen ab. Oliver ist eifersüchtig.

Rechts neben der Tanzfläche sieht er drei Jungs stehen. Sie unterhalten sich. Wedeln wild mit ihren Armen. Sie sehen hübsch aus so im bunten Licht der wandernden Scheinwerfer. Drei Jungs, nicht viel älter als er. Kein einziges Mädchen weit und breit. Sie berühren sich bisweilen. Nicht aus Versehen, nein, es sieht aus, als machen sie das absichtlich. Sie scheinen nichts dabei zu finden. Zwei von ihnen stehen sich jetzt gegenüber und blicken sich offensichtlich in die Augen. Sie fassen sich an die Schultern des anderen und schwingen leicht mit der langsamen Musik. Dann küssen sie sich. Oliver versucht erst gar nicht, seine Augen von dieser Szene abzuwenden. Die haben es gut. Die sind zu zweit.

Plötzlich schaut ihm der dritte direkt in die Augen und zwinkert ihm zu. Oliver dreht schnell seinen Kopf zur Seite und scannt angestrengt die Tanzenden in der Mitte. Sein Blick bleibt an Kevin hängen, der gerade Sabrinas Hintern zärtlich streichelt. Beide tanzen eng und mit geschlossenen Augen. Wo die wohl gerade sind?

Er wagt noch einmal einen Blick zu den drei Hübschen. Gerade sieht er noch, dass die beiden, die sich eben noch geküsst haben, gemeinsam in Richtung Toiletten verschwinden. Oliver fragt sich noch, was die wohl zu zweit auf dem Klo wollen. Bei Mädchen ist das ja normal, aber bei Jungs?

Mit einem Male bemerkt er den dritten dieser Gruppe neben sich an der Bar, wie er zwei Biere ordert. Dann wird er von ihm wegen der lauten Musik angebrüllt: „Hallo, schöner Mann. Hat dir gefallen, was du gesehen hast?“

Das Lächeln ist betörend. Es weckt ein Unbehagen tief in Olivers Magengegend.

„Was habe ich denn gesehen?“, fragt er laut zurück.

„Du beobachtest uns doch schon eine ganze Weile. ‘N Bier?“, brüllt der andere und hält ihm eine der beiden Flaschen hin, die er gerade vom Barkeeper erhalten hat.

Oliver schaut mit großen Augen in dieses bezaubernde Lächeln, bemerkt wieder seinen Magen. Während er feststellt, dass seine Bierflasche bereits leer ist, schüttelt er den Kopf und greift sich das angebotene Getränk.

Was soll’s?, denkt er bei sich.

„Ich bin Robert!“, ruft der Spender und schlägt mit seiner Flasche leicht gegen Olivers.

„Ja, Prost!“, schreit der zurück und nimmt einen großen Schluck.

Robert guckt ihn dabei stirnrunzelnd an.

„Und du?“, will Robert lauthals wissen.

„Was, und ich?“

„Wie heißt du?“

„Ach, sorry, Oliver!“

„Ist doch nicht so schlimm!“

Während sie eine Weile smalltalken – soweit das bei der Lautstärke möglich ist – trinkt Oliver seine Flasche leer. Er ist ordentlich beschwipst. Er kündigt an, nun tanzen zu wollen und stürmt zur Tanzfläche.

Oliver tanzt eine Weile mit geschlossenen Augen. So bemerkt er nicht, dass Robert ihm zunächst gefolgt ist, sich dann doch wieder zurückgezogen hat, als er bemerkt hat, dass Oliver völlig in sich gekehrt herumhampelt.

Irgendwann beschließt er, den Druck auf seiner Blase zu erleichtern.

Gerade will er die Tür zu den Sanitärräumen öffnen, als diese schwungvoll nach außen aufgestoßen wird und ihm gegen den Kopf knallt. Kurz sieht er Sterne und gerät ins Straucheln. Ein starker Arm umfasst ihn und verhindert, dass er stürzt.

„Oh sorry. Habe ich dir wehgetan?“, hört er, wie Robert ihn gegen die lauten Bässe anschreit.

„Ah, ja. – Es geht aber schon wieder!“ Oliver hält sich die Stirn.

„Oh, Shit, du blutest! Komm mit, ich versuche, die Blutung zu stillen.“

Oliver lässt sich von ihm an eines der Waschbecken zerren. Robert betupft seine Stirn mit kaltem Wasser. Oliver weiß nicht, was ihm gerade unangenehmer ist: der dumpfe Schmerz an seiner Stirn oder der Druck seiner fast platzenden Blase.

„Genug gewischt. Ich muss tierisch pissen!“, ruft er Robert entgegen, der ihm ein neues Papierhandtuch hinhält.

Nach seiner Verrichtung dreht er sich um. Er torkelt ein wenig. Bedächtig geht er auf die Waschbecken zu und blickt in den Spiegel, während er sich die Hände wäscht.

Da habe ich mir eine ordentliche Beule geholt. Scheiße, es blutet wieder. Denkt er bei sich und greift sich ein Papiertuch aus dem Spender.

Robert taucht hinter ihm auf: „Lass mal sehen! Hm, sieht schlimmer aus, als es ist! Muss nicht mal genäht werden!“

„Woher willst du das wissen?“, fragt Oliver genervt.

„Ich bin Rettungssanitäter!“

„Aha, schaffst du dir hier neue Kunden?“

„Oh Mann! Es tut mir leid. Ich bin froh, dass nicht mehr passiert ist.“

„Mir brummt der Schädel. Mehr ist nicht passiert! Ich gehe mal besser nach Hause.“

„Hey, sehen wir uns mal wieder?“

„Damit du mir wieder die Tür vor den Kopf haust?“

„Vielleicht nicht ganz so rabiat, etwas liebevoller.“

„Mal sehen.“

„Bevor du gehst: Mach deinen Hosenstall zu!“

Trotz dieses Lächelns strebt Oliver zur Garderobe und holt sich seine Jacke. Draußen ist es ziemlich kühl. Er nestelt umständlich an seinem Fahrradschloss. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis er es geöffnet hat. Schließlich versucht er aufzusteigen. Nach zwei Malen gibt er auf und schiebt sein Rad nach Hause durch die Nacht.

