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Quartett

Teil 7 - Retter

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13. Retter

Wie ein vom Profi geschlagener Golfball zischte das kleine Auto durch den Wald, ohne irgendwo anzuecken. Geschmeidig nahm er alle Kurven, ohne dass die Insassen auch nur im Entferntesten den Eindruck hatten, dass sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das Niemandsland fuhren.

Ben spürte, wie sich sein Magen zusammenzog und ein mulmiges Gefühl in ihm aufstieg. Wenn FX jetzt einen Unfall bauen würde und sie Hilfe benötigten, dann würde diese erst eintreffen, wenn es schon viel zu spät war. Ben spürte, wie seine linke Hand den Türgriff fest umklammerte und das Weiße an seinen Knöcheln hervortrat.

Jedoch steuerte FX den gelben Flitzer mit einer beeindruckenden Routine zur Autobahn und reihte sich dort in den flüssigen Verkehr ein. Auf dem Beschleunigungsstreifen musste er allerdings leicht abbremsen, um sich der allgemeinen Geschwindigkeit anzupassen.

„Also laut Navi brauchen wir von hier aus jetzt gut 20 Stunden bis wir durch Deutschland durch sind und die französische Grenze erreichen”, kam es von Michel, der zusammen mit Henne hinten auf der Rückbank saß.

„Laaangweiiiliiig!”

„Wie lange müssen wir noch?”

„Ich muss mal!”

„Sind wir bald daaahaaa?“

FX atmete tief durch. Die beiden Rabauken auf der Rückbank könnten einem den letzten Nerv rauben, wenn er sie nicht so liebhaben würde.

„Kinder“, meinte er stattdessen versöhnlich. „Wenn ihr hinten die Mittelarmlehne runter klappt, dann ist da ein bisschen Wegzehrung untergebracht.” Kurz warf er einen Blick zu den beiden nach hinten, die sich gerade gespielt um irgendetwas stritten, was es gar nicht gab. Während Henne versuchte, Michel mit seinem Finger in dessen Seite zu pieken, war Michel wiederum versucht, Hennes rot-gelben Iro zu ruinieren.

Abrupt hörte der Streit auf und man hörte ein Klicken, gefolgt von einem „cool” und dann einem zweifachen Knirsch- und Zisch-Geräusch.

„War das etwa ...” Ben riss überrascht die Augen weit auf, hatte er doch das letzte Geräusch eindeutig identifiziert. Er drehte sich um und sah noch im letzten Moment, wie Michel und Henne sich mit je einer Dose Bier zuprosteten, ansetzten und diese in einem Zug austranken. Ben quittierte diese egoistische Aktion seiner Freunde nur mit einem “Kollegenschweine” und drehte sich gespielt beleidigt wieder nach vorne. Er spitzte seine Lippen zu einem Schmollmund mit und verschränkten Armen blickte er stumm aus der Frontscheibe.

„Abgeblitzt?”, kam es nur von FX.

Ben sah hinüber und stellte fest, wie er ausgiebig von FX gemustert wurde. Die Augen dieses Typen faszinierten ihn und er musste sich zusammenreißen, nicht in diesem unendlich tiefen Blau zu versinken.

Einen kurzen Augenblick später hatte sich Ben wieder unter Kontrolle und setzte sein Mitleid erregenden Hundeblick auf. Er senkte den Kopf, hielt ihn leicht schräg und blickte so von unten zu FX hinauf. Ganz langsam klimperte er ihm mit einem Wimpernschlag entgegen.

„Solch eine Performance muss belohnt werden”, lachte FX und nickte Richtung Armatur. „Handschuhfach!”

Etwas irritiert ob der überraschenden Antwort mit dem Handschuhfach verharrte Ben noch mit seinem Hundeblick um dann entschlossen Selbiges zu öffnen. Dort beförderte er zwei weitere Dosen alkoholfreies Bier zu Tage. Mit dem Grinsen eines Honigkuchenpferdes öffnete er eine der Dosen und reichte sie FX rüber. Dieser ergriff sie, hielt inne und wartete, dass Ben ihm mit der zweiten Dose kühlen Bieres zuprostete. An seiner bildeten sich bereits die ersten Rinnsale aus Kondenswasser und FX freute sich schon auf die prickelnde Erfrischung.

Doch Ben zögerte. Während FX in der linken Hand die Bierdose hielt und auf sein Zuprosten wartete, wanderte Bens Blick über dessen rechten Arm, den jener in Gips in einer Schlinge vor dem Körper trug. Das Lenkrad war völlig frei und bewegte sich hin und wieder leicht, um den Kurs zu korrigieren. Die Tachonadel hatte den Zahlenbereich der Anzeige längst verlassen, die bei 120km/h endete. Ganz offensichtlich waren sie viel zu schnell unterwegs, um einfach mal das Lenkrad los zu lassen. Irritiert brachte er ein paar Wörter heraus: „Und wer fährt?”

Nervös sah Ben vom Lenkrad zum Tacho und dann nach draußen, wie die Landschaft nur so vorbei zischte und wiederholte vorsichtig seine Frage: „Und wer fährt?” Er schluckte trocken, wusste das Grinsen von FX nicht recht zu deuten. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er zögerlich versuchte, sich selbst die Antwort zu geben: „Autopilot?”

Auch im Fond des Wagens war es verdächtig still geworden. Die Beiden hatten sich nach vorne gebeugt, so dass sie dem Geschehen vorne besser folgen konnten.

„Kann es sein, dass wir mit etwas überhöhter Geschwindigkeit unterwegs sind?”, stellte Henne nüchtern fest.

„Wie schnell fahren wir eigentlich? Dein Tacho scheint da nicht die zuverlässigste Quelle zu sein.” Michels Tonfall war ein bisschen anklagend, dennoch umspielte seine Lippen ein amüsiertes Lächeln.

„Was schätzt ihr denn?”, spielte FX den Ball lässig zurück an seine Freunde, die die Herausforderung sogleich annahmen und es entbrannte eine wilde Spekulation.

„Definitiv schneller als erlaubt.”

„200.”

„Im Leben nicht. Schneller!”

„300? Keine Ahnung, ich bin in meinem Leben noch nicht einmal mit 200 Stundenkilometern gefahren. Wie soll ich das denn abschätzen?”

„Nu sach schon, Diggi!”

