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Ali-Money und die vierzig Zigeuner

Teil 1 - Prolog, der Anfang oder der Astronaut irgendwo im Weltall

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Prolog, der Anfang oder der Astronaut irgendwo im Weltall

Eigentlich fing alles damit an, dass ich behauptet hatte, mein Vater wäre ein schwedischer Astronaut und würde im Weltall einen Satelliten beobachten, den er nach mir benannt hatte.

Ein echter Weltraumexperte halt, der irgendwo zwischen Mars und Mond unterwegs war und Dinge sah, von denen wir anderen Menschen nur träumen konnten.

Schöne Story, verkaufte sich gut. Die Wahrheit war jedoch einfach nur ernüchternd. Es gab weder einen blöden Satelliten, der Gyps hieß, noch einen schwedischen Astronauten, der mein Vater war. Eigentlich gab es nicht mal einen Gyps-Vater, noch überhaupt einen Gyps.

Klar, mich gab es eigentlich schon und ich hieß auch wirklich Gyps, aber da ein Mensch aus Atomen bestand, gab es nicht einen Gyps, sondern einen Gyps, der zufällig aus Millionen kleiner Gyps-Atomen zusammengesetzt wurde.

Kompliziert, ich weiß. Vermutlich war das auch der Grund, wieso ich in die Förderklasse musste und ein hoffnungsloser Fall war. Ich hatte meine Existenz nie verstanden.

Das war ein wenig wie Mathematik. Wenn man die Grundrechenarten schon nicht beherrschte, brauchte man auch gar nicht erst mit Geometrie, Algebra oder Bruchrechnung anzufangen…

„Glaubst du, der Kerl schneidet uns bei der Grenze die Kehle durch und klaut meine Schuhe?“ Aligraleph kämpfte sich wieder aus dem Gebüsch, in dem er zum Pinkeln verschwunden war.

Ich verzog kurz das Gesicht, dann schaute ich wieder in den Himmel. Voll mit Sternen, aber arm an schwedischen Papa-Astronauten.

„Wieso klaut er ausgerechnet deine Schuhe?“, fragte ich schließlich und zog die Nase hoch. „Er könnte auch meine klauen…“

„Wieso?“, fragte Aligraleph und zog total arrogant seine Augenbrauen in die Höhe, kaum war er neben mir auf die Motorhaube des alten Benz geklettert. „Wieso der Kerl meine Schuhe klaut? Gyps, ich bitte dich! Schau dir mal deine alten Aldi-Treter an, dann mein edles Schuhgeleit und dann denk mal scharf über deine Frage nach, Dr. Watson…“

Ich lachte, obwohl ich den Spruch gar nicht witzig fand und es sich bei dem Kerl um einen echt netten Mann handelte, der ein wenig wie einer von den Klitschko-Brüdern aussah. Seine witzige Jacke und sein guter Musikgeschmack hatte uns überhaupt erst in seinen Wagen einsteigen lassen.

Er war ein echt netter Mann. Natürlich hätte das auch echt schief laufen können, aber der russische Kerl war kein schräger Vogel. Er hatte uns weder komisch angesehen, noch verlangt, dass einer von uns beiden neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.

Er hatte die ganze Fahrt mit uns über Rückspiegel geplaudert und uns stolz von seiner Tochter erzählt, die in St. Petersburg Medizin studierte. Sie wäre ein echt schlaues Mädchen. Eine Lady, die wusste was sie wollte.

„Der Himmel!“, rief Aligraleph plötzlich laut und boxte mich hart gegen den Oberarm. „Schau dir mal diesen Himmel an, Mann! Ist das geil oder was?“

Obwohl ich mit Aligraleph offiziell erst seit sechs Tagen befreundet war, zwei davon auf einer echt verrückten Reise, konnte ich bereits jetzt schon sagen, dass so etwas typisch Aligraleph war. Er schrie die offensichtlichsten Dinge urplötzlich in die Welt hinaus, als würden die Normalsterblichen ohne sein Geschrei NIE darauf kommen.

Die Dinge lagen klar auf der Hand. Sogar so ein langsamer Denker wie ich schnallte den Mist. Aber was sollte man schon dagegen tun? So war Aligraleph von Mochenstein nun mal.

Er trampelte mit seiner teuren Kleidung, seinem Mafia-Gesicht und dem unerschütterlichen Glauben durch die Welt, dass sechs Milliarden Menschen ahnungslos sterben müssten, wenn er nicht regelmäßig seine Kommentare herausschreien würde.

„Alles klar, Jungs?“ Der Russe kam breitbeinig aus der Tankstelle und sah mit der Zigarette im Mundwinkel aus wie ein echter Cowboy. Wie ein echter und kommunistischer Cowboy mit Jogginghose und witziger Pelzjacke.

„Klar“, sagte Aligraleph und es klang, als hätte er überhaupt keine Angst. Keine Angst vor der langen Fahrt zurück. Keine Angst vor dem Ärger, den wir mit Sicherheit bekommen würde. Keine Angst vor seinem Schulverweis, der in unserer Heimatstadt auf ihn wartete und keine Angst vor dem Schnösel-Internat, in das ihn seine idiotischen Eltern mit Garantie bei seiner Rückkehr steckten.

Der Russe kletterte ächzend zwischen mich und Aligraleph und starrte ebenfalls in den Himmel. Er rauchte eine Weile seine stinkende Zigarette, dann fragte er ernst:

„Steckt ihr wirklich nicht in Schwierigkeiten? Ich meine, wie alt seid ihr? Fünfzehn? Das ist ziemlich gefährlich, was ihr hier macht. Wisst ihr das?“

Ich nickte ebenfalls ernst, aber Aligraleph lachte jedoch nur und streckte seine Hand in Richtung Hauptstraße aus, die in der Nähe der Tankstelle lag.

„Alles in Butter, Mann. Nimm uns einfach noch bis in die Stadt mit.“

Der Russe nickte nur und sah eine Weile den vorbeifahrenden Autos zu. Helle Punkte, die wieder in der dunklen Ferne verschwanden.