Wie spät mag es sein? Mir dröhnt der Schädel. Mann, bin ich besoffen. Gut, dass meine Mum nicht zu Hause ist.

Nach stundenlangem Marsch und mehrmaligem Wiederaufrichten seines Fahrrades erreicht er sein Wohnhaus. Das Fahrrad schließt er irgendwie an den Fahrradständer im Vorgarten. Die Haustür lässt sich noch einigermaßen einfach öffnen. Er stolpert die Treppen hinauf in die zweite Etage, vergewissert sich mit einem vorsichtigen Blick aufs Klingelschildchen, ob er auch vor der richtigen Tür angelangt ist. Dann schließt er umständlich und mit viel Geräusch die Wohnungstür auf.

Mann, ist mir übel. Ich glaube, meine Schädeldecke löst sich ab. Ich bin hundemüde. Nichts wie ab ins Bett, denkt er sich noch, als er sich die Schuhe von den Füßen tritt und seine Jacke neben den Garderobenständer hängt. Mit der Schulter schiebt er noch die Wohnungstür zu. Nanu? Licht? Hab ich wohl vergessen.

Manuela schreckt auf. Was war das für ein Geräusch? Die Wohnungstür! Sie springt auf und rennt in den Flur. Oliver steht vor ihr mit hängenden Armen und einer riesigen Beule an der Stirn! Angetrocknetes Blut und die bräunlich-blaue Färbung des Hämatoms lassen ihn gespenstisch aussehen. Sie erschrickt.

Oliver steht vor seiner Mutter und schaut ihr mit offenem Mund in die Augen. Er versucht, etwas zu sagen. Durch den Schreck, nicht allein zu Hause zu sein, und seine recht starke Alkoholisierung bringt er nur ein krächzendes Gurgeln hervor. Betreten blickt er auf den Teppichläufer im Flur. Er stützt sich an der Wand ab.


Es ist fast Mittag. Sie ist schon eine Weile wach, hat schon drei Tassen Kaffee getrunken. Zu einem Gespräch ist Oliver heute Nacht nicht wirklich in der Lage gewesen, als er so betrunken nach Hause getorkelt kam und sie ihn mit ihrer Anwesenheit überrascht hat. So hat sie nicht weiter gebohrt.

Ihr Sohn ist schon ein paar Male weggewesen. Immer ist er gegen Mitternacht allerspätestens zu Hause gewesen. Sie hat sich immer auf ihn verlassen können. Auch das eine oder andere Bier hat er schon getrunken. Aber ist er jemals so sturzbesoffen gewesen?

Sie lächelt bei der Erinnerung, als er von Kevins Geburtstagsfeier von dessen Vater reichlich betrunken abgeliefert worden ist. Sie ist natürlich ziemlich aufgeregt gewesen. Während sie ihrem Sohn einen Eimer unter den Kopf gehalten hat, hat ihr Kevins Vater das Malheur mit den Alkopops erklärt und sich tausendmal entschuldigt, dass er nicht besser aufgepasst hatte. Zwischen den einzelnen Würgekrämpfen hat Oliver ihr zu erklären versucht, dass er höchsten zwei oder drei dieser Drinks getrunken hätte. Letztendlich ist ihrem Liebling nur ordentlich übel gewesen. Seit dem hat er wohl keine dieser süßen Schlabberdrinks mehr angerührt.

Heute Nacht, das ist krass gewesen. Sie hat ihm einen Vortrag über Verantwortung und das Einhalten von Abmachungen gehalten. Allerdings hat er sie nur leer aus seinen geschminkten Augen angeblickt. Da ist wohl nichts bei ihm angekommen.

Schwarz angemalte Augen. Das ist auch neu. Und überhaupt dieser Aufzug: dunkle Hose, knappes, schwarzes Leibchen … irgendwie zum Piepen.

Dann diese Beule. Hat er sich geprügelt? Oder nur einen Unfall gehabt? Hoffentlich nichts Ernstes. Na ja, immerhin ist er alleine nach Hause gekommen und wurde nicht mit der Polizei abgeliefert. Dann ist das wohl alles halb so schlimm. Dennoch, sie fühlt sich nach wie vor verantwortlich, auch wenn er bald 18 wird und dann eh machen kann, was er will.

Ihr süßer, kleiner Oliver wird erwachsen.

Da, ein Geräusch aus seinem Zimmer. Dann hört sie im Bad die Dusche rauschen.

Dann werde ich mal Frühstück vorbereiten, denkt sie sich.

Wie soll ich mit ihm jetzt gleich reden?

So etwa:

Guten Morgen, gut geschlafen? Nein, nein, antworte lieber nicht, ist rein rhetorisch gemeint, ich habe auch nicht sonderlich gut geschlafen. Meine Güte, wie siehst du nur aus!

Würdest du mir bitte mal die Butter geben und mir dann erklären, wo du gesteckt hast? Du weißt schon, dass ich mir große Sorgen gemacht habe, ja?

Nee, so nicht …

Ich weiß, du bist in letzter Zeit ein wenig durcheinander. Ich vermute, dass du dich verliebt hast! Ach was, ich will dir die Wahrheit sagen: Meine Kollegin hat euch beide gesehen, dich und dieses Mädchen, da bei der Schule.

Auch doof.

Vielleicht: Weißt du, ich weiß, die erste Liebe, das ist schon was Besonderes und da spielen die Hormone ohnehin verrückt und ich muss gestehen, ich habe ein wenig drauf gewartet, dass du mit mir sprichst, so wie früher, aber gut, ist wohl zu viel verlangt. Magst du mir jetzt ein wenig über sie erzählen?

Hm … so auch wieder nicht.

