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David

Teil 2

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11

Am nächsten Morgen ging ich direkt zum Bahnhof, kaufte die Fahrkarte und stieg in den Zug, den ich mir am Vortag ausgesucht hatte. 30 Mark blieben mir noch. Ich wusste nicht, wie weit ich damit in Berlin kommen würde und Geld für die Rückfahrt hatte ich auch nicht. Aber da würde sich schon eine Möglichkeit finden. Während der Zugfahrt kamen mir schon Zweifel, ob ich richtig gehandelt hatte. Aber jetzt war es eh zu spät. Jetzt musste ich das durchziehen. Nach einigen Stunden kam ich endlich im Bahnhof Zoo an.

Das war dann ja auch schon der erste Ort, an dem ich nach David suchen wollte. Eigentlich war der einzige Ort, von dem ich wusste, dass es dort Strichjungen gab. Aber da machte ich mir keine Gedanken. Das rauszubekommen war normalerweise kein Problem.

Ich hatte auch hier kein Problem den Strich zu finden. Ich suchte mir einfach den unansehnlichsten Bereich des Bahnhofs und schon war ich da. Die Straße an der Rückseite des Bahnhofs war wirklich schmuddelig. Zwei Junkies saßen auf dem Bürgersteig. Die Straße war zugeparkt mit Autos. In einigen saßen einzelne Männer. Ich merkte sofort, dass ich abtaxiert wurde. Ich ging schnell weiter, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Ich machte noch zwei andere Jungs aus. Sie waren wohl auf der Suche nach Freiern. Ich überlegte gerade, den einen anzusprechen, als dieser in einen Kleinbus, so eine Art Wohnmobil einstieg, der an der Straße geparkt war. Das hatte ich ja noch nie gesehen. Jetzt brachten die Freier schon ihr Liebesnest mit, um die Jungs gleich vor Ort zu vernaschen. Ich sah mir den Wagen mal genauer an. »Hilfe für Jungs« stand außen dran. Hm, entweder war das hier ein ganz gerissener Typ, oder das war wirklich so eine Art Sozialstation. Während ich noch überlegte, kam der Junge wieder heraus. Ich überlegte weiter: Wenn das hier Streetworker waren, dann hatten sie vielleicht auch schon Kontakt mit David gehabt. Zumindest kannten sie aber sicher andere Plätze, wo David sich aufhalten konnte. Ich überlegte nicht lange und lugte vorsichtig in den Wagen rein.

»Komm ruhig rein«, hörte ich eine fröhliche Stimme. Die Stimme kam von einem Mann, vielleicht Ende 20. Sah nicht aus wie der typische Freier. Also stieg ich in den Wagen.

»Hallo, ich bin Steffen«, wurde ich begrüßt.

»Ich heiße Rafael.«

»Du siehst so aus als wärst du gerade angekommen«, setze Steffen fort und deutete auf meinen Rucksack.. Ich nickte.

»Aus Berlin biste jedenfalls nicht?«

Ich schüttelte mit dem Kopf.

»Und was treibt dich nach Berlin?«

»Ich suche einen Freund.«

»Ich auch«, kam als Antwort. Irritiert sah ich ihn an. Jetzt hatte er mich vollkommen aus dem Konzept gebracht. Was sollte das denn jetzt? Steffen bemerkte meine Verwirrung:

»Sorry, das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen«, lachte er. »Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich schwul bin.« Ich schüttelte den Kopf.

»Nee, ich bin ja selber schwul. Hab also kein Problem damit.«

»Upps, jetzt bin ich aber überrascht. Die meisten meiner Klienten in deinem Alter sind nicht schwul oder glauben es zumindest.«

Ich zuckte nur mit den Achseln. Ich hatte keine Lust, ihm jetzt meine ganze Story zu erzählen.

»Na ja, Spaß beiseite«, begann er wieder, »ich nehme an, du suchst einen bestimmten Jungen?« Ich nickte.

»Berlin hat mehr als drei Millionen Einwohner und ist auch flächenmäßig die größte Stadt Deutschlands. Du brauchst schon etwas mehr Anhaltspunkte, wenn du eine Chance haben willst ihn zu finden.«

»Er geht anschaffen«, antwortete ich.

»Das verringert natürlich die Anzahl der Orte, an denen er sich aufhalten kann, erheblich. Dennoch, einfach ist das trotzdem nicht. Aber immerhin, es ist durchaus möglich, dass er uns schon mal über den Weg gelaufen ist. Wie lange ist er denn schon in Berlin?«

»Eine knappe Woche.«

»Dann ist es eher unwahrscheinlich, dass wir ihn schon getroffen haben, es sei denn, er ist wie du gleich hier reingestolpert.« Ich sah ihn enttäuscht an.

»Wie heißt er denn und wie sieht er aus? Vielleicht habe ich ihn ja doch schon gesehen.«

»Er heißt David, ist etwas jünger als ich, hat mittellange schwarze Haare, grüne Augen und ist etwa so groß wie ich.«

Steffen schüttelte den Kopf.. »Nee, tut mir leid, der ist mir noch nicht über den Weg gelaufen. Aber es kann natürlich sein, dass einer meiner Kollegen ihn gesehen hat. Am besten kommst du mal in unsere Anlaufstelle. Da können wir dann die anderen fragen.«

Er überreichte mir einen Zettel. Nollendorfplatz war die Adresse. Ich hatte keine Ahnung, wo das war. Aber ich würde es schon finden.

»Du musst dich ein bisschen in Acht nehmen. Das ist nicht so die feine Gegend hier.« Steffen sah mich etwas beunruhigt an.

»Das habe ich auch schon gemerkt.« Ich kannte mich ja in dem Milieu aus. Allerdings wusste das Steffen nicht. Er schien zu überlegen.

»Ich habe eine bessere Idee. Ich mache sowieso in 10 Minuten Schluss hier und gehe dann in die Anlaufstelle. Da kann ich dich gleich mitnehmen.« Das ersparte mir wenigsten die Sucherei und ich stimmte zu.

»Sag mal, wissen deine Eltern eigentlich, dass du hier bist?«, fragte Steffen plötzlich.

Mist, musste er das jetzt fragen. So viel vertraute ich ihm doch nicht. Hinterher würde er direkt bei Johannes anrufen und das Unternehmen wäre sofort beendet. Steffen bemerkte meinen Unwillen und ruderte zurück:

»Du musst mir das jetzt nicht sagen, wenn du nicht willst.« Ich lächelte ihn dankbar an.

Er begann den Wagen ein wenig aufzuräumen, dann stiegen wir aus und Steffen schloss ab. Ich begann unwillkürlich die Lage zu sichten. Die beiden Junkies waren immer noch da. Inzwischen waren bereits fünf Jungs unterwegs. Auch einige Freier streiften schon herum. Die beiden Typen saßen immer noch in ihren Autos und sondierten offensichtlich die Lage. Steffen bemerkte meine Blicke und sah mich überrascht an. Er sagte aber nichts. Er begrüßte noch ein paar von den Jungs und wechselte einige Worte. Dann gingen wir zur U-Bahn. Steffen gab mir ein Ticket.

»Ich habe immer einige bei mir, falls ein Junge mit in die Anlaufstelle kommen will«, erklärte er mir.

»Sag mal, warum suchst du eigentlich David?«

Ich erzählte ihm in groben Zügen, was passiert war: Wie ich mich in David verliebt hatte, er aber nicht schwul zu sein vorgab, wir trotzdem Freunde wurden, seine komischen Ausfälle, sein plötzliches Verschwinden, sein Elternhaus, der Einstieg am Bahnhof bis zu seinem Verschwinden nach Berlin.

»Du musst ihn wohl sehr lieben, dass du das alles auf dich nimmst. Hoffentlich wirst du nicht enttäuscht.«

Ja, ich liebte ihn wahrscheinlich immer noch. Aber das war halt nicht alles. Den zweiten Grund, warum ich hier war, hatte ich Steffen nicht erzählt. Dafür hätte ich dann noch weiter ausholen müssen.

12

Inzwischen waren wir an unserem Ziel angekommen. Der Nollendorfplatz gehörte definitiv auch nicht zu den feinen Gegenden in Berlin. In einem der Häuser war die Anlaufstelle untergebracht. Sie war nett und zweckmäßig einrichtet mit verschiedenen Bereichen für Ruhe, Beratung, Aktivitäten, Waschen und anderes. Auf einem Tisch stand eine riesige Schüssel voll mit Kondomen und Gleitgel. Ich dachte, wenn es so eine Einrichtung doch auch bei uns gegeben hätte. .Es waren fünf Jungs da. Einer wusch seine Wäsche, drei quatschten miteinander und einer schmierte sich gerade an einem kleinen Buffet ein Brötchen. Das brachte mir zu Bewusstsein, dass ich auch seit heute morgen nichts mehr gegessen hatte. Steffen bemerkte das wohl und er sagte:

»Bedien dich ruhig.« Das tat ich dann auch erst mal ausgiebig. Die anderen Jungs betrachteten mich mehr oder weniger interessiert. Es dauerte auch nicht lange, bis mich einer anquatschte.

»Hi, ich bin Georg. Du bist neu hier?«

»Gerade erst angekommen. Ich bin übrigens Rafael.«

»Wo kommste denn her?«

»Frankfurt«.

»Und wie isses da? Freier, Verdienst?« Er setzte wohl voraus, dass ich anschaffen würde.

»Na ja, es geht. War früher aber schon mal besser«, antwortete ich allgemein.

»Hier auch. Wird immer schlechter. Zu viel Konkurrenz aus'm Osten. Das verdirbt die Preise. Warste schon mal in Berlin?«

»Nee.«

»Wo willste denn anschaffen gehen?«

»Überhaupt nicht. Ich such hier nur jemand, nen Kumpel, der hier anschafft.«

»Ach so. Wie heißt denn dein Kumpel?«

»David. Schwarze Haare, grüne Augen.«

»Kenn ich nicht. Halte aber mal die Augen offen. Isser auch aus Frankfurt?«

»Ja, isser. Danke.«

»Wenn du fertig gegessen hast, kann ich dir ja mal meine Kollegen vorstellen«, mischte sich Steffen ein.

»So ganz unbekannt ist dir diese Szene aber nicht«, raunte er mir zu. War ich so leicht zu durchschauen? Na ja, ich würde ihm später alles erzählen, warum auch nicht? Er schien mir ziemlich hartnäckig zu sein, er würde wahrscheinlich sowieso nicht früher Ruhe geben.

Dann stellte er mich seine Kollegen vor. Da gab es einmal Henning, Ende 30. Nach seinem Ring am Finger zu urteilen, war er verheiratet. Und dann war da noch Sabine, Mitte 30 schätzte ich.

»Rafael sucht einen Freund, der sich seit kurzem hier in der Szene aufhalten soll.«

»Wie heißt er denn und wie sieht er aus«, fragte Sabine. Ich machte die übliche Beschreibung. Henning schüttelte bedenklich den Kopf.

»Nee, den habe ich noch nicht gesehen«, meinte er.

Sabine überlegte.

»Ich habe da vorgestern einen unserer Klienten in der Fuggerstraße vor eine Kneipe getroffen. Und der hatte einen Jungen dabei, auf den die Beschreibung halbwegs passen könnte. Der hieß glaube ich auch David. Ich hatte ihn noch nie vorher gesehen. Allerdings hatte er extrem kurze Haare, aber die kann er sich ja auch abgeschnitten haben. Ich hab ihm jedenfalls unsere Adresse hier gegeben. Allerdings ist er bis jetzt noch nicht aufgetaucht.«

Ich hörte nur Fuggerstrasse und David und wollte sofort rausstürzen. Steffen hielt mich zurück.

»Du weißt doch gar nicht, wo das ist.« Da hatte er natürlich recht. Er holte einen Stadtplan, während Sabine und Henning wieder ihren Beschäftigungen nachgingen.

Glücklicherweise war die Fuggerstrasse ganz in der Nähe, so dass ich zu Fuß dorthin gehen konnte.

»Moment«, hielt Steffen mich nochmals auf. »Hast du dir eigentlich überlegt, wo du heute Nacht pennen willst?« Natürlich nicht. Darüber wollte ich mich erst Gedanken machen, wenn es so weit war. Zur Not würde ich mich irgendwo in einen Bahnhof legen.

»Kann man euch denn auch übernachten«, fragte ich aber trotzdem.

»Nee, hier leider nicht. Aber ich kann dir zwei Adressen geben.« Ich guckte zweifelnd.

»Das kostet auch nichts und die fragen auch nicht viel«, ergänzte Steffen und sah mich dabei aber skeptisch an. Während ich noch überlegte, begann er wieder:

»Oder warte mal...« Dann ging er zu seinem Kollegen rüber und fragte ihn etwas. Nach einigen Diskussionen kam er zurück.

»Du kannst auch ausnahmsweise bei mir pennen«, meinte er dann. Ich überlegte kurz. Als Gegenleistung würde ich wahrscheinlich mit ihm schlafen müssen, aber er sah ja ganz gut aus. Außerdem, die Aussicht in einer Notunterkunft oder auf dem Bahnhof zu pennen, fand ich jetzt auch nicht mehr verlockend. Also bedankte ich mich und nahm das Angebot an

»Kannst du um acht Uhr hier an der Anlaufstelle sein?«, fragte er noch. »Wir können dann ja zusammen noch an zwei, drei Plätzen suchen gehen«, ergänzte er, als er meinen enttäuschten Gesichtsausdruck sah.

