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Quartett
Teil 18 - Raum
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
„Diggi, haste nu rausgefunden, warum der Nico denn noch hier is?”
Ben lag gelangweilt auf dem Sofa und blickte herausfordernd zu FX hinüber, der unweit im Sessel saß und seine langen Beine auf dem kleinen Tisch ausgestreckt hatte.
„Neee, wieso? Ist das wichtig?”
„Nö.”
Ben sah wieder weg und warf gelangweilt sein Telefon in die Luft, so dass es sich mehrfach um die eigene Achse drehte, bevor er es wieder auffing.
FX ahnte bereits, dass die Frage eher rhetorischer Natur war und dass Ben die Antwort natürlich parat hatte. Dennoch wollte er es ihm nicht zu einfach machen und ließ ihn daher zappeln.
„Wie kommst Du überhaupt jetzt wieder auf das Thema? Das mit der Mensa war doch schon vorletzte Woche.”
„Nur so. Fiel mir einfach gerade nur so ein.”
Erneut flog sein Handy wirbelnd durch die Luft.
„Mir is langweilig, Diggi.”
„Ach, echt? Wär ich jetzt nicht drauf gekommen.”
Nun war es FX, der keck zu Ben hinüber blickte und mit einem Auge zwinkerte.
„Wenn Dir langweilig ist, hättest Du ja auch mit den anderen Beiden rüber zum Sport gehen können. Michel wollte Henne ein paar neue Übungen zeigen und danach wollten sie noch zur Entspannung etwas in die Sauna gehen.”
„Er is kleben geblieben!”
Ben wechselte wieder auf das ursprüngliche Thema, weil er ohnehin kein Interesse an Michels Sportprogramm hatte und viel lieber seine neuen Informationen bezüglich Nico loswerden wollte. Er sah FX herausfordernd an. Aber enttäuscht stellte er fest, dass FX sein Spiel durchschaut hatte, und so die erhoffte Rückfrage ausbleiben würde. Daher fuhr er nach einer kurzen dramaturgischen Pause einfach fort.
„Eigentlich kann man hier in dieser Luxus-Uni gar nich durchfallen und ein Semester wiederholen. Es werden ja immer alle in der Regelstudienzeit fertig. Damit machen die Bonzen ja hier auch genuch Werbung! Aber wenn’s wohl ganz mies läuft, dann muss man wohl doch noch ‘ne Ehrenrunde drehen. Nur dass die das hier dann als freiwillige Arbeitssemester nach Studienabschluss tarnen.”
Triumphierend blickte Ben seinen Freund FX an, der den Blick nahezu unbeeindruckt entgegnete. FX war in seinen Gedanken gerade ganz woanders. Dieser eine Satz von Ben mit der Elite-Universität katapultierte ihn urplötzlich wieder zurück in seine nahe Vergangenheit. Weder er noch vermutlich seine drei Freunde hätten sich ein Studium an dieser Universität leisten können. Ein glücklicher Zufall jedoch brachte sie alle hier zusammen, als sie ein Stipendium gewonnen hatten.
Ein schnelles Lächeln huschte über FX Lippen, als er realisierte, was für eine glückliche Fügung die Vier hier zusammen gebracht hatte. Und nun saß er hier mit Ben alleine in ihrem Wohnzimmer und sein Freund versuchte krampfhaft, die Neugierde für irgendeinen arroganten Typen aus dem höheren Semester für ihn zu gewissen, worauf er, FX, überhaupt keine Lust hatte. Daher zog er lediglich eine Augenbraue nach oben und antwortete denkbar knapp.
„Ach so?”
„Jo, Diggi, ich hab mit Michaela aus dem nächsten Jahrgang gesprochen und die hat mir gesagt, dass...”
„Ach, haste Dich jetzt auch an die ran geschmissen, wie der Michel? Diggi, nicht, dass das Ärger gibt!”
FX blickte erwartungsvoll zu Ben und wollte wissen, ob sein Foppen Erfolg hatte oder nicht. Nicht umsonst hatte er Ben in seinem eigenen umgangssprachlichen Ton angesprochen.
Enttäuscht stellte FX jedoch fest, dass Ben gar nicht darauf ansprang und unbeirrt seine neuen Informationen an den Mann zu bringen versuchte.