Sie hat den Tisch fertig gedeckt. Da kommt auch schon ihr Sohn in die Küche geschlurft und setzt sich wortlos auf seinen Platz.

„Guten Morgen, mein Lieber, meine Güte, du siehst ja schlimm aus, Kaffee? Was war denn nun los letzte Nacht? Na gut, trink erst mal, gibst du mir bitte mal die Butter und dann eine Erklärung, wo du mitten in der Nacht so ramponiert hergekommen bist?

Oliver, ich weiß, du bist in letzter Zeit reichlich durcheinander, ich hatte immer gehofft, du sprichst mal mit mir! Ich will ehrlich zu dir sei: Ich weiß von dir und dem jungen Mädel, meine Kollegin hat euch gesehen! Ist eh ein schwieriges Alter, die Hormone spielen verrückt.

Nein, nun sieh mich nicht so verdattert an, Oliver, wir wollten wirklich mal offen miteinander reden, Junge, ich mache mir einfach Sorgen, kannst du das nicht verstehen?“

„Guten Morgen. Was für ein Mädel? Ich war gestern mit Kevin und Sabrina im Jugendclub. Mehr nicht.“

Manuela stemmt die Hände auf den Tisch und sieht ihren Sohn sehr ernst an:

„Mehr hast du mir nicht zu sagen? Jetzt mal ganz im Ernst, mein Freund, ich will nicht die Einzelheiten deines ersten sexuellen Erlebnisses hören – schau mich nicht so an! – ich möchte lediglich wissen, ob du jetzt eine Freundin hast und komm mir hier nicht mit was für ein Mädel, ich sagte dir gerade, dass meine Kollegin euch gesehen hat!

Bitte, Oliver, rede mit mir!“

Erstaunt blickt er ihr ins Gesicht: „Da gibt's nichts zu reden. Sabrina ist mit Kevin zusammen. Das weißt du doch. Mir brummt der Schädel.“

Er bekommt das Marmeladenglas nicht auf.

Sie ist verdächtig ruhig nach heute Nacht, denkt er bei sich.

„Ach so, dann knutschst du also nur mal eben so mit einem jungen Mädel vor der Schule rum, ja? Gib mir die Marmelade, du Schwachmat, willste eine Aspirin?“

Gleich platzt ihr der Kragen, denkt sie sich, aber eigentlich möchte sie ruhig bleiben, sie sieht erstens, dass es ihm echt nicht gut geht, außerdem fürchtet sie, macht er total dicht, wenn sie explodiert.

Er stützt seinen Kopf auf den Unterarm und schlürft an seinem Kaffeebecher.

„Ich hab mit niemandem geknutscht. Wer erzählt so was? Aspirin kann ich mir auch selber holen.“

Sein Schädel droht zu platzen. Die Beule puckert.

Sie atmet langsam aus und ein und schaut ihn ruhig an. Oh Mann, dem geht es wirklich schlecht, denkt sie.

„Gut, wollen wir mal damit beginnen, dass du mir bitte erzählst, was letzte Nacht vorgefallen ist?“

Oliver schweigt. Langsam wird ihre Stimme doch ein wenig lauter.

„Hey, entschuldige bitte vielmals, dass ich mir die Frechheit herausnehme, nachzufragen, wenn mein Herr Sohn mitten in der Nacht sturzbesoffen samt Beule hier auftaucht, ja? Geht mich ja alles nix an, nein?“

Sie haut mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Messer auf den Tellern klirren und bereut es gleich wieder, aber sie merkt, dass sie ihre Wut nicht mehr länger unterdrücken kann. Was zum Teufel denkt der Kerl sich eigentlich?

Erschrocken blickt er auf.

„Mamanu! Kein Grund, hier so rumzulärmen. Okay, das mit dem besoffen nach Hause kommen tut mir leid. Ich hab nicht mitgezählt. Ich trinke sonst kein oder nur wenig Bier. Aber gestern ... ach Mist.

Und dann hat mir so ein Idiot die Klotür an den Kopf gedonnert.“ Er deutet auf seine Beule und schaut seine Mutter schüchtern an.

„Es ist weiter nix. Das wächst wieder zusammen.“

Er steht auf. Der Stuhl rutscht schrammend über den Küchenboden. Er greift sich ein Wasserglas, das er füllt und darin eine Aspirin auflöst. Damit setzt er sich wieder an den Tisch und starrt auf das offene Marmeladenglas, das ihm seine Mutter hingestellt hat.

„Okay, also das mit dem Saufen üben wir dann noch!“ Schmunzelnd schaut sie ihn an und beruhigt sich wieder ein wenig. „Möchtest du die Marmelade in Wein verwandeln oder warum starrst du so?

Und da wäre noch die Sache mit dem Mädel. Olli, Schätzchen – äh - Oliver, bitte nicht böse sein, aber schau, auch ich habe mal die erste Liebe erlebt, na ja, war eher eine Schwärmerei, also, ich meine, das ist doch ganz natürlich, du bist doch erst 17, ja klar, du bist fast erwachsen und in dem Alter ist es ganz natürlich, dass man sich mal verknallt, und weißt du was? Ich habe es mir sogar gewünscht! Ich habe mir echt gewünscht, ich hätte einen verliebten Sohn an meiner Seite, er schwärmt mir von seinem Mädel vor, ich schwärme in meinen Erinnerungen, wir schwärmen gemeinsam … meine Güte, nun guck mich nicht so finster an! Und lass mich hier nicht so rumstottern, nun sag doch einfach mal was!“

„Manu, mach da bitte kein Drama draus. Ich bin einmal besoffen nach Hause gekommen. Fredy und Klaus machen das jedes Wochenende. Keine Angst, das Bier hat mir nicht mal geschmeckt.“

„So, einen verknallten Sohn wünschst du dir an deiner Seite? Willst du das wirklich? So sehr, dass du dir schon vorstellst, ich stehe knutschend mit ‘nem Mädel vor der Schule? Wer erzählt dir so was eigentlich?