Also zog ich los, rannte die Fuggerstrasse auf und ab, ging in jede Kneipe, fragte andere Jungs und durchforstete auch noch andere Straßen in der Nähe. Aber alles Fehlanzeige. Keine Spur von David.

Enttäuscht war ich um acht Uhr wieder an der Anlaufstelle. Steffen meinte:

»Es wäre auch ein absoluter Zufall gewesen, wenn du ihn sofort gefunden hättest.« Da hatte er wahrscheinlich recht, aber enttäuscht war ich trotzdem.

Wie versprochen ging Steffen noch mit mir zu einigen Plätzen, wo üblicherweise Jungs rumhingen. Er fragte auch einige von ihnen, die er kannte, nach David. Tatsächlich hatten ihn auch zwei Jungs schon gesehen. Das gab mir wieder etwas Hoffnung.

»Das Problem ist, dass er noch ganz neu hier ist und in der Szene noch nicht bekannt ist. Sonst sollte man ihn binnen kurzem finden können.«

Das half mir jetzt auch nicht so richtig weiter, zumal ich ja nur wenige Tage hatte, um ihn zu finden. Schließlich beschlossen wir die Suche für heute abzubrechen.

»Lass uns noch irgendwo ne Pizza mitnehmen«; schlug Steffen vor. Na gut, ich hatte ja noch 30 Mark, da sollte noch eine Pizza drin sein. Steffen bestand aber darauf die Pizza zu bezahlen.

»Du wirst das Geld schon noch für Wichtigeres brauchen,« erklärte er.

Steffens Wohnung lag nicht weit vom Nollendorfplatz weg. Sie war nicht sehr groß, bestand aus zwei Zimmern, ein Wohnzimmer mit Couch, Tisch, drei Stühlen, einem kleinen Sideboard sowie einer klitzekleinen Küchenzeile. In das kleine Schlafzimmer passte gerade ein Doppelbett und ein kleiner Schrank. Ein Minibad mit Toilette gab es auch noch. Die Möbel sahen irgendwie zusammengesucht aus.

»Reich kannste als Sozialarbeiter nicht werden«, meinte er fast entschuldigend. Ich bekam fast ein schlechtes Gewissen, dass er die Pizza bezahlt hatte. Aber ich würde ihn schon noch entschädigen, dachte ich bei mir. Wir aßen die Pizza. Steffen zauberte von irgendwo auch noch ein Bier her. Gesättigt lehnte ich mich zurück..

»Du bist doch von zu Hause getürmt, oder?«, fragte er unvermittelt. Mann, musste der immer so direkt sein.

»Nicht direkt«, erklärte ich zögernd und erzählte, dass ich schon einen Hinweis hinterlassen hatte.

»Aber deine Family hat dich bestimmt als vermisst gemeldet.« Ich überlegte. Möglicherweise schon. Vielleicht hatte Johannes aber auch so viel Vertrauen zu mir, dass er mir bis zum Wochenende Zeit ließ. Und das hatte ich mir fest vorgenommen: Am Sonntag würde ich zurückfahren, egal ob ich David gefunden hätte oder nicht.

Steffen ließ nicht locker, bis er meine ganze Geschichte aus mir rausgeholt hatte.

»Dachte ich mir doch, dass dir die Szene nicht ganz unbekannt ist«, meinte er.

»Du weißt hoffentlich auch, dass das Finden von David nur die halbe Miete ist.«

Ich nickte. Der weitaus schwierigere Teil stand mit erst noch bevor, wenn ich ihn gefunden hatte. Das war mir schon bewusst.

Inzwischen war es schon recht spät geworden.

»Ich glaube, wir gehen mal schlafen. Ich kann dir leider nicht viel bieten. Du musst dich mit einer Decke und der etwas unbequemen Couch begnügen.«

Ich blickte ihn ungläubig an. War irgendwas mit mir? Hatte ihn meine Geschichte so abgestoßen? Warum wollte er nicht mit mir ins Bett? Deshalb hatte er mich doch wohl mitgenommen.

»Ist irgendwas«, fragte Steffen.

Ich sagte ihm, was ich gedacht hatte. Steffen lachte.

»Regel Nr. 1. Kein Sex mit Klienten. Das lernt man als erstes, wenn man in meinem Beruf arbeitet. Sonst kann man keine Vertrauensbasis aufbauen. Ich nehme normalerweise überhaupt keine Jungs mit zu mir nach Hause. Dich habe ich nur mitgenommen, weil ich befürchtet habe, dass du sonst Gefahr läufst, in die Szene abzugleiten. Ich habe auch extra meinen Kollegen gefragt, ob ich das machen kann.«

Ich war erleichtert und enttäuscht zugleich. Es hätte mir nichts ausgemacht mit Steffen zu schlafen. Vor Rührung stiegen mir Tränen in die Augen.

»Was ist los«, fragte Steffen erschrocken.

»Es ist nur.. Ich hab noch nicht so viele Menschen getroffen, bei denen ich nicht für eine Leistung bezahlen musste.« Mit meinem liebsten Dackelblick sah ich ihn an.

»Guck mich nicht so an«, lachte Steffen. »Ab ins Bett.«

Steffen zog sich in sein Zimmer zurück und ließ mich alleine.

Trotz der unbequemen Liege schlief ich gut und lang. Steffen weckte mich am nächsten Morgen. Es war bereits 10 Uhr. Steffen fing sowieso nie vor 12 Uhr an zu arbeiten, da seine Klienten nicht zu den Frühaufstehern gehörten. Ich bekam noch einen Kaffee und ein Stück Brot, dann wollte ich meinen Rucksack nehmen und losziehen.

»Du kannst deinen Rucksack ruhig hier lassen, oder willst du heute Nacht nicht mehr bei mir pennen?«

»Ich dachte, wo nun nicht mehr die Gefahr besteht, dass ich hier im Milieu versinke..«

»Blödmann, lass deine Sachen schon hier«, lachte Steffen.

Ich begleitete ihn noch bis zur Anlaufstelle und zog dann weiter in die Szene. Es war zwar eigentlich noch etwas früh, aber ich wollte jede Gelegenheit nutzen. Zunächst rannte ich auch wieder vergeblich durch die Gegend. Irgendwann leistete ich mir eine Bratwurst und eine Cola. Gegen drei wollte ich frustriert in die Anlaufstelle, um mich etwas moralisch aufrichten zu lassen. Ich war bereits wieder am Nollendorfplatz, da sah ich ihn. Er saß neben dem Eingang zum U-Bahnhof auf einer Bank. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Seine schönen langen Haare hatte er sich abschneiden lassen. Bis auf etwa ein cm lange Stoppeln war nichts mehr da. Dann war auch noch schmaler geworden. Er hatte mich noch nicht gesehen. Ich näherte mich ihm langsam. Als ich etwa zwei Meter von ihm entfernt war, blickte er auf und erkannte mich.

13

David schien nicht im Mindesten überrascht mich zu sehen. Er sprang auf und stürzte auf mich zu:

»Hi, Rafael, das ist ja toll, dass du da bist. Mir geht es gut, gut, einfach nur gut. Ich war in meinem Leben noch nie so glücklich wie jetzt. Bist du auch von zu Hause getürmt? Dann können wir ja zu zweit Berlin unsicher machen. Das ist so toll hier, das musst du erlebt haben. Das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen.«

Er redete ohne Unterbrechung. Auch wenn er Fragen stellte, wartete er die Antwort nicht ab. Sein Redefluss war kaum zu stoppen. Das war nicht der liebe, eher zurückhaltende David, den ich kannte. Irgendetwas war los mit ihm. Irgendwann schaffte ich es doch ihn zu unterbrechen:

»Aber anschaffen gehst du schon noch?«

»Die verarsche doch alle, diese geilen schwulen Säue. Ich lass mich ein bisschen anfassen und kassiere das dicke Geld dafür.«

Ich sagte ihm nicht, dass ich das besser wusste.

»Hier in Berlin kannste noch viel mehr kassieren. Ich mach das noch zwei Jahre, dann hab ich genug Geld kassiert und kann dann machen, was ich will.«

»Also setzt du nicht dein ganzes Geld in Kokain um«, unterbrach ich ihn.

»Hi, Koks ist geil. Ich hab das voll im Griff. Ich bestimme, wann ich was nehme. Hier bestimme sowieso nur ich. Ich entscheide, wann ich aufstehe, ich entscheide, was ich mache, ich entscheide, wohin ich gehe. Hier ist keiner, der mir Vorschriften machen will, keiner, der mir Prügel androht, keiner, der mich in diese beschissene Schule zwingt zu all den anderen beschissenen Schülern und Lehrern. Ich alleine mache hier die Vorschriften.«

Er hörte gar nicht auf, mir die Vorzüge seines jetzigen Lebens zu schildern. Dabei gestikulierte er wie wild herum. Nein, das war nicht der David, den ich kennen gelernt hatte und den ich liebte. Das wirkte auch alles so aufgesetzt, so unnatürlich. Hatte er sich wirklich so verändert? Irgendetwas stimmte hier nicht. Nach einer Viertelstunde wurde sein Redefluss langsamer.

»Was machst du eigentlich hier«, fragte er plötzlich. Damit hatte ich eigentlich schon zu Anfang gerechnet.

»Ich suche dich.«

»Warum?«

»Als du nicht mehr in der Schule erschienen bist, habe ich mir halt Sorgen gemacht. Nach einer Woche habe ich mir deine Adresse besorgt und bin zu dir nach Hause gegangen.«

»Ach du scheiße.«

»Dein Vater wollte mich fast verprügeln.«

»Das ist nicht mein Vater.« Ich sah ihn sprachlos an.

»Das ist der gegenwärtige Lebensgefährte meiner Mutter. Der Arsch hat mich vor die Tür gesetzt, weil irgendein Kumpel ihm gesteckt hat, dass er mich am Bahnhof gesehen hat. Und meine Mutter, diese Schlampe, hat nicht den Mumm, ihm da zu widersprechen.«

Das war ja noch mal schlimmer als ich dachte.

»Du hast mich gesucht. Du hast mich gefunden. Und jetzt?«, holte mich David aus meiner Erstarrung.

»Ich wollte dich bitten, mit mir zurück zu kommen.«

David lachte zynisch. »Und dann zurück zu meiner Mutter? Ich glaube, du träumst.«

»Nee, natürlich nicht. Es gibt da andere Möglichkeiten.« Ich wollte ihm erzählen, was Johannes mir vorgeschlagen hatte, aber ich kam nicht zu Wort.

»Für mich nicht. Ich bin doch der letzte Dreck. Ich halte meinen Arsch diesen geilen Typen hin für 100 Mark, und wenn der Typ das nicht bezahlen will, auch für weniger. Alle verachten mich.«

Diesen plötzlichen Stimmungswechsel hatte ich nicht erwartet. Eben noch völlig euphorisch änderte sich seine Stimmung in total depressiv. Ich versuchte ihn da rauszuholen.

»Das habe ich doch auch gemacht. Und ich bin da auch rausgekommen. Heute habe ich eine neue Familie. Keiner verachtet mich.«

»Bei dir war das ja was anderes. Du bist ja schwul.« Das tat weh. Dennoch gab ich nicht auf.

»Wenn du wirklich willst, gibt es eine Lösung. Du musst nur wollen.«

»Am besten mache ich Schluss. Das hat doch alles keinen Sinn mehr.«

»David, du spinnst doch. Es hat immer einen Sinn. Du darfst dich nicht aufgeben.«

Er wurde immer unruhiger, konnte nicht mehr ruhig stehen bleiben und zitterte am ganzen Körper.

»Hast du mal 20 Mark für mich«; fragte er unvermittelt. Scheiße, was sollte ich den jetzt machen. Ich hatte ja noch gerade 20 Mark, aber sollte ich sie ihm geben? Er würde sich doch nur den nächsten Trip kaufen. Dann wäre er zwar aus seiner Depression wieder raus, aber nur um danach in eine noch schlimmere zu verfallen. Er tat mir unsäglich leid und ich war fast versucht, ihm das Geld zu geben. Aber dann sagte ich mir doch, dass es die Situation nur verschlimmern würde. Ich schüttelte mit dem Kopf.

»Sorry, ich kann dir nichts geben. Und außerdem, du reitest dich da immer mehr rein, je mehr du von diesem Zeug nimmst.«

»Ich brauch es doch nur dieses eine Mal. Danach ist Schluss.« Ich fragte mich, ob er das wirklich selbst glaubte.

»Du weißt doch ganz genau, dass das nicht so ist. Warum lässt du dir nicht helfen?«

David ging überhaupt nicht darauf ein.

»Ich muss mir jetzt nen Freier suchen. Also, mach's gut«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

»David, geh jetzt nicht. Lass uns doch wenigstens versuchen dir zu helfen«, wollte ich ihn festhalten.

»Mir kann keiner helfen.« Er sah mich an. Seine sonst so strahlenden Augen waren völlig ausdruckslos.

»Bitte«. Ich sah ihn flehend an.

»Wir können uns ja um sechs noch mal hier treffen.« Das war das äußerste, was ich ihm abringen konnte, bevor er abzog. Er ließ mich total deprimiert zurück. Was war nur aus ihm geworden. Weder der unnatürlich Euphorische noch der entsetzlich Deprimierte waren der David, den ich liebte. Ich bekam Zweifel, ob ich ihn da rauszuholen vermochte.

