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Quartett
Teil 5 - Zweites Semester & Geheime Universität
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
9. Zweites Semester
Das Aufstehen kam früh. Unerwartet und viel zu früh klingelte der Wecker. Aber die nächste Vorlesung wartete schon auf die vier. Da gab es kein Pardon, sie mussten aufstehen. Derjenige der am besten geschlafen hatte, war zweifellos Henne. Er sah aus, als wäre er gerade frisch aus dem Ei geschlüpft: munter und voller Tatendrang.
FX, der neben ihm geschlafen hatte, öffnete ebenfalls die Augen und sah Henne an: „Und? Wie geht es Dir?”
„Fabelhaft”, entgegnete dieser, „ich hab’ echt geträumt, dass ein Heiler gekommen ist und meine Wunden versorgt hat.”
„Oh”, setzte er noch nach, als er an sich herunterschaute und überrascht feststellte, dass seine Heilung kein Traum war, sondern Realität. Nicht ein Kratzer, keine Wunde oder gar Narben waren an seinem Körper zu sehen. Nur glatte und unversehrt Haut ohne Schrammen oder blauen Flecken.
In dem Moment standen dann auch Ben und Michel in der Tür zum Schlafzimmer. Sie hatten im Wohnzimmer übernachtet. Sprachlos starrten sie Henne an.
„Was hast Du gemacht, FX”, kam es ganz langsam, wie in Zeitlupe aus Michel heraus.
Zu FX’ Erleichterung befreite Ben ihn aus dieser Zwickmühle, indem er sie wieder auf das Weltliche brachte: „Junx, wir sind verdammt spät dran und die Profen werden sich echt freuen, Henne wieder zu sehen. Lasst und nicht unnötig Aufsehen erregen nur weil wir zu spät kommen.”
Das Frühstück verlief ungewohnt schweigsam. Niemand traute sich so recht, die erste Frage zu stellen. Sei es an Henne, wie er denn die vergangenen Tage überlebt hatte, oder an FX, was er denn mit Henne angestellt hatte, dass seine Wunden über Nacht verschwunden waren. Und so gingen sie nach dem Frühstück direkt in die Vorlesung, wo Henne vom Professor höchstpersönlich und namentlich begrüßt wurde. Generell war es nichts Besonderes, das der Lehrkörper die Alumni beim Nachnamen ansprach. Bei der relativ geringen Anzahl der Studenten war das kein Problem. Besonders so auffällige Menschen, wie Henne mit seinem bunten Iro merkt man sich schnell und einfach. Henne lief natürlich prompt kirschrot an, was einen maximalen Kontrast zu seinem frisch gemachten Iro in frechem Grün bildete. Grün als Farbe der Hoffnung und des Neuanfangs fand Henne für den ersten Tag nach seiner Entführung und Folterung durchaus passend.
Dasselbe Spiel wiederholte sich auch zu Beginn der zweiten Vorlesung. Daher waren sowohl Henne, als auch seine Freunde sehr froh, als endlich zur Mittagspause aufgerufen wurde. Ganz gemütlich und über belangloses plaudernd gingen sie hinüber zur Mensa. Unterwegs wurden sie noch von Sarah eingeholt, die Henne herzlich umarmte: „Schön, dass Du Deine Männergrippe überlebt hast!”
„Männer was???”
„Na, Deine Freunde meinten, Dir ginge es nicht so gut nach der Party. Für einen Kater war es etwas lang, daher dachte ich, Du hast 'ne Erkältung. Oder hattest Du etwa Migräne?”
„Ja, so in der Art. Aber meine Jungs haben mich vor dem Tod gerettet”, antwortete Henne und war selbst überrascht, wie viel Ernsthaftigkeit plötzlich in seiner Stimme lag. Auch den anderen, inklusive Sarah war das nicht entgangen. Aber nur Sarah deutete das als übertriebenen Witz und lachte laut auf, um sich gleich drauf zu verabschieden und sich an den Tisch ihrer Gruppe zu setzen.
Die Vier gingen ihrerseits zu ihrem Tisch unter dem kleinen Baum und aßen zu Mittag.
FX spürte sie einen Augenblick eher als Henne, doch als er sie sah, ließ er prompt sein Messer falle. Das Klirren erregte glücklicherweise nur die Aufmerksamkeit der anderen beiden Freunde und wurde bereits von den Nachbartischen ignoriert. Maik und Nico betraten mit ihrer Clique den Speisesaal. Wahrgenommen hatten sie jedoch keinen der vier, geschweige denn Henne, den sie hier ohnehin nicht erwarteten.
Henne hatte, seitdem die beiden den Saal betreten hatten, keinen Muskel bewegt. Innerlich ging es bei ihm jedoch zu wie auf einer Achterbahn. Dieses Gefühlschaos machte sich nach kurzer Zeit durch einen heftigen Schweißausbruch bemerkbar. Ben, der neben Henne saß, legte sofort seine Hand auf dessen Unterarm und flüsterte beruhigend: „Keine Sorge, wir sind bei Dir.”
Zögerlich und ganz langsam nickte Henne und erst nach mehreren Minuten war er wieder in der Lage etwas zu essen, wenn auch mit sehr zitterten Händen. Zum Glück blieb es bei diesem unidirektionalen Blickkontakt, so dass Henne und seine Freunde nach dem Essen wieder ganz beruhigt in die dritte und letzte Vorlesung des Tages gehen konnten.
Am späten Nachmittag waren sie schließlich wieder in deren Wohnung. Kaum, dass die Tür ins Schloss gefallen war, wiederholte Michel seine Frage vom Morgen, indem er sich FX direkt in den Weg stellte und ihn mit einem durchdringenden Blick anschaute. Zwar war FX deutlich größer als Michel, dennoch kam er sich in diesem Augenblick winzig klein vor.
Er beobachtet nicht nur hervorragend, er hat echt Kraft und Potenzial, stellte FX erfreut fest.
„Ich werde es kein viertes Mal fragen. Also: Was hast Du getan?”
FX hatte schon lange nach einer passenden Antwort gesucht und bereits im Laufe des Tages unzählige Möglichkeiten durchgespielt. Zufriedenstellend war keine. Insofern war er jetzt keinen Schritt weiter als am Morgen.
„Keine Fragen. Keine Lügen”, war die wenig befriedigende Antwort, die er Michel schließlich gab. Nachdem er verständlicherweise in drei fragende Gesichter blickte, fuhr er fort: „Es tut mir leid. Ich kann das nicht sagen. Noch nicht. Ich möchte Euch als meine Freunde lediglich bitten, das für Euch zu behalten.”
Zwar hatte FX den letzten Satz mit einer maximalen Unterwürfigkeit als ganz weiche Bitte hervorgebracht, dennoch bekam er innerhalb von nur einem Augenblick von allen dreien ein bestätigendes Nicken. Erleichtert stellte FX fest, dass er wirklich wahre Freunde gefunden hatte, die ihm blind vertrauten und denen auch er sofort und ohne Rückfrage vertrauen würde, wenn man ihn darum bitten würde.
Als wenn nichts geschehen wäre, wandte sich die Aufmerksamkeit sofort auf Henne und sechs Augen sahen ihn fragend an. Der zuckte zusammen als er merkte, dass er plötzlich im Fokus stand und sah gleich darauf betreten zu Boden. Ganz offensichtlich wollte oder konnte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht über das sprechen, was man ihm in den letzten Tagen angetan hatte.