Ich hab keinen Hunger. Mir ist schlecht. Das Saufen werde ich garantiert nicht üben. Und das Verlieben auch nicht.“

„Hörst du mir eigentlich überhaupt zu? Meine Kollegin hat es mir erzählt, sie hat euch gesehen. Okay, du willst nicht drüber reden. Schade. Sehr schade!“

Sie spürt, wie ihr die Tränen kommen, und kann es nicht verstehen. Oder doch? Ist es die Enttäuschung? Das Gefühl, ihr Baby entgleitet ihr völlig?

Sie fühlt sich so hilflos und schluckt.

„Okay, du willst dich also nicht verlieben. Darf ich fragen, warum nicht? Ich meine, du hast doch überhaupt noch keine Erfahrung, die Liebe ist doch was so Tolles! Gib ihr eine Chance. Gib mir eine Chance, mit dir drüber zu reden. Ich bin gerade verliebt! Schockiert dich das jetzt? Wäre es nicht lustig, wenn wir beide verliebt mit einem dümmlichen Grinsen, dem Merkmal der Frischverliebten, durch die Gegend laufen würden?“

Sie versucht, ein wenig Fröhlichkeit zu zeigen, aber gelingt es ihr?

„Setzt du jetzt schon deine Kolleginnen auf mich an? Nochmal zum Mitschreiben: Ich bin nicht verliebt.“ Er hält inne, hat einen Geistesblitz.

„Jetzt verstehe ich: Deine Kollegin hat mich neulich mit Jäckie gesehen. Wir haben nach der Schule auf der Bank gesessen und gequatscht. Das heißt noch lange nicht, dass ich in sie verknallt bin. Jäckie ist eine Freundin, nicht meine Freundin.“ Er holt tief Luft.

„Du erzählst mir auch nicht alles aus deinem Liebesleben. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich das sooo genau wissen will. Dümmliches Grinsen ... soso. War das das, was du heute Nacht hattest, als ich nach Hause kam?“

Was hat sie nur mit ihrem Verliebtsein? Wenn das so einfach wäre, dachte er laut seufzend.

„Ich setze … WAS? … meine Kolleginnen auf dich an? Sag mal, geht’s noch?

Söhnchen, mal ganz im Ernst … du bist sooo wichtig in meinem Leben, aber wir wollen es nicht übertreiben, nein?

Und ja, ich bin verliebt und es mag sein, dass ich ein dümmliches Grinsen in meinem Gesicht hatte, als du nach Hause kamst, aber das kam eher von den Sorgen, die ich mir um dich gemacht habe, das nennt man dann dümmlich, ja? Mutter macht sich Sorgen um ihren Sohn, wie dümmlich!

Okay, du willst nicht mit mir reden, nun gut, dann will ich auch nicht mehr.

Ich habe einfach die Schnauze voll davon, dir jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen, mich dabei beschissen zu fühlen, mich von dir abkanzeln zu lassen als Übermutter, Oliver, es reicht! Es reicht gerade bis sonst wohin. Du willst nichts von meinem Liebesleben wissen? Warum auch? Es geht dir gerade sowas von am Arsch vorbei, wie es mir geht, wie ich mich fühle, warum denn auch, ich bin ja nur deine Mutter!“

Sie erhebt sich, stützt sich am Tisch ab und kann nicht verhindern, dass ihr die Tränen übers Gesicht laufen.

„Geh am besten wieder ins Bett und schlafe deinen Kater aus. Ich gehe mal raus an die Luft.“

Damit wendet sie sich ab und geht.

Oliver bleibt noch eine Weile sitzen. Dann räumt er wortlos den Frühstückstisch ab.

Gedanken strömen durch seinen brummenden Schädel: Scheiße, ich hab's ihr nicht sagen können. Stattdessen habe ich meine Mutter beleidigt. Ich krieg die Kurve nicht. Was hält mich eigentlich davon ab, ihr ES einfach zu sagen? Jetzt ist sie erst mal angepisst.

Er gießt sich wieder Wasser ins Glas, löst eine neue Aspirin darin auf und setzt sich wieder an den Tisch.

Ich MUSS es ihr sagen.

Nach einem schnellen Gang um den Block kommt Manuela atemlos wieder nach Hause, die Luft hat ihr gutgetan. Sie sieht Oliver, der immer noch am Tisch sitzt, zieht ihre Jacke aus und setzt sich ganz ruhig dazu. Wartet.

Minutenlang sitzen sie da, ohne, dass einer von beiden etwas sagt. Oliver stützt seinen schweren Kopf auf seine Arme und blickt auf die Tischplatte. Er atmet schwer. Sein Schädel droht zu platzen.

„Es tut mir leid“, flüstert er fast.

„Was tut dir leid? Die Sauftour? Komm, vergiss es, da werden noch ganz andere Touren kommen.“ Sie grinst und schaut ihn erwartungsvoll an.

„Dass ich dich eben so aufgebracht habe. Ich wollte dich nicht beleidigen, Manu.“ Er seufzt. Dann blickt er ihr direkt in die Augen.

„Ich bin ein bisschen neben der Spur. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“ Er weiß es wirklich nicht. Er weiß nur, dass es jetzt irgendwie raus muss.

„Deine Kollegin irrt. Ich bin nicht in Jacqueline verliebt. Sie hat mich getröstet, weil es mir scheiße ging. Danach hat sie mich kurz geküsst.“ Er schaut wieder auf die Tischplatte. Sein Gehirn pulsiert. Nie wieder Bier!

„Ach so, ich verstehe.“ Sie lehnt sich zurück. „Mit anderen Worten: Du hast Liebeskummer! Du hast dich in ein Mädel verguckt, die will aber nichts von dir wissen. Junge, das tut mir leid, das ist natürlich blöd! Hast du gar keine Chance bei ihr?“

Er schüttelt den Kopf.