Völlig niedergeschlagen ging ich in die Anlaufstelle. Steffen war nicht da. Völlig lustlos unterhielt ich mich mit einigen Jungs, die dort herumhingen. Die Zeit wollte nicht vergehen. Irgendwann kam Steffen. Er sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung.

»Das ist nicht einfach«; meinte er skeptisch. Das war nun nicht gerade dazu angetan, meine Stimmung zu verbessern.

»Ich hab mich gleich um sechs noch mal mit ihm verabredet«, versuchte ich mich selbst aufzuheitern.

»Dann viel Erfolg. Aber sei um acht wieder hier, mit oder ohne David.« Ich nickte und machte mich davon. Es war zwar erst viertel vor sechs, aber falls David früher kam, wollte ich zur Stelle sein. Er kam natürlich nicht früher. Er kam auch nicht um sechs. Um halb sieben wurde ich langsam unruhig. Um sieben hatte ich die Hoffnung praktisch aufgegeben. Dennoch wartete ich weiter. Vielleicht war er ja bei irgendeinem Typen länger festgehalten worden.

14

Kurz vor acht ging ich zurück zur Anlaufstelle.

»Er ist nicht gekommen«, empfing mich Steffen. Ich nickte nur stumm.

»Kopf hoch. Wir holen uns jetzt erst mal zwei Döner«, versuchte er mich vergeblich aufzuheitern. Ich hatte überhaupt keinen Appetit.

»Du musst aber was essen«, meinte er nur.

Na gut, wir aßen unseren Döner bei Steffen zu Hause. Es gab auch wieder ein Bier dazu. Trotzdem war ich immer noch frustriert. Ich hatte im Stillen schon gehofft, dass ich David mitnehmen konnte. Und ganz im Inneren hatte ich auch gehofft, dass er meine Gefühle erwidern würde. Aber nichts davon hatte sich eingestellt. Es war eine Niederlage auf der ganzen Linie. Das sagte ich auch Steffen.

»Rafael, das Leben hat mindestens genau so viele Niederlagen wie Erfolge. Sich über Erfolge freuen, ist einfach. Aber nur wer Niederlagen verarbeiten kann, wird sein Leben wirklich gut meistern können.« Ich sah ihn fragend an.

»Als ich vor ein paar Jahren hier mit meinem Job angefangen habe, hatte ich auch hehre Vorstellungen. Ich wollte die armen, ach so guten Jungs aus den Krallen der alten, geilen und bösen Freier befreien und ihnen ein geordnetes Leben verschaffen.«

Ich musste lächeln bei soviel Naivität.

»Siehst du, du lachst. Aber mit diesem Idealismus bin ich angetreten. Du kannst dir vorstellen, wie viel Niederlagen ich einstecken musste. Ich musste sehr schnell lernen, dass sich das alles doch sehr anders verhält. Die Jungs haben auch nicht alle einen Heiligenschein und unter den Freiern gibt es auch welche, die ihren Jungs mehr Hilfe zukommen lassen als sie bisher in ihrem Leben bekommen haben. Das ist nicht so schwarz-weiß oder gut-böse, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag.«

Ich nickte zustimmend.

»Und wenn ich überhaupt Vertrauen gewinnen wollte, musste ich die Jungs erst mal so akzeptieren, wie sie sind. Sonst wären sie mir alle wieder davongelaufen. Ich musste also schnell lernen, dass das, was man erreichen kann, sehr viel weniger ist, aber dennoch genauso wichtig: Wir können den Jungs helfen, halbwegs gesund an Körper und Geist durch diese Zeit zu kommen. Wir können ihnen zeigen, dass es noch etwas anders gibst außer Szene und Drogen. Wir können ihnen helfen bei Problemen mit sich selbst wie coming out oder Aggressionen und Gewalt. Wir können helfen, wenn sie mit der Polizei Probleme haben. Und wenn es denn soweit ist, können wir ihnen Hilfe beim Ausstieg aus der Szene anbieten.«

Schön und gut, dachte ich, aber was hatte das jetzt alles mit mir und meinem Problem zu tun. Ich sah Steffen zweifelnd an.

»Du liebst David immer noch?« Die Frage kam für mich völlig unvorbereitet. Die Tränen schossen mir in die Augen. Ich konnte nur noch nicken.

Bevor Steffen weiter redete, holte er noch zwei neue Flaschen Bier.

»Du musst dir genau überlegen, was du tust. Wenn du ihm weiter nachläufst, gehst du wohlmöglich selbst vor die Hunde. Entweder hältst du das seelisch gar nicht durch oder du gerätst selbst wieder in die Szene.«

Ich schüttelte heftig den Kopf.

»Vielleicht würdest du David auch irgendwann hassen. In jedem Fall glaube ich kaum, dass ihr beiden eine Chance hättet, zusammenzukommen. So hart das auch klingt: Wenn du dir noch etwas Liebe für David bewahren willst, dann musst du ihn jetzt loslassen. Erst wenn er so weit ist und aussteigen will, kannst du wieder in Erscheinung treten.«

»Und wann wird das sein?«

»Tja, das ist schwer zu sagen. Das kann morgen sein, das kann in einem Jahr sein, das kann aber auch erst in fünfzehn Jahren sein.«

»Und wovon hängt das ab?«

»Da gibt es unterschiedliche Gründe. Denk doch nur mal an dich selbst.«

»Das war ja ein Wunder. Das passiert garantiert nicht noch einmal.«

»Es gibt mehr Wunder als wir glauben. Aber im Ernst. Das können Ereignisse sein, die von außen an ihn rankommen wie bei dir. Das kann sein, wenn er sich selbst so akzeptiert wie er nun mal ist. Da gibt es so viele Möglichkeiten.«

»Und in der Zwischenzeit kann man gar nichts machen?«

»Nur das, was ich eben schon geschildert habe. Ich verspreche dir, dass wir uns um ihn kümmern werden. Er wird uns mit Sicherheit über den Weg laufen. Er wird auch mit Sicherheit irgendwann bei uns auftauchen. Wir werden ihm helfen wie allen anderen. Und da ich dich jetzt kenne, werde ich mich ganz besonders um ihn bemühen.«

Das waren ja tolle Aussichten. Und was war mit mir in der Zwischenzeit? Als hätte Steffen meine Gedanken erraten, setzte er fort:

»Behalte deine Liebe für ihn in deinem Herzen, irgendwo in einer Ecke.. Lass aber diese unglückliche Liebe dich nicht beherrschen. Sonst wandelt sie sich irgendwann in Hass. Lebe nicht wie ein Mönch. Lebe dein Leben. Wenn dich eine neue Liebe erwischt, akzeptiere sie. Und wenn der Tag kommt und du bist nicht in einer neuen Liebe gebunden, dann versuche es noch mal.«

Das war hart, aber wahrscheinlich hatte Steffen recht. Es ging wohl wirklich nicht anders.

Ich merkte, wie das Bier mir langsam den Kopf beduselte. Das machte es mir auch etwas leichter, Steffens Rat zu akzeptieren. Er hatte ja so Recht. Ich wollte endlich auch wieder leben, nicht immer nur meinen verlorenen Lieben hinterher laufen. Und wenn es schon keine neue Liebe sein konnte, dann wollte ich wenigstens wieder Sex haben, und zwar nicht nur mit mir selbst. Im Moment hatte ich gerade ein großes Bedürfnis nach Sex, ein sehr großes Bedürfnis. Ich stellte mir vor, wie sich Steffens Schwanz in mir anfühlen würde. Allein dieser Gedanke machte mir schon eine Erektion. Dass Steffen das nicht wollte, verringerte meine Erregung in keiner Weise. Ganz im Gegenteil, das steigerte noch mein Verlangen.

Steffen bemerkte wohl meine Veränderung und fragte irritiert:

»Was ist denn los?«

»Nichts. Kann ich noch ein Bier haben?«

»Wenn du das noch verträgst. Bring mir auch noch eins mit.« Steffen leerte seine Flasche und reichte sie mir. Ich holte uns die beiden Flaschen und setzte mich dann wie zufällig neben ihn. Möglichst unauffällig rückte ich immer näher an ihn heran, bis ich schließlich sein Bein berührte. Wir quatschten weiter. Steffen erzählte mir, wie er gemerkt hatte, dass er schwul war. Er erzählte von seiner ersten Liebe.

Irgendwann legte ich meine Hand auf die Stelle, wo ich seinen Schwanz vermutete.

»Lass das«, sagte er, legte meine Hand wieder zurück und rückte ein Stück weg von mir. Dann erzählte er weiter als wäre nichts geschehen. Ich wollte mich aber nicht entmutigen lassen, zumal ich bemerkt hatte, dass sein Schwanz halbsteif war. Langsam machte sich das Bier auch bei Steffen bemerkbar. Er ließ mich gewähren, als ich wieder an ihn heranrückte. Nach ein paar weiteren Minuten legte ich wieder meine Hand auf seine Hose.

»Lass das«, sagte er wieder, nahm aber dieses Mal meine Hand nicht weg. Sein Schwanz fühlte sich schon fast steif an. Nach kurzer Zeit begann ich ihn durch die Hose zu reiben.

»Nein«, versuchte er mir nochmals Einhalt zu gebieten. Ich rieb ungerührt weiter. Sein Schwanz war mittlerweile völlig steif und drückte gegen den Stoff der Hose. Als ich glaubte, dass ich es wagen könnte, öffnete ich seine Hose und befreite seinen Schwanz, der mir entgegenschnellte. Bevor Steffen noch protestieren konnte, nahm ich ihn in den Mund und blies ihn. Steffen hatte seinen Widerstand aufgegeben und stöhnte leise. Für mich war dies das Signal weiterzumachen. Ich schob ihm sein T-Shirt hoch und tastete mich mit den Händen bis zu seiner Brust hoch. Steffens Stöhnen steigerte sich. Ich begann ihm die Hose runterzuziehen, was er willenlos mit sich geschehen ließ. Ich war mir jetzt sicher, dass sich sein Gehirn abgeschaltet hatte und sein Schwanz das Kommando übernommen hatte. Also zog ich ihn ganz aus und mich gleich mit. Und wirklich griff er sich sofort meinen bereits steifen Schwanz und bearbeitete ihn.

»Fick mich«, ächzte ich. Er nahm mich mit in sein Schlafzimmer und legte mich auf sein Bett. Er holte gerade noch ein Kondom und Gleitmittel, legte meine Beine über seine Schultern und drang in mich ein. Wir beide waren irre geil. Ich liebte Steffen zwar nicht, aber dennoch war es anders als früher mit meinen Freiern. Ich wollte ihn. Ich wollte seinen Schwanz in mir. Und er wollte es letztendlich ja auch. Wir waren beide so geil dass wir bald kamen. Er hatte es wohl genauso nötig wie ich.

Danach lagen wir beide etwas außer Atem nebeneinander. Nachdem wir wieder Puste hatten, sagte Steffen:

»Wir hätten das nicht tun sollen.«

»Du hast Recht«, stimmte ich ihm zu und griff erneut nach seinem Schwanz.

»Oh nein«, stöhnte er nur. Ich schlief diese Nacht nicht auf dem Sofa.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Steffen bereits aufgestanden. Ich war wieder völlig nüchtern. Dennoch tat mir keine Sekunde leid, was am Vorabend passiert war. Ich war sogar froh, dass ich für einen Moment David vergessen hatte. Ja, er würde weiterhin einen Platz in meinem Herzen haben, aber ich würde seinetwegen mich nicht mehr zurückziehen. Ich hatte es schon viel zu lange gemacht.

Steffen würde zwar nie mein Lover werden, aber ich hoffte, dass er mir doch ein guter Freund bleiben würde. Er war allerdings sehr zerknirscht, als ich ins Wohnzimmer kam.

»Hey, was ist los, so schlimm war's doch nicht«, versuchte ich ihn aufzuheitern.

»Ich habe gegen meine Berufsregel verstoßen. Kein Sex mit Klienten. Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich für dich mehr als ein Klient wäre«, spielte ich den Beleidigten.

»Mittlerweile wohl schon.« Selbst er musste ein wenig lächeln.

»Na also. Das ist eine Geschichte, die nur uns zwei etwas angeht. Und ich jedenfalls werde es in guter Erinnerung behalten. Und ich hatte nicht den Eindruck als wäre es dir unangenehm gewesen.«

»Ne, es war schon toll und ich hatte auch ziemlichen Druck. Trotzdem...«

»Kein trotzdem. Es war schön und so sollten wir es auch in Erinnerung behalten.«

»Du hast ja Recht. Aber mal was anderes: Was hast du jetzt eigentlich vor?«

Damit war ich wieder auf dem Boden der Tatsachen. Aber ich hatte mich ja schon entschieden.

»Ich fahre wieder nach Hause zurück. Ich glaube nicht, dass ich jetzt an ihn rankomme. Du hast mir ja versprochen, dass du dich ganz besonders um ihn kümmern wirst. Vielleicht darf ich dich hin und wieder anrufen, damit ich wenigstens etwas von ihm höre.«

»Klar, du kannst mich jederzeit anrufen. Apropos anrufen: Willst du dich nicht mal zu Hause melden? Die sorgen sich doch bestimmt schon um dich oder haben dich vielleicht als vermisst gemeldet.«

Ich glaubte zwar nicht, dass sie mich als vermisst gemeldet hatten, weil ich ja geschrieben hatte, dass ich am Wochenende zurück sein würde. Aber Recht hatte er schon, allerdings hatte ich ein bisschen Schiss.