„Mach 0,5.” FX ließ sich nicht lange bitten und löste das Rätsel mit einem breiten Grinsen auf. Nur kurz währte die Stille durch diese Überraschung um sogleich wieder ein einem wilden Durcheinander zu enden:

„Mach? Schallgeschwindigkeit?“

„Hej, wir sind hier im Auto und nicht im Flugzeug!“

„Das glaubst du doch selber nicht!”

„Das sind also so bummelig 500km/h. Das kann ja kaum stimmen!”

„Ich glaub, ich muss mal.” Michel war nicht ganz wohl in seiner Haut. Zwar war diese Geschwindigkeit eigentlich zu hoch, um glaubwürdig zu sein. Andererseits fuhren sie deutlich schneller als alle anderen, was ein Blick aus dem Fenster bestätigte.

Außerdem meldete sich noch seine Blase und forderte einen Sicherheitsstopp, teils wegen ihrer Füllmenge dank der leeren Bierdose, teils auch aus Panik. Neben dem Druck in der Blase verspürte er einen Knoten in der Magengegend und wollte unbedingt vermeiden, sich hier im Wagen zu übergeben. Diese Blöße wollte sich Michel definitiv nicht geben.

Henne dagegen war sauer. Sauer, dass FX wieder mit verdeckten Karten spielte und ständig ein Ass im Ärmel zu haben schien. Erst dieses komische Schrumpfen, wenn man in den Wagen einstieg. Und nun die Fahrt mit einer unglaublichen Geschwindigkeit im Autopiloten über die Autobahn. Was sollte als nächstes kommen? Würden sie an Bord der Enterprise gebeamt werden, kurz bevor ein Photonentorpedo sie traf? Langsam hatte Henne es satt mit diesen Taschenspielertricks konfrontiert zu werden. Zumal sie mit Sicherheit keine vernünftige Erklärung bekommen, sondern von FX nur auf später vertröstet werden würden. Er beschloss, nach dem Halt nicht eher in den Wagen zu steigen, bis sie eine Erklärung für all das bekommen hatten.

Derart wachgerüttelt und fokussiert beobachtete Ben vom Beifahrersitz aus das Auto und dessen Aktionen. Die Geschwindigkeit war in der Tat atemberaubend. Erneut spürte Ben, wie sich sein Hals zuschnürte und nahm zügig einen Schluck aus der Dose. Das kühle Bier prickelte in seinem Hals, was ihn sofort entspannte.

So richtig glauben konnte er es immer noch nicht. Dieses Auto war unheimlich: Der Wagen flog geradezu über die Autobahn, dennoch hatten die Räder definitiv Bodenkontakt. Wo es nötig war, wechselte er automatisch die Spuren und wich dem Verkehr aus. Hier im Osten Europas war auf der Autobahn nicht viel los, dafür war die Straße in keinem besonders gutem Zustand. Das merkte man im Wagen allerdings nicht. Offensichtlich besaß dieses Wunderauto eine ausgesprochen gute Federung. Auch hörte man keinerlei Umgebungsgeräusche. Weder Motor noch Fahrtwind waren zu hören. Nur die quasi vorbeifliegende Landschaft, wie in einem Stummfilm.

Und dann diese beeindruckenden Fahrmanöver. So fix, wie dieser Autopilot die Spuren wechselt, kann das nicht möglich sein! Zur Beruhigung trank Ben einen weiteren Schluck Bier und prüfte dann den Aufdruck der Dose, ob nicht doch Alkohol enthalten war. Ihm schien das Ganze nicht geheuer.

Der Wagen wich trotz der hohen Geschwindigkeit immer geschmeidig aus, wechselte Spuren und überholte mal von rechts und mal von links. Abrupte Fahrmanöver schienen das zu sein, aber von den rasanten Spurwechseln bekam man im Wagen absolut nichts mit. Dort war alles ruhig und man würde nicht durchgeschüttelt. Bevor Ben schlecht werden konnte, schloss er besser die Augen und hielt sich an dem Türgriff fest.

„War das gerade nicht die deutsche Grenze?”, meinte Henne verwundert und blickte zurück auf die Grenzanlagen, die nach Osteuropa nach wie vor in Benutzung waren. „Hätten wir hier nicht besser anhalten sollen? Man darf ja wohl kaum einfach so hier durchrasen, ohne dass das die Aufmerksamkeit der Zöllner weckt, oder?“

„Exakt. Wir sind etwas fixer unterwegs. Ich dachte, dass das vielleicht ganz angenehm ist, nicht den halben Urlaub im Auto zu verbringen”, triumphierte FX.

„Mir ist das alles andere als angenehm.” Ben sah grünlich aus im Gesicht.

„Was ist denn nun mit dem Zoll? Haben wir gleich die halbe Polizei im Nacken?“ Henne steckte gedanklich immer noch an der Grenze, obwohl man die schon lange nicht mehr sehen konnte.

„Keine Sorge, Henne,“ beruhigte ihn FX, „die haben uns gar nicht bemerkt.“

„Können wir trotzdem anhalten? Ich muss jetzt wirklich mal.” Michel hatte bereits die Beine übereinandergeschlagen, um dem Druck seiner Blase besser widerstehen zu können.

„Mädchen, alles Mädchen!” Ben grinste breit.

„Doofmann”, kam es von Michel nur.

„Kinder, Contenance!”, versuchte FX wieder Ruhe in die Gruppe zu bringen. Der Parkplatz den er ansteuern wollte, war nur noch wenige Minuten entfernt.

Der Wagen verzögerte, bis er wieder eine normale Geschwindigkeit erreicht hatte und reihte sich in die rechte Spur ein, um wenig später auf einem kleinen Rastplatz mit nur wenigen Autos und einem kleinen Toilettenhäuschen zum Stehen zu kommen.

Dieser Golf schien Ohren zu haben oder Wünsche zu verstehen. Zumindest kam es Ben so vor. Denn FX hatte am Auto keinerlei Knöpfe gedrückt oder andere Aktionen gestartet. Er hatte das Lenkrad weder angefasst noch irgendwelche anderen Befehle gegeben.

Mit seinem Bier in der Hand hatte FX lediglich belustigt das Gezanke seiner Freunde beobachtet und dem Wagen die Fahrt überlassen. Wieder musste Ben schlucken, um seinem Unwohlsein Einhalt zu gebieten.

Auf dem Rastplatz war nichts los. Sie waren am Abend losgefahren und mittlerweile war es Nacht und in den wenigen Wagen die dort waren, schliefen alle tief und fest.