Wortlos zog Ben ihn auf die Kuschelecke, während sich die anderen beiden sich am anderen Ende des Wohn-Esszimmers um das Abendessen kümmerten. Henne würde sich melden, wenn er soweit wäre, da waren sich alle sicher. Ihn jetzt zu drängen wäre definitiv falsch gewesen.
Tags darauf, endlich Freitag! Im zweiten Semester war, quasi als Belohnung für die Tortur zu Beginn des Studiums, der Nachmittag frei. So war es in jedem geraden Semester üblich. Jedoch ließen es sich die Professoren nicht nehmen, unaufhörlich darauf hinzuweisen, dass Freitagnachmittag im dritten Semester wieder ganz normale Vorlesung war und dann wieder ein ganz anderer Wind wehen würde. Aber egal. Jetzt war ja das zweite Semester und damit nach dem Essen frei. Daher blieben viele nach dem Mittagessen einfach in der Mensa sitzen und quatschten.
Allerdings waren auch Nico und Maik in einem geraden Semester, nämlich im letzten, dem achten. Daher ließ sich eine Konfrontation jetzt nicht mehr vermeiden. Natürlich hatten die beiden Peiniger schon tags zuvor festgestellt, dass Henne weg war. Aber wie er abhauen konnte und warum sie die Tür zum Kerker nicht mehr öffnen konnten, das war noch zu klären. Und natürlich die Frage nach dem gravierten Messingschild in dem Fass! Denn das war ja schließlich der Auslöser für all die Geschehnisse der vergangenen Tage.
Die beiden standen also auf von ihrem Stammplatz in dem Separee im Fenster und kamen direkt zu den vier Freunden herüber. Provozierend mit leicht gespreizten Beinen und die Hände zu Fäusten geballt in der Hüfte standen sie auf einmal am Tisch.
FX konnte direkt spüren, wie bei Henne der Herzschlag für einen Rhythmus aussetzte um direkt danach mit einer Frequenz von hundertachtzig weiter zu machen. Ganz kurz kehrte er seinen Blick nach innen, konzentrierte sich und suchten im Geiste nach Henne. Er tauchte ab in eine andere Welt, weil er dort seinem Freund am besten und vor allem am unauffälligsten helfen konnte. Es war eine Welt, die nicht aus Materie bestand. Es war eher eine Art Energie. Aber keine, wie man sie normalerweise in Form von beispielsweise Elektrizität oder Bewegungsenergie kennt. Es war eher eine spirituelle oder geistige Energie.
In dieser anderen parallelen Welt besaß jeder Mensch und auch jedes andere Lebewesen eine Farbe. Irgendwie musste diese Energieform den Menschen mit ihren lediglich fünf Sinnen ja zeigen, wenn man sich auf sie einließ. Eine konkrete Form an sich hatte man nicht in dieser Welt. Allenfalls könnte man es als wabernde bunte Blase oder Wolke beschreiben. Ansonsten gab es weder ein oben noch ein unten. Keine Wände oder Grenzen. Lediglich Raum. Unendlichen Raum. Dieser Raum war nicht einmal schwarz, wie man es meinen könnte; auch nicht weiß. Denn diese beiden Farben hoben sich deutlich von Hintergrund ab, sollten sie auftauchen. Dennoch bevorzugte FX für diese Welt den Namen „Schwarz”, wenn er einmal mit anderen darüber sprach. In diesem Schwarz gab höchstens ein Nah und Fern, was allerdings auch durch die Größe der Blase verfälscht wurde. Erstaunlicherweise war Henne in dieser Welt schwarz. Tiefschwarz. So ganz im Gegensatz zu seinem Auftreten in der materiellen Welt, wo er mit seinem Iro und der Kleidung eher ein verrücktes buntes Huhn war. Allerdings schimmerte sein Schwarz interessant bläulich. So war er sehr einfach wieder zu finden.
Man selbst konnte sich in dieser Welt nicht sehen. Allerdings wusste FX von anderen, die dort regelmäßig unterwegs waren und mit denen er gute Kontakte pflegte, dass er grünlich war. Allerdings waberte bei FX nicht nur die Form seiner Blase, sondern auch die Farbe waberte und änderte sich ständig mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er changierte in allen möglichen Grüntönen und das auch gleichzeitig mit verschiedenen Bereichen innerhalb der Blase. Und FX war in dieser Welt groß. Sehr groß, so sagte man ihm. Viele Bekannte hatte anfangs Angst vor ihm und seiner Kraft, weshalb sie den Kontakt mieden. Das wiederum war abzusehen, denn an der Größe des Gebildes kann man die Fähigkeiten desjenigen ablesen. So beschränkten sich seine Bekannten in dieser Welt der geistigen Energie auf nur sehr wenige Menschen. Wobei er sich nicht einmal ganz sicher war, ob es alles wirklich Menschen waren.
Etwas ungewöhnlich war, dass alle seine Freunde in dieser Schwarz-Welt zweifarbig waren. Durch das Studium und seinen neuen Lebensabschnitt war in kurzer Zeit so vieles passiert, dass er gar nicht dazu kam, einmal einen Abstecher ins Schwarz zu machen. Obwohl es nicht viel Zeit in Anspruch nimmt, hatte er es schlichtweg vergessen. Innerlich gelobte er Besserung und beschloss, bei nächster Gelegenheit dort seinen Bekannten wieder einen Besuch abzustatten und dort neue Informationen einzuholen und alte Kontakte wieder zu knüpfen.
Es kommt schon vor, dass vor allem Menschen zweifarbig erschienen. Bei Tieren und Pflanzen hingegen war es extrem selten. Dennoch ist es nicht alltäglich. Und so viele Menschen mit dieser Eigenschaft zusammen auf engstem Raum als Gruppe von Freunden ist in der Tat ungewöhnlich. Sollte in diesem Studium irgendwann wieder etwas Ruhe einkehren, so beschloss FX, würde er sich seine Freunde hier genauer anschauen. Michel zum Beispiel war rot-blau, sehr kontrastreich also. Ben dagegen war mit gelb-weiß zwar eher farblos oder gar blass, dafür war er jedoch extrem hell! Generell konnte man von den Farben jedoch nicht auf das reale Wesen zurück schließen. Oder FX und seinen dortigen Bekannten ist das noch nie aufgefallen. Sollte er darüber Meldung machen, dass seine Freunde so außergewöhnlich waren? Was hätte das für Konsequenzen? Für ihn? Für seine Freunde? Er beschloss, zunächst selbst erst einmal Erkundigungen einzuziehen, bevor er es an den Club schickte.
Anfangs war diese Welt absolut verwirrend für FX gewesen. Ständig versucht man, eine Verbindung zur realen Welt herzustellen. Es hatte lange gedauert, bis er sich davon loslösen konnte. Seinen Trainer Eggsy hatte er damit fast in den Wahnsinn getrieben. Aber hat man dieses Stadium einmal hinter sich gelassen, ist die neue Welt sehr einfach, weil sie schlichtweg gefühlsbasiert ist. Und hat man den Kopf abgeschaltet und überlässt dem Bauch endlich die Steuerung, akzeptiert das schließlich auch der Kopf und dann bekommt man endlich das, wonach man gesucht hat: die Verbindung zur realen Welt. Dann kann man plötzlich wieder die einzelnen Menschen problemlos auseinanderhalten.