„Okay, hab verstanden“, sagte er dann. „Ist eure Sache. Aber bis in die Stadt geht klar.“

Ich glaub, wenn ich je ein Buch über mein Leben, meine Reise, Aligraleph und die Sache mit meinem Vater schreiben würde, würde ich einen anderen Schluss wählen. Ich würde uns nicht in einem klapprigen Auto zurück nach Hause fahren lassen, sondern mit Pferden in den Sonnenuntergang reiten lassen, während ein Lied von Johnny Cash im Hintergrund lief.

Ja, das wäre ein gelungener Abgang. Das hätte Stil und wäre ein wenig wie ein Kinofilm oder so.

Aber wo sollte ich bei meinem Buch um Himmelswillen bloß anfangen? Bei meiner Angst vor Bakterien? Bei dem kaputten Fenster unseres Wohnwagens? Bei der Erfindung von allem, oder ging es eigentlich nur um die Erfindung von meinem Leben?

Mir war immer noch schwindelig, als mir der Russe eine eiskalte Flasche mit Bier in die Finger drückte. Ich war erst fünfzehn Jahre alt, aber wen interessierte das schon? Den Pelzjacken-Russen mit Sicherheit mal nicht.

„Wie heißt ihr eigentlich?“, fragte der Russe aber schließlich. „Erst eure Namen, dann geht die Sache mit dem Bahnhof klar.“

„Ich bin John Kibbur und der hier -“, sagte Aligraleph wie aus der Pistole geschossen und deutete auf mich, „- ist mein treuer Freund Zigeuner-Rodrick. Ich bin Jude und er Zigeuner. Wanderndes Volk und so. Das ist bei uns völlig normal, dass Jungs in unserem Alter alleine auf Tour sind.“

Ich war wirklich ein 'Zigeunerjunge', aber wie Aligraleph auf diesen Scheiß mit John Kibbur und Jude kam, war mir ein echtes Rätsel.

„Klar“, lachte der Russe und tippte sich gegen die schiefe Nase. „Und ich bin die Bundespräsidentin, ihr Schwachköpfe. Aber mir egal. Steigt schon ein. Zum städtischen Bahnhof also?“

Aligraleph nickte und kletterte vom Auto. „Korrekt. Oder was meinst du, Zigeuner-Rodrick?“

Ich zuckte mit den Schultern und starrte auf die Flasche in meinen Händen.

Ich wusste nicht, was ich wollte. Wollte ich zurück zu meiner durchgedrehten Mutter, die sich für eine Wahrsagerin hielt? Wollte ich zurück in die Schule? Wollte ich zurück zu meinem klapprigen Fahrrad? Zurück in den knallroten Wohnwagen?

„Mir egal“, sagte ich also. „Ich weiß nicht mal, wie ich meine Geschichte anfangen soll.“

Und es war die Wahrheit. Nichts als die reine und verrückte Wahrheit. Wo sollte ich zum Teufel nochmal mit meiner Geschichte anfangen?

Kapitel 1 – Der Anfang oder so

Ich war fauler Nutznießer des staatlichen Schulsystems und Legastheniker aus Überzeugung, als Aligraleph von Mochenstein in meine Klasse kam.

Er war bereits sechzehn, litt an einem schweren Fall von Aufmüpfigkeit und hatte von seinen Eltern nicht nur jede Menge Kohle in den Arsch geschoben bekommen, sondern auch eine echt abgedrehte Erziehung.

Aligraleph von Mochenstein war bereits ein Außenseiter, kaum hatte er das Klassenzimmer betreten.

Er passte mit seinen teuren Klamotten, dem aufgestellten Hemdkragen und dem Mafiosi-Gesicht einfach nicht in unsere Klasse.

Ich würde nicht sagen, dass ich unbeliebt war. Ich war meinen Mitschülern, den Lehrern und mir selbst einfach nur irgendwie egal. Ich döste in der Schule vor mich hin, starrte in den Pausen gezielt auf den Boden und kaute beim Essen so langsam, dass man beim Zuschauen vor Langeweile einschlief.

Aber Aligraleph – oh Mann. Er hatte einen wirklich komischen Namen, was den Lehrern und meinen Mitschülern völlig suspekt war. Ich meine, wenn man in meiner Klasse nicht Tom, Tim, Jan, Anna oder Lisa hieß, war man gleich ein schräger Vogel.

Wir hatten gefühlte vier Tims, drei Lauras, zwei Annas und zehn Jans oder so. Sogar die Lehrer hießen mit Vornamen irgendwie alle gleich, wobei schon schräg genug war, dass Lehrer überhaupt Vornamen hatten.

Ich war mit meinem Namen Gyps sonst immer der komische Vogel gewesen, aber jetzt kam so ein Marken-Typ mit einem VON im Namen daher und machte meinen Platz als bemühter Außenseiter streitig.

Sogar im Sportunterricht war ich nicht mehr der hoffnungsloseste Schüler, weil dieser Aligraleph ständig selbstgeschriebene Entschuldigungen beim Lehrer abgab. Mal war er krank, wie vom Erdboden verschwunden oder roch so stark nach Zigarettenqualm, dass unser immer brüllender Sportlehrer Herr Falke ihn mit einem bösen Schreiben nach Hause schickte.

In Kunst war ich ganz gut, wurde aber schlechter, sobald dieser Aligraleph neben mir saß. Er glotzte mir ständig auf die Staffelei und versuchte mir völlig offensichtlich abzumalen. Ich meine, wie arm war das denn? Jemanden abschreiben war okay, konnte ja nicht jeder so motiviert wie unsere drei Streber-Lauras sein, die unbedingt aus der Förderklasse in die normale Bildungsklasse wollten. Aber einer Person abmalen?

Traurig, echt traurig. Ganz egal, was ich auch auf das Papier klatschte, dieser Aligraleph kniff die Augen zusammen, als würde er sich furchtbar konzentrieren müssen, schwankte leicht auf seinem Stuhl und hatte unglaublich zittrige Finger, während er genau das gleiche Bild wie ich malte.

Meine Kunstlehrerin bemerkte den Scheiß nicht einmal, weil sie in ihrer eigenen Welt lebte und man in ihrem Unterricht sogar pennen konnte, ohne dass sie etwas dazu sagte.