Kaum dass der Wagen stand, war Michel auch schon heraus gestürmt und bereits auf halbem Wege zur Toilette.

„Ich glaube, das war dringend”, gluckste Henne belustigt. „Du solltest vielleicht noch etwas schneller fahren. Denn wenn Püppi alle 20 Minuten aufs Klo muss, schaffen wir das doch nicht an die Costa Brava.”

Gelächter kam nur von FX und Henne selbst. Ben hatte wortlos die Beifahrertür geöffnet und sich direkt auf den Parkplatz übergeben. Henne wollte irgendwie helfen, wurde jedoch von Ben mit wild fuchtelnden Handbewegungen davon abgehalten.

„Oh, ich glaub ich bin doch etwas schnell gefahren.” FX setzte sich auf die Motorhaube und deutete Henne mit einer einladenden Geste an, es sich ebenfalls dort gemütlich zu machen. „Keine Sorge, die Karosserie ist nicht aus dünnen Trompetenblech gemacht, das ist alles solide!“ Dieser verneinte jedoch und blieb vor ihm stehen.

„FX ...” Henne begann seinen Satz mit einer ernsten Stimmt und versuchte sich die folgenden Sätze möglichst diplomatisch zu formulieren. Er wartete, bis er die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Freundes hatte. „Ich glaub, ich verrate da kein Geheimnis, wenn ich dir jetzt sage, dass wir deine Karre etwas spooky finden. Und so ganz korrekt ist das ja auch nicht, dass du uns nicht darüber aufklären magst. Aber okay, du wirst Deine Gründe haben, aber ich find ja irgendwie, dass Freundschaft anders funktioniert.”

Betreten sah FX zu Boden und schwieg. Natürlich wusste er, dass eine Freundschaft mit Geheimnissen oder gar Lügen nicht funktionieren konnte. Aber gelogen hatte er nie, zu keinem Zeitpunkt. Nur mit der Wahrheit konnte beziehungsweise durfte er gerade nicht herausrücken. Er hasste sich dafür, dass er sich und seine Freunde in diese Zwickmühle gebracht hatte.

Er setzte an, um Henne etwas zu erwidern, wurde aber jäh durch Ben unterbrochen, dessen Magen sich wieder beruhigt hatte. Ein leichter grünlicher Schimmer war noch in seinem Gesicht erkennbar, aber seine Augen waren wieder ganz klar und zornig blickte er FX an: „Diggi, Dein Fahrstil is Mist! Deine Geheimniskrämerei is auch Mist! Du musst schon nen echt guten Grund haben für all den Scheiß hier! Es ist bald Zeit für eine Beichte und zwar eine fette!”

„Versprochen”, flüsterte FX und sah traurig auf seine Fußspitzen. Er merkte gar nicht, dass Henne plötzlich neben ihm stand und ihn in sanft in seine Arme zog.

„Anscheinend schleppst du ein ziemlich großes Päckchen mit dir herum. Du hast vielleicht noch nicht mitbekommen, dass geteiltes Leid halbes Leid ist. Vielleicht solltest du deine Freundschaft nicht zu sehr strapazieren und mal rauslassen, was dich so bedrückt.”

Auch Ben kam dicht an beide heran und legte ebenfalls seine Arme um die Freunde.

Nach einer Weile richtete sich FX zu seiner vollen Körpergröße auf, drückte seine Freunde vorsichtig etwas zurück und sah sie einen nach dem anderen an, „Versprochen!“, antwortete er mit festen Worten. „Lasst uns nur endlich an der Costa Brava sein. Dann erzähle ich euch von mir.” Die Erleichterung durch diese Ankündigung war allen Dreien direkt ins Gesicht geschrieben und ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. FX war froh, dass er sich seine Geheimnisse bald von der Seele reden konnte und auch die anderen Beiden waren erleichtert, dass die Heimlichtuerei von FX nun bald ein Ende haben sollte und sie endlich ein neues Kapitel ihrer Freundschaft aufschlagen konnten.

Gleich darauf kam Michel mit einem sehr befreiten Gesichtsausdruck wieder zurück zum Wagen. Die Stimmung der anderen hatte sich wieder auf ein normales Maß eingependelt und die Freunde waren wieder in Urlaubsstimmung und zu scherzen bereit.

Als sie sahen, wie Michel aus dem Toilettenhäuschen wieder herauskam, setzten die Drei wie abgesprochen ein anklagendes Gesicht auf. Michel hingegen sprang sofort auf das Spiel an und machte mit. Betreten sah er zu Boden, neigte den Kopf nur leicht wieder nach oben und beobachtete verlegen seine Freunde.

„Tschuldigung, aber ich konnte es wirklich nicht länger aushalten.” Ganz kleinlaut kam es nur von Michel.

„Aber das macht doch nichts! Dann bekommst du beim nächsten Mal einfach weniger Bier ab!” Henne fand seine Idee grandios und grinste hämisch.

„Waaas? Ihr seid ja gemein!”

„Hej, das hast du dir selber eingebrockt!” Ben unterstützte Henne und zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„So nun aber mal Spaß beiseite. Die Toilette ist echt sauber und vollkommen akzeptabel. Also, falls jemand muss, dann sollte er das hier tun. Alles aus feinstem Edelstahl. Sauber und riecht auch nicht. Und alles vollautomatisch. Man muss nichts anfassen. Außer vielleicht seinen eigenen kleinen Freund.”

„Wenn man denn drankommt”, schmunzelte Henne geheimnisvoll und zwinkerte Michel zu, der wiederum für einen kurzen Moment erstarrte und ihn mit offenem Mund anglotzte.

Obwohl es nicht für deren Ohren gedacht war, hatten es auch die anderen beiden aufgeschnappt und sahen nun etwas verwirrt aus. Ein adipöser Typ, der sein eigenes Gemächt schon lange nicht mehr gesehen hat, war Michel definitiv nicht. Was meinte Henne nur mit dieser Bemerkung? FX und Ben schauten sich fragend an und zuckten schließlich mit den Schultern.

„Also, wie gesagt”, Michel versuchte ganz offensichtlich abzulenken, „hier wäre die ideale Gelegenheit, um nochmal ...”

Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick bog unter lautem Hupen ein Reisebus auf den einsamen Parkplatz ein. Erschrocken zuckten die Freunde zusammen und drehten sich in Richtung Zufahrt des Parkplatzes. Der Bus legte mitten auf der Straße eine Vollbremsung hin und kam fast direkt vor den vier Freunden zum Stehen. Und dann sahen sie auch den Grund für das gewagte Fahrmanöver des Busfahrers: Dichter Qualm drang aus dem Heck des Fahrzeug wo der Motor saß. Jetzt, wo der Bus jedoch zum Stillstand kam, zog der Qualm nicht mehr nach hinten ab, sondern zog mit dem Wind nach vorne und fand auch seinen Weg in die Kabine, die innerhalb weniger Augenblicke komplett verraucht war.

Es ging alles so schnell, dass sich keiner der Freunde regte und schon waren auch sie in beißendem Rauch gehüllt und ihre Augen fingen sofort an zu tränen.

„Schnell, wir müssen Helfen!” FX war der erste, der sich überhaupt regte, noch lange, bevor die anderen überhaupt realisiert hatten, was sich eigentlich gerade vor ihren Augen abspielte. Dann fügte er noch hinzu: „Hinten auf 42B, der Junge ist wichtig!”

Ohne weiter nachzudenken befolgten sie, was FX ihnen aufgetragen hatte. Sie mussten die Menschen retten! Während Michel und FX zum vorderen Eingang des Busses liefen, eilten Ben und Henne zur hinteren Tür. Sie benötigten wertvolle Sekunden, um sich in der Dunkelheit zurecht zu finden und die Tür zu öffnen. Schließlich fanden sie einen Hebel für die Notentriegelung der Tür.

Nahezu gleichzeitig wurden sie vorne und hinten fündig, entspannten das Verriegelungssystem der Tür und öffneten diese mit einem lauten Zischen. Eine dichte Rauchschwade drang aus dem Bus und ließ die Vier heftig husten. Trotz des stechenden Rauches, der in der Brust schmerzte betraten sie waghalsig den dunklen Bus.


Am liebsten hätte FX den Club zum Teufel gejagt. Doch sein Besuch im Weiß und der Rekonvaleszenz war nicht unbemerkt geblieben. Durch die Aktion im Geheimgang, wo sein Arm aufgespießt und zertrümmert wurde, hätte er in keinem Krankenhaus ein zufriedenstellendes Ergebnis bekommen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als die Flucht ins Weiß und die dortige Heilung. Allerdings war dadurch zu viel Staub aufgewirbelt worden und lediglich eine Frage der Zeit gewesen, wann die nächste Anfrage kommen würde. Und dem war auch so.

Und so kam es auch. Der Club meldete sich bei ihm mit einem kleinen aber sehr wichtigen Auftrag. Als ob es jemals unwichtige gegeben hätte. Sie einigten sich auf einen eins-zu-eins Tausch. Diese Aktion gegen seinen Besuch im Weiß. Ein faires Geschäft, wie er im Nachhinein fand.

Der Junge ist wichtig. Nur warum war der Junge auf Sitz 42B wichtig? Warum wollte ihm jemand etwas antun? So ein kleiner Junge war doch harmlos. Was wird eines Tages seine Aufgabe sein? Wer hatte den Auftrag erteilt, ihn aus dem Verkehr zu ziehen?

Immer die gleichen Fragen, die FX bei einem Auftrag durch den Kopf schossen. Wieso, weshalb, warum. Nur selten erlag FX der Versuchung, weitere Recherchen anzustellen. Würde er jedes Mal die ganze Geschichte nachschauen, würde ihm mit Sicherheit wegen all der Informationen eines Tages der Kopf platzen.

Wirklich wichtig waren die Hintergründe nicht, sonst würde der Club ihn darauf hinweisen. Manchmal, wenn der Auftrag sehr interessant war, dann stellte FX doch Nachforschungen an, obwohl es streng verboten war. Sie konnten es ohnehin nicht verhindern, denn er war gut und sogar einer der besten, Eggsy und seiner Ausbildung sei Dank. Er genoss eine gewisse Narrenfreiheit, die er schlicht ausnutzte, weil er es konnte!

Bei diesem Jungen hatte er aber keine Lust, tiefer zu bohren. Er wollte nur mit seinen Freunden zum Zelten an die Costa Brava und schon wieder in sein altes Leben zurückkehren. Er wollte Spaß haben. Er beschloss einfach nur den Auftrag auszuführen, den Jungen aus dem brennenden Bus zu retten und dann weiter gen Süden zu fahren, um einen geilen Urlaub mit den Menschen zu verbringen, die er so in sein Herz geschlossen hatte. Vorerst galt es noch fünfzig weitere Menschen aus dem Bus retten.

Zugegebenermaßen war es etwas unfair von FX, Michel derart zu manipulieren und seine Blase auf Hochtouren zu bringen. Aber es war die einfachste und schnellste Methode, genau dort einen zufälligen Zwischenhalt einzulegen, wo er es brauchte.

Die Tatsache, dass er bei diesem Auftrag nicht allein war, machte es deutlich einfacher. Zwar musste er einen Teil seiner Aufmerksamkeit und Energie auf seine Freunde aufwenden, damit sie geschützt waren und nicht selbst zu Schaden kommen würden. Aber dieses kleine Multitasking war eine nette Aufwärmübung.

Innerlich gab er sich einen Ruck, spannte alle Muskeln in seinem Körper an, um sich vollkommen auf die kommende Aufgabe zu konzentrieren.

Der Rauch im Bus war dabei unerheblich, schließlich gab es viele Möglichkeiten für FX, den Kontakt zu seinen Freunden aufrecht zu halten. Er würde es sich nie verzeihen, wenn ihnen etwas zustoßen würde.

Für ihn selbst waren solche Rettungsaktionen absolute Routine. Er hätte es auch alleine machen können. Aber er wollte es aus vielerlei Gründen nicht. Auf der Gefühlsebene hatte er schon bemerkt, dass seine drei Freunde etwas Besonderes an sich hatten. Dies galt es weiter zu ergründen und sie vorsichtig zu testen.

FX hatte die Vermutung oder eher die Hoffnung, dass mehr in ihnen steckte. Und genau das wollte er aus ihnen herauskitzeln. Nicht, dass er sie für den Club rekrutieren wollte. Vielleicht. Aber das hatte nicht er zu entscheiden. Diese Rettungsaktion war ideal, um die Jungs, seine ‚Junx‘ zu testen.