Derzeit war Hennes schwarz-blaue Blase ein Epizentrum an Emotionen. Henne schien geradezu zu kochen. Eine Mischung aus Angst, Hass und die Erinnerung an Schmerzen spürte FX in einer so hohen Konzentration, dass ihm fast die Spucke wegblieb, wenn er denn in dieser Gefühlswelt welche gehabt hätte. Da diese Welt ja nur aus Emotionen bestand und die Jungs nicht in der Lage waren, diese zu maskieren, bekam FX einen ungefilterten Eindruck des Gefühlschaos, in dem sich Henne gerade befand und in dem er zu versinken drohte.
Daher sandte FX eine Welle der Beruhigung an Henne, was sofort eine deutliche Wirkung zeigte, nachdem er diese Signale erfasst hatte. Dass sein Freund diese ausgesandt hatte, wusste Henne jedoch nicht. Die dadurch aufkommende Verwirrung musste FX dann auch sofort im Keim ersticken, damit der Gute nicht von einem Trauma ins nächste fiel. Mit demselben Trick gab er sich unterbewusst als Freund und Vertrauter zur erkennen. Henne wusste zwar immer noch nicht, was mit ihm geschah, akzeptierte es aber, ließ sich fallen und tragen. Als er nach dem Anblick seiner Peiniger soweit wieder geistig und emotional stabil war, wandte sich FX seinen anderen beiden Freunden zu.
Auch an die andern beiden sandte er entspannende Signale, um die Situation nicht zu eskalieren. Bei Ben, der ebenfalls von den beiden zusammengeschlagen worden war, war auch ein schnelles Handeln nötig, denn dort kochten gerade Gefühle wie Hass und Aggression hoch. Aber auch Ben ließ sich genauso unterbewusst wieder herunterfahren und nach dem Anstupser war auch er deutlich gelassener. Bei Michel musste FX nicht mehr so stark agieren, da dieser ja nicht direkt dabei gewesen war, sondern lediglich bei der scheinbar nicht enden wollenden Suche mitgelitten hatte.
Nachdem FX seine drei Freunde moralisch aufgepäppelt und emotional beruhigt hatte, begann er Maik und Niko kurz zu mustern. Nikos Aura war deutlich größer als die seines Busenfreundes. Aber dennoch, beide waren eher durchschnittlich bezüglich Größe und Agilität, der Eine am oberen Ende, der andere am unteren Ende der Skala. Was die Farben anbelangte, ging Niko eher ins Lila und Maik war rosafarben. Komisches Pärchen, dachte FX nur. Er hatte fürs Erste genug gesehen und kehrte wieder in die reale greifbare Welt zurück.
Die ganze Aktion dauerte nur einen Wimpernschlag und niemand bemerkte die zumindest geistige Abwesenheit von FX. Da sowohl Henne als auch Ben mit den beiden ja im wahrsten Sinne des Wortes Kontakt hatte, entschieden sich die Freunde intuitiv und ohne Absprache dafür, dass Michel bei diesem Disput der Wortführer sein sollte. Die Vier kannten sich mittlerweile so gut, dass es häufig keine verbale Kommunikation mehr benötigte.
Michel entschied sich für minimale Kommunikation, da die beiden es eher nicht wert waren, dass mit ihnen übermäßig viel gesprochen wurde. Er sah die beiden fragend von unten aus seiner sitzenden Position am Mittagstisch an und zog lediglich eine Augenbraue nach oben.
„Wenn ich herausbekomme, wie Du da raus gekommen bist, stecke ich Dich wieder rein und werde dafür sorgen, dass Du auch drin bleibst!” Offensichtlich war Nico am Kochen! Er hatte Michel absichtlich ignoriert und Henne direkt angefaucht. „Und Du bist uns immer noch eine Antwort oder besser gesagt eine Plakette schuldig!”
Als Antwort bekam Nico zunächst einmal nichts. Stattdessen ließ Michel die beiden im eigenen Saft schmoren. Die Temperatur dazu hatten sie allemal. Eine gefühlte Ewigkeit später, es kostete allen Vieren ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung, erwiderte Michel ganz sachlich: „Ich deute Deine freundliche Einladung an Henne so, als dass Du gerade zugegeben hast, ihn Anfang der Woche gekidnappt zu haben. Außerdem darf ich Dich daran erinnern, dass Du selbst gesagt hast, dass die Messingschilder vor Jahrzehnten in das Holz eingearbeitet wurden und untrennbar verbunden sind. Ferner wäre ich an Deiner Stelle ganz vorsichtig, was für Einladungen Du an andere ausspricht. Oder hast Du mittlerweile die Tür aufgekommen?”
Michel hatte durch die Blume preisgegeben, dass er und damit vermutlich seine beiden Freunde ebenfalls an der Befreiung von Henne beteiligt waren. Und damit ebenfalls, dass die vier Freunde wirklich Freunde waren, die alles füreinander geben würden und es bereits getan haben.
„Was fällt Dir ein Du …” Nico wollte gerade seine Faust erheben und einen Schritt auf Michel zugehen, als er von Maik zurückgehalten wurde.
Er versuchte Nico zu beruhigen: „Hej, lass gut sein. Wir schnappen sie uns ein anderes Mal.”
Zähneknirschend und nur widerwillig ließ sich Nico von Maik wegziehen. Die vier Freunde machen sich ihrerseits kurz darauf auch wieder auf den Rückweg um in ein entspanntes Wochenende zu starten. Jeder merkte, wie die Aktion in der Mensa an Ben und natürlich besonders an Henne nagte. Dennoch wollte Henne nicht mit den Geschehnissen dieser vier Tage herausrücken.
Es war eines Abends mitten im zweiten Semester nach dem Abendessen, als sie der lauen Temperaturen wegen auf der Wiese im Innenhof lagen. Vereinzelt waren ebenfalls ein paar andere kleine Grüppchen auf dem Rasen verstreut. Aber der Abstand zwischen allen war noch so groß, dass man von den einzelnen Gesprächen nichts mitbekam. Zwar noch mit langer Hose und Pullover bekleidet, lagen sie dennoch alle im trockenen und duftenden Sommergras. Nur Henne, der verrückte Typ, trug schon seit Wochen kurze beziehungsweise abgeschnittene und ausgefranste Hosen und statt ausgelatschter Springerstiefel nun ausgelatschte Chucks. Die Sonne war gerade hinter dem Gebäude verschwunden und die fußballplatzgroße Wiese lag mittlerweile im Schatten. Da der Boden aber bereits sehr stark aufgeheizt war, würden sie hier noch ein paar Stunden sitzen können, ohne dass ihnen kalt werden würde. Zumindest könnten sie problemlos das herrliche Abendrot genießen, welches sich bald am Abendhimmel abzeichnen sollte.
„Es war grauenhaft …”
Keiner der Freunde machte einen Kommentar oder eine Regung. Aber zumindest innerlich zuckten alle zusammen, als Henne die Stille brach. Und Henne wusste, dass er in diesem Augenblick die volle Aufmerksamkeit der anderen hatte. Und dann erzählte er. Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus ihm heraus, überschlugen sich teilweise. Manchmal musste er schlucken und versuchte, Tränen zu vermeiden. Allerdings gelang ihm das nicht immer.
Wie er aus der vierten Ebene in den Keller gekommen ist, wusste er nicht mehr. Er war, genau wie Ben, auch bewusstlos und kam erst wieder zu sich, als er gefesselt auf der Streckbank einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet bekam.