„Ich mein’, dass der Typ nicht die hellste Kerze auf der Torte is, das hat wohl jeder gemerkt. Aber seine Ellis haben einfach genug Kohle! Diggi, ich glaub, der würde auf keiner anderen Uni überleben...”
Und erneut wirbelte sein er sein Smartphone durch die Luft und fing es gekonnt wieder auf.
„Wir haben die Nervensäge also noch mindestens ein Jahr lang an der Backe”, seufzte FX.
„Oder noch länger. Kommt halt drauf an, wie hell seine Kerze leuchtet, Diggi. Aber ich glaub nich, dass der uns noch nervt. So wie Henne ihn in der Mensa hat auflaufen lassen. Das war doch voll krass, Diggi, oder? Ich hab unseren Henne gar nich wiedererkannt! Aber das kleine Erdbeben kurz zuvor hat ihn wohl wachgerüttelt”
Nur mit allergrößter Mühe konnte sich FX zusammenreißen und sich gegenüber Ben nichts anmerken lassen. Auch in Ben hatte er sich also nicht getäuscht. Ganz offensichtlich hatte sein Freund gespürt, dass FX neulich in der Mensa für Henne die Notbremse gezogen und die Zeit angehalten hatte. Ben hatte ganz eindeutig ohne nachzufragen von einem kleinen Erdbeben in der Mensa gesprochen, obwohl da definitiv keines war. Er musste ganz einfach gespürt haben, dass FX das Raum-Zeit-Gefüge kurzzeitig angehalten hatte. Das war ein sehr gutes Zeichen, was ihn in seinem Plan im Folgenden nur weiter bestärkte.
Er musste unbedingt herausfinden, was genau Ben und Henne für Fähigkeiten hatten. Wohin die Reise für Ben ging, war ihm klar. Bei Henne jedoch tappte FX noch etwas im Dunkeln, hatte allerdings eine kleine Vorahnung. Am meisten Sorge bereitete ihn jedoch Michel. Bisher hatte FX noch keinerlei Anzeichen dafür entdeckt, dass auch sein sportlicher Freund irgendwelche spannenden Fähigkeiten besaß.
Wieder wirbelte Bens Telefon durch die Luft.
Ein Lächeln huschte über FX’ Gesicht, als er an die Begegnung vor ein paar Tagen dachte. Der arme Henne war total verstört gewesen, als er seinen Peiniger aus dem Kerker unerwartet wieder in seinem vermeintlich sicheren Hafen gesehen hatte. Glücklicherweise konnte FX die Situation aber in eine gute Richtung lenken und dem Nico mit einer Stotter-Attacke noch eins auswischen. Er würde noch etwas länger mit diesem Sprachfehler zu kämpfen haben. Solange er seine Mitmenschen schikaniert und unterdrückt, würde keine Besserung mit dem Stottern eintreten, dafür hatte FX gesorgt. Nur leider hatten sie ihn in den Tagen darauf nicht wieder gesehen, so dass sie sich nicht davon überzeugen konnten.
„Diggi, ich rede mit Dir!”
„Was? ‘tschuldige, ich war in Gedanken woanders...”
FX schüttelte kurz den Kopf um wieder einen klaren Gedanken zu fassen und in der Gegenwart zu landen, als Ben erneut sein Smartphone durch die Luft wirbelte. Bis knapp unter die Decke flog es und drehte sich dabei sogar um zwei Achsen gleichzeitig.
Jedoch bekam Ben plötzlich einen Niesanfall, so dass er das Telefon nicht mehr würde auffangen können.
Es ergab ohnehin keinen Sinn, wieso der Technik-Freak Ben so unverantwortlich mit seinem Telefon herumspielte. Er liebte alles, was mit Technik zu tun hatte und ging stets sehr pfleglich mit seinem Handy um. FX wunderte sich immer wieder sehr über Ben, der manchmal so konträr und unlogisch sein konnte.
Ben war immer noch am Niesen und kurz bevor das Handy auf dem fein behauenen Natursteinboden aufschlagen und vermutlich in zig Einzelteile zerspringen würde, sprang FX aus seinem Sessel auf, hastete durch das gesamte Wohnzimmer auf das fallende Handy zu und fing es auf, noch bevor es den harten Steinboden erreichen konnte.