Kein Lehrer sagte etwas wegen Aligraleph. Er sammelte blaue Briefe wie ein Fanatiker, schlief ab und zu einfach ein oder tauchte einen ganzen Schultag lang einfach nicht auf.

Wenn er da war, hatte er nie eine Schultasche dabei und wenn er mal im Unterricht mitarbeitete, dann redete er merkwürdig hochgestochen. Wobei er anscheinend einen Hang zum Fluchen hatte.

Als ihn Frau Gergel darum bat, den Inhalt des letzten Geschichtsthema zu repetieren, brach der schräge Spinner einen zehnminütigen Vortrag vom Zaun, der verdammt viele Fachwörter enthielt, aber auch eine ganze Parade an übelsten Schimpfwörtern.

Frau Gergel war eigentlich eine ruhige Frau, aber kaum hatte Aligraleph den Mund wieder geschlossen, war sie völlig hysterisch geworden. Sie hatte ihn die restlichen zwanzig Unterrichtsminuten angeschrien.

Mensch, mir war sogar in der letzten Reihe fast das Trommelfell geplatzt. Jeder war tierisch eingeschüchtert, nur dieser Aligraleph nicht. Der hatte breitbeinig auf seinem Stuhl gelungert, sich immer wieder durch sein kurzes, schwarzes Haar gestrichen und gelangweilt gegähnt.

Niemand wollte mit Aligraleph reden, niemand wollte den Kerl in seiner Nähe haben und so ziemlich alle waren sich darüber einig, dass der Spinner wieder gehen sollte. Niemand wusste, woher er kam oder wieso er bei uns „Lernschwachen“ gelandet war. Dumm war er nicht, er war sogar erstaunlich schnell und gewitzt beim Sprechen.

Ich glaub, ich hätte nie im Leben auch nur ein Wort mit diesem schrägen Typ gewechselt, hätte mich nie auf diese hirnlose Hetzjagd eingelassen, wenn Aligraleph mir während des Kunstunterrichts nicht plötzlich eine Nachricht geschrieben hätte.

Er schrieb es einfach auf das leere Papier, auf das wir eigentlich eine Zeichnung einer orientalischen Stadt malen sollten. Seine Buchstaben waren riesig und irgendwie… verschnörkelt.

Ich glaub, meine Mutter würde mir die Füße küssen und mein Taschengeld erhören, wenn ich so sauber wie Aligraleph schreiben könnte. Vorausgesetzt, sie würde mal durch den Schleier ihrer Wahrsagerei bemerken, dass ich überhaupt da war.

Aligralephs Schrift war echt irgendwie schön. Also schön im Sinne von leserlich und hübsch, auch wenn die Worte, die er auf das Papier schrieb, irgendwie hässlich und ziemlich direkt waren.

Dein Hosenstahl ist offen, Mann. Oder was denkst du, wieso diese blöde Fotze neben dir ständig kichert?

Zuerst kapierte ich gar nichts, dann schaute ich zu einer der Annas, die neben mir saß und musste feststellen, dass sie tatsächlich kicherte. Langsam, wirklich ganz langsam, sah ich nach unten und musste feststellen, dass der Idiot völlig recht hatte.

Meine Hose war offen und da ich bereits vor zwei Stunden kurz pinkeln war, musste es wohl so ziemlich jeder bereits bemerkt und gesehen haben. Außer ich natürlich. Der Klassiker, verdammt nochmal.

Ich zog schnell den Reißverschluss meiner Hose zu, aber die Milch war bereits übergekocht. Die blonde Anna neben mir brach in johlendes Gelächter aus. Kein Witz, aber am liebsten hätte ich einfach geheult.

Nach der Schule hatte ich mir dann so schnell wie möglich meine Jacke geschnappt, meine Mütze tief in die Stirn gezogen und war losgelaufen. Ein paar aus der Klasse riefen mir blöde Sachen nach, die Mädchen kicherten immer noch und ich heulte tatsächlich, als ich mein Fahrrad schiebend an dem großen Einkaufszentrum vorbeiging.

Der Anblick von diesem riesigen Gebäude gab mir einfach den Rest. Da, wo das hässliche und viel zu teure Teil jetzt stand, hatten früher viele kleine Läden gestanden. Richtig hübsche Läden, wo ich als kleines Kind immer was geschenkt bekommen hatte. Vor allem der kleine Buchladen fehlte mir. Die Besitzerin war gar nicht mal so alt gewesen, hatte rote Haare gehabt und ausgesehen wie ein Kobold, weil sie immer grüne Sachen getragen hatte.

In meiner Vorstellung hatten die Abrissleute die Koboldfrau einfach mit ihrer Buchhandlung zusammen abgerissen. WUSCH und weg. Keine Kinderbücher mehr, dafür aber teure Schuhläden und Apotheken, wo man eine Nummer ziehen musste, bevor man bedient wurde.

Ich war mir sicher, dass alles erst richtig schlimm geworden war, als man die kleinen Läden abgerissen hatte. Seit der Glaskasten dort stand, wurden die Wohnblöcke neu saniert und „verteuert“ wie es meine Mutter immer ausdrückte.

Außerdem zog es immer mehr Typen zu unserem Wohnwagenviertel am Stadtrand. Ständig parkten silberne Autos in der Nähe und Männer mit viel zu edlen Schuhen und Hosen stampften über die Trampelwege und hatten Messgeräte dabei.

Ich heulte richtig schlimm und es war mir schon irgendwie peinlich, aber ich hatte das Gefühl, dass mir sonst der Kopf platzen würde.

Etwas klingelte plötzlich hinter mir. Es klang wie die Klingel eines Fahrrades und ich ging instinktiv zur Seite, ohne mich umzudrehen.

Ich zog mir meine Mütze tief in die Augen, ganz in der Hoffnung, dass man meine verheulten Augen nicht sehen konnte.

Das Fahrrad überholte jedoch nicht, sondern fuhr eine Weile neben mir her.

„Kein Grund zum Schämen, Mann. Ich heule auch manchmal. Und zieh diese blöde Mütze aus, du hast voll die schönen Haare, Mann. Im Ernst, die Locken sind der Wahnsinn.“

Ich kannte die Stimme, auch wenn ich sie lieber nicht kennen würde. Ausgerechnet Aligraleph von Mochenstein fuhr mit seinem nagelneuen Mountainbike neben mir her.

Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, die auf dem Schulhof die Runde machten, hatte Aligraleph sogar vier verschiedene Fahrräder und zwei Mofas. Außerdem behauptete auch einer der Tims, dass er mal gesehen hatte, wie Aligraleph an einem Montagmorgen von einem richtig teuren Auto mit getönten Scheiben zur Schule gefahren wurde.

Ich zog laut die Nase hoch, beschleunigte meine Schritte und versuchte, mir mit dem Jackenärmel die Tränenspuren von den Wangen zu wischen, aber der Idiot blieb dicht neben mir.

Dieser blöde Idiot fuhr auf seinem Scheiß-Fahrrad neben mir her, als wären wir verdammte Freunde. Er klingelte sogar völlig übertrieben irgendwelche Melodien.

„Ich kann sogar ein jüdisches Hochzeitlied klingeln. Meine Eltern sind Juden, weißt du? Willst du mal hören? Das Lied ist echt geil…“

Ich hielt mir demonstrativ die Ohren zu und hoffte, dass Aligraleph bald die Lust an diesem Spiel verlor und endlich abbog.

Er wohnte mit Garantie nicht in meiner Nähe. So Typen wie Aligraleph wohnten in großen Häusern mit Blick auf den großen See und den angrenzenden Wald, der im Herbst echt schön war. Oder in solchen edlen Wohnungen im Bankenviertel der Innenstadt, aber sicher nicht in der Nähe des Stadtrands.

Typen wie ich heulten bei Peinlichkeiten und wohnte im Wohnwagenviertel am Stadtrand.

Aligraleph fuhr noch eine Weile neben mir her, schließlich stieg er ab, schob das Fahrrad lässig neben sich her und pfiff eine völlig blöde Melodie.

Mein Fahrrad sah neben seinem Fahrrad aus wie eine verdammte Missgeburt.

„Du heulst voll schwul“, sagte er schließlich und ich ignorierte ihn einfach. Noch zwei Blocks, dann den holprigen Weg in Richtung Fluss entlang und ich wäre daheim. Ich würde dann meine Schuhe ausziehen, mich in meinem kleinen Zimmerraum verstecken und darauf hoffen, dass die Schule morgen wegen Brand ausfallen würde.

„Dein Name ist Gyps, nicht? Gyps Wroskall. Lebst du eigentlich echt in einem Wohnwagen? Ich hab mal gehört, wie dich dieser hässliche Tim Zigeuner genannt hat. Was ist? Kannst du nicht sprechen oder was ist los?“

Ich ging schneller, Aligraleph stieg einfach wieder auf sein Fahrrad und fuhr neben mir her.

„Sag schon, Mann. Oder kannst du wirklich nicht sprechen?“

„Welchen Tim meinst du?“, fragte ich schließlich und schob mir meine Mütze aus den Augen.

„Was?“ Aligraleph stieg erneut von seinem Fahrrad.

„Welchen Tim meinst du?“, fragte ich verheult. „Wir haben mehrere Tims in der Klasse.“

Aligraleph dachte scheinbar angestrengt nach, denn er legte die Stirn in Falten und fragte genervt: „Wie viele Tims haben wir denn in dieser beschissenen Klasse?“

„Gefühlte hundert Stück oder so…“

Keine Ahnung, warum ich das von der Leine gelassen hatte, aber ich schlug damit ein wie eine Bombe.

Aligraleph grinste, zeigte perfekte Zähne und ich mochte ihn noch weniger. Meine Zähne waren nicht perfekt, sogar ein wenig komisch. Ich glaub, sie waren sogar etwas schief.

„Du hast ja sogar Humor, Mann!“ Aligraleph grinste immer noch. Er hatte kein nettes Grinsen, eher so ein Anzugs-Grinsen.

Wie diese Kerle, die immer in ihren silbernen Autos vorfuhren, unsere Wohnwägen anschauten und dann kurz darauf wieder verschwanden, nur um dann ein paar Tage später wieder mit ihren Messgeräten aufzutauchen, Bäume in der Nähe zu markieren und Sensoren anzubringen.

Diese Typen wussten, dass sie uns nervös machten, grüßten aber noch nicht einmal, sondern ignorierten uns. Nur einmal hatte mich so ein Messtyp beachtet. Er hatte mich nur kurz angesehen und mir dann eine Zigarette angeboten, als ich mich neben ihm gestellt hatte und fragte, was er hier machen würde.

Ausmessen, Junge. Ich vermesse diesen Platz, um ihn schöner zu machen. Klingt spannend, nicht? Willst du eine Zigarette? Was? Haha, du bist erst fünfzehn? Ich hab mit neun schon geraucht, Kleiner…

Ich starre auf den Boden und versuchte die Nervensäge von Aligraleph zu ignorieren. Es gelang mir auch ganz gut, bis der Idiot mit seinem Scheiß-Fahrrad über meinen rechten Fuß fuhr.

Vor Schock, Schmerz und Frust fing ich ein zweites Mal an zu weinen. Zum zweiten Mal bekam Aligraleph alles mit und anstatt sich zu entschuldigen, stieg er einfach vom Fahrrad und lachte.

„Du weinst wirklich schwul, Zigeuner. Bist du schwul? Ich spiel’ mit dem Gedanken, schwul zu werden. Meine Mutter ist eine Hure, Mann. Eher fick ich einen Kerl, als noch einmal eine Frau. Hast du eigentlich schon mal gefickt?“

Ich ging schneller, biss mir fest auf die Unterlippe und versuchte, endlich mit dem verdammten Weinen aufzuhören. Mein Fuß tat höllisch weh und Aligraleph lachte erneut.

„Jetzt humpelst du voll komisch. Steig doch einfach auf dein Fahrrad, Mann:“

Ich kniff die Augen kurz zu, nahm tief Luft und drehte mich schließlich zu Aligraleph um. Diesen Idioten auf seinem blöden Fahrrad. Der Kerl, der einem über den Fuß fuhr und dabei lachte.