Maik und Nico fragten immer nur das eine: Wo deren Plakette abgeblieben war. Sie spannten die Bank immer fester. Als er zu laut schrie, steckten sie ihm einen alten Lappen in den Mund und drehten das Rad zur Spannung der Streckbank noch eine Stufe weiter. Dann entlasten sie das Gerät wieder, nahmen ihm den Knebel aus dem Mund und fragten nach dem Schild. Da er die Antwort natürlich nicht wusste, spannten sie die Ketten erneut, bis er vor Schmerzen weinte. Das ging über Stunden. Zumindest kam es Henne so vor. Ein Zeitgefühl hatte er nämlich schon lange nicht mehr. Irgendwann ließen sie von ihm ab und verschwanden. Aber nicht ohne vorher die Streckbank auf eine mittlere Spannung gestellt zu haben. Er wusste nicht, was besser war. Die Schmerzen zuvor durch das Ziehen der Bank oder das Alleinsein und ungewisse Warten danach.
Bei den unregelmäßigen Besuchen seiner Peiniger lernte Henne dann die verschiedenen Folterinstrumente des Mittelalters kennen. Da waren diverse Schraubzwingen für die Zehen und Finger, sowie Walzen oder Peitschen mit Dornen. Auch Schläge mit Rohrstöcken auf alle möglichen und unmöglichen Körperteile ertrug er. Die gewünschte Antwort bekamen die beiden Tyrannen jedoch nicht.
Nico war sehr ungeduldig und noch dazu gewaltbereit. Glücklicherweise war Maik etwas zurückhaltender und bremste Nico dann und wann aus, wenn dieser zu brutal wurde.
„Das schlimmste war”, beendete Henne seine Schilderung, „als ich Eure Stimmen gehört habe. Ich dachte, dass ich jetzt komplett verrückt werde! Ich hab zwar unendlich gehofft, dass Ihr mich da rausholt, aber es war so unwahrscheinlich, so unwirklich …” Wieder rollten Tränen über seine Wangen. Wieder nahmen ihn die Jungs in den Arm und boten ihm Geborgenheit, bis er sich wieder beruhigt hatte und fortfuhr: „Irgendwann hatte ich es dann gerafft, dass Ihr das wirklich seid. Und dann wurde es aber nicht besser. Ganz im Gegenteil. Ich konnte mich ja nicht bemerkbar machen und Euch helfen. Es war so schrecklich!!!”
Sie saßen nicht in der Mitte der Wiese, aber auch nicht am Rand. Wäre es wirklich ein Fußballfeld mit entsprechenden Markierungen, würden sie vermutlich in der Mitte einer Spielfeldhälfte sitzen. Zumindest aber gut auf dem Präsentierteller. Den wunderschönen Sonnenuntergang hatten sie nun verpasst. Viele andere Kommilitonen in der Umgebung allerdings auch. Denn auch wenn vom gesprochenen Wort niemand anders etwas mitbekommen hatte, war dennoch weithin sichtbar, dass sich dort vier Männer gegenseitig ständig in den Arm nahmen und gegenseitig streichelten. Das würde mit Sicherheit eine gewisse Aufmerksamkeit auf sie lenken.
Es war fast ganz dunkel, als sich die Emotionen, besonders von Henne aber auch die der anderen, die bei seiner Erzählung sehr mitgelitten hatten, wieder beruhigt hatten. Die Vier gingen schließlich hinein und dazu mussten sie einmal die ganze Wiese überqueren.
„Süß”, kam es unerwartet aus der Nähe im Dunkeln.
Erschrocken zuckten die Freunde zusammen, hatten sie sich mittlerweile doch allein auf dem dunklen Hof gewähnt. Ein Blick in die Richtung, aus der das eine Wort kam, was sie erschreckt hatte, sahen sie nur noch zwei Gestalten Hand in Hand den Rasen Richtung Nordflügel verlassen. Ob es nun zwei Männer waren oder nicht, ließ sich ohne die Verfolgung aufzunehmen nicht ergründen.
Sie beschlossen, der Sache in den nächsten Tagen noch einmal auf den Grund zu gehen. Jetzt aber schlugen sie den Weg zu ihrem Südwestturm ein und landeten dort schließlich in ihrer Kuschelecke im Wohnzimmer.
Denn nun war es an den drei Rettern, die gefühlt unendliche Geschichte seiner Rettung Henne zu erzählen. Abwechselnd berichteten sie, wie sie Tag um Tag, Etage um Etage und Flügel um Flügel durchkämmt hatten. Sehr plastisch schilderte vor allem Ben, wie seine Laune von Tag zu Tag schlechter wurde. Michel war, so kam in Nachhinein raus, am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Nach außen hin war er so dermaßen konzentriert gewesen, aber innerlich hat ihn das ganze sehr aufgezehrt. FX nahm sich im Stillen vor, die Verbindung der Jungs untereinander bald deutlich zu stärken, damit so etwas nicht wieder vorkommen sollte.
Besonders hellhörig wurde Henne, als sie die geheime Tür beziehungsweise später das gesamte System versteckter Gänge fanden. Und natürlich wollte er auch unbedingt die biolumineszenten Pilzkulturen in den Fugen mit ihren vielen verschiedenen Farben sehen. Das klang alles viel zu sehr nach Science-Fiction, um wirklich wahr zu sein. Nur schwer ließ er sich auf später vertrösten, obwohl es schon viel zu spät und die Nacht bis zum Wecker und der nächsten Vorlesung viel zu kurz werden sollten.
10. Geheime Universität
Noch am selben Abend wollte Henne in die geheimen Gänge der Universität eindringen und sich diese genau inspizieren. Aber seine drei Freunde waren der Meinung, dass es definitiv noch zu früh war und er das noch nicht verkraften würde. Der Form halber schmollte Henne einen Abend lang und war die darauffolgenden drei Tage lang bockig und zickig. Aber im Geheimen wusste er selber, dass das noch keine gute Idee und viel zu früh war. Auch für die anderen Drei war diese Enthaltsamkeit nicht einfach. Auch sie brannten darauf, ohne Druck und mit einem fröhlichen Hintergrund noch einmal in diese Katakomben zu steigen.
Der Forscherdrang war geweckt. Und wie sie es in der Vorlesung gelernt hatten, starteten sie notgedrungen und zähneknirschend mit der allseits beliebten Recherche.
Fast jede freie Minute verbrachten sie in der Bibliothek. Anfangs wussten sie nicht so recht, wonach sie suchen sollten, aber schon nach wenigen Tagen hoben sich ein paar interessante Pfade aus dem wirren Chaos an Informationen hervor.
FX entdeckte die Welt der biolumineszenten Lebewesen für sich und tauchte überraschend tief in die Biologie von leuchtenden Tieren und Bakterien ein. Auch begab er sich gelegentlich auf thematische Exkursionen wie zum Beispiel Chemo- oder Magnetolumineszenz. Er lernte etwas über die unterschiedlichen Reaktionsarten, Auslöser und Aussagekraft der verschiedenen Farben.
So waren die Farben grün und gelb die dominierenden in der Tier- und Pflanzenwelt. Deutlich seltener, aber dennoch möglich, waren dazu noch rot und blau. Generell brauchen diese Bakterien nicht zwingend Sauerstoff, jedoch eine gewisse Feuchtigkeit und kohlenstoffbasierte Nahrung. Beides ist in ausreichendem Maße bereits in der Atemluft enthalten. Als Träger für diese Bakterien war nahezu jedes offenporige Material geeignet. Also auch die Fugen zwischen den Granitblöcken, folgerte FX. Und tatsächlich, so las er weiter, konnten diese Bakterien bei Nahrungsmangel über Jahrzehnte in eine Art Winterschlaf fallen und dennoch innerhalb von wenigen Minuten wieder zum Leben erwachen.