„Nein, das ist es nicht. Ach Manu, ich ... mir ... es ist ganz was anderes. Jacqueline ist wirklich eine ganz liebe. Wenn ich mich in ein Mädel verlieben würde, dann in sie. Das ist es nicht. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“

Er seufzt.

Sie setzt sich bequem auf ihrem Stuhl hin, verschränkt die Arme und guckt ihren Sohn liebevoll an.

„Gut, Junge, du scheinst richtig in der Zwickmühle zu stecken. Komm, jetzt gib dir einen Ruck und erzähle. Ob ich dir helfen kann, weiß ich nicht, aber vielleicht erleichtert es dich, wenn du mal drüber sprichst, irgendwas macht dich ja total fertig!“

„Im Moment kann mir, glaube ich, keiner helfen.“

Er atmet tief ein und wieder aus. Dann blickt er seiner Mutter in die Augen und sagt leise: „Ich bin schwul.“

Er wischt sich eine Träne aus dem Auge und schaut wieder auf die Tischplatte vor ihm.

Sie schaut immer noch liebevoll lächelnd, aber jetzt gerade verzieht sich ihr Mund, sie blickt ihren Sohn ungläubig staunend an:

„Du glaubst, du bist schwul? Also - homosexuell, meinst du? Und darüber machst du dir einen Kopp und bist dermaßen neben der Spur?“

Sie kann einfach nicht anders: Sie grinst.

„Ach Olli, und ich mache mir die größten Sorgen und zerbreche mir den Kopf, was alles mit dir los sein könnte! Also schau mal“, sie setzt sich gerade hin und nimmt einen Schluck Kaffee, „gut, du glaubst, du könntest schwul sein. Weißt du, das ist völlig normal. Ich denke, jeder Junge macht irgendwann einmal die Phase durch, sowas von sich zu glauben. Besonders dann, wenn er erst spät eine Freundin bekommt. Oder von einem jungen Mädchen wie die … Jackeline heißt sie? … angeschmachtet wird und er die Gefühle nicht erwidern kann. Da glauben sehr viele Jungs, sie könnten schwul sein! Aber DU doch nicht, Junge!“

Jetzt lacht sie tatsächlich bei der Vorstellung, ihr Oliver sei homosexuell.

„Oliver, du hast nichts, aber auch rein gar nichts Schwules an dir, das hätte ich doch schon längst gemerkt! Vertrau mir und bitte, mach dich nicht so fertig, dazu besteht doch überhaupt kein Grund. Meine Güte, armes Kind, du hast dir echt den Kopf drüber zerbrochen, ja? Siehst du, gut, dass wir endlich drüber geredet haben. Nun geh am besten noch mal eine Stunde ins Bett, dann sieht die Welt wieder ganz anders aus!“

Sie steht auf, kommt auf ihn zu und möchte ihn erleichtert in die Arme nehmen.

Er weicht ihr aus, indem er vom Stuhl aufsteht und sich ihr gegenüber aufbaut. Er schaut seiner Mutter entsetzt in die Augen.

„Du verstehst mich nicht! Ich bin schwul! Ich stehe auf Jungs! Das ist keine Phase. Dafür dauert es schon zu lange. Ich weiß es.“

Seine Stimme überschlägt sich.

Mit unverminderter Aggressivität fährt er fort: „Was soll das überhaupt heißen, ich würde keine Freundin abbekommen? Ich habe eine Freundin. Sie heißt übrigens Jacqueline und nicht Jackeline. Sie ist wohl die einzige, die mich versteht! Ich bin nur eben nicht verliebt in sie. Ich will mit ihr nicht ins Bett steigen. Mit keinem der Mädels!“

Er atmet tief durch.

Eh Manuela etwas sagen kann, fährt er fort: „Und gar nichts hast du bemerkt. Kannst du wohl auch gar nicht. Es steht mir nicht auf die Stirn geschrieben, dass ich schwul bin. Wie glaubst du, müsste ich sein, damit du mich als schwul erkennen würdest? Soll ich deine Kleider anziehen, mit deinen Stöckeln laufen? Was heißt das, ich hätte überhaupt nichts Schwules an mir? Meinst du, ich müsste so tuntig reden und mit dem Arsch wackeln wie diese Quotenschwulen in den Fernsehserien? Sorry, ich habe keine abgeknickten Handgelenke. Dennoch kannst du mir glauben: Ich stehe auf Jungs!“

„Mooooment! Jetzt halt mal die Luft an! Was ist mit deinen Handgelenken? Nun lenk hier nicht von der Sache ab.

Woher genau weißt du, dass du schwul bist? Hast du etwa schon mal … oh nein, sag jetzt nicht, du hast schon mal mit einem Jungen …“

Völlig fertig lässt sie sich auf den Stuhl sinken.

„Nein“, unterbricht er sie, „ich habe noch mit keinem Jungen geschlafen. Ich weiß es trotzdem einfach. Ich fühle, dass ich schwul bin.“

„Was soll das denn bedeuten, dass du schwul bist?“, flüstert sie und sieht ihn verängstigt an. „Kannst du denn nichts dagegen tun? Ich meine, es muss doch eine Möglichkeit geben, dass du wieder normal wirst.“

Sie steht wieder auf und läuft um den Tisch herum.

„Was heißt hier wieder normal werden? Ich bin normal. Und ich kann da auch nichts gegen machen.“ Oliver schaut sie bestürzt an.

„Ich bin mir sicher, du hast einfach noch nicht das richtige Mädchen kennengelernt. Wenn du dich eines Tages verliebst, wird es wieder alles anders sein. Du bist nicht schwul und nein, es soll nicht bedeuten, dass du dir meine Klamotten anziehst oder dich sonst irgendwie tuntig – welch ein schreckliches Wort – benimmst, aber schau mal, diese Schwulen sind einfach anders, man sieht es ihnen an! Schau doch nur im Fernsehen oder diese typisch schwulen Friseure! Allein schon diese Bewegungen! Die Art, wie sie gehen, wie sie sprechen, andere Männer angaffen.