„Diggi, Du weißt selbst, dass kein normaler Mensch in so kurzer Zeit eine so große Distanz hätte überwinden können, oder? Zumal wenn er gerade tiefenentspannt im Sessel liegt und die Beine auf dem Tisch hat.”
Ben, der seinen Niesanfall offensichtlich nur vorgetäuscht hatte, saß mittlerweile wieder aufrecht auf dem Sofa. Er hielt sein eigentliches Handy in der Hand, winkte FX damit zu und schenkte ihm das silbernes Grinsen mit seiner Zahnspange.
Von Technik hatte FX herzlich wenig Ahnung. Er selbst besaß nur ein altes Handy mit einem Schwarzweiß-Display, was alles andere als smart, dafür aber durchaus robust war. Verdutzt blickte er auf das, was er gerade mit Links aufgefangen hatte: Ein Smartphone-Dummy aus dem Kaufhaus.
Beschämt blickte er zu Boden um nach einem kurzen Schweigen zu murmeln: „Das war dann wohl eine Falle, oder?”
„Diggi, keine Sorge, ich frag Dich nich wer Du bist, wo Du herkommst oder was Du vor hast. Ich find das schon selbst raus.”
Den Triumph in seiner Stimme konnte und wollte Ben nicht verbergen. Er freute sich tierisch, dass es ihm gelungen war, seinen besten Freund derart hinters Licht zu führen. Aber er hatte schon seit Längerem den Verdacht, dass FX weitaus mehr konnte, als er zugab. Das jüngste Beispiel im Urlaub mit dem Verstauen der Sachen war nur eines von vielen. Dieses verdächtige alte Auto gehörte definitiv auch dazu.
Daher hatte Ben bei ihrer Rückkehr entschlossen, FX irgendwie auf die Probe zu stellen und ihn aus seinem Versteck hervor zu locken und zu testen, was dieser lange Lulatsch denn noch so beherrschte. Offensichtlich gehörte extreme Schnelligkeit und eine exzellente Reaktionsfähigkeit definitiv dazu.
Ben hatte seine Niesattacke nur vorgetäuscht und seinen Freund dabei heimlich aus dem Augenwinkel heraus beobachtet. Jedoch gab es zu seinem Erstaunen nicht viel zu sehen. Die meiste Zeit hatte FX nur im Sessel gelegen, die Füße auf dem kleinen Tisch und seinen Gipsarm auf dem Bauch gehalten. Und urplötzlich, nur wenige Zentimeter, bevor der Dummy auf dem Boden auftreffen sollte, war FX dann plötzlich woanders im Zimmer und hatte das Plastikhandy mit einer Hand zielsicher aufgefangen.
Obwohl er darauf vorbereitet war, hatte Ben zu keinem Zeitpunkt gesehen, dass FX aufgestanden und sich bewegt hatte. Entweder war er von einem Augenblick auf den anderen dort verschwunden und hier wieder aufgetaucht, oder aber es ging so schnell, dass er es nicht gesehen hatte. Egal was es war, beides war in jedem Falle nicht normal.
Ben war zufrieden, dass er seinen Freund erfolgreich eine Falle gestellt hatte und lehnte sich genüsslich zurück.
FX hingegen wusste, dass das, was er gleich tun würde, sehr gemein war, aber er fand, dass Ben das für diese hinterhältige Aktion das in jedem Falle verdient hatte. Noch immer hockte er vor dem Sofa, den Dummy in der Hand. Doch aus dieser Position heraus sprang er in die Luft und stand plötzlich in voller Größe von weit über zwei Metern vor Ben, der klein auf dem Sofa im Schneidersitz saß und eigentlich seinen Sieg feiern wollte.
Mit zusammengekniffenen Augen funkelte FX ihn böse an und seine Stimme war zwar leise aber um so bedrohlicher. Ben blieb für eine Sekunde das Herz stehen. Diese durchdringenden blauen Augen sahen gerade eiskalt aus und ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren. Wie konnten diese Augen, die sonst so wundervoll blau strahlten, jetzt nur so kalt sein?
„Tu so etwas nie wieder, mein kleiner Freund, sonst wird Dir Dein Silberlächeln noch im Halse stecken bleiben!”