Ich spuckte ihm mit voller Kanne ins Gesicht. Genau zwischen seine blauen Augen, die eine der Lisas aus der Klasse total schön fand. Mir war das egal. Aligraleph von Mochenstein war mir total egal.

Von mir aus konnte er auch allen erzählen, dass er mich beim Heulen erwischt hatte. Sollten doch alle in der Förderklasse wissen, dass der schweigsame und unkonzentrierte Zigeuner geheult hatte.

Lockenkopf-Gyps war eine Heulsuse. Der Kerl, mit dem Mädchen nur dann sprachen, wenn sie sonst niemanden zum Quatschen hatten.

Ich war ein Niemand und das war gut so. Niemande durften heulen. Niemande waren nicht unbeliebt, sie waren einfach nur eine graue Masse, die weder juckte noch irgendwie störte.

Das einzige, was mich auszeichnete, waren meine schlechten Noten in Mathematik und die Tatsache, dass ich einen „Zahlendreher“ hatte.

Ich verstand einfach nicht, wieso man zum Beispiel bei der Zahl 56 zuerst die 6 nannte, dann erst die 5.

„Hey, dein Fahrrad ist irgendwie schrottreif, aber durchaus cool. Tauschen wir?“ Aligraleph hielt mit seinem Luxus-Fahrrad direkt vor mir und schob es immer so in den Weg, dass ich nicht einfach an ihm vorbeigehen konnte.

Das Spiel war mir aber zu blöde und ich trat ihm einfach wütend gegen das Vorderrad.

„Hör mal zu, du verdammtes Arschgesicht!“, schrie ich wütend und verheult. „Mein Papa ist ein schwedischer Astronaut und der macht dich platt, wenn du dich nicht verpisst! Der lenkt im Weltall einen Satelliten und hat ihn sogar nach mir benannt!“

Gelogen. Mein Vater wusste nicht einmal, dass es mich gab. Er war nicht mal Schwede, sondern ein schlecht Deutsch sprechender Grieche, mit dem meine Mutter für eine kurze Zeit in einem Reisezirkus gearbeitet hatte.

Sie kannte ihn gerade einmal drei Shows lang, ließ sich aber von ihm in ihrem Wohnwagen vögeln und sah ihn danach nie wieder. Drei Tage nach der Sache verließ er den Zirkus und heuerte irgendwo anders an.

Meine Mutter wusste nicht einmal, wie er richtig hieß. Sie kannte ihn nur als Heros. Als den begabten Akrobat, von dem ich diese Scheiß-Locken geerbt hatte.

Ich trug mein dunkles Haar kurz, trotzdem bestand es nur aus abstehenden und herumwuchernden Locken. Ich hatte mir mal mit zwölf Jahren frustriert mit dem elektrischen Damenrasierer meiner Mutter eine Glatze geschnitten und entsetzt festgestellt, dass ich einen Eierkopf hatte. Es war ein einziges verdammtes Drama.

Aligraleph grinste plötzlich wieder dieses arrogante Grinsen und lehnte sich lässig gegen sein Fahrrad.

„Dein Papa ist Astronaut, Mann? Und warum trägst du dann uralte Schuhe und Hemden, die selbst zu Zeiten meiner Großmutter out waren? Du solltest nackt zur Schule gehen, Mann. Ehrlich. Scheiß auf diese hässlichen Kleider. Komm lieber nackt, hübsch genug dafür bist du.“

Mir fiel keine Beleidigung ein, die ich ihm an den Kopf werfen konnte. Ich fand es merkwürdig, dass er so komisch redete. Und er redete komisch. Definitiv.

Fehlte nur noch der Anzug und das Interesse für den Platz, auf dem wir seit Jahren schon unsere Wohnwägen stehen hatte, dann wäre er wirklich so ein Mistkerl wie diese Benz-Kerle, die mit ihren blöden Plänen den Stadtrand „verschönern“ wollten.

„Weißt du was?“ Aligraleph gähnte demonstrativ. „Ich mag dich, Mann. Du bist ein echt krasser Kerl.“

Ich hielt mir wieder die Ohren zu, ging an ihm vorbei und ignorierte den Schmerz in meinem Fuß.

„Bis morgen, Zigeuner!“ Aligraleph lachte und es klang fast so wie das Lachen meiner Mutter. Zwar nicht so hell, aber genauso hysterisch.

Ich schwieg, summte irgendwelche Melodien und verfluchte ihn. Ich verfluchte alles und jeden.


Jemand hatte Kuchen mitgebracht und anhand der Herzchen, die jemand mit Zuckerguss geformt hatte, musste es sich wohl um einen Geburtstagskuchen von einer der Lisas handeln.

Alle Lisas aus der Klasse liebten Pferde, Herzchen und Tim Nummer sechs, dessen Mutter die Reitlehrerin von den meisten Lisas war.

Ich kniff meine Augen fest zu, hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und hörte Herr Tolf nur halb zu, während er ein Stück aus einem Buch vorlas, welches einige Eltern an der letzten Zusammenkunft als „zu schwer“ eingestuft hatten.

Ein Grund mehr, dass Herr Tolf das Buch durchboxte. Wenn jemand sagte, etwas sei für uns Dummies zu schwer, prügelte er es uns Schülern erst recht in den dummen Schädel.

In dem Buch ging es um einen Jungen, der super intelligent war und damit nicht klar kam.

Irgendwie witzig, dass man so etwas in einer Förderklasse las. Der Typ war wirklich mega intelligent und kam damit nicht klar, ich war saublöd und kam damit nicht klar.

Würde mich mal interessieren, wer von uns beiden Opfern hier wirklich ein Problem hatte…

Herr Tolf las immer nur den Anfang eines Kapitels, dann musste einer aus der Klasse lesen. Jedes Mal war es ein gigantisches Gestammel, weil wir einige in der Klasse hatten, die furchtbar Angst hatten, irgendwas laut lesen zu müssen.

Herr Tolf wählte irgendwann Aligraleph aus, weil dieser Papierflieger aus alten Zigarettenschachteln gebastelt hatte, während er eigentlich mitlesen sollte.