»Ja, sicher sollte ich das. Ich habe ja auch nicht genug Geld für die Rückfahrt. Aber..« Ich sah ihn von unten her an.

»Ja, ja, immer dasselbe. Erst abhauen und dann die Hosen voll, wenn's wieder zurückgehen soll. Da darf dann Onkel Steffen ran und die Lage sondieren.«

»Blödmann. Aber ich fände es schon lieb, wenn du erst mal anrufen würdest.«

Steffen lachte. »Na gut, aber jetzt frühstücken wir erst und dann gehen wir in die Anlaufstelle und telefonieren von dort.« Steffen hatte während unseres Gesprächs das Frühstück vorbereitet. Als wir fertig waren, machten wir uns auf den Weg.

15

Steffen erledigte in der Anlaufstelle erst den angefallenen Bürokram. Dann wandte er sich mir zu:

»Dann schreib mir mal eure Telefonnummer auf.« Er schob mir einen Zettel zu. Ich schrieb die Nummer auf und gab den Zettel zurück. Steffen wählte die Nummer. Glücklicherweise hatte das Telefon einen Lautsprecher, so dass ich alles hören konnte. Es war Johannes, der sich meldete:

»Hoffmann, Guten Tag.«

»Guten Tag. Mein Name ist Steffen Radke. Ich rufe an wegen Rafael.«

»Was ist denn los. Ist ihm was passiert?«

Er klang richtig besorgt. Ich hielt es nicht mehr aus und riss Steffen den Hörer aus der Hand.

»Hallo, ich bin's, Rafael. Es ist nicht passiert, Steffen hat nur für mich angerufen.«

»Du hast dich wohl nicht getraut. Da hattest du allerdings auch allen Grund zu.« Das sollte wohl drohend klingen, allerdings hörte es sich viel eher nach Erleichterung an.

»Wo steckst du denn?«

»In Berlin.«

»Ach du Scheiße. Und warst du wenigstens erfolgreich?«

»Wie man's nimmt. Ich habe David zwar gefunden, aber er ist nicht bereit, sein derzeitiges Leben aufzugeben.«

»Rafael, ich hoffe, dass du jetzt zurückkommen willst. Lass uns hier darüber reden, was wir tun können.«

»Ich würde ja gerne, aber..«

»Was ist denn los?«

»Ich habe nicht mehr genug Geld für die Rückfahrt.« Johannes lachte.

»Das kann dir doch vielleicht jemand leihen. Wir würden es ihm dann zurückschicken. Wer ist den überhaupt dieser Steffen?«

»Steffen ist ein Freund, den ich hier kennengelernt habe. Er arbeitet als Sozialarbeiter in eine Hilfseinrichtung für Jungs, die anschaffen. Ich habe hier bei ihm gewohnt.«

»Dann gib ihn mir doch noch mal.« Ich reichte Steffen den Hörer zurück.

»Hallo, zunächst einmal vielen Dank, dass sie sich um Rafael gekümmert haben.«

»Ach, das habe ich doch gerne gemacht. Ich habe ja auch einen neuen Freund gewonnen.« Steffen wurde rot. Johannes konnte das glücklicherweise nicht sehen.

»Darf ich sie dann vielleicht noch um einen Gefallen bitten?«

»Ich habe schon mitgehört. Das ist überhaupt kein Problem. Wir können das Geld vorstrecken. Ich gebe ihnen unsere Kontonummer und sie überweisen das Geld zurück.«

»Na, das ist ja einfacher als ich dachte..« Johannes und Steffen regelten die Details. Steffen wollte dann auch anrufen, mit welchem Zug ich gefahren sei.

Ich bekam das alles aber nur halb mit, denn in der Zwischenzeit passierte etwas, was ich nicht mehr für möglich gehalten hatte. David war in die Anlaufstelle gekommen. Er blickte sich suchend um, sah mich aber zunächst nicht, weil ich in einem Nebenraum war.

David hatte offenbar gefunden, was er suchte. Er steuerte auf die Schüssel mit den Kondomen und dem Gleitgel zu und steckte sich von Beidem etwas in die Hosentaschen. Er wollte sich bereits wieder zum Gehen wenden. Kurzentschlossen griff ich mir den Zettel mit unserer Telefonnummer und stürzte in den Nebenraum. David sah hoch und bemerkte mich.

»Oh Rafael.« Er schien völlig überrascht.

»Hallo David. Schade, dass du gestern nicht mehr gekommen bist.« David blickte zu Boden.

»Du, tut mir leid, ich kann das nicht.« Das war das einzige, was er herausbrachte.

»Hier«, ich hielt ihm den Zettel hin, »wenn du das irgendwann mal anders siehst, oder wenn du mal Hilfe brauchst, hier ist unserer Telefonnummer. Du weißt, dass meine Gefühle für dich immer noch da sind.«

David nickte. Er nahm den Zettel und steckte ihn in sein Portemonnaie. Immerhin hat er ihn nicht gleich weggeworfen, dachte ich bei mir. Inzwischen war auch Steffen, der das Telefonat beendet hatte, in den Raum gekommen.

»Hi, ich bin Steffen«, begrüßte er David. »Du bist zum ersten Mal hier.« David nickte. »Du kannst jederzeit kommen. Nicht nur, wenn du Kondome brauchst. Bei gesundheitlichen Problemen oder wenn du Wäsche waschen willst oder einfach, wenn du nur ausruhen willst. Wir organisieren auch hin und wieder Ausflüge. Es lohnt sich also von Zeit zu Zeit vorbeizuschauen.«

»Danke, werd ich sicher machen«, verabschiedete sich David.

»Du hast einen guten Geschmack«, bemerkte Steffen, als David verschwunden war. Doch was nützte der gute Geschmack, wenn ich an meinen Traumjungen nicht ran kam. Eine Sekunde schwankte ich schon wieder, ob ich wirklich nach Hause fahren sollte. Dann dachte ich wieder an Steffens Worte. Nein, ich würde mich nicht kaputt machen in diesem vergeblichen Kampf. Ich schnappte mir meinen Rucksack und zusammen mit Steffen ging ich zum Bahnhof. Steffen kaufte mir die Fahrkarte und brachte mich zum Zug. Ich umarmte ihn zum Abschied.

»Ich ruf dich an«, sagte ich noch, bevor ich in den Zug stieg. Steffen wartete, bis der Zug abfuhr. Er hatte wohl Angst, dass ich es mir doch noch anders überlegen könnte. Ich winkte ihm zum Abschied. Als der Zug dich in Bewegung setzte, ließ ich mich in den Sitz fallen.

Ich schloss die Augen und dachte über meinen Besuch in Berlin nach. Hatte ich erreicht, was ich wollte? Sicher nicht, denn ich hatte David zwar gefunden, hatte ihm aber nicht helfen können. War die Fahrt deshalb sinnlos gewesen? Sicher auch nicht, denn immerhin wusste David jetzt, dass ich ihn noch nicht abgeschrieben hatte. Und für mich hatte es auch etwas gebracht. Ich hatte gelernt, dass ich mich nicht länger verkriechen durfte, dass ich mich wieder anderen Dingen öffnen musste. David würde immer einen Platz in meinem Herzen behalten, aber ich würde nicht mehr wie ein Trauerkloß durch die Gegend laufen, ich würde Kontakt zu anderen suchen und ich würde auch, wenn es sich ergäbe, Sex mit anderen haben. Und ich hatte ja auch einen neuen Freund gefunden, der mir versprochen hatte, etwas auf David aufzupassen. Nein, vergeblich war die Fahrt gewiss nicht gewesen.

Das eintönige Geräusch des Zuges machte mich schläfrig und nach einiger Zeit nickte ich ein. Ich wurde erst kurz vor Frankfurt wieder wach. Ich packte meine Sachen und bereitete mich auf die Ankunft vor.

16

Ich war noch nicht ganz am Ende des Bahnsteigs angekommen, als plötzlich zwei Wirbelwinde auf mich zugerast kamen und mich beinahe umrannten. Oliver und Rasmus sprangen praktisch an mir hoch. Da war nichts mehr von der Coolheit zu spüren, die die beiden in letzter Zeit so gerne an den Tag legten.

»Lass und bloß nicht noch mal allein«, sagte Rasmus. Sie waren alle gekommen, alle vier. Und jeder freute sich, dass ich wieder da war. Mir standen die Tränen in den Augen. Alle umarmten mich und freuten sich, dass ich wieder zurück war. Ich bekam nachträglich noch ein schlechtes Gewissen, dass ich einfach so abgehauen war.

Wir fuhren nach Hause. Während Petra mit Oliver und Rasmus das Abendessen bereitete, zitierte mich Johannes in sein Arbeitszimmer.

»Das fand ich nicht so gelungen«, begann er.

»Tut mir leid.« Ich sah mit meinem liebsten Dackelblick von unten an.

»Guck mich nicht so an. Das zieht jetzt nicht.« Johannes hatte Mühe, ernst zu bleiben.

»Bei David hat es auch nicht gezogen«, versuchte ich abzulenken.

»Dazu kommen wir später. Deine Aktion war jedenfalls völlig daneben. Wir haben uns unheimliche Sorgen gemacht, alle vier. Es gab schon Streit, ob wir die Polizei benachrichtigen sollten.«

»Ich hab doch aufgeschrieben, dass ich spätestens am Wochenende zurück sein würde«, versuchte ich zu beschwichtigen.

»Das war auch der einzige Grund, warum wir nicht die Polizei benachrichtigt haben.«

»Aber wenn ich euch gefragt hätte, hättet ihr mir doch nie erlaubt, nach Berlin zu fahren.«

»Natürlich nicht.«

»Also..«

»Wir hätten andere Möglichkeiten finden können, zum Beispiel über die Einrichtung, an die du ja wohl durch Zufall geraten bist.«

»Aber dann hätte ich ihn..«

»Schluss jetzt. Ich glaube, du weißt selbst, dass das nicht so ganz in Ordnung war.« Ich nickte.

»Dann erzähl mir mal, wie's war.«

Also berichtete ich, wie es mir in Berlin ergangen war, von der Ankunft bis zur Abreise. Ich erzählte ihm alles; fast alles, mein Erlebnis mit Steffen ließ ich vorsichtshalber aus.

Johannes wiegte bedenklich den Kopf.

»Solange er selbst nicht will, kann man ihm auch nicht helfen.«

»Das hat mir Steffen auch gesagt.«

»Wir können nur hoffen, dass David bald erkennt, dass er sich da in eine Sackgasse reinmanövriert.«

Petra rief uns zum Essen. Während des Essens musste ich nochmals von meinen Erlebnissen in Berlin berichten. Ich half noch den Tisch abzuräumen und zog mich dann in mein Zimmer zurück

»Meine Gardinenpredigt bekommst du erst morgen. Für heute reicht es, glaube ich«, raunte mir Petra noch zu.

Ich war kaum in meinem Zimmer, da kamen auch schon Oliver und Rasmus anmarschiert.

»Du tickst wohl nicht mehr ganz richtig. Wenn du schon so einen Scheiß machst, dann nimm uns wenigsten mit«; begann Oliver. Ich wollte mir nicht ausmalen, was ich dann von Johannes und Petra zu hören bekommen hätte.

»Ich glaube, dann hätte ich gar nicht erst wiederkommen brauchen«, meinte ich auch dementsprechend.

»Du hättest uns wenigstens Bescheid sagen können.«

»Und dann? Wenn Johannes euch ausgequetscht hätte, was hättet ihr dann gemacht? Ich hätte euch doch verdonnern müssen, nichts zu verraten.«

»Du hast keine Ahnung, was hier los war. Die ganzen zwei Tage herrschte eine miese, gereizte Stimmung. Man durfte nichts sagen, ohne dass irgendeiner lospolterte. Erst seit heute mittag ist alles wieder normal.« Rasmus war ziemlich betroffen.

»Und jetzt, aus mit David? Suchst du dir jetzt nen neuen Freund«, wollte Oliver wissen.

»Ich heiß doch nicht Oliver, der seine Freundinnen wechselt wie seine Hemden«, konterte ich in Anspielung aus seine bereits wieder neue Flamme. Oliver wurde puterrot.

»Was kann ich dafür, wenn die Weiber alle so zickig sind? Die sind ja alle so eifersüchtig, wenn man nur mal ner anderen nachguckt. Ich hab mir schon überlegt, schwul zu werden. Vielleicht ist das ja einfacher.«

»Dann kann ich dich ja nehmen«, schlug ich ihm vor.

»Warum eigentlich nicht«, meinte er und legte verführerisch seinen Arm um mich und gab mir einen Kuss auf den Mund.

»Wenn du das unter nachgucken verstehst, kann ich deinen Flammen schon nachfühlen«, lachte ich.

»Du nimmst mich überhaupt nicht ernst«, beschwerte er sich.

»Ich wollte dich nur warnen. Wenn du schwul wirst, ist die Auswahl bedeutend geringer.«

Leider war das so. In meiner Klasse hatte es nur einen Jungen gegeben, der wohl schwul war, und der wollte es partout nicht sein. Ich glaubte kaum, dass es noch einen zweiten geben würde, und wenn, wäre er sicher lange nicht so süß wie David. Scheiße, schon wieder war ich mit den Gedanken bei ihm.