Er hielt das Plastikhandy, was er gerade aufgefangen hatte, vor Bens Gesicht und zerdrückte es ohne Widerstand mit einer Hand, so dass es in unzählige Einzelteile zersplitterte die Ben in den Schoß bröselten.
Ben hatte mit vielem gerechnet, jedoch nicht mit solch einer Reaktion. Er kannte FX jetzt schon seit gut einem Jahr und hatte ihn eigentlich immer als ruhigen und friedliebenden Menschen kennen gelernt. Eigentlich. Aber solch eine Wut hätte er selbst in seinen schlimmsten Alpträumen nicht von FX erwartet.
Er hatte Angst. Große Angst. Dieser Mensch schien stark zu sein. Und wütend. Eine Kombination, die selten gut ist. Ben spürte, wie sein Herz bis zum Hals hinauf schlug und kalter Schweiß auf seiner Stirn stand. Er wollte weg. Flüchten. Einfach wegrennen. Er musste sich in Sicherheit bringen. Jetzt sofort. Sämtliche Alarmsignale in seinem Körper schrillten so laut, dass ihm der Kopf dröhnte. Weg, einfach nur weg!
Aber er konnte nicht. Er kam nicht von diesem Sofa runter. Dieser wütende Mensch mit dem hochroten Kopf und den funkelnden Augen versperrte ihm jeglichen Fluchtweg. Und er wusste, dass diese Furie, die vor ihm stand, auch noch viel schneller war als er, so dass eine Flucht ohnehin aussichtslos war.
Es gab für ihn nur eine Möglichkeit, sich ganz klein zu machen und sich tief ins Sofa hinein zu drücken, um den Abstand zu diesem Wahnsinnigen wenigstens um ein paar Zentimeter zu erhöhen. Er verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte sich sein lieber Freund in so kurzer Zeit wegen solch einer kleinen blöden Streich so schnell in einen hasserfüllten Menschen verwandeln?
Ben presste sich mit aller Gewalt in das Polster des Sofas hinein, um jeden möglichen Millimeter Abstand für sich gewinnen zu können. Er wusste, dass es nur marginal war, aber es fühlte sich besser und sicherer an, je größer der Abstand zwischen ihm und seinem ehemaligen Freund war.
Und so plötzlich, wie der Wutanfall von FX ausgebrochen war, verschwand er schon wieder und machte einem glücklichen Lächeln in seinem Gesicht platz. Die eiskalten blass-blauen Augen waren verschwunden und es war wieder dieses vertrauenerweckendes tiefgründiges unendliches Blau da, wovon sich Ben nur schwer abwenden konnte.
„Entschuldige, Ben, aber für Deinen fiesen Trick musste ich mich einfach rächen und gleiches mit gleichem vergelten. Dafür hab ich Dir jetzt aber auch einen kleinen Streich gespielt.”
FX beugte sich etwas herab zu Ben und deutete erfreut auf ihn hinunter, der immer noch auf dem Sofa saß. Oder besser gesagt mitten im Sofa steckte! Nur noch sein Gesicht schaute aus dem grau-braun gemusterten Stoff heraus. Der Rest von Bens Körper war komplett verschwunden. Es war fast, als wenn Ben in einer Wanne mit Wasser lag, wo nur noch sein Gesicht aus dem Wasser heraus schaute. Aber dem war nicht so, denn er saß in keiner Wanne, er saß mitten in einem Sofa und nur noch sein Gesicht schaute aus dem Polster heraus, der Rest war darin verschwunden.
„Scheiße...” flüsterte Ben, als er an sich hinunter blickte und feststellte, dass da nichts war, was er sehen konnte, sondern nur der glatte und unversehrte Stoff ihres Sofas.
plopp
Es gab ein Geräusch, wie der eines Korkens der vorsichtig aus einer Flasche gezogen wird. Und nun saß er auf einmal wieder auf dem Sofa, als sei nichts geschehen. Immer noch verwirrt, blickte er an sich hinunter und befühlte mit einem Arm den anderen. Er rutschte zur Seite und betrachtete das Polster. Es war nach wie vor unversehrt. Was war das? Hatte er gerade einen Tagtraum gehabt? Wenn er nicht Angst hätte, in eine Irrenanstalt eingewiesen zu werden, würde er schwören, dass er gerade mitten IN einem Sofa gesteckt hatte, anstatt wie jeder normale Mensch oben drauf zu sitzen. Aber das konnte ja nicht sein, also hatte es auch nicht stattgefunden. Ben war, gelinde gesagt, verwirrt und FX riss ihn aus seinen wirren Gedanken heraus.