Ich schloss wieder die Augen, machte mich auf Gefluche gefasst, wurde aber heftig überrascht. Aligraleph konnte nämlich richtig gut lesen.

Er hatte kein Schneckentempo drauf, noch haute er den Text so schnell und zischend runter wie Herr Tolf. Er klang ein wenig wie der Kerl von meinen Kinderkassetten, die ich vor Jahren immer rauf und runter gehört hatte.

Aligraleph machte das echt gut und Herr Tolf sah aus, als hätte ihm jemand einen dreckigen Witz erzählt. Die hasste Herr Tolf und er machte dann immer ein Gesicht, als wäre er sich nicht sicher, ob er schimpfen oder kotzen sollte.

„Das war gut“, würgte mein Deutschlehrer schließlich hervor. „Du kannst unglaublich gut lesen. Wer kann erklären, was Aligraleph gelesen hat?“

Niemand konnte das, weil niemand kapierte, warum der Junge im Buch wegen seiner Intelligenz so dermaßen angepisst war.

Herr Tolf beantwortete also seine Frage selbst und keiner hörte ihm zu. Nicht mal eine von den Lauras, die sogar irgendwie alle gleich aussahen.

Ich döste weiter vor mich hin, bis mir etwas gegen den Nacken flog. Es war klein und aus Papier. Eine blöde Nachricht und ich erkannte die saubere, verschnörkelte Schrift sofort.

Selbst wenn ich die Schrift nicht erkannt hätte, wäre der gemeine Comic, der im Star Wars-Stil über Herr Tolf gemalt wurde, Hinweis genug.

Aligraleph hatte unseren Deutschlehrer mit seiner riesigen Nase gut getroffen. Auch die alberne Brille passte ins Bild, nur das Laserschwert war dazu erfunden.

Herr Tolf kämpfte gegen das Buch, welches wir behandelten und wurde kurz darauf von Buchstaben, die aus dem Buch krochen, in die Luft gejagt.

Es war irgendwie gruselig, wie detailliert Aligraleph die einzelnen Körperteile gemalt hatte, die in alle Winde zerstreut wurden.

Ich starrte noch etwas perplex auf das Gemalte, als eine Hand, die definitiv dem echten und lebendigen Herr Tolf gehörte, nach dem Zettel griff.

„Gyps, bist du wieder in den Fjorden deiner Phantasiewelt?“, fragte er grimmig und ich dachte, ich müsste kotzen, als er sich den Zettel ansah.

Sein Gesicht wurde blass, seine Nase scheinbar noch größer und seine Zähne spitzer. Er würde mich fressen, hier und jetzt auf der Stelle.

„Vor die Tür“, knurrte er leise und kam meinem Gesicht ganz nah. „Hast du gehört, Gyps? Sofort vor die Tür…“

„Ich…“ Ich war das gar nicht, euer Ehren! Aber ich bekam den Mund nicht auf, weil ich ein Feigling war. Weil alle in meiner Familie hysterische Feiglinge waren.

Ich war genetisch gesehen ein geborener Versager. Was erwartete man bei mir auch anderes als Förderschule? Man konnte ja auch nicht fette Ernte erwarten, wenn man einen ausgetrockneten Boden ohne Nährstoffe bewirtschaftete.

Es war einfach nicht möglich…

„Ich…“ Ich drehte mich langsam um und sah zu Aligraleph, der die Arme lässig hinter dem Kopf verschränkt hatte, mich mit blauen Augen ansah und mit perfekten Zähnen grinste.

Sicher liess er sie auf Kosten seiner Eltern bleichen.

„Ich war das nicht…“

Herr Tolf runzelte die Stirn. „Wer dann? Der unsichtbare Geist oder was?“

Ich schüttelte den Kopf und deutete auf Aligraleph, der mit gespieltem Erstaunen die Arme sinken ließ.

„Was?“, fragte er. „Was soll ich gewesen sein?“

Herr Tolf nahm den Zettel, trug ihn zu Aligraleph und der verwöhnte Bastard lachte furchtbar hysterisch.

„Oh mein Gott! Die Nase ist aber gut getroffen, Herr Tolf. Der Zeichner muss ein echter Künstler sein!“

„Raus!“, donnerte Herr Tolf. „Hast du gehört, Aligraleph? RAUS!“

„Ganz ruhig, Graf Nase. Ich geh ja schon…“ Das Lachen war verstummt, Aligraleph hörte auf seine Rolle zu spielen und grinste unglaublich gemein, als er langsam an meinem Tisch vorbeiging.

„Gyps muss aber mit. Mitgefangen, mitgehangen. Kennen Sie den Spruch, Herr Tolf?“

Herr Tolf explodierte. Er verbannte Aligraleph für eine ganze Stunde auf den Flur und als die Zeit rum war und Herr Tolf ihn wieder ins Klassenzimmer holen wollte, war er verschwunden.

Seine Sachen waren noch alle da. Schultasche, Jacken und Schal. Nur Aligraleph war wie vom Erdboden verschluckt.

Er tauchte erst zur letzten Stunde wieder auf, roch nach Zigarettenqualm und Wodka. Meine Mutter hing am Alkohol wie andere an Talk-Shows, ich erkannte den Geruch nach Wodka wie kein Zweiter.

Außerdem saß er ziemlich unsicher auf seinem Stuhl, fing sogar während Erdkunde an zu lachen und schlief in Kunst ein.

Da er neben mir saß, konnte ich erst recht seine Fahne riechen und wusste nicht, ob ich ihn melden sollte.

Ich malte verbissen an meiner orientalischen Stadt weiter und versuchte, einfach nicht an Aligraleph von Mochenstein zu denken.

Er hatte ein hübsches Gesicht, ehrlich. Zwar sagte man so etwas als Junge nicht laut, aber man durfte es durchaus denken. Und ich dachte es, die ganze Kunststunde über. Seine Nase war gerade, sein Mund war schmal und wirkte irgendwie verbissen und stur. Seine Augenbrauen waren dunkel, genau wie seine kurzen Haare.

Er trug eine feine Silberkette ohne Anhänger und ein Hemd, dessen Schild etwas herauslugte. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Spanner, als ich auf meinem Stuhl solange herum rutschte, bis ich die Marke lesen konnte.