Gefährlich waren sie weder für Menschen noch Tiere. Allerdings waren die Untersuchungen in dem Bereich mangels ausreichender Zahl von Kolonien noch nicht abgeschlossen. Es wurde jedoch davon ausgegangen, dass sie keine Gesundheitsschäden hervorrufen. Bisher wurde allerdings auch kein Symbiosepartner gefunden, obwohl der Theorie nach einer existieren musste.
Ben seinerseits beschäftigte sich mit der Mechanik von Geheimtüren. Er verglich die Techniken der alten Römer, Maya oder der Ägypter miteinander. Generell beruhte deren Bauweisen immer auf absolute Wartungsfreiheit, was deren Funktionalität über Jahrhunderte hinweg garantierte. Obwohl man mit Gleitlager und Gegengewichten arbeitete, musste man unbedingt auf Seile verzichten, da diese in der Regel einem zu schnellen Verfall unterworfen waren. Stattdessen gab man daher zumeist geschlossenen Drucksystemen mit Sand oder noch leichter lauffähigen Mineralien den Vorzug. Das ganze erinnerte Ben eher an eine Art Hydrauliksystem, nur dass anstatt des flüssigen Hydrauliköls feiner Rieselsand verwendet wurde.
Henne tauchte tief in die Geschichte des Mittelalters ein. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Viele Erkenntnisse aus den Jahrhunderten davor schienen verschollen gegangen zu sein. Es war, als hätte jemand einen Reset-Schalter gefunden und dann auch noch gedrückt. Was auch immer sich derjenige dabei gedacht hat. Die Forschungsarbeiten vieler bekannter Wissenschaftler der antiken Griechen oder dem römischen Reich waren einfach weg, vergessen, vernichtet. Im Gegenzug wurden aber die erstaunlichsten Foltermethoden in dieser dunklen Zeit entwickelt. Was für ein Paradoxon. Und die Methoden aus dieser Zeit waren sehr effektiv. So hervorragend, dass sie auch heute noch von Geheimdiensten angewendet werden. Damals war der einzige Haken, dass die Kandidaten in der Regel an Infektionen durch Wunden starben, nicht an den Foltermethoden selbst. Ein Problem, das Flemming mit der Erfindung des Penicillins auch noch lösen sollte, wenn auch deutlich später.
Immer wenn Henne über eine Foltermethode las, unter der auch er leiden musste, sah er sich gezwungen, seine Recherchen zu unterbrechen. Seine Freunde merkten schnell, dass es sehr schwer für ihn war, sich mit diesem selbst gewählten Thema auseinander zu setzen, aber es half ihm auch enorm dabei, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Und es geschah nicht nur ein Mal, dass die vier Freunde ihren Abend in der Bibliothek vorzeitig beenden mussten um Henne wieder aufzubauen.
Michel studierte die Bauweise von Burgen und Schlössern. Besonders natürlich aus der Zeit und Region wo ihre Universität stand. Erstaunlicherweise war nichts, aber auch gar nichts über ihr eigenes Gemäuer zu erfahren. Weder war es in Karten oder Zeichnung abgebildet noch in irgendwelchen Registern oder Grundbüchern verzeichnet. Von Plänen ganz zu schweigen. Es war, als hätte irgendjemand peinlichst genau darauf geachtet, überhaupt keine Spuren zu hinterlassen. Aber genau das machte es besonders verdächtig.
Da es nichts Konkretes gab, analysierte er Unterlagen zu ähnlichen Bauwerken. Ähnliche Zeit, ähnliche Landschaft, ähnliche Region. Es schien zum damaligen Standard gehört zu haben, ein ganzes System an Geheimgängen zu haben. Das war für diese Zeit nichts Unübliches. Nur, dass das gesamte Gebäude quasi parallel im Geheimen noch einmal aufgebaut war, war definitiv einzigartig. Allerdings las er auch, dass es fast immer mindestens einen geheimen Ein- und Ausgang aus beziehungsweise in die Burg gab. Dabei lag das Ende solch eines geheimen Tunnels mitunter hunderte Meter vom eigentlichen Anwesen entfernt. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass auch ihre Alma Mater über solch einen Zugang verfügte.
Mehrere Wochen später war es dann endlich soweit. Alle waren der Meinung, dass Henne mittlerweile wieder stabil genug war und die Ereignisse fürs Erste ausreichend verarbeitet hatte. Auch FX hatte die ganze Zeit über öfter heimlich in die Gefühlswelt gewechselt und seinen Freund auch dort ausgiebig beobachtet. Testweise hatte er die eine oder andere Erinnerung etwas hervorgeholt um herauszufinden, wie Henne damit umging. Überraschenderweise waren keine Erinnerungen an jene Tage besonders tief vergraben und vergessen, wie es häufig vorkommt. Und außerdem reagierte Henne auf diese Reize immer sehr gefasst und den Umständen entsprechend sicher.
Und so kam es, dass sie an einem Samstagabend beschlossen, wieder in die geheime Universität einzusteigen. Dieses Mal wollten sie jedoch nicht wie beim ersten Mal im Südost-Turm einsteigen, sondern bei sich zuhause im Südwesten. Es war schon tief in der Nacht, fast drei Uhr, als sie aus ihrer Wohnung in den Vorraum und den Verbindungsraum traten. Die Sequenz hatten sich die Drei damals tief eingeprägt: Zunächst den Kronleuchter um einen Kerzenabstand im Uhrzeigersinn drehen, also 30 Grad. Dann die Fackel rechts neben der geheimen Tür etwas nach oben schieben. Und als dritten und letzten Schritt die Schublade der Kommode links neben der Tür um wenige Zentimeter öffnen.
Gesagt, getan. Und dann passierte nichts.
Außer dass sich drei junge Männer ratlos und überrascht ansahen und sich der Vierte ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
„Oh”, kam es dann auch nur von Michel, „also herausgekommen sind wir hier zumindest. Es gibt also eine Tür.”
„Diggi, wasn das für nen Spruch? ‘türlich gibt’s hier ne Tür! Halt doch mal ein brennendes Streichholz in der Nähe des Bodens davor, dann siehst Du es!”
„Es kann gut sein, dass jeder Eingang seinen eigenen Code hat”, meinte Ben. „Schließlich soll ja nicht jeder überall Zutritt haben.”
„Genau”, klinkte sich Michel ein, der sich von seiner Überraschung erstaunlich schnell wieder erholt hatte. „Nach meinen Recherchen vermute ich auch, dass man erst später den Rundgang im geheimen System vervollständigt hat. Zumindest war das bei anderen Burgen so damals. Da hatte jeder Turm sein abgeschlossenes geheimes System, was mit anderen Bereichen nicht verbunden war. Deswegen vermute ich, dass das hier, zumindest teilweise, früher bestimmt auch nicht komplett durchgängig war.”
„Dann sind verschiedene Zugänge mit verschiedenen Kombinationen also durchaus plausibel. Dann fürchte ich aber, dass es nicht nur diese drei Rädchen gibt, an denen wir drehen müssen oder können, die wir schon kennen”, vermutete Ben.