Den ersten Test hatten sie schon jetzt bestanden: Wie selbstverständlich machten sie bei der Rettungsaktion mit und niemand zögerte oder weigerte sich. Jetzt musste er herausfinden, wie effektiv und ausdauernd sie an dieser Sache arbeiten würden.

Ohne Einsatz besonderer Kräfte war die Bergung von so vielen Menschen aus einem brennenden Bus alles andere als ein Spaziergang. Es würde für alle ein körperlicher Kraftakt werden, aber mit ein bisschen Führung und ein bisschen Schutz von FX war das der ideale Belastungstest.

Eggsy hatte ihn immer wieder gequält und bis in die Erschöpfung getrieben. Er war ein unerbittlicher Lehrmeister und hatte FX trainiert, bis er seine Sinne aufs äußerste erweitert hatte. Fast wie Fledermäuse konnte er sich an Hand von Schallwellen orientieren und auch noch in absoluter Dunkelheit durch die Wärmestrahlung im Infrarotbereich sehen.

So hatte FX viele Möglichkeiten, seine Freunde ständig im Blick zu haben, ihnen im Zweifelsfall beiseite zu stehen oder sie kurzerhand aus der Situation herausholen, wenn es wirklich brenzlig werden sollte.

Er ging einen Schritt weiter, als nur den visuellen Kontakt zu Ben, Henne und Michel aufrecht zu halten. Über die mentale Ebene hatte er ständig Kenntnis über deren Gemütszustand, ob sie überlastet waren oder kurz vor einer Panik standen. Er würde sofort eingreifen und beruhigende Signale aussenden, falls es erforderlich war. Die Drei waren zwar gerade sehr nervös und aufgeregt. Erleichtert stellte FX fest, dass sie ihre Angst sehr gut in Schach halten konnten.

Das Wohlergehen seiner Freunde lag ihm sehr am Herzen. Damit wirklich niemandem etwas passieren konnte, sicherte FX seine Freunde mit einem Kraftfeld ab. Es war gerade so stark, dass es den größten Teil des Qualmes und der Hitze von ihnen abhielt, aber dennoch etwas durchlässig genug, dass man im Inneren nach wie vor eine Ahnung hatte, was für raue Begebenheiten außerhalb herrschten.

Er spulte das auswendig gelernte Programm ganz automatisch ab und stellte sich eine kleine Seifenblase vor, die in der Luft schwebte und im Licht bunt schillerte. Dann blies er sie vorsichtig auf, bis sie etwa die Größe eines Motorradhelms hatte. Die Blase waberte langsam im Wind, ohne zu zerplatzen. Als nächstes duplizierte FX die Blase, bis vor ihm nun vier dieser bunten Kugeln schwebten. Ein wohliger Schauer krabbelte seinen Rücken hinauf und ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er das schöne Schillern der Seifenblasen auf dem sonst dunklen Autobahnparkplatz beobachtete. Die Zeit war stehengeblieben, nichts außer er selbst und seine Seifenblasen bewegte sich.

Vorsichtig blies er je eine dieser Blasen in Richtung seiner Freunde, um ihnen diese schützenden Helme überzustülpen. Kurz bevor die Kraftfelder an ihren Zielen ankamen, vernahm er ein leises Klirren und sah entsetzt, wie seine vier Blasen in tausend Scherben zerbrachen, in Richtung Boden fielen und sich in Nichts auflösten, noch bevor sie diesen erreichten.

FX war aufgebracht und verfluchte sich selbst. Ein gepresstes „Scheiße“ entwich ihm und verhallte ungehört auf dem Parkplatz. Wie konnte er nur so aus der Übung kommen? Früher hätte er problemlos ein Dutzend mobiler Kraftfelder erzeugen und aufrechterhalten können. Diese Selbstverteidigungsübung hatte Eggsy ihn immer und immer wieder üben lassen. Wie ein Jongleur mit Bällen musste er Kraftfelder verschiedenster Größe erzeugen und durch die Gegend schieben, ohne dass diese sich in der Größe veränderten oder gar kollabierten. Jetzt nahm die Erzeugung von nur vier Feldern schon einen Großteil seiner Aufmerksamkeit ein und war dann noch nicht einmal von Erfolg gekrönt.

Natürlich gab es nicht DAS Kraftfeld. Unzählige Variationen konnte man erzeugen, wenn man es denn beherrschte. Sie konnten alles Mögliche abschirmen oder durchlassen. Oder auch nur teilweise durchlässig sein. Für Personen, für Stoffe oder sogar für Informationen! Sie konnten unsichtbar sein, wundervoll schimmernd und halbtransparent oder aber auch komplett undurchsichtig sein. An Variationsmöglichkeiten gab es keinerlei Grenzen, außer die der Phantasie ihres Erzeugers. FX favorisierte meistens die halbtransparenten und regenbogenfarbig schimmernden Seifenblasen. Er war nie sonderlich kreativ, was das Aussehen seiner Kraftfelder anbelangte, dafür aber umso besser in Bezug auf deren Funktionalität.

Er mochte den Namen Schutzschild nicht besonders, der gerne in irgendwelchen Science-Fiction-Filmen verwendet wurde. Häufig war dieses Feld ein Schutzschild, gewiss, aber auch diese Medaille hatte ihre zwei Seiten. Problemlos ließ sich mit solch einem Kraftfeld auch Materie zerteilen. Gerade in der Anfangszeit seiner Ausbildung ist ihm das sehr bildlich bewusst geworden. Einmal hatte er einen massiven Amboss mit seinem Kraftfeld zerteilt, obwohl er diesen doch einfach nur umschließen und hochheben sollte. Aber die unerbittlichen Übungen von Eggsy, der neben einer Engelsgeduld auch eine Unnachgiebigkeit eines Ambosses‘ mitbrachte, fruchtete schließlich, so dass er endlich die lang ersehnte Erlaubnis bekam, seine Felder auch an Menschen ausprobieren zu dürfen.

Heute jedoch war ihm das Aussehen komplett egal. Er brauchte nur dringend irgendein verdammtes Kraftfeld, damit seine Freunde und er in dem verrauchten Bus nicht erstickten. Er spürte, wie leichte Panik in ihm aufstieg.