„Du hast es an unserem letzten Urlaubstag nicht bemerkt, oder?”
„Was soll ich bemerkt haben?”
„Genau das, was gerade wieder passiert ist! Du warst damals plötzlich total beleidigt und wolltest Dich zurückziehen und bist damals schon im Sitz von meinem Wagen verschwunden.”
Ben starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen und Mund an. Also hatte er das gerade nicht geträumt und auch keine Halluzinationen gehabt. FX musste gerade genau das gleiche gesehen haben, was er gesehen hatte: Nämlich dass er, Ben, in das Sofa hinein versunken war!
„Diggi, Ich bin...”, er schluckte, „… ein Freak?”
Laut musste FX lachen, als Ben ihn ängstlich anschaute und voller Ekel das Wort „Freak” über die Lippen brachte.
„Nein, Du bist bestimmt kein Freak. Zumindest nicht mehr, als ich einer bin. Außerdem ist ‚Freak‘ ein ziemlich abwertendes Wort, findest du nicht? Dafür hast Du aber offensichtlich die Fähigkeit, durch Materie hindurch zu gehen.”
„Diggi, Ich kann was???”
„Du hast es gerade mit eigenen Augen gesehen...”
„Ehrlich gesagt, weiß ich grade nicht, was ich gesehen hab.”
„Das ‚Diggi’ fehlte.”
FX blickte Ben herausfordernd an, hatte dieser doch gerade seinen sehr umgangssprachliches Vokabular vergessen. Er wusste, dass das für Ben total verwirrend war, aber ihm war auch klar, dass diese Fähigkeit zu dem sonst so durchgeknallten Ben ganz hervorragend passen würde. Sobald er sein neues Potenzial komplett beherrschen würde, würde er mit Sicherheit richtig darin aufblühen und es würde ihn, FX, große Mühen bereiten, Ben wieder etwas in die Schranken zu weisen und ihn nicht bei jeder möglichen und vor allem unmöglichen Gelegenheit durch Wände gehen zu lassen.
„Ja, Du kannst durch Materie hindurch gehen. Phasenverschiebende Verschränkung ist der Terminus Technicus, aber darunter kann man sich ohnehin nichts vorstellen. Du kannst es, Du weißt nur noch nicht genau, wie. Aber das kann man lernen. Intuitiv und spontan klappt es bei Dir derzeit nur, wenn große Emotionen im Spiel sind. Freude, Angst, Frustration und so. Das Ereignis gerade eben war durch Angst induziert. Angst ist ein Gefühl, was man besonders einfach erzeugen kann und außerdem sehr intensiv ist. Du kannst aber lernen, Deine Fähigkeit gezielt einzusetzen, wann immer Du es möchtest oder brauchst.”
„Diggi, ich bin ein X-Man?”
„Nenn Dich, wie Du willst und wie Du Dich am wohlsten fühlst. Immerhin klingt X-Man deutlich besser als Freak.”
„Wie nennst Du Dich denn?”
„Felix. Aber meine Freunde nennen mich FX.”
„Blödmann.”
„Ich weiß. Möchtest Du es noch einmal probieren? Also so ganz entspannt und ohne Stress?”
„Wie jetzt, Diggi? Was’n?”
„Meine Güte, ja was wohl? Phasenverschiebende Verschränkung!”
„Wie? Das geht?”
„Klar geht das. Sonst hätte ich es Dir nicht angeboten. Mit meiner Hilfe kannst Du das auf jeden Fall.”
FX ging ein paar Schritte zurück in die Mitte des Raumes und deutete ihm mit seiner Linken, aufzustehen. Er winkte Ben zu sich herüber, wo sie genug Platz in alle Richtungen hatten. Auffordernd streckte er ihm die Hand entgegen, die Ben nur zögerlich und etwas ängstlich ergriff.