„Es sind vier”, kam es von Henne, den die anderen ganz überrascht anstarrten. Woher wollte ausgerechnet Henne so etwas wissen? Er hatte solch eine geheime Tür noch nie in Aktion gesehen!
„Ja klar, natürlich!”, fiel es auch FX wie Schuppen von den Augen.
Ben mochte es gar nicht, wenn er auf die Folter gespannt wurde und umkreiste auf seinem Board mit bösen Blicken das Trio: „Wollt Ihr uns nun an Eurer Erkenntnis teilhaben lassen oder wollen wir hier warten bis die Sonne aufgeht? Und wieso willst Du das ausgerechnet wissen, Henne?”
„Überleg doch mal. Hier ist doch alles immer irgendwie mit der Zahl Vier verbunden! Wer auch immer den Kasten gebaut hat, hatte eine Vorliebe für die Zahl Vier!”
„Und es würde mich nicht wundern, wenn man die drei ‘Schalter’, die wir gefunden haben, auf vier verschiedene Weisen betätigen könnte”, fuhr FX fort und griff mit seiner linken Hand zum Kronleuchter. Seinen rechten Gipsarm trug er heute in einer Schlinge um den Hals, stellte Michel besorgt fest. Das hatte er in all den Monaten zuvor nur zwei Mal gemacht. Es schien FX irgendwie nicht so gut zu gehen, auch wenn man ihm von dieser Kleinigkeit abgesehen überhaupt nichts anmerken konnte. Michel musterte seinen Freund sehr genau, stellte sonst aber nichts weiter fest. Aus Sorge um ihn beschloss er, weiterhin ein Auge auf FX zu werfen. In diesem Moment sah FX ihm direkt in die Augen und es stand wie auf Michels Stirn geschrieben: ERTAPPT! Sofort wurde er rot im Gesicht. Und genauso schnell verschwand die Röte wieder, als er die tiefblau leuchtenden Augen von FX wahrnahm, die trotz der Farbe gerade unglaublich beruhigend aussahen.
Und tatsächlich, der Kronleuchter ließ sich sowohl im als auch gegen den Uhrzeigersinn drehen. Und zwar entweder um eine oder zwei Abstände der Kerzen. Das machte also vier Positionen.
Ben, der auf seinem Board gerade an der Fackel vorbei gerollt war, griff danach und stellte überrascht fest, dass auch diese sich in vier Richtungen verschieben ließ: hoch, runter, rechts und links.
Alle blickten auf die Kommode und niemanden wunderte es, dass sie vier Schubladen hatte.
„Aber was habt ihr in dieser Nacht noch getan”, fragte Henne. „Es muss noch einen vierten Schalter gegeben haben, den ihr zufällig richtig aktiviert habt!”
„Spiel's noch einmal, Henne.”
„Der Spruch heißt: Spiel's noch einmal, Sam!”
„Was überhaupt?”, Henne konnte mit seinen grünen Augen einen richtig stechenden Blick aufsetzen und durchbohrte Ben fast.
„Diggi, erinnerst Du Dich noch an die Nummer, wo Du mich bei der Party nach allen Details ausgefragt hast? Du hast Sachen aus mir herausgepresst, von denen ich selbst nicht wusste, dass ich sie gesehen habe.”
„Ach so, das meinst Du. Das war doch nichts”, grinste er süffisant. „Aber gut. Konzentriert Euch, schließt die Augen und geht im Geiste zurück in den Verbindungsraum von Südost Vier, als plötzlich alles anfing sich von Geisterhand zu bewegen.”
Unter der Anleitung und den detaillierten Fragen von Henne, reproduzierten sie jedes kleinste Detail in der Nacht. Henne gab sich mit keiner Beschreibung der Drei zufrieden und hakte unentwegt nach: Wie weit hat sich der Kronleuchter gedreht? In welcher Position war die Fackel vorher? Wer stand wann wo? Wo war das Skateboard von Ben? Und seine Mütze?
In diesem Moment schoss es FX wie ein Blitz durch den Kopf. Er hatte die Mütze aus der Ferne mit einem kleinen gedanklichen Anschub unbemerkt weiter unter die Kommode gestupst, damit Maik und Niko sie nicht sahen. FX hatte sich so weit unter Kontrolle, dass man diesen inneren Schreck nach außen nicht anmerken konnte, weshalb er auch von niemandem bemerkt wurde. Stellte sich nur die Frage, ob er damals mit seiner Aktion unbemerkt den vierten Schalter betätigt hatte. Er nahm sich eine kurze Auszeit, sprang zurück in die Situation von vor einigen Monaten und berechnete in Windeseile diverse Möglichkeiten, ob sein Handeln damals …
„Ich hab's!”
Jäh würde er aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart katapultiert. Er ließ wann immer es möglich war, einen Finger am Puls der Zeit, also der realen Zeit, aus der er kam. Durchaus sinnvoll, wie sich gerade herausstellte.
Henne sah die drei triumphierend an. Seine Fragestunde mit dem anscheinend nicht enden wollenden Hin und Her hatte eine gute Stunde gedauert, aber er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.
„Alter, wenn Du nicht gleich mit der Sprache herausrückst, dann …”
Mit nur einer erwartungsvoll hochgezogenen Augenbraue stoppte Henne den halb echten und halb gespielten Wutausbruch von Ben. Als Henne sich schließlich sicher war, die ungeteilte Aufmerksamkeit aller zu haben, löste er das Rätsel: „Es sind die vier Ritterrüstungen. Sie stehen vor allen Wohnbereichen.”
„Und auch noch in allen vier Flügeln auf allen Etagen. Und genauso in der Nähe gibt es Kommoden und Kronleuchter. Fackeln hängen hier ja sowieso überall an den Wänden”, ergänzte FX aus seinem fotografischen Gedächtnis.
„Ja, fein, dann brauchen wir nur noch den richtigen Code”, seufzte Michel resigniert.
Ben konnte immerhin eine indirekte Antwort liefern: „Nun, wir können ihn herausfinden. Erinnert Ihr Euch? Als wir draußen vor der geheimen Tür resigniert dagesessen haben, hat sich durch die Aktivierung von innen alles wie von Geisterhand bewegt. Das müssen wir jetzt nur noch einmal an unserer Tür wiederholen. Zwei gehen rein, zwei gucken von draußen. Und schon haben wir den neuen Code!”
„Ja, aber wenn man wirklich überall vier Knöpfe drücken muss, wie Du gesagt hast, und was auch logisch klingt, was machen wir mit den Rüstungen? Was haben wir unbewusst beim letzten Mal gemacht?”
Henne setzte ein verschwörerisches Grinsen auf und meinte: „Ich war zwar nicht dabei, aber wenn ich Euren Bericht richtig deute, dann muss man nur die Rüstung beziehungsweise den Sockel der Rüstung herunterdrücken. Und zwar den der ersten Rüstung!”
„Und wie kommst Du Schlaumeier darauf?!?”
„Na, überleg doch mal. Hinter welchem Metallmann habt Ihr Euch versteckt? Genau. Alle zwischen dem ersten und dem zweiten. Schön kuschelig zusammengedrängt, wie ich das auch gemacht hätte. Und beim rumkrabbeln aus der Ecke hat sich bestimmt einer von Euch an dem Blechheini festgehalten und ihn damit runtergedrückt. Und das kann nur einer vor Euch gewesen sein. Es wird sich einer dran festgehalten haben.”