»Du siehst schon wieder so traurig aus«, meinte Rasmus auch gleich.

»Ich glaube, wir müssen ihn mal aufheitern«, ergänzte Oliver und gemeinsam fielen sie über mich her. Man konnte in ihrer Gegenwart einfach nicht lange traurig sein.

Am Montag in der Schule erzählte ich allen, dass ich krank gewesen wäre. Johannes hatte mir sogar eine Entschuldigung geschrieben. Meinen Ausflug nach Berlin erwähnte ich mit keinem Wort.

Einmal pro Woche rief ich Steffen an, um mich nach David zu erkundigen. Immerhin, er kam jetzt mehr oder weniger regelmäßig in die Anlaufstelle, anfangs nur, um seinen Kondomvorrat aufzufüllen, später auch mal nur so. Leider setzte er wohl immer noch seinen ganzen Verdienst in Kokain um. Und leider war er wohl immer noch nicht bereit, über sich zu sprechen. Manchmal blieb er auch mehrere Wochen verschwunden, wenn er bei irgendeinem Typen wohnte. Trotz der Entfernung machte ich mir immer noch Sorgen, wenn Steffen mir nichts Neues berichten konnte. Immerhin gab es von Steffen Gutes zu berichten. Er hatte einen neuen Freund gefunden und schwebte im siebten Himmel. Das freute mich dann doch für ihn.

17

Ich selbst setzte meine Vorsätze um. Ich gab meine selbstgewählte Isolierung in der Schule auf. Ich wurde sicher nicht einer der Vorlautesten, aber in den Pausen gesellte ich mich zu den anderen. Sie waren letztendlich doch alle ganz nett. Ich wurde inzwischen auch zu Partys und sonstigen Events eingeladen und ging auch dorthin. Allerdings, einen Ersatz für David fand ich nicht. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich einen Ersatz wollte. Dennoch stellte ich fest, dass ich jetzt auch für andere interessant wurde. Immer öfter suchten auch die Mädchen jetzt den Kontakt zu mir. Manche baggerten mich richtig an. Ich war völlig hilflos, wusste gar nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich versuchte mich naiv zu stellen oder gab völlig unverbindliche Antworten. Die meisten gaben nach kurzer Zeit auf.

Aber eine, Sabine, gab nicht so schnell auf.

»Du bist anders als die anderen Jungs«, versuchte sie mir zu schmeicheln. Wenn sie gewusst hätte, wie recht sie damit hatte, hätte sie das wahrscheinlich nicht so gesagt.

»Die haben so ein Macho-Gehabe an sich. Du hast das nicht.« Wenn sie gewusst hätte, warum ich halt kein Macho war, wäre sie wahrscheinlich liebend gern zu den Machos zurückgerannt.

»Du bist einfach lieb.« Da konnte ich nun nichts gegen sagen. Erschwerend kam noch hinzu, dass ich Sabine wirklich mochte. Sie war eben auch lieb, sah dazu auch noch süß aus und roch zu allem noch himmlisch gut. Ich hatte schon Lust, sie in den Arm zu nehmen. Aber eben auch nicht mehr. Aber ich hatte es ja noch nie probiert. Vielleicht war es ja doch schöner als ich es mir vorstellte. Ich verwarf den Gedanken gleich wieder.

Dennoch verbrachte ich immer mehr Zeit mit Sabine. Wir gingen zusammen zu Partys, in die Stadt, ins Kino, zu ihr nach Hause. Irgendwann wollte sie auch mal mich besuchen. Ich hatte zu Hause zwar nichts von ihr erzählt, aber ich ließ mich dann doch breitschlagen. Also tauchte sie dann eines Tages bei uns auf. Da ich sie nicht angekündigt hatte, machten alle erst mal Stielaugen. Sabine fragte nur:

»Ist irgendwas mit mir? Die gucken mich alle so komisch an.«

»Nee, ich hatte nur nicht gesagt, dass du kommst. Und du bist auch die erste, die ich mitbringe.«

»Ach, das finde ich aber süß.« Ich fand das allerdings weniger.

Jedenfalls fand sie mein Zimmer hübsch, obwohl es natürlich lange nicht so toll eingerichtet war wie ihrs. Wir hatten halt nicht so viel Geld wie ihre Eltern. Aber das machte Sabine überhaupt nichts aus.

»Für wen ist denn das zweite Bett bestimmt«, wollte sie nur wissen.

Ich erzählte ihr, dass Johannes und Petra eigentlich noch einen vierten Jungen aufnehmen wollten. Daraus sei aber nichts geworden. Ich drückte mich davor, ihr die wahren Gründe zu sagen. Glücklicherweise gab sie sich mit dieser Erklärung zufrieden.

Wir quatschten den ganzen Nachmittag, es kam auch zu etwas Geknutsche, was ich nicht so ganz genießen konnte, weil ich immer Angst hatte, dass Sabine mehr wollte. Trotzdem war es alles in allem eine schöner Nachmittag.

Sabine hatte noch nicht ganz das Haus verlassen, als Oliver schon in mein Zimmer stürzte. Rasmus war selbst mit seiner Freundin unterwegs und hatte den Besuch nicht mitbekommen. Oliver war zur Zeit mal wieder solo und deshalb zu Hause.

»Was war das denn jetzt? Hat die dich umgedreht?«

»Wieso? Darf ich nicht mal ein Mädchen mit nach Hause bringen? Du bringst doch auch Freunde mit und ich frage nicht gleich jedes mal, ob du jetzt doch schwul bist«, reagierte ich beleidigt.

»Das ist doch völlig anders.«

»Warum? Für mich ist das genau dasselbe.«

»Ich finde das jetzt nicht gut, wenn du dich jetzt mit Tussis einlässt.«

»Sabine ist keine Tussi. Und überhaupt, was geht dich das an? Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?« Oliver wurde knallrot.

»Wieso? Bei David hab ich doch nicht gemotzt. Aber vielleicht..«

Statt weiterzureden griff er mir unter mein T-Shirt. Das kleine Biest kannte natürlich genau die richtigen Stellen. Er hatte ja auch lange genug Anschauungsunterricht bekommen. Als er mir dann auch noch einen Kuss gab, spannte sich der Stoff meiner Hose schon bedenklich.

Oliver wusste das natürlich ganz genau. Mit der Hand rieb er über die entsprechende Stelle.

»Na, wie ist das nun mit Sabine«, bemerkte er süffisant und wandte sich dann zur Tür.

Aber statt hinauszugehen schloss er das Zimmer ab.

»Was soll das denn nun geben«, fragte ich erstarrt.

»Ich will dich nur auf den rechten Weg zurückbringen«, antwortete er und griff mir schamlos in die Hose an meinen Schwanz. In dem Moment brannte in meinem Hirn eine Sicherung durch und es schaltete sich völlig ab. Willenlos ließ ich mich von ihm ausziehen und nicht nur das, ich riss ihm fast die Kleider vom Leib. Sein Schwanz schoss mir entgegen. Er war genauso geil wie ich. Wir fielen übereinander her. Nach kurzer Zeit kamen wir bereits. Mein Hirn meldete sich langsam zurück.

»Du bist doch mein Bruder. Wir hätten das nicht tun sollen.«

»Ja, du hast recht, wir hätten das nicht tun sollen«, entgegnete Oliver und wichste ungerührt schon wieder meinen Schwanz. Die Szene kam mir erschreckend bekannt vor. Das war mein letzter Gedanke, bevor mein Schwanz wieder die Herrschaft übernahm.

»Und wie ist jetzt mit den Mädchen«, fragte Oliver, als wir wieder gesäubert und angezogen waren.

»Ok, ok, ich hatte das auch nie in Zweifel gezogen. Aber darf ich dir mal die gleiche Frage stellen?«

»Ich mag Sex. Da kommt es nicht darauf an, ob der Partner nun Titten hat oder einen Schwanz zwischen den Beinen.« Olivers Direktheit schockte mich immer noch. Aber wollte er vielleicht doch mit mir...

Als hätte er meine Gedanken gelesen, ergänzte er:

»Ich bin dein Bruder, hast du selbst gesagt. Aber wenn du noch mal vom Wege abkommst oder Bedarf hast,...« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und ließ mich sprachlos zurück. Der Kleine war ja noch viel versauter als ich. Ich hatte zwar schon großen Druck gehabt, sonst wäre mir das sicher nicht passiert. Ich hatte sogar schon eine Sekunde überlegt, zum Bahnhof zu gehen, so dringend brauchte ich einen Schwanz. Ich hatte den Gedanken zwar sofort wieder verworfen, aber immerhin, er war mir gekommen. Vielleicht hatte ich doch noch einen Knacks aus der Vergangenheit mitgebracht. Aber Oliver war ja noch sexsüchtiger als ich. Hatte er etwa auch einen Knacks aus seiner Knastzeit? Vielleicht würde ich mal mit Johannes darüber sprechen, wenn ich den Mut dazu aufbrächte. Ich beseitigte noch die letzten Spuren und ging dann zum Abendessen.

18

Petra sah mich mit einem eigenartigen Blick an. Ich hoffte inständig, dass ich nicht zu zerzaust aussah. Direkt nach mir kamen Oliver und Rasmus. Rasmus lächelte mir wissend zu. Oliver hatte ihm natürlich schon alles brühwarm erzählt. Die Beiden hatten absolut keine Geheimnisse voreinander.

Während des Essens gab es praktisch keine Bemerkung über meinen heutigen Besuch. Ich wusste nicht genau, ob mich das jetzt beruhigen oder beunruhigen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass da noch was käme, und dieses Gefühl sollte mich nicht täuschen. Nach dem Essen hielt Petra mich zurück. Ich hoffte nur, dass sie die Aktion zwischen Oliver und mir nicht mitbekommen hatte.

»Du hattest ja heute Damenbesuch. Hast du deine Orientierung geändert?« Einerseits war ich erleichtert, dass die Geschichte mit Oliver offensichtlich unentdeckt geblieben war. Andererseits nervte es mich schon, dass Petra jetzt auch damit anfing. Ziemlich unwirsch gab ich zurück:

»Darf ich jetzt nicht mal Mädchen mitbringen? Oliver und Rasmus bringen ja auch permanent Freunde mit, ohne dass sie deswegen Vorhaltungen bekommen.«

»Das ist doch was ganz anderes.«

Ich wollte gerade zu einer Rede über Diskriminierung ansetzten, da setzte Petra fort:

»Wenn die Beiden Freunde mitbringen dann, um zu quatschen, zu spielen, Blödsinn zu machen oder auch zu lernen, aber sonst nichts.«

Ich war mir da zwar seit heute nicht mehr so ganz sicher, aber im Prinzip hatte sie recht. Ich merkte, worauf das Ganze hinauslief.

»Wenn du ein Mädchen mitbringst, so mag das zunächst auch mal, und für dich sogar bestimmt, dieselben Beweggründe haben. Aber das Mädchen hat mit Sicherheit, vielleicht nicht heute, aber ganz bestimmt in naher Zukunft, andere Erwartungen, die du nicht erfüllen willst oder kannst. Weiß sie denn, dass sie da nichts erwarten kann?«

Das war ja gerade das Problem.

»Ich kann doch nicht mit einem Schild vor dem Bauch rumlaufen «Vorsicht schwul».«

Petra lachte.

»Das musst du ja auch nicht. Aber sobald eine Beziehung etwas intensiver wird, solltest du schon die Ehrlichkeit besitzen es anzusprechen oder eben die Beziehung abzubrechen, wenn dir nichts daran liegt.«

»Ich möchte aber nicht, dass das Ganze in der Klasse breitgetreten wird.«

»Das kann ich verstehen. Und ein kleines Risiko gibt es da natürlich. Aber das wird um so größer, je länger du wartest. Wenn Sabine sich erst mal richtig in dich verliebt hat, ist sie dann vielleicht sehr verletzt und reagiert entsprechend. Wenn ihr noch in einem frühen Stadium seid, sieht sie das sicher nicht so schlimm, wenn sie nicht irgendwelche Vorurteile hat.«

»Bei David hat man ja auch nicht gemerkt, dass er Vorurteile hat, aber der kann ja bis heute nicht mal sich selbst akzeptieren.«

»Vorurteile entstehen meistens im Elternhaus. Davids hast du ja kennengelernt, wie das bei Sabine ist, weiß ich ja nicht.«

»Nee, ich glaube mal, von daher können eigentlich keine Vorurteile kommen.«

Petra hatte recht und ich nahm mir vor, Sabine bei nächster Gelegenheit über diesen kleinen, aber vielleicht bedeutenden Umstand aufzuklären.

Petras Vorhersagen sollten sich bestätigen. Sabine war zwar etwas enttäuscht, aber sie war mir nicht böse. Wir blieben dennoch Freunde, auch wenn wir uns jetzt nicht mehr so oft trafen. Sie erzählte auch nichts weiter, jedenfalls erhielt ich von keiner Seite irgendwelche Reaktionen. Immerhin bewahrte mich meine Freundschaft mit Sabine auch vor weiteren Annäherungsversuchen.

19

Es war an einem Dienstag mittag. Ich saß gerade mit Oliver und Rasmus beim Mittagessen. Johannes, der schon gegessen hatte, gesellte sich zu uns. Er saß kaum, da klingelte das Telefon.

»Jetzt dachte ich, dass ich einen Moment Zeit für euch hätte«, stöhnte er und stand wieder auf.