„Angst?”
Ben nickte.
Nur mit Mühe konnte FX die kaltschweißige Hand von Ben festhalten. Bei jeder noch so kleinen Bewegung drohte sie ihm aus seiner eigenen zu gleiten. Es machte sich einmal mehr bezahlt, dass FX so große Hände hatte, die die von Ben mühelos umfassen konnten.
„Frag nich, Diggi!”
„Entspann Dich!”
FX beugte sich etwas herunter und hauchte Ben einen Kuss auf die Stirn, genau zwischen die Augenbrauen. Im gleichen Augenblick floss von FX eine Wärme und Geborgenheit hinüber in Ben hinein, dass dieser vor lauter Entspannung und Beruhigung fast schon einzuschlafen drohte.
„Oh, das war wohl etwas viel...”
Ben spürte, wie FX seine Hand fest und fast schmerzhaft drückte. Die tiefe Entspannung wich sofort einer großen Aufmerksamkeit und plötzlich waren all seine Sinne geschärft. Dennoch hatte er das unglaubliche Verlangen, seinen großen Freund ebenfalls einen Kuss auf die Wange oder noch besser auf dessen Lippen zu drücken, doch irgendetwas in ihm sagt Ben, dass das jetzt nicht besonders angemessen war.
Dennoch war ihm etwas unwohl in seiner Haut. Was würde gleich wohl passieren? Tut es weh? Wie kommt man da wieder heraus? Was, wenn man durch eine Wand geht und plötzlich etwas schief geht? Und überhaupt: Was war mit seiner Kleidung? Unsicherheit machte sich wieder breit und er wollte FX bitten, das ganze abzubrechen und besser zu verschieben, denn er hatte gerade viel zu viele Fragen, die er vorher noch klären wollte. Plötzlich wurde er von FX aus seinen Gedanken gerissen.
„Und, wie fühlt es sich an?”
„Wie fühlt sich was an?”
„Oh Mann, guck doch mal, Du stehst halb im Wohnzimmertisch drin!”
Ben sah an sich herunter und sein Herz hörte kurz auf zu schlagen, nur um gleich darauf mit einer rasenden Geschwindigkeit weiter zu machen. Sein Oberkörper endete auf der Tischplatte und er hoffte inständig, dass unter dem Tisch noch seine Beine waren. Erschrocken wollte er zur Seite springen um seinen Körper wieder aus dem Holztisch heraus zu bekommen, aber FX hielt ihn fest.
„Hiergeblieben! Also, jetzt entspann Dich erst einmal und komm klar mit der Situation. Wie fühlt es sich denn an?”
Ben versuchte sich zu konzentrieren. Tief atmete er ein, hielt die Luft für einen Augenblick an, um danach noch tiefer wieder auszuatmen. Mit Genugtuung stellte er fest, dass sich sein Herzschlag deutlich verlangsamte und er sich wieder etwas entspannen und auf die Situation konzentrieren konnte.
Tatsächlich. Er und FX standen im Wohnzimmer und zwar mitten im Esstisch drin. Dieser massive Eichentisch war groß genug, dass sechs Personen dran sitzen konnten und hatte eine Platte, die mehrere Zentimeter dick und uralt war.
Und er stand mittendrin!
Er konnte es nicht glauben, aber von der Hüfte an abwärts war nur noch Tischplatte zu sehen. Sowohl bei ihm als auch bei seinem Freund, wenngleich bei ihm der Tisch aufgrund seiner Größe in Höhe der Oberschenkel war.
Ben horchte in sich hinein, und versuchte die Tischplatte oder sonst einen Widerstand fühlen. Doch es war nichts zu merken. Es war, als würde der Tisch auf ihn drauf projiziert werden.
„Total unspektakulär”, antwortete Ben nach einigem Zögern. „Irgendwie ist das wie Luft.”
Er wackelte vorsichtig mit dem Hintern in der Tischplatte und hob auch ein Bein, bis sein Knie aus der Platte auftauchte wie aus dem Wasser. Mit seiner freien Hand versuchte er, die Tischplatte zu berühren, aber auch seine Hand verschwand in dem Tisch, als würde er sie in Wasser eintauchen. Er fühlte keinen Unterschied zwischen Luft und Holz. Dadurch, dass er nichts fühlte, fühlte sich mehr als eigenartig an.