Prompt lief Michel tiefrot an. Die Erinnerung, wie durch das Hocken in dem engen Höschen sein Bein eingeschlafen war und er beim Aufstehen fast der Länge nach hingefallen war, schoss ihm ein weiteres Mal durch den Kopf. Er hatte es gerade seinen Freunden erzählt und doch ignoriert! Er konnte damals seinen Sturz nur durch eine Umarmung der Rüstung abfangen, die sich lediglich mit einem lauten quietschen wehrte. Selbstverständlich zog er sich durch diese laute Aktion im sonst absolut stillen Schloss den Unmut und Tadel seiner beiden Freunde auf sich. Zu dem Zeitpunkt waren die Nerven aller bis aufs Äußerste gespannt. Kein Wunder also, dass niemand gemeldet hatte, dass sich der Sockel bei der Belastung ein kleines Bisschen eindrücken ließ.
„Worauf warten wir noch”, fragte FX ungeduldig.
Daraufhin zogen er und Henne los in Richtung Südost Vier. Es waren sich alle einig, dass sie Henne die geheimen und mit den leuchtenden Fugen gespenstisch schönen Gänge nicht länger vorenthalten konnten. Und da FX mit seinem fotografischen Gedächtnis eine perfekte Karte der bisher beschritten Gänge im Kopf hatten, war die Zusammensetzung des Teams allen ohne Diskussion klar.
Die geheime Tür war schnell erreicht. FX schluckte kurz vor Nervosität, ob es ein zweites Mal gelingen würde, die Tür zu öffnen machte sich dann aber sogleich ans Werk: Erste Rüstung, Kronleuchter einmal im Uhrzeigersinn, Fackel hoch, Schublade oben.
Und tatsächlich, die Tür glitt lautlos zur Seite und verschwand in der Wand. Henne war sprachlos und auch FX war irgendetwas zwischen erstaunt, weil es tatsächlich reproduzierbar war und beruhigt, dass es wirklich geklappt hat.
„Komm”, meinte er dann auch sofort gefasst, „lass uns hineingehen, bevor uns jemand sieht.”
Kaum waren sie in dem dunklen Eingang verschwunden, schloss sich die Tür auch schon wieder.
„Wir brauchen hier kein Licht”, beruhigte FX Henne. „Unsere Augen müssen sich nur kurz an die Dunkelheit gewöhnen. Danach kann man sich hier erstaunlich gut fortbewegen. Du wirst sehen. Es ist faszinierend!”
Einige Minuten später legte FX vorsichtig seinen Gipsarm um Hennes Hüfte und fasste ihn mit der anderen Hand behutsam ans Kinn, um seinen Kopf in Richtung des Tunnels zu drehen, wo man mittlerweile deutlich und hell die grünlich leuchtenden Fugen erkennen konnte, die den Tunnel zeigten. Es sah ein bisschen aus wie im Film Matrix, nur war das hier alles andere als digital, sondern sehr analog, beziehungsweise biologisch.
Sie befanden sich in einem kleinen quadratischen Vorraum von etwa drei Metern Seitenlänge, von dem aus zwei Gänge ausgingen. Und zwar parallel zu den beiden öffentlichen Flügeln im Süden und Osten. Durch die leuchtenden Fugen war quasi nur ein Gittertunnel sichtbar, der sich scheinbar in der Unendlichkeit zu verlieren schien.
Die Luft in dem Raum war weder muffig noch abgestanden. Es schien eine recht gute Belüftung zu geben. Vermutlich wehte sogar ein leichter Wind, den sie ja bereits bei Hennes Rettung bemerkt hatten und der den entscheidenden Hinweis gab. Nur konnte man diesen Luftzug hier gerade nicht spüren. Aber vermutlich sorgte er für eine Grundversorgung der biolumineszenten Bakterien mit Nahrung, da ja bestimmt nicht mehr so viel Betrieb in diesen geheimen Gängen herrschte.
Die Stille hier drin war beängstigend und die Ohren waren es nicht gewohnt, kein Reiz zu empfangen, weshalb es sich sehr komisch und irgendwie laut anhörte in diesen Katakomben.
„Es ist …”, Henne rang nach Worten und flüsterte schließlich ein „wunderschön!”
„Definitiv ist es das. Da hat die Natur echt etwas Tolles gebastelt. Aber wir sollten nun zurückgehen. Die anderen warten schon auf uns”, mahnte FX an und ließ Henne vorsichtig aus seiner Umarmung los.
„Danke, dass ich das sehen darf!” FX blieb vor Überraschung mitten in seiner Bewegung stehen und musste zunächst seinen Kloß im Hals runterschlucken. Total verwirrt ob dieses Satzes streichelte er Henne nur einmal über den Rücken und ging dann voraus in den Gang des Südflügels.
Um den Lageplan vor seinem inneren Auge zu vervollständigen, gingen sie zunächst im vierten Obergeschoss vom Südost zum Südwest-Turm. Hier waren sie noch nie entlang gegangen, aber es müsste hier theoretisch eine Verbindung geben. Und so war es auch. Wenig später standen sie in ihrem Turm, aber im obersten Geschoss. Also ging es hinunter in den Ersten.
Wie sie bereits wussten, da sie damals das geheime Tunnelsystem hier verlassen hatten, gab es auch hier einen Vorraum, der dem anderen quasi identisch war. Sie gingen ein paar Schritte in Richtung Geheimtür und schon öffnete sich diese geräuschlos. Gleich darauf traten Ben und Michel ein, so dass nun alle im geheimen Vorraum standen.
„Alter, wart Ihr noch beim Mäckes, oder was?”
„Ben, bleib locker. Für Henne war es das erste Mal. Denk Du mal zurück …”
Damals waren die Drei jedoch so mit Adrenalin geladen und aufgeregt, dass sie quasi keine Eingewöhnung benötigten. Dieses Mal jedoch, mit etwas mehr Ruhe und Vorbereitung, konnten sie die ganze Atmosphäre auf sich wirken lassen. Selbst Ben, der sich ebenso schnell beruhigen wie aufregen kann, genoss nun sprachlos das Schauspiel der Bio-Matrix.
„Habt ihr eigentlich die neue Kombination erkennen können? Ist es eine andere? Müsste ja eigentlich ...”
„Ja, sie ist anders. Aber nur geringfügig. Es hat sich nicht der ganz rechte Ritter bewegt, sondern der daneben. Also quasi der dritte, wenn man davor steht. Und auch die Fackel ist nicht hoch, sondern nach rechts gerutscht. Das war alles. Leuchter und Schublade sind gleichgeblieben.”
„Es muss irgendeine Art Code geben. Vielleicht ...?”, mutmaßte Michel.
„Egal. Darüber können wir uns auch noch später Gedanken machen. Wohin gehen wir denn nun?” Ben konnte es kaum noch erwarten.
Sie ließen Henne entscheiden, ob sie eher in Richtung seines Kerkers gehen wollten, oder eine andere Richtung einschlagen sollten. Da sie die Kerker aber quasi schon kannten, entschieden sich die Vier dafür, herauszufinden ob es bei dieser Burg tatsächlich einen geheimen Ausgab gab.
In ihrem Turm Südwest gingen sie daher direkt nach unten. Ihre Vermutung war, dass solch ein geheimer Fluchttunnel vielleicht am Fuße eines Turmes liegen könnte und von dort aus von der Burg weg führen würde. Und vielleicht hatten sie ja Glück und fanden solch einen Tunnel direkt in ihrem Turm.