„Los, konzentrier dich“, feuerte er sich selbst an. „Das ist eine Aufgabe für Erstsemester!“

Für den zweiten Versuch verzichtete er auf Schnörkel. Die vier Blasen waren diesmal komplett durchsichtig. Für diese langweilige Variante musste er sich deutlich weniger konzentrieren und diesmal gelang es ihm, die Kraftfelder stabil zu halten und sich und seinen Freunden überzustülpen.

Wie eine zweite Haut umgaben die transparenten Felder nun die vier Freunde und FX jauchzte kurz vor Freude. Schnell justierte er noch die Durchlässigkeit der Kraftfelder, so dass ein Großteil des giftigen Rauchs zurückgehalten wurde. Es wäre zu auffällig gewesen, wenn seine Freunde auf einmal gar keinen Rauch mehr einatmen würden. Das hätte in diesem Moment die nächste Lawine an Fragen ausgelöst, und das konnte er derzeit überhaupt nicht gebrauchen. Daher beschränkte er sich auf ein dämpfendes Feld, welches noch einen begrenzten Kontakt zur äußeren Umwelt zuließ.

Wie ein Schutzanzug hatte er sich und seine Freunde in ein unsichtbares Feld gesteckt. Niemand hatte etwas mitbekommen, weder vom ersten Fehlversuch noch von den nun stabilen Kraftfeldern. Für Außenstehende war es nahezu geräuschlos und auch unsichtbar abgelaufen. Man musste schon sehr genau drauf achten, um es zu bemerken. Es kostete ihm allerdings ungewohnt viel Aufmerksamkeit und Konzentration, das Kraftfeld um seine Freunde zu belassen. Hatte er nicht etwas vergessen?

BLEIB, gab er seinen Feldern als Befehlt mit auf dem Weg und streckte jedem Feld die Handfläche entgegen. Und dann spürte er es. Die Verbindung zu ihm löste sich, als ob eine Verbindungsschnur zwischen ihm und den drei Feldern gekappt wurde. Die Felder waren abgenabelt und eigenständig. Jetzt konnte die Rettungsaktion endlich losgehen.


Die Türen des Busses öffneten sich und eine dichte und beißende Qualmwolke drang aus dem Bus heraus. Jetzt hieß es sich zu beeilen, denn in dieser verrauchten Büchse konnte niemand lange überleben. Weil ein geringer Teil des Qualms wie geplant durch das Kraftfeld trat mussten alle sofort heftig husten, als sie den ersten Atemzug in der schwarzen Wolke taten.

Sie gingen hinein, zwei vorne, zwei hinten. Obwohl die Orientierung in einem Bus ziemlich einfach ist, mehr als vorwärts oder rückwärts ist schließlich nicht möglich, war es sehr schwer, einen Überblick über die Situation zu bekommen und zu wissen wo man war und vor allem wo sich der nächste Ausgang befand! Es war stockfinster. Sowohl draußen als auch im Bus. Die Sonne würde erst später aufgehen und die Parkplatzbeleuchtung war eher spärlich und drang nicht durch den dichten Qualm hindurch.

Michel und FX betraten vorsichtig den Bus und als erstes fiel ihnen der Fahrer mehr oder weniger entgegen. In dem schmalen Gang war es einfach, ihn aufzufangen. Rückwärts zogen sie ihn aus dem Bus heraus und legten ihn vorsichtig an den Straßenrand. Viel mehr konnten sie erst mal nicht für ihn tun, sie mussten sich um die übrigen Fahrgäste kümmern und sie retten.

Einen nach dem andern zogen sie aus dem Bus heraus. Und mittlerweile waren mehr verwundete Menschen vor dem Bus, als in dem Bus. FX brachte sich den eigentlichen Sinn seiner Mission wieder in den Sinn: Der Junge auf 42B. Er selbst war aus gutem Grund nicht hinten eingestiegen, sondern barg mit Michel zusammen die Opfer aus der vorderen Hälfte des Busses. Es waren Ben und Henne, die sich um den hinteren Teil der Kabine kümmerten und damit auch den Jungen finden mussten. Dennoch musste FX wissen, ob es dem Jungen gut ging! Er wusste nicht wie er aussah, aber er wusste, dass er ihn erkennen würde, wenn er ihn denn sähe.


FX konnte schon früh die Gedanken anderer Menschen lesen. Neugierde gehörte sowohl zu seinen Stärken als auch zu seinen Schwächen. Eggsy hatte ihm wegen unerlaubten Gedankenlesens oft getadelt.

Früher hatte er so etwas aus lauter Langeweile nebenbei gemacht, sich in anderer Menschen Bewusstsein einzuklinken und dort mitzulesen. Es war immer aufregend, ein und dieselbe Situation aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig zu erleben. An schönen Sommertagen setzte er sich dafür gerne in ein Café oder einfach auf die Wiese im Stadtpark und ließ seinen Geist schweifen, bis er eine interessante Situation fand. In der Regel wurde er schnell fündig und klinkte sich dann unbemerkt in das Bewusstsein mehrerer Menschen ein. Er sah dann mit deren Augen, hörte mit deren Ohren und manchmal las er sogar deren Gedanken. Meist beließ er es immer bei der Beobachtung des Umfeldes durch mehrere Menschen aus verschiedenen Perspektiven. Es war schon interessant, wie unterschiedliche Menschen mit anderen kulturellen und sozialen Hintergründen ein und dieselbe Situation wahrnahmen.

Es war Sommer, er saß in der Bahn und musste ans andere Ende der Stadt fahren. Es sollte also eine längere und langweilige Fahrt werden. Also zapfte er gleich ein halbes Dutzend verschiedene Menschen an, in der Hoffnung, dass irgendeiner etwas halbwegs Spannendes sehen würde. Selbstverständlich hätte er auch sein Handy aus der Tasche ziehen können und wie die Mehrheit aller anderen Fahrgäste geistesabwesend und mit gesenktem Kopf auf das kleine leuchtende Gerät starren können. Aber das empfand er als noch langweiliger, als aus dem Fenster zu schauen.