»Johannes Hoffmann«, meldete er sich.

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»Ja, den kenne ich, das ist ein Freund meines Sohnes.«

Wir hatten nur mit halbem Ohr hingehört und uns weiter unterhalten. Jetzt verstummten wir. Johannes warf einen eigentümlichen Blick in unsere Richtung. Ich glaube, wir alle drei durchforsteten im Kopf gerade die letzten Tage, was wir denn angestellt haben konnten. Ich war mir jedenfalls keiner Schuld bewusst. Selbst Oliver tat zumindest sehr unschuldig.

Bevor wir noch unserer Überlegungen abgeschlossen hatten, redete Johannes wieder.

»Jendralski heißt er. Aber darf ich mal fragen, was überhaupt passiert ist?«

Als ich den Namen hörte, sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf, raste zum Telefon und drückte auf die Lautsprechertaste.

»Er hat einer Frau die Handtasche weggerissen. Passanten haben ihn festgehalten, bis wir gekommen sind. Er ist nicht sehr kooperativ. Außer seinem Vornamen haben wir nichts aus ihm herausbekommen. Der einzige Hinweis war ein Zettel mit ihrer Telefonnummer, den wir in seinem Portemonnaie gefunden haben. Wissen Sie, wie alt der Junge ist?«

»Ja, er ist 16.«

»Haben Sie auch die Adresse und Telefonnummer seiner Eltern?«

»Das sind schwierige Verhältnisse. Es gibt eine Mutter, Alkoholikerin, die häufig wechselnde Beziehungen hat. Er ist zu Hause rausgeflogen. Da werden Sie wenig Hilfe erwarten können.«

»Ich habe mir schon was ähnliches gedacht. Aber wenn der Frau nicht das Sorgerecht entzogen worden ist, muss ich sie trotzdem benachrichtigen.«

»Ich verstehe. Mein Sohn sucht ihnen die Anschrift und die Telefonnummer heraus.« Johannes gab mir einen Wink. Ich holte das Telefonbuch und suchte die entsprechenden Daten heraus. Johannes gab die Information weiter. Ich sah Johannes flehend an.

»Aber wie gesagt, Hilfe können Sie da nicht erwarten. Hat der Junge schon einen Anwalt?«

»Nein, wir haben ihn ja erst seit einer halben Stunde hier.«

»Bitte benachrichtigen Sie doch auch Herrn Steffen Radke von der Hilfsorganisation für Stricher. Er hat sich in letzter Zeit um David gekümmert.«

Ich suchte bereits Steffens Nummer heraus.

»Wir kennen die Organisation. Wir haben auch die Telefonnummer. So langsam kommt ja Licht ins Dunkel. Darf ich noch fragen, wer Sie genau sind und welche Beziehung Sie zu dem Jungen haben?«

»Wie bereits gesagt, David ist ein Freund meines Sohnes. Er hat auch versucht, sich um ihn zu kümmern als er abgesackt ist. Aber auf die Entfernung geht das natürlich nicht. Ich selbst bin Pfarrer im Strafvollzug.«

»Na, dann sind Sie ja vom Fach.«

»Kann man so sagen. Können Sie mir vielleicht noch Ihre Telefonnummer und Adresse geben, falls mir noch was einfällt?«

»Gerne.« Johannes notierte die Daten und beendete dann das Gespräch.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße, jetzt macht der denselben Mist wie ich. Warum muss der mir denn alles nachmachen. Jetzt landet er im Knast. Das überlebt der doch nie.« Ich war völlig verzweifelt und wütend.

»Na, du hast es ja auch überlebt.«

»Das war auch was ganz anderes. So ein Mordsglück gibt es nicht noch mal.«

»David hat wohl immer noch einen Platz da«, entgegnete Johannes und tippte gegen meine Brust. Ich nickte. Gleichzeitig stiegen mir die Tränen hoch.

»Also, Rafael. Ich denke mal, dass dies das erste Delikt ist, das David begangen hat. Er dürfte also noch keine Akte bei der Polizei haben. Wenn er diese Frau nicht verletzt hat, kommt er sicher mit einigen Stunden sozialem Arbeitsdienst davon.«

Na, das war ja doch ein kleiner Hoffnungsschimmer.

»Andererseits«, Johannes dachte nach, »andererseits wäre das natürlich auch eine Chance für David auszusteigen.« Ich sah Johannes fragend an.

»Es gibt da was Neues. Ein Projekt für schwererziehbare und süchtige Jugendliche. Ein ehemaliger Sportler hat dort auf einem Bauernhof eine Aktion gestartet, um diese Jugendlichen mittels Sport und auch Drill wieder zurückzuholen. Das ist kein Gefängnis oder Knast, wenn du das lieber sagst, aber es ist trotzdem eine ziemlich harte Sache für die Jungs. Die Anfangserfolge dieses Projektes sind aber sehr erfreulich.«

»Dann soll David doch da hingehen.« Ich war ganz begeistert von dieser Aussicht. Ich hatte mit Johannes nie mehr sehr viel über seinen Beruf gesprochen und war erstaunt, wie gut er informiert war. Er nahm halt seine Aufgabe schon ernst.

»Moment, Moment, so einfach geht das auch nicht. Da gibt es noch verschiedenes zu klären. Erst mal muss ich mich erkundigen, ob überhaupt ein Platz frei ist. Das dürfte sich aber arrangieren lassen. Dann, und das ist fast das wichtigste, muss David es auch wollen. Er muss zumindest den Willen haben, aus seiner jetzigen Umgebung auszusteigen. Wie gesagt, das ist kein Knast. Wenn David nach einem Tag die Fliege macht, ist letztendlich keinem geholfen. Und last, but not least, muss der Richter mitspielen. Das hängt dann mehr von dem Anwalt ab, den David bekommt.«

»Also, das mit David übernehme ich«, verkündete ich. Gedanklich war ich bereits auf dem Weg nach Berlin.

»Halt, halt, nicht so schnell. Ich möchte nicht noch einmal in deinem Zimmer statt eines Rafael einen Zettel vorfinden.« Ich senkte schuldbewusst den Kopf.

»Na gut, dann lass uns das Projekt mal angehen. Also, das mit dem Platz auf diesem Hof, das kläre ich. Und das mit David, das kläre ich auch.«

»Du kannst ja meinetwegen mitkommen«, fügte er hinzu, als er mein enttäuschtes Gesicht sah.

»Das Wichtigste ist jetzt erst mal, dass wir mit dem Anwalt sprechen, und zwar am besten, bevor er mit David spricht. Versuch doch mal sofort, diesen Steffen zu erreichen. Ich denke mal, dass er einen Anwalt für David besorgen wird.«

Ich hatte ja die Nummer bereits herausgesucht. Daher konnte ich sofort telefonieren. Es meldete sich die Kollegin von Steffen.

»Hallo, hier ist Rafael. Ich hätte gerne Steffen gesprochen.«

»Der ist gerade auf dem Sprung. Ich muss sehen, ob ich ihn noch erwische.«

Glücklicherweise war er noch nicht weg.

»Hi Rafael, ich bin gerade wegen David unterwegs.«

»Hi Steffen, ich weiß bereits Bescheid. Wir sind von der Polizei angerufen worden, da David immer noch unsere Nummer bei sich hatte. Ich gebe dich jetzt mal an Johannes weiter.«

Johannes stand schon ungeduldig neben mir.

»Hallo, Johannes Hoffmann hier, wir haben uns ja schon einmal gesprochen. David liegt meinem Jungen immer noch sehr am Herzen, darum habe ich mich bereit erklärt, etwas für ihn zu tun. Ich vermute mal, dass sie David mit einem Rechtsbeistand helfen werden.«

»Ja, wir kennen da einen Anwalt, den wir in solchen Fällen immer einschalten.«

»Sehr gut. Ich hätte da nämlich eine Bitte.« Johannes erläuterte Steffen seinen Plan.

»Ich weiß nicht, in welchem Zustand David sich jetzt befindet«, fuhr Johannes dann fort, »aber es wäre gut, wenn der Anwalt Davids Aussichten bei Gericht möglicht pessimistisch schildert. Wenn er ihm nämlich sagt, dass er möglicherweise mit ein paar Stunden sozialem Arbeitsdienst davonkommt, hat er möglicherweise keine Lust mehr auf die andere Option.«

»Ich kenne den Anwalt ganz gut. Ich glaube, das lässt sich arrangieren.«

»Sehr gut. Ich werde morgen persönlich kommen. Der Anwalt kann sicher auch arrangieren, dass ich David sehen kann. Rafael wird mich begleiten,« fügte er dann noch hinzu.

»Wenn Sie mit dem Zug kommen, kann ich sie vom Bahnhof abholen. Ich werde dann alles vorbereiten.«

»Danke, das ist eine gute Idee. Rafael wird Ihnen noch die Ankunftszeit mitteilen.«

Ich war beeindruckt, wie professionell Johannes alle Vorbereitungen traf.

Als er aufgelegt hatte, fiel ich ihm erst mal um den Hals.

»Danke.«

»Das Spiel ist noch nicht gewonnen. Das kann auch noch schief gehen. Und außerdem wollte ich nicht noch mal das Risiko eingehen, einen Zettel von dir zu finden.«

Das würde ich wohl bis an mein Ende zu hören bekommen.

Am Nachmittag klärte Johannes ab, ob David einen Platz bekommen konnte. Wie erwartet, war dies das geringste Problem. Ich suchte einen Zug für uns heraus und teilte Steffen unsere Ankunftszeit mit. Steffen sagte mir, das der Anwalt mitgespielt hätte. David befände sich in keinem guten Zustand.

Ich konnte nachts kaum schlafen. Ich war dermaßen aufgeregt. Ich hoffte inständig, dass unser Plan gelinge würde.

20

Am nächsten Morgen fuhren wir früh zum Bahnhof. Ich war so übermüdet, dass ich kurz nach der Abfahrt einschlief und fast bis zur Ankunft schlief. Steffen erwartete uns am Bahnhof. Ich stürzte auf ihn los und umarmte ihn. Ich freute mich wirklich ihn wiederzusehen. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass ihm diese herzliche Umarmung gar nicht so recht war. Vermutlich machte er sich immer noch Vorwürfe wegen unseres nächtlichen Erlebnisses. Ich stellte die Beiden einander vor. Dabei kam mir überhaupt erst zu Bewusstsein, dass Johannes ja kaum älter war als Steffen. Steffen blickte auch überrascht. Mir fiel ein, dass ich Johannes Alter nie erwähnt hatte. Irgendwie erschien mir das unwichtig. Steffen war für mich ein Kumpel, während Johannes... Ja, was war Johannes eigentlich für mich? Vater? Ja, irgendwie war er schon eine Vaterfigur für mich, und ich hatte auch immer ein Kribbeln, wenn er mich anderen gegenüber als seinen Sohn oder seinen Jungen bezeichnete. Aber ich besprach auch Probleme mit ihm, die ein Junge normalerweise nicht mit seinem Vater bespricht. Vielleicht ging das alles viel einfacher, weil es eben nicht mein richtiger Vater war.

»Hallo, Träumer, aufwachen. Wir wollen gehen«, holte mich Johannes aus meinen Gedanken.

Wir gingen zunächst zu dem Anwalt. Herr Dr. Kleinschmidt war ein kleiner, etwas untersetzter Mann von etwa 45 Jahren. Mir unternehmungslustigen Augen sah er uns an. Man merkte, dass er das Leben liebte und alles tat, es zu genießen. Er informierte und kurz über den Stand der Dinge. Er hatte David gesagt, dass er eine Haftstrafe bis zu einem halben Jahr erwarten konnte, was nach juristischer Lage auch möglich wäre, was aber bei Erststraftätern nie zu Anwendung käme. Das hatte er David absprachegemäß aber nicht gesagt. Er hatte auch schon einen erste Kontakt zum Staatsanwalt und zum Jugendrichter gehabt. Obwohl keiner von beiden die Institution kannte, waren beide dem Vorschlag aufgeschlossen und wollten Informationen über diese Einrichtung haben. Johannes hatte alles mitgebracht und übergab die Unterlagen Herrn Dr. Kleinschmidt. Anschließend fuhren wir gemeinsam zum Untersuchungsgefängnis. In mir kamen unangenehme Erinnerungen hoch, als wir dort angekommen waren. Wir mussten die üblichen Formalitäten über uns ergehen lassen. Steffen sollte draußen auf uns warten.

»Du willst mit reinkommen«, fragte Johannes.

Was sollte denn diese Frage? Weswegen war ich denn sonst mitgekommen?

»Du hältst dich aber bitte raus«, sagte Johannes noch bestimmend.

»Meinetwegen«, murmelte ich. Warum war Johannes auf einmal so anders?

Wir wurden ins Besucherzimmer geführt. Nach kurzer Zeit wurde David von einem Wärter gebracht. Ich erschrak, als ich ihn sah. Ich war ja darauf vorbereitet, dass er immer noch diese schreckliche Kurzhaarfrisur hatte. Ich wusste auch, dass er sehr schmächtig war. Aber was da hereinkam, das war fast ein Knochengerippe. Er war völlig abgemagert. Seine Arme waren zu Ärmchen reduziert, absolut keine Muskelmasse mehr. Seine Augen blickten aus Höhlen, und sie blickten nicht mehr feurig funkelnd, sondern tot. Ja, tot, das war der richtige Ausdruck dafür. David sah uns nicht ins Gesicht, sondern auf den Boden vor sich. Er tat mir unsäglich leid. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und nie wieder losgelassen. Der Wärter bedeutete ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Wir waren durch einen Tisch von ihm getrennt.

