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Quartett

Teil 28 - Nüsse

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34. Nüsse

FX wandte sich von der Saunatür ab, die er soeben verschlossen hatte und versuchte, es sich in seinem Alkoven wieder bequem zu machen. Jedoch schien es so, dass er den Kampf mit dem Handtuch im Rücken auf den glatten Fliesen verlieren würde. Mit einer Hand gelang es ihm partout nicht, das Handtuch festzuhalten und sich gleichzeitig daran zu lehnen. Ständig rutschte das Handtuch herunter, noch bevor er sich anlehnen und es so fixieren konnte. Die Tatsache, dass er dabei nur eine Hand benutzen konnte, machte das Unterfangen auch nicht einfacher.

„Du bist auch manchmal ein hoffnungsloser Sturkopf”, tadelte Michel ihn, der sich das Schauspiel genüsslich im Halbdunkel angeschaut hatte, bevor er aufstand und ihm zu Hilfe eilte. „Mit Deinem Gipsarm kann das ja auch nicht klappen! Lass mich Dir helfen.”

Nur widerwillig nahm FX die Hilfe von Michel an, der das Handtuch nun hochhielt, so dass er sich daraufsetzen und dann im Alkoven auch anlehnen konnte. Erleichtert atmete er tief durch. Jetzt, so schien es, konnte die Entspannung endlich starten.

„Wie lange bleibt dieser Gips eigentlich noch dran? Ich meine, Du hast das Ding ja nicht erst seit ein paar Wochen.”

„Naja, Michel, bei mir ist es so ähnlich, wie bei Dir”, entgegnete FX mehr beiläufig und deutete vage auf Michels Schritt, wo man auch im Halbdunkel der Sauna noch das metallische Glänzen seines Keuschheitsgürtels erkennen konnte.

„Wie jetzt?”

Michel war in mehrerlei Hinsicht überrascht. Einerseits, weil er mit FX noch nicht über den Käfig seines besten Stücks gesprochen hatte und FX auch sehr neutral darüber sprach und gar nicht überrascht wirkte, obwohl er ihn bisher noch nie so gesehen hatte. Michel hatte sich eher darauf eingestellt, zunächst Fragen von FX über seinen jetzigen Zustand zu beantworten, als ein klärendes Gespräch aufgrund der Ereignisse der letzten Zeit. Aber FX machte gerade nicht den Eindruck, als würde ihn der metallene Käfig in seinem Schritt großartig irritieren. Zumal er bisher nur mit Henne neulich im Whirlpool darüber gesprochen hatte. Aber es konnte auch gut sein, dass die Drei in Michels Abwesenheit über ihn gelästert hatten. In jedem Falle hatte Michel mit etwas mehr Überraschung seitens FX gerechnet.

Außerdem, und das war der zweite Stein des Anstoßes, konnte er sich nicht vorstellen, dass FX seinen Gipsarm freiwillig trug, im Gegensatz zu ihm, der seinen Keuschheitsgürtel mittlerweile sehr gern trug und ihn als Sicherheit empfand. Nicht unbedingt Sicherheit im Sinne der Sexualität, wie er einst gedacht war, sondern eher geistige Sicherheit und die Möglichkeit des Fokussierens. Aber so ein Gipsarm war doch total lästig. Als Jugendlicher hatte er sich auch mal den Arm gebrochen und er erinnerte sich nur mit sehr viel Unbehagen an diese Zeit.

„Willst Du mir sagen, dass Du das blöde Ding freiwillig trägst?”

„Ich sagte, es ist so ähnlich wie bei Dir, nicht genauso. ”

„Und woher weißt Du so genau von mir...”

„Ich habe mit Henne gesprochen”, schnitt FX ihm kurzerhand das Wort ab. „Naja, gesprochen ist vielleicht etwas übertrieben, aber als wir ein paar Übungen zu mentalen Verbindungen gemacht haben, hatte Henne mir dieses Thema freiwillig angeboten und ich habe es bei ihm daraufhin in seinen Gedanken lesen dürfen. Aber ich glaube, wir sind nicht hier, um über meinen Gips oder Deinen Schwanzkäfig zu sprechen.”