Das bist doch nicht DU! Du treibst Sport, du bist drahtig gebaut, du gehst völlig normal, du redest normal. Nein und nochmals nein, Oliver, du bist nie im Leben schwul! Warum sagst du sowas? Willst du mich fertig machen? Erschrecken?“

„Die Schwulen im Fernsehen sind nur ein Klischee. Wie kommst du überhaupt darauf, dass alle Schwulen so sind, wie sie im Fernsehen gezeigt werden? Nicht jeder Mann sieht so aus wie Til Schweiger oder Bruce Willis, nicht jede Frau ist wie Nicole Kidman. Das sind doch alles nur Klischees, die sie uns im Fernsehen und Kino zeigen.

Ich mache Sport, ich bin keine Tunte, ich bin nicht so verweichlicht, wie Schwule immer dargestellt werden. Trotzdem wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mit einem Jungen zärtlich zu sein, mich in einen Jungen zu verlieben. Was ist daran so schrecklich?“

„Nein, ich will dich nicht fertigmachen. Ich liebe dich. Ich will nur, dass du mich verstehst. Ist das zu viel verlangt?“

Mit flehendem Gesichtsausdruck eilt sie auf ihn zu: „Oliver, du bist mein einziges Kind! Wir gehören doch zusammen. Fast 18 Jahre haben wir jetzt zusammen gelebt und ja, ich weiß, es war nicht immer einfach für dich, aber für mich auch nicht! Als alleinerziehende Mutter muss man alles tragen, nichts kann man teilen. Sag mir, was ich falsch gemacht habe.“

Sie hat die Hände in die Hüften gepackt und brüllt ihn an: „WAS HABE ICH FALSCH GEMACHT?“

Sie lässt sich wieder auf den Stuhl sinken und bricht in Tränen aus.

„Mamma!“ Er setzt sich auf einen Stuhl direkt neben ihr, vermeidet eine Berührung mit ihr.

„Manu, du hast bestimmt nichts falsch gemacht“, versucht er es unsicher. „Es ist schon immer in mir gewesen. Ich habe mich da nicht verändert. Ich bin nur älter geworden und habe begriffen, wie ich bin, wie ich fühle.

Ja, es ist nicht immer einfach gewesen. Ich bin bestimmt nicht immer einfach gewesen und war ungerecht zu dir, weil ich nicht verstanden hatte, was es bedeutet, dass mein Vater uns verlassen hat.“

Oliver atmet tief durch und sagt ruhig: „Du weißt genau, ich helfe dir, wo ich kann, weil wir zusammengehören und bisher alles zusammen irgendwie durchgestanden haben. Warum können wir das jetzt nicht auch gemeinsam durchstehen?“

Nach einer Atempause fährt er deutlich aggressiver fort: „Es ist unfair von dir, mich anzuschreien und mir vorzuwerfen, dass mein Erzeuger uns im Stich gelassen hat. Es tut mir leid, dass ich nicht so geworden bin, wie du mich gerne erzogen hättest. Ich lasse mir da keine Schuld einreden. Du bist unfair.“

Oliver schaut seine Mutter an und schluchzt. Dann sagt er leise und fast schon flehend: „Ich bin doch kein anderer als bisher. Bitte versteh mich doch. Was soll ich denn machen? Mit einem hübschen Mädchen gehen und unglücklich werden?“

„Nein, du sollst nicht unglücklich werden, so ein Blödsinn!“

Sie guckt nun beinahe schon wieder zärtlich.

„Aber was soll werden? Was werden Oma und Opa sagen? Der Rest der Familie? Deine Mitschüler, Lehrer, meine Kollegen. Soll ich mich hinstellen und sagen: Hey, übrigens, mein Sohn ist schwul! Ich habe einen Sohn und werde mich nie mit einer Schwiegertochter rumplagen müssen, nie Babygeschrei ertragen müssen, ist das nicht toll? Juchuuu!

Ihre Stimme wird wieder lauter. „Du weißt schon, was du mir damit antust, ja? Wie oft habe ich mir vorgestellt, du gründest später mal eine Familie, hast Kinder, ich kann mit meiner Schwiegertochter bummeln gehen, mit den Kindern spielen … Und jetzt? Jetzt willst du mir erklären, dass du bald mal mit einem Jungen hier zu Hause ankommst, ihr sitzt dann hier auf dem Sofa, haltet Händchen, knutscht rum … Oh Gott, nein, ich ertrage diesen Gedanken nicht!“

Sie springt wieder auf, umkreist ihren Sohn und schaut ihn an, als sähe sie einen Fremden.

„Geht es dir darum, wie du da stehst? Geht es darum, dass ich dir dein Ansehen vor all den Leuten zerstöre? Ist es das, was du mir vorwirfst? Ich erwarte nicht wirklich, dass du Luftsprünge machst. Die anderen sind mir scheißegal!

Und ja: Gewöhne dich besser an den Gedanken, von mir keine Schwiegertochter präsentiert zu bekommen und schon gar keine schreienden Enkel. Ich weiß nicht, wie du es Oma und Opa oder deinen Kollegen erklären sollst. Ich weiß nicht einmal, ob du es überhaupt erklären musst!

Entschuldige, dass ich versagt habe und deinen Ansprüchen nicht mehr genüge.

Entschuldige, dass ich deinen Wünschen nicht entspreche, dass ich dich enttäusche, weil ich so bin, wie ich eben bin.

Entschuldige, dass du dich vor mir ekeln musst, weil ich anders bin, anders empfinde und anders liebe.

Wenn du willst, werde ich dir niemals meinen Freund hier anschleppen, wenn ich jemals einen habe.

Wenn du es wirklich willst, werde ich dir niemals den zeigen, der mir etwas bedeuten wird, den ich lieben werde.