»Guten Tag, David. Du kennst mich noch«, begann Johannes. Seine Stimme klang irgendwie gefühllos. David nickte.

»Dein Anwalt hat dir gesagt, was dich erwartet?« Wieder nickte David.

»6 Monate Gefängnis«, sinnierte Johannes. »Ich glaube, Rafael hat dir mal erzählt, wie es dort zugeht, oder?« David nickte unmerklich.

»Daran hat sich auch nicht viel geändert. Wer nicht stark genug ist, wird gnadenlos untergebuttert. Nur die Starken können in so einem Klima überleben. Ich weiß ja nicht, wie du dich einschätzt, aber ich glaube mal, dass du nach diesem halben Jahr ein totales Wrack bist, total am Ende.« David sackte noch mehr in sich zusammen. Er war nur noch ein Häuflein Elend. Warum war Johannes so gemein zu ihm? Warum sprach er so mit einer Stimme, in der aber auch nicht die kleinste Spur von Mitleid zu hören war? In mir stieg die Wut hoch. Ich wollte mich gerade einschalten, da sah mich Johannes mit einem so eisigen Blick an, dass mir fast das Blut in den Adern gefror. Ich zuckte zurück. Johannes fuhr fort:

»Und für das, was ich dir jetzt vorschlage, gibt es nur einen einzigen Grund: nämlich, dass mein Junge Rafael, den ich sehr liebe, darum gebeten hat.« Für diese eine Sekunde nahm seine Stimme wieder die gewohnte Wärme an. Aber als er fortfuhr, hatte sie erneut diese Kälte und Mitleidlosigkeit.

»Du bekommst diese Chance: es gibt da ein Camp auf einem Bauernhof. Dort sind lauter Jugendliche von 13 bis 18 untergebracht. Sie haben alle ähnliche Probleme wie du: Drogensucht, Kriminalität. Das ist dort kein Zuckerschlecken. Man wird hart mit dir umgehen. Aber ihr werdet dort alle gemeinsam erleiden. Wenn einer leidet, leiden alle, Wenn einer sich freut, freuen sich alle. Du brauchst dort keine Angst vor deinen Mitzöglingen zu haben. Nach 3 Monaten, wenn du den Ausstieg aus den Drogen geschafft hast und genug Zeit gehabt hast, darüber nachzudenken, wie dein Leben zukünftig ablaufen soll, können wir uns darüber unterhalten, wie es weitergeht.«

Johannes redete jetzt mehr sachlich, aber als er weitersprach, war die Kälte in seiner Stimme wieder da:

»Das ist eine große Chance für dich, aber es ist auch deine letzte. Wenn du sie nicht ergreifst, landest du unweigerlich in der Gosse, Großstadtmüll. Bei deinem Zustand gebe ich dir noch maximal ein halbes Jahr. Also überlege gut. Willst du die Chance haben?«

David war noch weiter in sich zusammengesunken, sofern das überhaupt noch möglich war.

»Ich warte.« Eisig insistierte Johannes. Es brach mir fast das Herz.

»Bitte, ich will hier raus.« Es war so leise geflüstert, dass man es kaum verstehen konnte.

»Du willst also, dass ich das Camp für dich organisiere?« Johannes ließ nicht locker.

David nickte nur. Er war wohl zu schwach für eine Antwort.

»Denk daran, es ist deine letzte Chance. Nutze sie und enttäusche uns, enttäusche Rafael nicht.« Er sagte das in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht im Entferntesten daran glaubte, dass David diese Chance nutzen würde. Dann nickte er dem Wärter zu, der daraufhin David aus dem Raum brachte.

»Warum tust du das«, schrie ich Johannes an, als David den Raum verlassen hatte. »Warum tust du ihm so weh?«

»Rafael, ich kann verstehen, dass du geschockt bist. Aber es ging hier nicht darum, David aufzurichten, sondern darum, ihn zu bewegen, diese letzte Chance wahrzunehmen. Und dass es seine letzte Chance ist, glaube ich wirklich, nachdem ich seinen Zustand gesehen habe. Alle meine Erfahrungen mit Drogenabhängigen haben mir gezeigt, dass Verständnis das letzte ist, was sie brauchen. Verständnis brauchen sie erst wieder, wenn sie clean sind. Darum glaube ich auch, dass dieses Camp genau das Richtige ist.« Und dann fügte er noch liebevoll hinzu:

»Kopf hoch, mein Junge. Auch wenn es dir weh tut, das ist das Beste, was wir für David tun können.«

Mir standen immer noch Tränen in den Augen. Ich glaubte immer noch, dass man das auch hätte anders machen können. Aber Johannes hatte recht. Letztendlich hatte David zugestimmt.

Johannes lud Steffen noch zum Mittagessen ein. Er unterhielt sich intensiv mit Steffen über dessen Arbeit. Er war sehr daran interessiert. Ich war irgendwie noch zu deprimiert, um mich groß am Gespräch zu beteiligen. Nach dem Essen brachte uns Steffen zum Bahnhof zurück. Er drückte mich noch einmal, bevor wir den Zug bestiegen. Ich war schon etwas enttäuscht von meinem Berlinbesuch. Ich hatte kein einziges Wort mit David reden können. Ich war entsetzt über seinen Zustand. Und ich war geschockt, wie Johannes mit ihm umgegangen war. Ich hoffte nur, dass er recht behalten würde und dass David geholfen würde. Johannes dagegen fand unseren Besuch sehr erfolgreich. Die ganze Zugfahrt versuchte er mich aufzumuntern.

»Glaubst du wirklich, dass er es schafft«, fragte ich immer wieder.

»Eine hundertprozentige Garantie kann dir niemand geben, aber du kannst ruhig etwas Gottvertrauen haben.«

Ich wusste nicht so recht. Ich hatte schon viele Enttäuschungen erlebt. Aber im Großen und Ganzen war ich doch mit meinem jetzigen Leben zufrieden, es hatte sich wirklich alles gut gefügt. Vielleicht lag Johannes ja doch richtig.

21

Wie erwartet war die Unterbringung in dem Camp kein Problem. Bereits zwei Tage später wurde David dorthin gebracht. Danach hörte ich erst mal nichts mehr von David. Ungeduldig fragte ich fast täglich Johannes, ob er irgendwas gehört hätte. Er sagte, dass er nicht permanent dort anrufen könnte. David wäre schließlich nicht der einzige Junge dort. Als ich ihn dann doch so weit hatte anzurufen, bekam er nur als Antwort, dass man noch nichts sagen könnte. Es sei einfach noch zu früh. Inzwischen war David bereits sechs Wochen in dem Camp.

Ich war mal wieder auf dem Heinweg von der Schule und dacht schon wieder an David. Zu Hause quoll mal wieder der Briefkasten über. Rasmus oder Oliver waren mal wieder zu faul gewesen, die Post zu holen. Na gut, würde ich mal wieder die Arbeit für sie machen. Das meiste waren sowieso Zeitschriften und Rechnungen. Ich wollte die Post gerade ins Wohnzimmer legen, als ein Brief herausfiel. Die handgeschriebene Adresse erweckte meine Aufmerksamkeit. Der Brief war für mich. Ich suchte nach dem Absender. David Jendralski las ich. Das Herz pochte mir auf einmal bis zum Hals. Ich schmiss die übrige Post auf den Tisch, griff mir den Brief und verzog mich in mein Zimmer. Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Brief und begann zu lesen.

Lieber Rafael,

ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Bei allem, was im letzten Jahr passiert ist, bei allem, was ich an Scheiß gebaut habe, bist du mir immer wieder begegnet. Du bist mir sogar gefolgt bis nach Berlin. Du bist wohl der einzige, der mich nicht abgeschrieben hat, und da schließe ich mich selbst mit ein Und ich habe es dir nicht gedankt. Im Gegenteil, ich habe dich immer weggestoßen. Ich bin immer nur weggerannt, nicht nur vor dir, sondern auch ganz besonders vor mir selbst. Bei dieser Flucht habe ich nicht gemerkt, dass ich mich immer mehr in diesen ganzen Schlamassel hineingeritten habe. Als ich es dann ganz zum Schluss merkte, war es schon viel zu spät. Ich saß so tief in der Scheiße, dass ich da nicht mehr rauskam. Es war mir dann auch alles egal. Ich dachte öfter an Selbstmord, aber selbst das brachte ich nicht fertig. Es ging mir nur dann halbwegs gut, wenn ich Koks geschnüffelt hatte. Aber das half auch nur höchstens eine Stunde. Danach war alles nur noch viel schlimmer. Ich habe kaum noch etwas essen können, magerte immer mehr ab. Selbst den Typen war ich am Ende zu mager. Ich hatte Probleme das Geld für den Koks aufzutreiben. Daher habe ich mich schließlich bei diesem Handtaschenraub versucht. Aber ich war mittlerweile so geschwächt, dass ich von den Passanten mühelos überwältigt werden konnte. Mir war da aber schon alles egal. Ich hatte mich völlig aufgegeben. Ich wollte nur noch sterben. In diesem Zustand habt ihr mich dann angetroffen. Und dann hat dein Vater mich so fertig gemacht. Ich wollte nur noch da raus. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Bloß weg. Ich hätte allem zugestimmt, nur um wegzukommen. Hätte ich allerdings gewusst, was mich erwartete, ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte. Die ersten vier Wochen hier waren die Hölle. Der Typ hier, der das Camp leitet, ist ein ganz harter Brocken. Der Ton, der hier herrscht, ist nicht besonders zurückhaltend. Wenn einer Scheiße baut, müssen alle darunter leiden. Und anfangs baute ich ganz schon oft Scheiße. Ich bekam ziemlich Druck, auch von den anderen Jungen. Und dazu noch der viel Sport, der hier verlangt wird. Ich war eigentlich viel zu geschwächt, um da durchhalten zu können. Nach zwei Wochen wollte ich abhauen. Aber selbst dazu war ich zu schwach. Es gab nur zwei Gründe, warum ich schließlich durchgehalten habe.. Zum einen, und das besonders am Anfang, war es der Hass. Der Hass auf deinen Vater. So wie er hat mich in meinem Leben noch niemand behandelt, selbst in meinen schlimmsten Zeiten nicht. Ich wollte ihm nicht die Genugtuung geben, mich scheitern zu sehen. Ich wollte ihm beweisen, dass er Unrecht hat. Später war es dann hauptsächlich, weil ich dich nicht enttäuschen wollte. Du hast die ganze Zeit zu mir gehalten, wie gemein ich auch zu dir war. Das habe ich bei keinem anderen Menschen je erlebt. Das hat mir dann die Kraft gegeben durchzuhalten.

Nach etwa vier Wochen wurde es besser. Ich kam wieder langsam zu Kräften. Ich war nicht mehr so total fertig. Und ich hatte mich hier eingefügt. Ich war kaum noch der Grund für eine Kollektivbestrafung. Die anderen Jungs hatten mich akzeptiert. Der Zusammenhalt wurde besser. Ich hatte jetzt auch mehr Zeit, über mich nachzudenken. Wir müssen jeden Tag aufschreiben, was wir gemacht haben. Bei dieser Gelegenheit habe ich dann auch immer mehr über mich und mein Leben nachgedacht. Ich bin eigentlich immer nur davongelaufen: Vor meinem Elternhaus -es graust mir jetzt noch, wenn ich daran denke-, vor dir und am meisten halt vor mir selbst. Ich konnte mich einfach nicht akzeptieren. Es konnte nicht wahr sein, was ich da fühlte. Statt darüber nachzudenken, bin ich einfach nur abgehauen. Erst jetzt habe ich mich gezwungen, über mich nachzudenken. Und ganz langsam kann ich mich so akzeptieren, wie ich nun wohl mal bin. Dabei helfen mir auch die anderen Jungs. Jeder hat hier irgendein Problem mit hergebracht. Alle sind irgendwie unterschiedlich. Aber dennoch können wir uns auch gegenseitig so respektieren, wie wir sind.

Ich wollte mich bei dir, und das ist der Hauptgrund für diesen Brief, entschuldigen, dafür, was ich dir angetan habe, und ich wollte mich bedanken, dass du mich trotz allem nie aufgegeben hast.

Liebe Grüße

David

PS. Ich hoffe, dass eines Tages auch dein Vater aufhört, mich zu hassen.

Ich legte den Brief zur Seite. Mir standen wieder Tränen in den Augen. Aber diesmal waren es Tränen der Rührung, und auch ein bisschen Tränen des Glücks. Ich war mir sicher, dass David es schaffen würde. Das war die erste gute Nachricht seit vielen Monaten. Es ging zwar nicht daraus hervor, ob er jetzt meine Gefühle erwidern würde. Aber ich hatte da schon ein positives Gefühl. Sobald Johannes zu Hause war, stürzte ich zu ihm und zeigte ihm Davids Brief.

»Na also, das scheint ja zu funktionieren«, bestätigte er mich.

»Und jetzt«, fragte ich ungeduldig.