Bevor das darauffolgende Schweigen zu unangenehm wurde, entschloss sich FX schweren Herzens, jetzt den ersten Schritt zu tun und das Thema anzusprechen, weshalb sie hier waren. Er konnte es nicht länger ertragen, von Michel dermaßen ignoriert zu werden und ihre Freundschaft weiter aufs Spiel zu setzen. Dieses Gespräch gleich würde definitiv kein Sonntagsspaziergang werden, aber die Wiederherstellung ihrer Freundschaft war es das allemal wert. FX würde für die Freundschaft der Vier weit gehen, sehr weit sogar.

„Also, Michel”, FX musste schlucken, denn nach den ersten zwei Worten versagte ihm kurz die Stimme, so angespannt und nervös war er. “Das Allerwichtigste, was ich zunächst loswerden möchte und was Du mir bitte unbedingt glauben musst ist, dass weder Ben noch Henne irgendeine Schuld an den Geschehnissen der letzten Tage und Wochen trifft. Keiner der Beiden kann irgendetwas dafür, was passiert ist und ich bin der Einzige, dem man hier Vorwürfe machen darf.”

„FX, hör mal, Du hast keine...”

„Nein, Michel, jetzt hörst Du mir bitte erstmal zu. Lass mich bitte ausreden und dann kannst Du sagen und tun, was immer Du magst.”

Obwohl FX am liebsten die Stimme erhoben hätte, blieb er dennoch sehr ruhig und gelassen im Tonfall, fast flüsterte er hier in dem Laconium, was dennoch aber schon fast einem lauten Rufen gleichkam. Seine Hände schwitzten. Nicht wegen der Wärme in der Sauna, die war sehr angenehm, nein, es war kalter Angstschweiß, der jetzt hervortrat. Angst vor dem, wie dieses Gespräch ausgehen mochte. Er wusste nicht, wohin die nächsten Worte führen würden, aber er wusste, dass sie sehr entscheidend sein würden für ihre gemeinsame Zukunft.

„Ich hätte es besser wissen müssen, Michel, aber ich habe es schlichtweg vergessen und nicht dran gedacht. Vielleicht hab ich es aber auch einfach ignoriert. Ich war so in freudiger Erregung und glücklich darüber, endlich nicht mehr der Einzige hier zu sein, der etwas anders ist. Es hat mich zunächst für Ben und dann später für Henne dermaßen gefreut, als sie herausgefunden hatten, was sie können. Ich habe mich in meine spannenden Jahre als Jugendlicher zurückgebeamt gefühlt. Die Zeit, wo ich so aufregende Experimente machen konnte. Eine Zeit, in der ich keine Grenzen kannte und wo die gesamte Welt mir gehört hat. Wo ich weder Angst hatte noch Konsequenzen fürchtete. Eine Zeit, wo ich einfach nur die Sau rausgelassen habe und meine Fähigkeiten bis zum Exzess ausgereizt habe. Es war eine so wunderbare Zeit, ich dachte, ich sei unverwundbar und die Welt liegt mir zu Füßen.”

In FX tauchte wieder der halbstarke Junge auf, der er war, als Eggsy ihm zum ersten Mal seine Fähigkeiten entlockte und er anfing, Dinge zu verändern, zu zerstören, aufzubauen oder durch die Zeit zu reisen. Vermutlich war es die beste Zeit in seinem Leben und definitiv war es das erste Mal, wo er den Schmerz über den Verlust seiner Eltern zumindest zeitweise vergessen konnte. Immer, wenn er die Grenzen der Physik bis auf den letzten Millimeter ausgekostet hatte und wieder einmal neue Wege und Tricks gefunden hatte, war er der glücklichste Mensch auf Erden und zufrieden, wie er es sonst nie sein konnte.

Und genau diese Glücksgefühle von ihm damals kamen wieder hoch, als er jetzt sah, wie Henne und Ben heute die Welt mit ihren neuen Fähigkeiten, quasi durch neue Augen betrachteten und jetzt ihrerseits mit ihren Kräften spielten und sich daran erfreuten.