Ich will nicht, dass du dich ekelst vor mir. Ich habe gedacht, dass ich dir was bedeute. Und jetzt bin ich dir plötzlich widerlich.“

Er schluchzt. Tränen laufen ihm über die Wangen.

„Vorhin hast du gesagt, wir würden zusammengehören. Wie stellst du dir das vor, wenn ich dir eklig bin? Wenn du mich eklig findest, hast du mich jemals geliebt? Wir gehören zusammen, war das alles nur so dahergeredet, solange ich brav nach deiner Pfeife getanzt bin? Hast du mich je geliebt? Wie wäre es, wenn ich ausziehe?“

Das letzte ist kaum zu hören. Oliver heult.

Völlig fassungslos steht sie da.

Sie sieht ihren weinenden Sohn und kann nicht glauben, was sie da alles in ihrer Erregung gesagt hat.

Sie möchte auf ihn zugehen, ihn in die Arme nehmen und ihm sagen, dass alles gut ist.

„Ich möchte dich jetzt gerne in die Arme nehmen und dir sagen können, dass alles gut ist. Aber das ist es nicht. Ich bitte dich, Oliver, setz dich hier zu mir an den Tisch. Ich bitte dich um Entschuldigung für alles, was ich eben gesagt habe. Aber es kam aus meinem Inneren heraus, total spontan, nachdem du mir ein Stück weit meine Welt kaputtgemacht hast.

Allerdings … du kannst nichts dafür. Aber ich auch nicht.

Bitte komm her und setz dich! Und nimm dir bitte ein Taschentuch!“

Sie steht auf und holt ihm eines, darüber grinst er leicht.

„Oliver, ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen soll und wird. Du hast mir mal eben so an den Kopf geknallt, dass du schwul bist. Ich kann nicht mal dir zuliebe behaupten, dass ich das toll finde, ganz im Gegenteil. Aber was ich eben gesagt habe … also, nein, du bist mir nicht widerlich und wirst es auch nie sein.

Ich bin immer noch total neben der Spur und werde meine Zeit brauchen. Du bist dir im Laufe der Zeit darüber klar geworden, dass du schwul bist. Ich hatte mal eben zwei Minuten! Das ist ein bisschen heftig, findest du nicht auch?

Natürlich wünsche ich mir, den Menschen kennenzulernen, den du einmal lieben wirst. Wie ich dann mit der Situation umgehen werde, kann ich dir jetzt noch nicht sagen, es ist alles so fremd.

Aber ich kann lernen. Ich kann lernen, was es für dich heißt, schwul zu sein. Ich kann und ich werde mich mit dieser Thematik beschäftigen. Was dabei herauskommen wird, weiß ich jetzt noch nicht.

Ich weiß nur, dass ich dich immer noch liebe und ein Auszug hier gar nicht in Frage kommt.

Wir haben fast 18 Jahre so vieles durchgestanden, nun wartet eine neue Herausforderung. Ich bin immer noch irgendwie geschockt, aber ich werde auch langsam ruhiger.

Es warten viele Themen auf uns. Du hast eben gefragt, ob ich es der Familie und den Kollegen überhaupt sagen muss. Siehst du, dass alles sind Dinge, die schwirren mir jetzt im Kopf rum, ich habe keine Antwort drauf.

Ich werde über vieles nachdenken, mich schlaumachen müssen, wir müssen immer wieder zusammen reden, ich werde versuchen, alles zu verstehen, ich werde sicherlich an einigen Dingen scheitern, aber ich werde mir Mühe geben, für dich und auch für mich … Mehr kann ich im Moment nicht. Würde es dir für den Anfang reichen?“

Ihr Kopf tut weh, ihr ist leicht schwindelig. Sie weiß nicht, wie alles weitergehen soll, aber sie hat jedes Wort eben ernst gemeint. Sie wird es mit aller Kraft versuchen. Für ihn ist es mit Sicherheit auch nicht leicht, das ist ihr eben klar geworden bei seinem Ausbruch.

Wie wird er reagieren? Sie fröstelt.

Oliver zieht die Nase hoch. Er schaut sie an. Eben hat er noch gebebt vor Zorn und Angst. Jetzt sieht er seine Mutter, wie sie nach Fassung ringt. Wie konnte es nur so weit kommen, dass sie sich anschreien, dass sie vergessen haben, was sie aneinander haben, dass sie eben doch zusammengehören. Nichts wird sie jemals auseinanderbringen können.

Noch einmal zieht er die Nase hoch und setzt an: „Manu, mir tut es leid. Ich weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht. Für mich ist das auch noch so neu irgendwie. An einem Tag bin ich ganz euphorisch, da möchte ich die Welt umarmen. Das war so, als ich es Jacqueline erzählt hatte. Am nächsten Tag bin ich am Boden zerstört, dann habe ich nur Angst, was die anderen in der Schule über mich reden, wie sie mich behandeln, wenn sie es erfahren. Ich habe Angst, Freunde zu verlieren, abgelehnt zu werden.

Ich habe meine Zeit gebraucht, zu mir und meinen Gefühlen zu stehen. Ich hatte so gehofft, dass du mich verstehen würdest, vielleicht nicht sofort und auch nicht alles. Ich verstehe auch noch nicht alles.

Wenn du dich von mir abwendest, weiß ich nicht mehr weiter.“

Er geht auf sie zu und öffnet seine Arme. Kurz vor ihr bleibt er stehen. Sein Gesicht ist tränenfeucht. Er spürt wieder den Schmerz an seiner Beule. Dann schlingt er seine Arme um ihren Hals. Sie tut es ihm gleich.

„Bitte hilf mir. Ich werde dir auch helfen. Ich möchte nur, dass wir zusammenbleiben und uns nicht deswegen streiten. Bitte verstehe, selbst wenn ich es ändern wollte, es geht nicht, ich kann nicht.

Schwulsein gehört zu mir. Mich gibt's nicht ohne.“

Sie streichelt ihm sanft über den Rücken.