Immerhin hatten die meisten Leute, dessen Augen er sich geliehen hatte, einen guten Geschmack. Sie schauten aus dem Fenster oder musterten andere Fahrgäste bei ihrem Tun und es stellte sich heraus, dass die meisten nur hübsche Menschen beobachteten. Warum auch nicht. Er hätte es ja genau so gemacht. Nur einer von ihnen hatte seinen Blick immer auf negative Dinge gerichtet: ausgebrannt Mülleimer, zerbrochene Fensterscheiben, zerbeulte Autos. FX war erschrocken. Wie konnte genau die gleiche Welt so unterschiedlich sein? Aus den Augen des offensichtlich sehr negativ eingestellten Menschen war die Welt auch deutlich blasser und farbloser, als durch die Augen der übrigen Fahrgäste betrachtet. Schnell scannte FX den Gemütszustand seines Miesepeters und auch dort stellte er fest, dass dieser nur wie eine matte schwarze Pfütze aussah.

Die Traurigkeit des Typen war so intensiv, dass auch prompt seine eigene Laune abzusacken drohte. FX entschied sich für einen kleinen Test mit diesem Trauerkloß: Er wechselte auf die Gefühlsebene und suchte den Typen mit der Weltuntergangsstimmung. Solch ein Mensch fiel auch in der Gefühlsebene sofort auf. Er war fast so wie ein kleines schwarzes Loch, welches alle Freunde absorbiert.

Er schickte ihm ein kurzes aber sehr intensives wunderschönes Gefühl hinüber: Der Duft einer bunten Blumenwiese, die sich im lauen Sommerwind leicht hin und her bewegt. Kurz leuchtete die Aura dieses Mannes in allen Regenbogenfarben auf! Innerlich vollführte FX einen freudigen Luftsprung und musste schmunzeln. Immerhin ist der Typ zu Gefühlsregungen fähig. Es ist also noch nicht Hopfen und Malz verloren.

Gleichzeitig mit dem Versenden dieses schönen Gedankens beobachtete er die Welt durch seine Augen. Und tatsächlich, es gab da einen Zusammenhang: Als wenn man die Farbe bei einem Fernseher wieder hineingedreht hatte, wurde seine Welt für einen Augenblick bunt, hell und freundlich! FX hoffte, dass dieser kurze Aha-Effekt dem Mann die Augen etwas geöffnet hatte. Ihn selbst bestätigte es zumindest, dass es sich lohnt, die Welt freundlich in Empfang zu nehmen.

Der nächste freundliche Empfang wartet bereits an der nächsten Haltestelle: Die Türen öffneten sich und Menschenmassen strömten hinein. Sie erreichten langsam die Innenstadt und es wurde erwartungsgemäß voller. Als einer der letzten kam ein junger Typ auf Krücken in die Bahn gehumpelt.

FX war ganz verzückt nach dem Typen und rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, weil er ihn nicht so gut sehen konnte, wie er wollte. Der Kerl allerdings sah alles andere als glücklich aus! Er mühte sich ganz offensichtlich mit seinen Krücken ab und hatte es mit letzter Kraft in die Bahn hineingeschafft. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er war außer Atem. Da in der Bahn zu voll war und FX zu weit weg saß, konnte er den Grund für die Krücken nicht erkennen. Praktischerweise aber erzeugt so ein Auftreten eine gewisse Aufmerksamkeit, so dass fast alle Fahrgäste auf ihn aufmerksam wurden und ihn zumindest kurz direkt und danach verstohlen aus dem Augenwinkel anstarrten, was sich FX zu Nutze machte und sich die Augen eines dichter dran sitzenden Fahrgastes auslieh.

Der Typ hatte nicht nur ein ansehnliches Gesicht welches von einem sauber getrimmten Dreitagebart hübsch eingerahmt wurde, auch der restliche Körper war durchaus vorzeigbar. Das T-Shirt war vermutlich eine Nummer zu klein, aber was darunter an Muskeln durchschien, ließ das Shirt nahezu komplett in Vergessenheit geraten. Die Brustwarten dieses jungen Mannes zeichneten sich überdeutlich durch das Shirt ab.

FX musste sich sehr zusammenreißen, um seine geliehenen Augen nicht zu offensichtlich zu kontrollieren und den süßen Typen anzustarren. Aber dieser Kerl machte Appetit auf mehr. Vorsichtig steuerte er den Blick des Fremden den er gekapert hatte weiter nach unten. Eine kurze Sporthose erreichte sein Sichtfeld, sowie hohe Basketball-Sneaker und Tube-Socks. Zumindest an einem Bein. Das Zweite hingegen steckte in einem blauen Gips mit vielen Unterschriften drauf, wo nur die Zehen vorne rausschauten und die mit jedem Schritt lustig wackelten. Zu gerne hätte er diese süßen Zehen gekitzelt.

Fast jeder in der Bahn hatte den Süßen bemerkt, das war FX bereits aufgefallen. Aber nicht einer machte auch nur Anstalten, seinen Platz anzubieten. Wieso steht denn keiner auf? FX war verwundert über die anderen Fahrgäste und besorgt um den jungen Typen. Er sollte sich hinsetzen, bevor die Bahn losfährt, denn sonst fliegt er doch bestimmt gleich hin und bricht sich womöglich noch das andere Bein!

Und so kam es dann auch. Die Bahn fuhr an, der süße Typ verlor das Gleichgewicht und dann passierten plötzlich mehrere Dinge nahezu unbemerkt und gleichzeitig: FX tauschte mit der alten Dame kurzerhand die Plätze. Kein Knall und Rauch wie bei David Copperfield, keine Lichteffekte wie bei Startrek. Die beiden waren einfach nur vertauscht: Gerade eben saß die Dame noch am Eingang und FX zwei Reihen weiter davon entfernt. Und den Bruchteil einer Sekunde später saß die Frau auf dem Platz von FX und dieser am Eingang, als ob das schon seit mehreren Stationen dort gesessen hatte.

Der Typ verlor das Gleichgewicht und drohte auf den Platz zu fallen, wo jetzt FX saß. Doch im selben Augenblick stand FX auf, ging zur Seite und fing den Krücken-Boy mit den Worten auf: „Entschuldige, ich hab‘ dich nicht gesehen, möchtest du dich hinsetzen?”

Mit einer geschmeidigen Bewegung und den Schwung des Sturzes nutzend, setzte er den jungen Mann vorsichtig auf den Platz, wo er gerade eben noch selbst gesessen hatte.

Neugierig, wie seine Slapstick-Performance wohl ausgesehen haben mochte, blickte er kurz in die Köpfe der anderen und stellte fest, dass seine Einlage fast schon reif fürs Fernsehen war. Nur an seinem eigenen Gesichtsausdruck musste FX noch arbeiten, stellte er selbstkritisch fest. Er sah doch sehr verkrampft aus bei diesem Stunt. Aber leider ergab sich solch eine aufregende Situation nicht jeden Tag. Von solch einem hübschen Typen mal ganz abgesehen.