„Leider waren es genau diese Glücksgefühle aus meiner Jugend”, fuhr FX fort, „die mich vergessen ließen, dass es auch noch Dich gibt, Michel. Und ich habe nicht daran gedacht, dass Du jetzt als Außenstehender damit so gar nichts anfangen kannst. Jetzt im Nachhinein tut es mir so sehr weh festzustellen, dass ich Dich ganz offensichtlich vergessen habe. Ich habe definitiv einen großen, einen sehr großen Fehler gemacht: zumindest in diesen Momenten des Glücks von Ben und Henne habe ich Dich leider vergessen.”

Den letzten Satz konnte FX nun sehr gequält hervorbringen. In seinem Hals hatte sich ein riesiger Kloß gebildet, der ihm das Sprechen und Atmen sehr schwer machte. Auch mehrere Versuche, den Kloß hinunterzuschlucken, scheiterten kläglich, denn sein Hals blieb trocken. Stattdessen stiegen Tränen in seinen Augen auf und rannen die Wangen herunter. Fast geräuschlos zerplatzten sie auf den warmen Fliesen der Sauna.

Eigentlich wollte FX seinen Freund noch aufrichtig um Entschuldigung bitten, aber er war dazu nicht mehr in der Lage. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht und sprechen konnte er gar nicht mehr. FX zog seine Beine an und kauerte sich ganz klein in seinem Alkoven zusammen. Er hatte die Knie angezogen und vergrub sein Gesicht im Ellenbogen, weil er sich schämte, vor Michel zu weinen. Aber eigentlich schämte er sich viel mehr, dass er Michel, einen seiner besten Freunde, so sehr ignoriert und vernachlässigt hatte. Er hasste sich dafür, dass er ihre Freundschaft so leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte und, was vielleicht noch schlimmer war, es nicht einmal rechtzeitig bemerkte hatte.

FX konnte es sich nicht erklären, wie es so weit kommen konnte, ohne dass er etwas bemerkt hatte. Normalerweise war er, FX, doch immer sehr sensibel und gewöhnlich äußerst friedlich gegenüber anderen. Eigentlich hätte er diese Zeichen bemerken müssen, doch stattdessen hatte er es aus unerfindlichen Gründen so weit kommen lassen, dass sie jetzt hier saßen und er nur noch weinen konnte. Eigentlich trat er für gewöhnlich in solchen Situationen immer einen Schritt zurück und konnte so die Geschehnisse objektiver beurteilen. Dann wäre ihm mit Sicherheit viel eher aufgefallen, dass er Michel links liegen gelassen hatte. Aber er hatte es nicht getan.

Nein, stattdessen war er ausschließlich egoistisch und selbstverliebt in seiner Freude versunken und hatte verzückt zugeschaut, wie Ben und Henne wie zwei junge spielende Hunde herumtollten, während direkt neben ihm sein Freund vereinsamte. So viel Ignoranz hätte er sich nie im Leben zugetraut.

FX war entsetzt über sich und enttäuscht von sich.

Eigentlich wollte er Michel all das noch sagen, aber zur Zeit war er nicht mehr imstande, auch nur ein Wort von sich zu geben. Sein Weinkrampf hatte sich mittlerweile in ein leises Wimmern und zucken verwandelt, aber dennoch war er weit davon entfernt, seinem Noch-Freund oder hoffentlich-bald-wieder-Freund mehr von sich preis zu geben.

Zwar war er ein Mensch, der viel Gefühl und Emotionen hatte und daher auch im Gegenzug sehr empfänglich für die von anderen war, aber Kommunikation war nie eine seiner Stärken gewesen. FX hatte für solche Fälle immer seine Tricks gehabt. Ganz genau so, als er die Drei in seinem Gedächtnispalast auf die Reise in seine Vergangenheit mitgenommen hatte, anstatt ihnen zu erzählen, was damals geschehen war. Für ihn war es viel einfacher, seine ungefilterten Erlebnisse komplett offen zu legen, als sie mit Worten anderen zu beschreiben.

Gerne würde er Michel jetzt wieder auf so eine intensive emotionale Reise mitnehmen, aber er hatte sich von Anfang an vorgenommen, dass dieses Gespräch, wie auch immer es verlaufen würde, in keinem Fall mit seinen besonderen Fähigkeiten ablaufen dürfte. Wenn es überhaupt eine Chance auf Erfolg gab, dann musste es auf ein Gespräch auf Augenhöhe hinauslaufen und damit waren jegliche Tricks ausgeschlossen, da dies genau der Stein des Anstoßes war.