Sie bleiben einige Minuten still in inniger Umarmung stehen. Beide beruhigen sich. Dann lösen sie sich voneinander, stehen gegenüber, fassen sich an die Schultern und lächeln sich einfach nur an.

„Oliver, du bist mein Sohn. Was soll ich noch sagen?“

Die Zeit vergeht, was soll sie auch sonst tun? – Ein paar Jahre danach

Hallo Leute … ja, ihr außerhalb der Story hier. Hier spricht Manuela, Olivers Mutter. Ihr erinnert euch? Ich dachte, es interessiert euch vielleicht, wie es denn so mit uns weitergegangen ist.

Also, es ist nicht immer einfach gewesen, ganz klar. Oliver hat mir einiges an Literatur gegeben, wir haben manchmal nächtelang gesprochen, er hat mir vieles erklärt, er hat meistens erzählt, wenn er was Negatives erlebt hat, wenn er zurückgestoßen wurde, als Schwuchtel bezeichnet wurde. Dann habe ich ihn getröstet oder auch mit ihm geschimpft, weil er sich so wenig gewehrt hat.

Wir sind auch noch x-mal aneinander gerasselt, es hat immer wieder mal Streit gegeben. Aber das ist klar, das soll auch so sein, wenn zwei Menschen zusammen leben, von denen der eine irgendwann kein Kind mehr ist.

Vielleicht hat ihm unser Zusammenhalt auch geholfen, denn im Laufe der Zeit ist er immer selbstsicherer geworden, ist auch mit einer Gruppe zusammengekommen, da sind alle homosexuell gewesen. Es hat ihm natürlich ungemein geholfen, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, offen reden zu können.

Andreas ist ihm auch eine große Hilfe gewesen. Erinnert ihr euch noch an ihn? Wir sind jetzt verheiratet! Auf unserer Hochzeit ist Oliver mit seinem Freund Tim erschienen. Erklärt wurde gar nichts, ist auch nicht nötig gewesen. Wenn ich angesprochen worden bin: Ja, das ist Tim, Olivers Freund, und damit war das Thema rum. So einfach kann es manchmal sein.

Wir sehen uns eh selten, da Oliver ja nun nach dem Studium eine Stelle gefunden hat, seine eigene kleine Wohnung hat und am Wochenende nun nicht immer bei Mami und Stiefpapi zum Kuchenessen einlaufen möchte. Ist aber auch okay so. Andreas und ich brauchen auch viel Zeit füreinander.

Unser Leben ist – wie soll ich es beschreiben – so normal!

So, nun muss ich aber los. Oliver hat einen neuen Freund, scheint was ganz Besonderes zu sein. Wir sind heute Abend mit den beiden zum Essen verabredet. Hoffentlich ist der so toll wie Tim. Der war Klasse: ich bin so gerne mit dem Shoppen gegangen, der hatte einen super Geschmack. Hat mir immer Spaß gemacht. Und die Leute haben immer geguckt: ich und dann so ein gutaussehender junger Mann an meiner Seite. Innerlich habe ich immer gelacht.

Also, ich bin gespannt, wen wir heute kennenlernen. Ob es diesmal der Richtige ist? Ob nun Schwiegertochter oder Schwiegersohn, die Spannung ist da, ich bin ganz aufgeregt.

Es freut mich, dass ihr in einem spannenden Moment in unserem Leben bei uns gewesen seid. Und wenn es auch Momente gibt, in denen man glaubt, es zieht einem jetzt den Boden unter den Füßen weg: Reden soll da helfen! Reden, Verständnis für den anderen … und mit Geduld und Zusammenraufen.

Dann schleicht so nach und nach die Normalität ein.

Richtig schön!

Also, macht’s gut, ich wünsche euch alles Liebe!

Ach ja, ich soll euch von Oliver grüßen.

Das Leben kann so schön sein. Was habe ich mich angestellt vor ein paar Jahren. Mittlerweile kommt Manuela ganz gut klar mit meinem Schwulsein. Ihr Verständnis hat mir echt geholfen, wenn es am Anfang auch recht holprig gewesen ist.

Zuerst hat sie es überhaupt nicht verstanden. Aber sie wollte sich damit auseinandersetzen. Und sie hat wirklich große und schnelle Fortschritte gemacht.

Ich erinnere mich noch daran, als sie von einem dieser Elterntreffen nach Hause gekommen ist und sich tierisch über das Unverständnis von einigen Vätern und Müttern ausgelassen hat. Wie man sein Kind nur so im Stich lassen könnte mit seinen Problemen.

Dafür habe ich sie ganz doll in den Arm genommen.

Manchmal ist es mir aber auch echt peinlich gewesen, wie sie sich kompromisslos für mich und die Schwulenrechte eingesetzt hat. So ist sie und dafür liebe ich sie.

Mit Jacqueline verbindet mich eine starke E-Mail-Freundschaft. Sie ist ans andere Ende der Republik gezogen, hat dort geheiratet und kriegt fast jedes Jahr ein Kind. Wir erinnern uns oft gemeinsam an unsere Schulzeit und an die kleine Karte, die sie mir zugesteckt und die so einiges ausgelöst hatte. Heute können wir scheckig lachen über uns damals.

Nachher kommen Manuela und mein Stiefvater Andreas (ja, genau der) zu mir nach Hause. Sie wollen unbedingt meinen neuen Freund kennenlernen, mit dem ich jetzt schon ein paar Wochen zusammen bin. Wir werden kochen, das kann René nämlich ganz phantastisch. Sie werden ihn mögen.

Da fällt mir ein: Von meinem Erzeuger habe ich ewig nichts mehr gehört, seit er die Unterhaltszahlungen für mich eingestellt hat. Egal, ich kenne ihn ja eh kaum.

Ich muss jetzt noch was einkaufen für heute Abend.

Macht's gut und seid, wer ihr seid. Schöne Grüße auch von der besten Mutti der Welt an alle, die noch zögern!

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