»Immer mal langsam. Ich habe bereits mit dem Jugendamt Kontakt aufgenommen. Wenn alles gut geht, kann David nach Abschluss des Camps in eine betreute Wohneinrichtung wechseln. Wenn er will, kann er sogar wieder auf seine alte Schule gehen. Ich weiß zwar nicht, ob er die Klasse noch schaffen kann. Wahrscheinlich wird er ein Jahr wiederholen müssen. Zusätzlich überprüft das Jugendamt, ob der Mutter das Sorgerecht entzogen werden kann. David würde dann einen Vormund bekommen, was seine Zukunftsplanung sehr vereinfachen würde.«

»Und wann«, das war mir am wichtigsten, »wann können wir ihn besuchen?«

»Hm, Besuch sehen die überhaupt nicht gerne. Das stört den ganzen Rhythmus. Aber ich kann ja mal versuchen, was ich erreichen kann«, fügte er noch hinzu, als ich schon wieder enttäuscht guckte.

Tatsächlich telefonierte Johannes noch am Nachmittag mit dem Leiter des Camps.

»Es ist, wie ich gesagt habe. Sie sehen Besuch nicht so gerne. Außerdem sehen sie David noch nicht als so gefestigt an. Er ist zwar auf einem guten Weg, aber so ganz stabil ist er wohl noch nicht. Nach viel Bitten habe ich die Erlaubnis bekommen, dass wir ihn am übernächsten Wochenende besuchen können, sofern er sich weiter so entwickelt.«

Übernächstes Wochenende? Das waren ja noch 12 Tage. Nur mit Mühe konnte ich meine Enttäuschung verbergen.

»Jetzt hast du schon so lange gewartet. Auf die paar Tage kommt es jetzt doch auch nicht an«, versuchte mich Johannes zu trösten.

»Ja, aber so positiv war die Situation noch nie.«

»Vielleicht, aber sei bitte noch vorsichtig, was deine persönliche Beziehung anlangt. Ich möchte nicht, dass dir noch mal wehgetan wird.«

Ja, er hatte ja recht. So eindeutig war der Brief wirklich nicht. Trotzdem fasste ich wieder neue Hoffnung. Die Zeit verging natürlich wieder im Zeitlupentempo. Und es war ja auch noch nicht hundertprozentig klar, ob wir überhaupt kommen durften. Dennoch, irgendwann drei Tage vor dem Termin, kam der erlösende Anruf. David wurde so weit als stabil angesehen, dass er Besuch empfangen konnte.

22

Endlich war es dann so weit. Johannes und ich fuhren, diesmal mit dem Auto, zu diesem Camp. Nach zweistündiger Autofahrt kamen wir endlich an. Das ganze hatte mit einem Knast überhaupt nichts zu tun. Es wirkte eher wie ein Bauernhof. Das war es wohl auch mal gewesen. Es gab keine Mauern und keine Zäune. Wer nicht bleiben wollte, konnte einfach gehen. Trotzdem war die Zahl der Jungen, die die Fliege machten, sehr gering, erklärte mir Johannes. Wir gingen zum Büro des Leiters. Der Mann war ein durchtrainierter Typ, der einem schon Respekt einflößen konnte.

»Ich habe David erst gestern gesagt, dass er heute Besuch bekommen wird«, begrüßte er uns.

»Und wie hat er darauf reagiert«, wollte Johannes wissen.

»Er hat sich natürlich gefreut. Aber er hatte auch ein bisschen Angst. Früher hätten wir den Besuch sicher nicht ansetzten können. Er wird übrigens gleich hier sein. Ich habe ihn bereits rufen lassen.«

Kaum hatte der Mann geendet, klopfte es auch bereits an der Tür und David kam herein.

War ich acht Wochen vorher noch entsetzt über seinen Zustand gewesen, so war ich genauso überrascht über die Veränderung. Er hatte sein altes Gewicht fast wieder. Die Haare waren mittlerweile auch schon wieder gewachsen. Aber das wichtigste: seine Augen waren nicht mehr tot, sondern blitzten fast wieder wie früher. Er sah einfach toll aus, wie er da stand. Er lächelte mich an und sah etwas verunsichert zu Johannes hinüber.

»Willst du deine Gäste nicht begrüßen?«

Folgsam begrüßte er erst mich und dann ein wenig unsicher auch Johannes.

»Zu deiner Beruhigung: ich habe dich zu keinem Zeitpunkt gehasst«, sagte Johannes, nachdem er David begrüßt hatte. David lächelte unsicher und sah mich dann fragend an.

»Ich glaube, ihr könnt euch hier abseilen. David kann dir alles zeigen.«

Das taten wir dann auch sofort. David zeigte mir die gesamte Anlage. Schließlich führte er mich in ein anliegendes Waldstück auf eine kleine Lichtung. Die Sonne beleuchtete die ganze Szene in einem anheimelnd wirkenden Licht. David zog mich zu einem Baumstamm, der am Rande der Lichtung lag.

»Hierher komme ich immer, wenn ich nachdenken will.« Wir setzten uns auf den Baumstamm.

»Und das hast du in den letzten Wochen viel getan?« David nickte.

»Es war auch bitter nötig. Ich habe viel zu viel verdrängt.« Und dann begann er mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er hatte eine ganz normale Kindheit verbracht. Nichts, was sich von anderen unterscheiden würde.

»Doch dann, als ich gerade die erste Klasse auf dem Gymnasium hinter mir hatte, begann es. Wir waren eine ganz normale Familie. Wir waren nicht besonders reich, aber wir hatten immer genügend Geld. Wir hatten eine Wohnung, so ähnlich wie ihr. Aber plötzlich, von einem Tag auf den anderen, verließ uns mein Vater. Er hatte seit langem ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Keiner hatte es bemerkt. Es kam total überraschend für uns. Das Schwein hat uns einfach sitzen lassen. Und nicht nur, dass er uns sitzen ließ. Er zahlte, wenn überhaupt, nur unregelmäßig und viel zu wenig Geld an uns. Meine Mutter musste ständig mit dem Anwalt drohen, um überhaupt etwas zu bekommen. Dennoch reichte das Geld vorne und hinten nicht. Meine Mutter erhöhte ihre Arbeitszeit. Trotzdem konnten wir uns die Wohnung nicht länger leisten. Wir mussten uns eine billigere suchen. Aber auch die war nach kurzer Zeit schon wieder zu teuer. Meine Mutter war der ganzen Situation überhaupt nicht gewachsen. Irgendwann begann sie zu trinken. Dadurch wurde das Geld natürlich noch knapper. Immer häufiger mussten wir umziehen. Ich war inzwischen in der Schule sitzen geblieben. Meine Mutter wollte mich eigentlich auf die Hauptschule schicken. Nur wegen meines Widerstandes und der Hilfe eines Lehrers hat sie schließlich davon abgesehen. Dann fing die Zeit mit den Freunden meiner Mutter an. Sie brachte immer neue Freunde von ihren Kneipentouren mit, die dann meistens nach kurzer Zeit bei uns einzogen. Ich wurde mehr und mehr ein störender Faktor. Aber wo sollte ich denn hin? Alle meine Freundschaften in der Schule gingen nach und nach in die Brüche. Wie du selbst weißt, kommen die meisten aus eher besseren Elternhäusern. Ich hab mich geschämt, meine Freunde nach Hause mitzunehmen. Keiner sollte sehen, unter welchen Bedingungen ich lebte. Ich ließ mir immer neue Ausreden einfallen. Immer öfter flippte ich auch aus, weil die Situation von Tag zu Tag unerträglicher wurde. Und dann kamst du. Wir wussten nicht viel über dich, aber es gab das Gerücht, dass du im Gefängnis gewesen warst. Keiner wagte dich zu fragen und du warst auch so abweisend. Aber immerhin warst du mein einziger Hoffnungsschimmer. Du würdest mich vielleicht verstehen können. Aber nachdem ich dein Zuhause gesehen habe, hat mich der Mut schon wieder verlassen, auch wenn du das nach deiner Vergangenheit vielleicht verstanden hättest. Und so fing ich wieder an zu lügen. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Es war unsere Begegnung in diesem Park. Ich hatte endlich den Mut gefunden, dich anzusprechen. Und du hast mir auch bereitwillig alles erzählt. Ich war entsetzt, nicht nur über das, was dir passiert ist. Ich war entsetzt, weil du mir damit so beiläufig mitgeteilt hast, dass du auf Jungs stehst. Ich habe das erst gar nicht so richtig wahr haben wollen. Du tatest mir jedenfalls unsäglich leid. Deshalb habe ich dich auch in den Arm genommen. Aber dann passierte etwas, was mich völlig aus der Bahn warf. Ich merkte, dass ich mich wohl fühlte. Es war nicht nur eine tröstende Umarmung. Ich genoss es, obwohl du ein Junge warst, gerade weil du ein Junge warst.«

»Ich auch«, murmelte ich dazwischen. Ich hatte doch recht behalten.

»Aber das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Ich war doch nicht schwul. Über Schwule machte man doch bestenfalls Witze. Manche Halbstarke in meiner Wohngegend machten sich am Wochenende einen Spaß daraus, Schwule zu klatschen, wie sie es nannten. Das waren doch alles abartige Leute. Aber das Gefühl ließ sich nicht unterdrücken. Als du weg warst, sehnte ich mich nach deiner Umarmung. Ich wollte dich spüren. Aber das durfte nie mehr passieren. Ich musste jede Berührung mit dir vermeiden. Ich geriet vollkommen in Panik. Ich hatte zwar schon seit einiger Zeit beim Onanieren Phantasien von Jungs, aber onanieren war auch unanständig und da machten auch die Phantasien nichts mehr. Aber das mit dir war real, keine Phantasie. Ich hielt mich also, so weit es eben ging, fern von dir. Gleichzeitig sah ich aber auch in dem, was du erzählt hast, eine Lösung für mein Problem zu Hause. Die Situation wurde immer unerträglicher. Du hast es ja selbst gesehen. Und da bot sich plötzlich eine Möglichkeit, von zu Hause wegzukommen. Deshalb habe ich auch immer wieder bei dir nachgebohrt. Es gab, wie ich heute zugeben kann, auch noch einen zweiten Grund. Ich konnte ganz unverbindlich mal Sex mit einem Mann ausprobieren. Und vor mir selbst konnte ich ja immer sagen, dass ich es nur wegen des Geldes gemacht hatte. Irgendwann bin ich dann mal nachmittags zum Bahnhof gegangen. Ich hatte ja genug Informationen von dir bekommen. Die ersten Erfahrungen waren auch nicht negativ. Ich hatte bald einen ganz netten Typen getroffen, der sich auch ein wenig um mich kümmern wollte.«

Ich nickte. Mir schwante auch, wird dieser Typ war. Ich sagte aber nichts.

»Dann bin ich an den Typen geraten, der mich ans Koksen gebracht hat. Ziemlich schnell hat er statt mit Geld mit Kokain bezahlt. Als ich dann zu Hause rausflog, hat er mich sofort bei sich wohnen lassen. Das ging auch eine Zeitlang gut. Er versorgte mich weiterhin mit Koks. Irgendwann begann er Kumpels anzuschleppen, die ich dann auch noch bedienen sollte. Als ich aufmuckte, setzte er mich einfach vor die Tür. Völlig verzweifelt habe ich dann das Angebot eines Typen angenommen, mich mit nach Berlin zu nehmen. Aber der Typ ließ mich dann auch gleich dort sitzen. Aber die Berliner Szene ist größer und das Koks billiger, also blieb ich dort und hielt mich über Wasser. Als du mich getroffen hast, ging es mir noch halbwegs gut. Dein Freund hat dann versucht, sich um mich zu kümmern, aber ich hab ihn immer abgewiesen. Statt dessen brauchte ich immer mehr Koks. Ich kam immer mehr runter, magerte immer mehr ab. Selbst meine Stammfreier wollten mich zum Schluss nicht mehr. Ich sah keine Möglichkeit mehr weiterzuleben. Den Rest kennst du.«

Einige Tränen liefen ihm die Wange herunter. Auch ich war total schockiert. Er tat mir unsäglich leid. Ich wischte ihm mit dem Finger eine Träne ab. Dann nahm ich ihn den Arm. Ich hielt ihn lange fest. Ich genoss seinen Geruch. Das hatte ich doch alles schon mal erlebt, wenn auch unter anderem Vorzeichen. Aber diesmal durfte es nicht so enden, wie beim ersten mal. David hatte wohl den gleichen Gedanken. Als ich die Umarmung lockerte, ließen wir und nicht los. Unsere Lippen näherten sich wie magisch angezogen. Bei der Berührung durchzuckte uns beide ein Schauer. Er öffnete seinen Mund bereitwillig, um meine Zunge einzulassen. Wir spielten mit unseren Zungen. Wir vergaßen total die Welt um uns herum. Als wir nach langer Zeit total außer Atem voneinander abließen, flüsterte ich:

»Ich liebe dich, ich habe dich die ganze Zeit geliebt.« Tränen des Glücks liefen mir die Wange herunter.

»Ist das ein Grund zum Weinen? Ich liebe dich doch auch.«

Unsere Lippen trafen sich ein zweites Mal.

Nachwort

So, und jetzt möchte ich Rafael, David, Oliver und Rasmus in Ruhe lassen. Sie haben jetzt, glaube ich, alle Vorraussetzungen ihr Leben zu leben.

Danken möchte ich noch angelsdream, ohne dessen Hartnäckigkeit diese Geschichte wahrscheinlich gar nicht geschrieben worden wäre, sowie Peter aus HH für das Vorablesen.

Raffael

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