Na super, er war tatsächlich so ein Gucci-Typ, wie man ihn in der Jungenumkleide immer nannte, wenn er nicht da war. Und wie gesagt, er machte Sport so gut wie NIE mit.

Das war ungerecht, verdammt. Richtig unfair und gemein…

„Hör auf zu glotzen…“ Aligralephs Stimme klang heiser, als hätte er in den Stunden, wo er in der Schule gefehlt hatte, furchtbar viel geschrien. Er hob langsam den Kopf vom Tisch und zog die Augenbrauen verärgert zusammen. „Ehrlich. Fass an oder lass es sein…“

Ich setzte mich wieder gerade auf meinen Stuhl, fühlte, wie meine Wangen heiß wurden und beschimpfte mich in meinem Kopf selbst.

„Heute ist Abgabe des Bildes…“, zischte ich leise, weil ich hoffte, ihn so von meinem Starren ablenken zu können.

Aligraleph gähnte demonstrativ. „Na und? Ich hab Kopfweh. Halt’s Maul.“

„Halt ich nicht.“

„Ach? Wer hat mir denn ins Hemd gestarrt?“

Ich knirschte heftig mit den Zähnen und malte etwas zu schwungvoll den Himmel mit blauen Wasserfarben aus. „Ich hab… nur das Etikett gelesen.“

„Das Etikett?“ Aligraleph lachte heiser, dann rückte er mit dem Stuhl näher. „Und? Bist du jetzt zufrieden, du Opfer der Altkleidersammlung? Kannst du jetzt mit den anderen Opfern über mich lästern, ja? Wow, ich bin stolz auf dich, verkappte Jungfrau…“

Ich hörte einfach weg und gab am Ende der Stunde ein einigermaßen gelungenes Bild ab, während sich Aligraleph einfach aus dem Staub machte, eine schlechte Note kassierte und ganz eindeutig darauf schiss.

Herr Tolf behandelte als Einstieg in die neue Schulwoche ein Gedicht von Goethe. Vermutlich hatten irgendwelche Tim-Eltern wieder entschlossen, dass Gedichte viel zu schwierig für uns Förderschüler waren.

Irgendwie klar, dass Herr Tolf sofort mit Gedichten um sich warf. Er wollte sogar, dass jeder von uns sich eines aus seinem Buch aussuchte und es Ende dieses Monats auswendig vor der Klasse aufsagte.

Niemand fand das toll, aber Herr Tolf wäre sicher als Lehrer nicht „strafversetzt“ worden, wenn ihn die Meinung anderer Leute gejuckt hätte.

Angeblich hatte Herr Tolf vor Jahren an einer Hochschule unterrichtet. Also den richtig schlauen Leuten was beigebracht, hatte sich aber nie an den Lehrplan gehalten.

Tat er jetzt immer noch nicht. Er sah jeden Morgen auf seine Bildungsliste, runzelte die Stirn und meinte, wir sollten in der Klasse doch was anderes machen. Am Ende von jedem Schuljahr schwitzte er dann vor dem Schulrat Blut und Reue, wenn sein Bildungsbericht unvollständig war.

Ich war noch gar nicht richtig wach, als das Buch mit den Gedichten auf meinem Tisch landete. Die Lauras hatten sich natürlich die längsten Gedichte ausgesucht. Schön blöd, wenn man mich fragt. Reine Angeberei, verdammt.

Eine Weile blätterte ich in dem Buch herum und versuchte ein Gedicht zu finden, was nicht zu lang war und keine Spur Kitsch enthielt. Die Frühlingsgedichte waren furchtbar.

„Herr Tolf, der Zigeuner reicht das Buch nicht weiter!“ Einer von dem Toms streckte seine Wurstfinger in die Luft und schnippte hysterisch. „Er schummelt! Das ist gemein!“

Herr Tolf hatte die Arme verschränkt und saß auf dem Lehrerpult, während ich so tat, als hätte ich Toms Worte nicht gehört.

„Gyps, kannst du dich bitte endlich entscheiden?“ Herr Tolf lächelte mich nett an, aber das machte es auch nicht besser. Ich hasste es, unter Druck gesetzt zu werden.

Gereizt blätterte ich noch einmal durch das Buch und blieb einfach bei einem Gedicht hängen, was nicht zu lang war und dessen Titel mir ganz gut gefiel. Selbstbetrug. Wieso nicht?

Ich schrieb meinen Namen mit Bleistift über das Gedicht und reichte das Buch an Jammerlappen Tom weiter. Der blöde Idiot riss das Buch an sich, als wäre es sein Besitz und nicht das von Herr Tolf.

Jeder suchte sich schließlich ein Gedicht aus, außer Aligraleph. Er war mal wieder nicht da und Herr Tolf schien ihn dadurch bestrafen zu wollen, dass er Aligralephs Namen über das echt lange Gedicht Erlkönig schrieb. Memo an mich selbst: Nie wieder schwänzen.

Nach der großen Pause bekam jeder Schüler sein Gedicht auf Papier gedruckt von Herr Tolf ausgeteilt und ich war ehrlich erleichtert.

Selbstbetrug

Der Vorhang schwebet hin und her
Bei meiner Nachbarin;
Gewiss, sie lauschet überquer,
Ob ich zu Hause bin,

Und ob der eifersücht’ge Groll,
Den ich am Tag gehegt,
Sich, wie er nun auf immer soll,
Im tiefen Herzen regt.

Doch leider hat das schöne Kind
Dergleichen nicht gefühlt.
Ich seh’, es ist der Abendwind,
Der mit dem Vorhang spielt.

Das war machbar, ehrlich. Auch wenn ich den Text nicht ganz kapierte und manche Wörter nicht verstand, war die Länge ertragbar.

Herr Tolf grinste mich richtig an, als er mir das Gedicht reichte.

„Hang zur Tragödie, Gyps. Sehr schön, sehr schön! Diese Schwere und Bitterkeit gefällt mir persönlich ebenfalls besser als die Höhen aus der sekundären Sturm und Drang Literatur…“

Ich hatte nur genickt und so getan, als würde ich Turm und Trank auch super finden. Oder Sturm und Sprung, oder was auch immer er da für Wörter von der Leine gelassen hatte.