Er hatte überhaupt kein Zeitgefühl und wusste nicht, wie lange er schon in dem Alkoven zusammengekauert saß und wimmerte, als er vollkommen überraschend aber ganz sanft die Hand von Michel auf seiner Schulter spürte. Er hatte ihn nicht kommen hören. Er wusste auch nicht, ob Michel etwas zu ihm sagte. Im Augenblick war seine einzige Wahrnehmung die warme und feste Hand von Michel auf seiner Haut. Sie bewegte sich nicht, sie streichelte ihn nicht. Sie war einfach nur da und sie fühlte sich gut an.

Ganz langsam beruhigte sich FX wieder. Sein Wimmern wurde leiser, seine Atmung wurde regelmäßiger. Auch seine Muskeln entspannten sich. Noch immer konnte er nicht sagen, ob Michel ihn seit wenigen Augenblicken oder seit einer Stunde berührte. Obwohl sie ganz normal weiterlief, existierte für FX jetzt gerade keine Zeit mehr.

Irgendwann traute er sich, den Kopf zu heben. Er blickte geradeaus auf eine Seitenwand seines Alkovens. Das Bild war verschwommen. Fliesen und Fugen waren ein halbdunkler Farbmatsch. Erst nach ein paar Mal blinzeln hatte er seine verheulten Augen wieder so weit befreit, dass er wieder klar sehen konnte.

Michel hatte seinen Sitzplatz schon lange verlassen und saß stattdessen auf dem gemauerten Podest in der Mitte des Laconiums, wo man eigentlich seine Füße ablegt. Da FX sich aber komplett zurückgezogen hatte, war dies der beste Platz für Michel, um seinem Freund zu zeigen, dass er da war, dass er wieder da war.

Als sich ihre Blicke kreuzten, war es Michel, der als erster lächelte. Für FX war dieses Lächeln überwältigend. Nicht, weil Michel ohnehin ein schneeweißes Lächeln aus der Zahnpasta Werbung hatte. In diesem Augenblick erleuchtete sein Lächeln und damit die Entschuldigung für FX und nicht gegen ihn die halbdunkle Sauna dermaßen, dass FX ein wohliger Schauer über den Rücken lief.

Er drehte sich aus seinem Alkoven heraus und griff nach Michel, um ihn zu sich zu ziehen und in den Arm zu nehmen. FX musste sich sehr zusammenreißen, um seinen Freund nicht zu fest zu drücken, obwohl sich der durchtrainierte Michel sicherlich jederzeit zu wehren gewusst hätte.

Ohne dass Michel es explizit aussprechen musste, war FX klar, dass Michel ihm verziehen hatte und dass dieses offensichtliche Verständnis für sein Verhalten in der Vergangenheit hatte oder es zumindest nachvollziehen konnte.

„Danke.”

FX hatte sich fest vorgenommen, das mit einer festen und sicheren Stimme zu sagen. Heraus kam jedoch nur ein krächzendes Flüstern.

„Nein, FX, ich habe zu danken.” Michel drückte FX wieder etwas zurück und legte ihm nun beide Hände auf die Schultern. „Ich glaube, Du weißt gar nicht, was gerade passiert ist.”

Nach mehrmaligem Räuspern gelang es FX schließlich, seine Stimme wieder ohne ein Zittern zu benutzen.

„Ich glaube, ich hab ein bisschen viel geheult, oder?”

„Ich weiß nicht, ob Du zu viel geheult hast, FX, aber ich weiß, dass Du das, was Du gerade getan hast, definitiv nicht wolltest und trotzdem getan hast.”

Verwirrt blickte FX seinen Gegenüber im Halbdunkel der Sauna an und versuchte sich zu erinnern, was genau in den letzten Minuten passiert war. Aber so sehr er sich auch anstrengte, so konnte er nichts ausmachen, was eigenartiger war, als die derzeitige Situation es ohnehin schon war.