„Ja, es ist erstaunlich einfach. Aber mit der Zeit lernt man, dass sich unterschiedliche Materie doch verschieden anfühlt. Die Differenzen sind marginal, aber manchmal wichtig.”
„Und… Und… Und was passiert, wenn was schief geht?”
Bens Stimme klang dünn und ängstlich.
„Du meinst, falls Du mal in einer Wand steckt und dass Du im schlimmsten Fall hier als Poltergeist in eine der Burgmauern feststeckt und Dein versteinertes Gesicht irgendwann bei einem Erdbeben durch Zufall freigelegt wird?”
„Ja, so in etwa...”
Ben was etwas blass geworden im Gesicht.
„Willst Du es testen? Soll ich Dich mal loslassen?”
„Nein, Diggi!”
Nun war es Ben, der die Hand von FX krampfhaft festhielt.
„Keine Angst. Verschränkt man Materie miteinander, so ist das ein von der Natur und Physik nicht vorgesehener Zustand. Abnormal und unter Zwang so zu sagen. Auch wenn Zwang nicht so ganz stimmt. Wie das genau funktioniert, kann ich Dir wann anders gerne mal erzählen. Ein bisschen theoretischer Unterricht gehört zu jeder Ausbildung dazu. Aber die Kurzform lautet: Wenn Du nicht aktiv dafür sorgst, dass diese Verschränkung aufrecht erhalten wird, so flutscht alles wieder in seinen natürlichen Zustand zurück und das ist der getrennte Zustand. ”
„Also das heißt, wenn Du mich jetzt loslassen würdest, dann würde mich der Tisch aus sich herausdrücken?”
„Ja. Auch. Aber nicht nur der Tisch drückt Dich raus, sondern Dein Körper drückt auch den Tisch aus sich heraus. Actio gleich Reactio. Ihr beide wollt Euch gleichermaßen trennen. Wer dabei gewinnt hängt überwiegend von der Masse ab. Steckst Du in einer Wand, wird diese eher wenig nachgeben und Dich quasi ausspucken. Bei dem Tisch hier ist das anders. Ihr seid vom Gewicht her etwa gleichwertig, so dass Ihr Euch beide wohl gegenseitig auseinander schieben werdet und beide etwas verschoben werdet.”
„Verstehe...”
So ganz hatte Ben es noch nicht verstanden, weshalb seine Antwort auch sehr zögerlich kam und von einem etwas verwirrten Gesichtsausdruck begleitet wurde.
„Diggi, und Du sagst, dass da nix passieren kann?”
FX nickte nur kurz und sah ihn vertrauensvoll in die Augen. Wieder einmal war Ben von diesem unendlichen Blau fasziniert und er wusste, dass FX ihn nicht anflunkerte, sondern die reine Wahrheit sagte.
„Okay, dann möchte ich es wagen.”
Bens Händedruck entspannte sich deutlich, woraufhin FX seine Hand komplett öffnete, so dass Bens Hand nur noch in seiner lag. Er konnte sie jederzeit wegnehmen, wann immer er dafür bereit war.
So ganz traute sich Ben jedoch noch nicht. Immer noch hielt er die Hand seines Freundes fest. FX wusste, dass das erste Mal alleine in Materie zu stecken mehr als eigenartig war und hatte daher volles Verständnis für die Unsicherheit von Ben. Er würde ihm die Zeit geben, die er dafür brauchte und er würde dafür sorgen, dass er auch die Ruhe dazu hatte und dass sie dabei nicht gestört wurden.
„Keine Angst, es kann wirklich nichts passieren.”
So sanft und vertrauensvoll klang die Stimme von FX nur sehr selten. Vorsichtig entfernte FX seine Hand etwas weiter von der von Ben, wobei er sehr genau darauf achtete, dass die Berührung ihrer beiden Hände nie ganz unterbrochen wurde. Schließlich berührten sich nur noch ihre beiden Zeigefinger und sie sahen sich in die Augen.
„Los, Michelangelo!”
„Was willst Du denn jetzt schon wieder? Bitte nicht noch mehr neuen Zauberkram!”