Nach Unterrichtsschluss schlurfte ich fast in Zeitlupe aus dem Schulgebäude. Es war witzig. Am Morgen kam ich nie aus dem Bett, am Nachmittag kaum aus der Schule. Irgendwas in mir hatte einen Hang zum Verweilen. Wollte an Ort und Stelle am Boden festwachsen, oder so.

Ich tat kurz so, als wäre ich ein schweres Menschenwesen aus Blei, welches die Füße nicht vom Boden heben konnte und fand das Geräusch klasse, welches meine Turnschuhe auf dem Steinboden verursachten.

Irgendwann fing ich an zu laufen und hörte erst auf, wie ein Bekloppter zu rennen, als ich fast Daheim war.

Die Wohnwagensiedlung war ruhig. Es war ja auch erst später Nachmittag, da war hier kaum was los. Die meisten der Leute lagen jetzt noch auf dem Sofa, schauten sich Filme an oder schliefen wie meine Mutter.

Meine Mutter stand nie vor sechs Uhr abends auf. Außerdem arbeitete sie vor allem in der Nacht.

Unser Wohnwagen war voller Vorhänge und die verdammten Tarotkarten, die auf dem Tisch lagen, waren unter anderem einer der vielen Gründe, wieso ich kaum Freunde hatte. Seit meine Mutter vor Jahren eine Zeitungsannonce als Wahrsagerin Zara aufgegeben hatte, war ich in der Schule schlichtweg einfach nur noch der Zigeunerjunge.

Meine Mutter bekam oft spät in der Nacht Besuch von Frauen, die sich nervös auf unser Sofa setzten und so verheult und verzweifelt waren, dass sie meiner Mutter alle möglichen Sachen erzählten. Meine Mutter war eigentlich keine Wahrsagerin, sondern viel mehr eine billige Therapeutin.

Frauen, die weinend gestanden Angst vor ihrem Mann zu haben, versprach sie eine freie Zukunft als geschiedene Frau. Sie schaute sich nicht mal ihre Lebenslinien oder so an. Sie hatte auch keine Glaskugel, wie ein paar der Jans aus meiner Klasse immer behaupteten.

Sie saß einfach nur da, hörte den fremden Frauen zu und gab ihnen Tipps und Rat. Die Frauen, die meine Mutter aufsuchten, kamen oft mehrmals die Woche. Immer in der Nacht und wenn sie meine Mutter dann per Zufall auf der Straße trafen, grüßten sie nicht einmal, sondern wechselten schnell die Straßenseite.

Meine Mutter wurde am Tag verspottet und ausgelacht. Die saufende Zigeunerin. Die irre Hexe mit ihrem komischen Jungen. In der Nacht wurde sie jedoch zur Sammelstelle für jede Menge Verzweiflung und Angst.

Selbst in der Wohnwagensiedlung ging man meiner Mutter aus dem Weg. Sie war für die meisten eine Hure. Sie hatte sich immerhin einfach so mit einem Kerl eingelassen und jetzt einen Jungen an der Backe, der ständig wehleidig war.

Natürlich gab es auch Leute, die ganz okay waren. Der immer gebräunte Jameiro mit seiner Gitarre, zum Beispiel. Er lebte mit seinem Hund Charli in dem kleinen Wohnwagen direkt neben uns.

Oder Tula, die etwas kräftigere Frau, die einen selbst dann schrie, wenn sie eigentlich nur netten Plausch betrieb und quasi direkt neben einem stand. Sie meinte es nicht böse, sie hatte einfach so ein lautes Stimmorgan.

Es gab ein Mädchen in meinem Alter, aber mit der durfte ich nichts unternehmen, denn ihre Eltern mochten mich nicht. Meine Mutter wäre laut ihnen ein Paradebeispiel dafür, wieso man uns als Zigeunerpack beschimpfen würde.

Und mein Onkel, ja, dieser saufende Nichtsnutz, wäre der einzige Grund, wieso jedes Wochenende die Polizei hier auftauchen würde.

Eigentlich taten wir nichts. Wir wohnten nur in Häusern auf Rädern, trotzdem gab es ständig Schwierigkeiten. Egal ob beim Arzt, in der Schule oder einfach im alltäglichen Leben, jeder wollte einen festen Wohnsitz wissen.

Fest waren für die meisten Menschen scheinbar nur Dinge aus Stein, den unser Wohnwagen stand hier schon seit über acht Jahren und trotzdem bekam ich Briefe von der Schule in die Hand gedrückt, Arztrechnungen mussten vor Ort gezahlt werden und es war laut meiner Tante eine einzige Katastrophe, sich in einer Bibliothek etwas auszuleihen, wenn man als Adresse ‚Wohnwagen Nr. 6. Beim Nölnfluss. Nähe Stadtrand‘ angab.

Mein Onkel beschwerte sich nie. Im Gegensatz zu meiner Tante. Wobei mein Onkel Scruggs wirklich mein Onkel war, der kleine Bruder meiner Mutter, während meine Tante Emma nicht die Spur mit mir verwandt war.

Sie wohnte im Wohnwagen direkt neben Jameiro und war zwei Tage mal mit meinem Onkel zusammen, dann wieder nicht und dann wieder doch. Wenn sie zusammen waren, schrien sie sich an, wenn sie getrennt waren, waren beide schlecht gelaunt und schrien andere Leute an.

Ich mochte Emma. Sie hatte zwar blaue Haare und unfassbar viele Piercings, war aber irgendwie richtig nett. Vorausgesetzt, sie bedrohte meinen Onkel nicht gerade mit einem ihrer spitzen und hohen Absatzschuhe.

Es regnete leicht, als ich leide die Tür unseres Wohnwagens öffnete, die Schuhe auszog und sie in den Schuhschrank stellte. In meinem kleinen Zimmerraum mit Schiebetür kroch ich rasch unter meine Bettdecke und drückte mein Gesicht so fest in mein Kopfkissen, dass ich Nasenbluten bekam.

Dann schlief ich ein, ohne vorher Hausaufgaben gemacht zu haben.

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