„Es hätte das zwar nicht bedurft, aber es hat alles noch einmal sehr deutlich unterstrichen, FX. Du hast mich gerade in Deinen Gedanken mitgenommen. Du hast mich mitgenommen zu einem verschüchterten kleinen Jungen, der im Laufe der Zeit zu einem unfassbar glücklichen und extrem mächtigen Teenager geworden ist. Ich weiß, Du wolltest es auf keinen Fall tun, auch das hast Du mir gesagt. Aber Du hast genau das getan, warum auch immer. Du hast mich in Deine Erinnerungen, in Deine Vergangenheit mitgenommen.”

Mit offenem Mund und unfähig, auch nur ein Wort von sich zu geben, starrte FX geradeaus und knapp an Michel vorbei. Er konnte nicht glauben, dass er tatsächlich absolut unbewusst und intuitiv Michel gerade wieder auf direktem Weg in seinen Gedächtnispalast mitgenommen hatte. So musste es aber sein, anders konnte Michel nicht solche Details, so konkrete Gefühle aus dieser Zeit aus seinem Leben beschreiben. Gesagt hatte er so etwas definitiv nicht.

„Es ist nach wie vor nicht schön, dass Du mich derart vergessen konntest, in den letzten Tagen. Und ich weiß auch nicht, ob ich es gut finde, dass Du mich auf diese Reise in Deine Gedanken mitgenommen hast. Zumal ungefragt! Aber jetzt kenne ich den Grund dafür und es erklärt auf jeden Fall, wie es dazu kommen konnte. Und ja, ich verzeihe Dir dafür. Ganz ehrlich und von ganzen Herzen!”

„Das… Ich wollte das so nicht...”

FX wusste nicht so recht, was er sagen sollte, hatte er doch selbst entgegen seiner Absicht gehandelt und so das Vertrauen seines Freundes ein weiteres Mal aufs Spiel gesetzt.

Aber Michel unterbrach den stotternden FX schlicht, indem er ihm einen Finger auf die Lippen legte und ihm so bedeutete, zu schweigen.

„Ich weiß, dass Du das nicht wolltest, ich hab es in Deinen Gedanken sehr präsent gesehen. Dass Du es trotzdem getan hast, ist aber okay. Was gibt es ehrlicheres, als in die puren Gedanken und Gefühle eines Freundes blicken zu dürfen? Ich kann mir keinen größeren Beweis einer Freundschaft vorstellen, FX. Und diese Freundschaft möchte ich um alles in der Welt erhalten!”

Und wieder spürte FX, wie sich dieser Kloß in seinem Hals bildete und wie seine Hände feucht wurden. Diesmal war es aber kein kalter Angstschweiß, es war die wohlige und Geborgenheit spendende Wärme, die er spürte. Er wusste jetzt ganz sicher, dass dieses kleine Intermezzo der Trennung zwischen ihnen ihre Freundschaft im Endeffekt umso stärker zementiert hatte.

„Du, FX, wenn ich mir etwas wünschen darf...”

„Wünschen darf man sich alles, Michel. Ob das dann wahr wird, weiß man nicht, aber genau dafür sind Wünsche doch da, oder?”

„Da hast Du auch wieder recht”, entgegnete Michel erleichtert. „Aber wo wir hier gerade so ungestört sitzen und ich gerade wieder einen spannenden Blick in Dein Leben werfen durfte...”

Michel druckste herum und FX versuchte ihm etwas entgegenzukommen, ehe er fortfuhr zu reden.

„Nun raus mit der Sprache, so schlimm wird's schon nicht sein, oder?”

„Okay! Damals im Urlaub, am Ende von dieser Hypnose, da waren wir doch in so einer Bibliothek.”

„Das war zwar keine Hypnose, aber ja. Ihr wart in meinen Gedanken, in meinen Erinnerungen. Ich nenne es Gedächtnispalast. Andere nennen es anders. Es sieht meistens aus wie eine Bibliothek. Wohl geordnet und mit einer Struktur. Ich bin darauf angewiesen, alle Gedanken und Erlebnisse wiederfinden zu können, weil ich das bei meiner Arbeit ständig brauche. Daher ist eine Bibliothek meiner Meinung nach die einzig sinnvolle Anordnung für meine Gedanken. Aber Du weißt, dass die optische Erscheinung davon nicht konstant ist. Die weniger schönen Gedanken oder ganz altes, was noch nicht verarbeitet ist, das lagert in irgendwelchen Ecken in meinem Gedächtnis oder im Keller oder sonst wo. Da irgendwo musst Du gerade gewesen sein.”