Ben sah etwas beunruhigt zu FX. Was wollte er ihm damit jetzt schon wieder andeuten? In letzter Zeit gab es schon genug Andeutungen und Geheimnisse. Die Dosis war für Ben definitiv ausreichend.
„Michelangelo Buonarotti. ‚Die Erschaffung des Adams‘, das Fresko in der Sixtinischen Kapelle. Das Bild, wo Gott mit ausgestrecktem Zeigefinger Adam zum Leben erweckt… Das Bild kennst Du doch bestimmt.”
„Ja, klar. Das kennt doch jeder. Aber was hat das mit uns zu tun? Sind das etwa zwei Menschen, bei denen doch was bei der Verschränkung schief gegangen ist und die doch noch in der Decke feststecken?”
„Nein! Meine Güte, Du kannst mir wirklich glauben, dass die Verschränkung von Materie idiotensicher ist! Es kann wirklich NICHTS passieren!”
„Das sagst Du so in Deinem jugendlichen Leichtsinn...”
„So jung bin ich nun wirklich nicht mehr, wie Du weißt.”
FX zwinkerte Ben an und sogleich kamen Ben die Erinnerungen an FX Kindheit wieder hoch, die er ihnen durch eine Reise in seinen Gedächtnispalast offenbart hatte. Irgendwie hatte Ben diesen Trip schon wieder verdrängt, aber nun war es wieder alles da. Der Strand, ihr eigener Urlaub, das Feuer was FX erlebt hatte…
Er kam zu dem Schluss, dass er FX vertrauen konnte. Vermutlich hatte FX so einiges in Petto und war vielleicht auch gefährlich. Aber nicht für ihn. Ben vertraute seinem Freund, sah ihn tief in die Augen, zwinkerte einmal langsam und zog seinen Finger zurück.
Im selben Augenblick war es so, als würde er von einem Footballspieler beim Winterschlussverkauf kurz vor dem Tisch mit den Sonderangeboten zur Seite gedrängt werden! Er spürte in seiner Hüfte, die ja noch im Tisch steckte, einen heftigen, aber nicht schmerzhaften Stoß zur Seite, als wolle ihn der Tisch los werden und wegdrängen. Durch den plötzlichen Ruck stolperte er und fiel mehrere Meter rücklings auf das Sofa, genau dort hin, wo es FX berechnet hatte. Gleichzeitig polterte der Tisch und rutsche laut quietschend über einen Meter weg vom Sofa, genau in die andere Richtung. FX hingegen blieb genau dort, wo er gestanden hatte und stand nun in der Mitte zwischen dem verrückten Tisch und seinem Skater-Freund, der quer auf dem Sofa lag.
FX lachte kurz laut, als er Bens erschrockene weit aufgerissene Augen sah. Da er wusste, dass Ben weich auf das Sofa fallen würde, machte er sich um ihn keine weiteren Sorgen, sondern freute sich, dass sein Freund jetzt erstmalig seine Kräfte ausprobieren konnte.
Plötzlich öffnete sich die Tür und Henne und Michel traten ein. Sie mussten den Lärm des verrutschenden Tisches schon im Flur gehört haben, denn Michel ergriff sofort das Wort.
„Na, ihr seid mit unserer neuen Bude wohl immer noch nicht ganz warm geworden, was? Oder warum fangt Ihr jetzt schon wieder das Möbelrücken an? Wobei der Tisch hier so auch nicht stehen bleiben kann. Der steht ja mitten im Weg herum.”
„Ben, was’n los? Du machst so einen verwirrten Eindruck...”
Henne sah etwas besorgt zu Ben hinüber und fühlte förmlich die Verwirrtheit, die seinen Skaterfreund betrübte. Irgendetwas musste ihn gerade gehörig durcheinander gebracht haben. Henne war sich sicher, dass nichts schlimmes passiert war mit Ben. Er hatte eher den Eindruck, als sei das Gegenteil, also etwas tolles passiert. Zumindest strahlte Ben irgendwie etwas Glückliches und Zufriedenes aus.
Und dann passierte es auch. Ben wurde sich seiner neuen Situation vollends bewusst und sogleich setzte er ein erleichterndes Lächeln auf.
„Nein, Henne, mir geht's gut. Sehr gut sogar!”
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