Natürlich war das Auffangen des verletzten Boys im Gegensatz zum Platztausch mit der Oma nicht unbemerkt geblieben. Er stellte fest, dass sich jetzt fast jeder der anwesenden Fahrgäste Vorwürfe machte, seinen Sitzplatz nicht angeboten zu haben. Selbst eine schwangere Frau und ein älterer Herr war es sichtlich unwohl, dass auch sie ihren Platz nicht frei gemacht hatten. FX war beruhigt und erleichtert, dass dieser kleine Stunt von allen registriert wurde.

FX wandte sich wieder dem Typen zu, den er gerade vor dem Sturz aufgefangen und auf den Sitzplatz komplementiert hatte. Er blickte in ein paar überraschte Augen, die ihn weit aufgerissen anstarrten.

„Also beim Basketball ist dir das nicht passiert, denn du spielst gar kein Basketball. Aber die Sneax und Sox stehen Dir trotzdem!” Die Bahn erreichte die nächste Station und FX stieg mit einem Augenzwinkern und einem „gute Besserung” aus.

Wie sich der süße Boy mit den Krücken abgekämpft hatte, tat FX so leid, dass er ihn im Hinausgehen noch spontan heilte und seine Verletzung einfach mitnahm. Zurück blieb ein verdattert dreinschauender Typ mit jetzt zwei gesunden Beinen, der FX hinterherblickte.

Endlich hatte FX die zündende Idee, wie er mit seinen Fähigkeiten des Heilens anderer umgehen sollte. Nur auf die dusseligen Krücken würde er verzichten.


Der Junge war aus dem brennenden Bus immer noch nicht gerettet worden. Zumindest hatte FX ihn noch nicht gesehen. Also beschloss er, sich alle von Ben und Henne geretteten Personen im Schnelldurchlauf durch deren Augen anzusehen.

In gleicher Manier klinkte sich FX in die Köpfe seiner Freunde ein und lieh sich deren Augen, um in den hinteren Teil des Buses zu schauen. Als er an der Reihe 42 vorbeikam sah FX aus Bens Augenwinkeln, dass niemand mehr dort saß. Also musste dieser Junge bereits draußen und gerettet sein, er hatte ihn offensichtlich übersehen. Erleichtert zog sich FX wieder aus den Köpfen seiner Freunde zurück und verließ den Bus mit einem weiteren Opfer im Huckepack. Draußen angekommen ließ er seinen Blick über die Geretteten schweifen, in der Hoffnung, den Jungen zu finden. Es dämmerte langsam der Morgen, was ihm seine Suche erleichterte. Aber sie blieb erfolglos, denn bei niemandem machte es „klick” in seinem Kopf, niemand der Geretteten schien der wichtige Junge zu sein.

FX wurde langsam nervös, da der Junge nicht auffindbar war. War er gerettet worden und abgehauen? Das wäre okay. Sein Auftrag lautete nur, ihn aus dem brennenden Bus zu retten. Alles weitere würden andere übernehmen oder auch der Junge selbst. Oder war er doch noch nicht gerettet? FX war verwirrt. Er kehrte in Gedanken wieder in die Köpfe von Ben und Henne zurück und fing an, ganz unauffällig die letzten Erinnerungen der beiden zu durchsuchen und nach dem Gesicht des Jungen Ausschau zu halten.

Bei Ben wurde FX nicht fündig. Ben hatte jedem seiner Geretteten sehr intensiv ins Gesicht gesehen und sich dieses gemerkt. Es war sehr einfach, wenn auch enttäuschend für FX, weil erfolglos. Henne hingegen mauerte und ließ sich nicht in die Erinnerungen schauen. Unterbewusst hatte er sich sehr gut abgeschottet. FX war etwas verwundert darüber. Wieso versteckte Henne etwas? Und was? Er nahm sich vor, Henne vorsichtig darauf anzusprechen beziehungsweise bei passender Gelegenheit das Gespräch in eine entsprechende Richtung zu lenken. Da war vermutlich etwas in Henne, was aufgearbeitet werden sollte. Natürlich waren solch eine Barriere und ein Verdrängen von Erinnerungen kein wirkliches Hindernis für FX. Dafür bedarf es schon einer ausgeklügelteren Gegenwehr. Für FX bedeutete es aber, dass er mit Fingerspitzengefühl und ganz vorsichtig in Hennes Erinnerungen graben musste.

Enttäuscht stellte er abermals fest, dass auch Henne den Jungen nicht gerettet hatte, er also noch im Bus sein musste! Er pflanzte den Beiden erneut den Gedanken von vorhin ein: Der Junge ist wichtig! Und dieser Gedanke wurde von den Beiden ganz automatisch in die Tat umgesetzt, denn unmittelbar darauf rief Ben zu Henne hinüber: „Wir haben den Jungen noch nicht gefunden! Der Junge ist wichtig!”

Mittlerweile waren alle Fahrgäste aus dem Bus geborgen und lagen um das Fahrzeug herum auf der Fahrbahn verstreut. Die meisten von ihnen waren ansprechbar und halbwegs wohlauf. Einige jedoch lagen bewusstlos am Boden. Michel und FX kümmerten sich um diese Opfer, während Ben und Henne den Bus nach dem Jungen durchkämmten. Nachdem sie zunächst alle Sitzreihen erneut kontrolliert hatten, überprüften sie im zweiten Durchlauf den Fußbereich unter den Sitzen. Aber auch dort war außer unzähliger Handgepäckstücke nichts weiter zu finden. Immerhin war hier unten der Rauch nicht so intensiv und beißend, wie oben.

Schließlich hatte Henne den rettenden Einfall: Die Toilette! Es war etwas kniffelig, die verriegelte Tür zu öffnen, aber als sie es endlich geschafft hatten, blickten sie überrascht in ein nicht minder überraschtes Gesicht eines Zwölfjährigen, der sich gerade die Hände wusch. Die Luft in der Toilette war durch die verschlossene Tür immer noch hervorragend und er hatte von all dem Chaos um ihn herum nichts mitbekommen.

Henne schnappte sich den Jungen, gab Ben ein taktisches Zeichen zum Rückzug und sie zogen sich erleichtert aus dem Bus zurück ins rettende Freie!

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