Michel nickte kurz, bevor FX weiter fortfuhr.

“Allerdings habe ich Dich anscheinend nicht über den Haupteingang in meinen Gedächtnispalast mitgenommen, sondern wir sind da direkt in das entsprechende Lager hineingekommen. Das geht natürlich auch, weil mein Gedächtnispalast ja kein konkretes Gebäude ist, sondern sich ausschließlich in meinem Kopf abspielt. Da gibt's keine wirkliche Physik, sondern nur Gedanken und Gefühle.”

„Ich möchte nochmal in diese Bibliothek.”

„Hä?”

„Ich möchte nochmal in diese Bibliothek. Ich möchte nochmal da sitzen in diesen Ledersesseln. Ich will nichts angucken, nicht in Deinen Gedanken oder Erinnerungen herumschnüffeln oder so. Ich möchte einfach nur nochmal diesen Raum, diese Masse an Wissen und Erinnerungen von Dir auf mich wirken lassen. Ich möchte halt nur ein paar Minuten dasitzen, die Luft atmen und beeindruckt sein.”

„Oh!”

„Ja, ich weiß, das ist viel verlangt, weil das ja auch extrem privat ist, aber diese Bibliothek war so überwältigend. Ich meine, unsere Bibo hier in der Uni ist ja schon krass, aber das in Deinem Kopf ist war einfach gigantisch! Ich habe so etwas noch nie zuvor in meinem Leben gesehen, weder im Fernsehen, geschweige denn in echt. ”

„Okay. Also wenn’s weiter nichts ist. Darf ich Dich zu einem Getränk in meinen Palast einladen?”

Einladend streckte er Michel beide Hände entgegen, damit sie zu zweit wieder einen kleinen Kreis bilden konnten, wie sie es damals bei Tarragona auf dem Berg über dem Meer zum ersten Mal getan hatten, als FX alle seine Freunde in seine Kindheit mitgenommen hatte.

Michel konnte sich einen kurzen dezenten Lacher nicht verkneifen und zeigte schadenfroh auf FX’ Gipsarm, bevor er beide Hände ergriff. Da FX ja schon über seinen Käfig Bescheid zu wissen schien, nahm er sich vor, ihn bei Gelegenheit über seinen gebrochenen Arm auszuquetschen.


Mit einer einladenden Geste öffnete FX die schwere, mit dunklem Leder bespannte Doppelflügeltür und gab den Weg frei in einen Raum, der gefühlt die Ausmaße des Kölner Doms hatte. Einzig der Altar am entfernten Ende des Raumes fehlte, weshalb der Eindruck einer gotischen Kirche nicht perfekt war.

Und natürlich standen in den Seiten dieses fünfschiffigen Raumes keine Kirchenbänke, sondern bis unter die ewig hohen Decken gab es Bücher in allen Größen, Farben und Einbänden. Unendlich lange Regale mit Leitern dran und Gängen auf halber Höhe zogen sich durch den gesamten Raum.

Lediglich das Mittelschiff dieser Kathedrale war nahezu leer, was die Größe noch einmal unterstrich. Nur ein langer Lesetisch mit wenigen Stühlen und klassischen gold-grünen Lampen stand dort. Als wurden sie bereits erwartet, standen leicht außermittig im Raum noch zwei schwere Ledersessel, ein Nierentischchen und eine kleine Bar und warteten darauf, dass die Gäste platznahmen. Der Rest des riesigen Raumes glänzte durch prunkvolle leere und in der Höhe nicht enden wollende Säulen.

„Mit einem Smoking ist man nie falsch angezogen.”

FX gab den Weg in seine Bibliothek frei und streckte seinen linken Arm ungewohnt frei und ohne Gipsarm aus.

Michel blickte an sich herunter und stellte fest, dass er nicht mehr zusammen mit FX nackt in der Sauna der Universität saß, sondern in einem feinen dunkelblauen Anzug mit Schal-Kragen steckte. Die Hose in derselben Farbe hatte an den Nähten außen ebenfalls einen Streifen aus Seide als Applikation. Seine Lederschuhe, ebenfalls in blau aber eine Spur dunkler. FX trug dazu ein feines weißes Hemd und hatte den obersten Knopf geöffnet.