Und tatsächlich hab es im Fundament des Turmes eine weitere Tür, die von der Ausrichtung her nach außen wies, so meinte FX. Er mit seinem Orientierungssinn musste es ja wissen. Alle anderen waren bezüglich der Orientierung total verloren.
Die Tür besaß zwar diverse Riegel und Schlösser, jedoch war keines davon in Verwendung, die Tür war unverschlossen.
„Seltsam … Kommt Euch das nicht auch komisch vor? Wieso ist diese Tür nicht verschlossen? So eine massive Tür steht doch nicht sperrangelweit offen.” Michel hatte ein komisches Gefühl im Bauch und tat dies zögerlich kund.
Auch FX fühlte sich nicht recht wohl bei dem Gedanken einer offenen Tür. Das passte so gar nicht zum Konzept dieser Festung.
„Hej, Junx, durch warten werden wir das hier nicht herausbekommen.” Ben konnte es wie üblich nicht erwarten. „Und selbst wenn sie verschlossen gewesen wäre, hätte ich sie mittlerweile schon längst geöffnet”, fügte er mit einem Grinsen hinzu, öffnete die Tür und trat mit dem Skateboard in der Hand in den Gang hinaus. Konnte er nicht ein einziges Mal ohne sein Board unterwegs sein? Nein. Er hatte es immer dabei. Zu allen möglichen und unmöglichen Situationen. Es war die höchste Strafe, die man Ben auferlegen konnte, wenn man ihm das Skaten verbot.
Dieser Gang war dunkel. Absolut dunkel. Es gab hier keinerlei biolumineszente Fugen noch sonstige Lichtquellen. Ben zückte daher seine Taschenlampe und schaltete sie ein. Gleißend grelles kaltweißes Licht seiner LED Lampe durchflutete den Gang und ließ die Freunde für mehrere Momente erblinden, da ihre Augen diese Helligkeit nicht gewohnt waren. Ebenfalls durch das Licht aufgeschreckt flatterten unzählige Tiere den Tunnel entlang in die Dunkelheit. Vermutlich waren es Fledermäuse, aber erkennen konnte das niemand so recht, weil sie immer noch geblendet waren. Allerdings konnte man deren Fiepen und Kreischen sehr deutlich hören.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Licht und sie konnten erstmals den Gang in Augenschein nehmen. Das Mauerwerk des Tunnels war dem der Burg gleich. Große Blöcke aus Granit, alles sauber und ordentlich verfugt. Auch der Boden war mit einer Art Platten oder Steinen aus Granit ausgelegt. Damit endeten aber die Gemeinsamkeiten bereits. Denn hier waren die Steinblöcke bei weitem nicht so sauber und akkurat gefertigt wie innerhalb der Burg. Alles wirkte gröber und weniger filigran als innerhalb der Mauern. Die Oberflächen der Steine waren deutlich unebener, rauer und unsauberer gefertigt als innerhalb der Festung. Alles hatte hier einen deutlich weniger repräsentativen Charakter. Es war eher die B-Ware an Ausstattung. Außerdem war es in diesem Gang dreckig. Wie lang auch immer er sein möchte. Aber hier schienen sehr viele Tiere zu hausen, denn es gab unzählige Überreste von Nestern und Nahrung und den einen oder anderen Tierkadaver.
Einen Würgereiz unterdrückend gingen die vier Jungs langsam den Gang entlang, der schnurgerade im Winkel von 45 Grad von der Burg wegführte. Der Gang war schmal. Schmaler zumindest als die Gänge innerhalb der Burg. Hier konnte man nicht zu zweit nebeneinander gehen. Neben einem normal breiten Menschen hatte man vielleicht noch zwanzig Zentimeter Platz, man könnte sich also gegebenenfalls aneinander vorbei schieben. Mehr war aber definitiv nicht möglich.
Auch von der Höhe her war der Tunnel sehr beschränkt. Die sonst so weit entfernten Decken vermisste man hier sehr schmerzlich, denn der Tunnel hatte nur eine Höhe für durchschnittliche Menschen aus dem Mittelalter. Deutlich weniger also als zwei Meter. Michel musste den Kopf einziehen um nicht an die Decke zu stoßen. Ben und Henne hatten keine Probleme, allerdings putzte Henne mit seinem Iro die Decke sauber und berieselte sich selbst mit Staub, Spinnweben und anderem Dreck. Nur FX, der als zweites direkt hinter Ben ging, erinnerte an Quasimodo, weil er sich mit seinen zwei Metern und zwölf Zentimetern regelrecht zusammenfalten musste.
„Willst mein Board haben und Dich drauf knien? Diggi, ich zieh’ Dich dann.” Ben leuchtete sein Gesicht an, damit FX sein gehässig es Grinsen auch mit Sicherheit sehen konnte.
„Arsch!”
„Wasn los Diggi? Magste nicht vor mir knien?”
„Leck mich!”
„Alter, DU bist das devote Miststück, also reiß Dich am Riemen, sonst mach ich das!”
Ein Ende des Tunnels war nicht in Sicht. Sie waren schon über fünfzig Meter gegangen und es gab noch keinerlei Veränderung. Langsam entwickelten sich belanglose Gespräche zwischen den Freunden und ein Witz über FX und seinen gebückten Gang folgte dem andern.
Plötzlich jedoch machte FX einen Ausfallschritt nach vorne, so dass er unmittelbar hinter Ben stand und hielt seinen rechten Arm mit dem Gips direkt rechts neben Bens Kopf. Im selben Moment ertönte erst ein knirschen zwischen Metall und Stein und gleich darauf ein Knacken von Knochen und Schmatzen von Feuchtigkeit.
Wie versteinert standen alle Vier im Tunnel. Gefühlt geschah für viele Minuten lang nichts. Niemand schien zu atmen. Niemand schien sich zu bewegen. Nicht einmal schien jemand zu denken. Dann schließlich, wie in Zeitlupe, drehte Ben seinen Kopf nach rechts und Michel, der hinter FX stand, lugte hinter FX hervor.
Beiden entwich die Farbe aus dem Gesicht, was besonders beim braun gebrannten Michel einen erstaunlichen Effekt hatte, denn er wurde regelrecht grau. Und nur einen Augenblick später verlor er das Bewusstsein und sackte zusammen. Henne bekam ihn nicht richtig zu fassen und konnte ihn nur noch vorsichtig zu Boden dirigieren, ohne dass er mit dem Kopf irgendwo anstieß.
Ben hingegen starrte immer noch nach rechts auf den Gipsarm von FX, der keine zwei Zentimeter vor seinen Augen war. Ein spitzer Dorn aus glänzendem Metall, mindestens daumendick, hatte sich durch den Gipsarm von FX, durch dessen Ellenbogen hindurch gebohrt und guckte auf der andern Seite des Arms wieder heraus und glitzerte Ben an. Die Spitze dieses Speeres, der vierfach angespitzt war, glänzte rot durch das Blut von FX.
Ben wandte langsam seinen Blick wieder weg von dem durchbohrten Arm von FX, der nun quasi an der Steinwand des Tunnels festgenagelt war und drehte sich nach vorne in Richtung des vermuteten Ausgangs des Ganges.
Er war noch so geistesgegenwärtig, sein Board einen Tritt nach hinten zu verpassen, bevor er sich vorbeugte und sich in den Gang erbrach.
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