Michel blieb vor lauter Staunen der Mund offenstehen. Den fehlenden Gipsarm an FX bemerkte er gar nicht. Allerdings kannte er das auch schon von seinem letzten Besuch an diesem virtuellen Ort. Aber nie hätte er sich träumen lassen, den eigentlich sehr einfach, wenn nicht sogar etwas verlottert gekleideten FX derart elegant gekleidet zu sehen. Und dabei hatte er noch nicht einmal eine Weste oder Fliege um. Selbst seine so eigenwillige Frisur auf wilden Dreads passte plötzlich perfekt. Die zusammengebundenen und so gezähmten Zotteln machten sich hervorragend zum Smoking. Und irgendwie hatten FX’ Haare auch einen leichten Blauschimmer, so dass sie auch farblich perfekt harmonierten.

Obwohl er gerade noch verschwitzt in der Sauna war, waren Michels Haare hier in dieser virtuellen Welt perfekt frisiert und saßen im messerscharfen Scheitel. Er selbst trug genau wie FX einen dunkelblauen Smoking. Erschrocken stellte Michel jedoch fest, dass er selbst unter der Jacke kein Hemd trug, sondern nackt war!

„Oh, ich dachte mir, dass das auch ganz gut aussehen müsste. Nun, ich glaube, ich habe mich geirrt, denn es sieht sogar verdammt sexy aus!”

FX konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen und ging in die Bibliothek hinein, da Michel es trotz Aufforderung nicht getan hatte.

„Also, Michel, hier wären wir also. Ich habe mir gedacht, dass ein Besuch hier nackt oder ein Saunahandtuch vielleicht nicht ganz passend wären. Wir sind hier zwar unter uns, aber so ein Smoking ist bequemer, als man denkt!”

„Es ist so...”

„Ja, tut mir leid”, FX entschuldigte sich schnell und unterbrach Michel, der ohnehin sehr langsam sprach, weil er immer noch überwältigt war von diesem Raum. „Ich habe nur bedingt Einfluss auf den Raum und die Stimmung hier. Mein Gedächtnispalast verändert relativ eigenwillig sein Aussehen und seine Größe, je nachdem, wie meine Stimmung und mein Gemütszustand gerade sind. Ich hab hier schon alles erlebt. Also rein optisch meine ich. Der Inhalt meiner Bibliothek ist immer gleich, nur die Darbietung ändert sich mitunter. Naja, und manchmal brauche ich etwas länger, um Dinge wiederzufinden. Aber da es mir jetzt gut geht, also wieder gut geht, sieht es hier ziemlich cool aus. Vor einer Stunde wäre es hier vermutlich wenig gemütlich gewesen.”

FX ließ sich in einen der beiden Sessel fallen und zeigte mit seiner linken Hand nach rechts auf den anderen Sessel und mit der Rechten nach links auf die kleine Bar.

„Setz Dich, was darf ich Dir zu trinken anbieten? Ich glaube, nur gucken und atmen, wie Du es gerade vorgeschlagen hast, ist etwas langweilig. Ein nettes Getränk dazu ist viel passender.”

Während Michel sich nur langsam der kleinen Sitzgruppe näherte, drehte er sich mehrfach im Kreis, um möglichst viele Perspektiven dieser Kathedrale wahrnehmen zu können. Nur langsam und widerwillig setzte er sich und kam langsam zur Ruhe, auch wenn seine Augen ständig von rechts nach links und wieder zurück flitzten.

„Du hast nicht zufällig einen Amaretto Sour, oder?”

„Amaretto was? Ich glaube, den ersten Teil habe ich.”

„Ich nehme ihn am liebsten mit Maracujasaft. Das Verhältnis ist eins zu eins. Und Eis natürlich.”

„Da hast Du aber echt Glück gehabt!”

Zwar war der Barschrank nicht sonderlich groß, jedoch war FX mit mehr als seinem halben Körper hineingekrabbelt und nur noch seine Knie und Füße schauten aus der Tür heraus. Aber Freude klang in seiner Stimme, als er den gesuchten Maracujasaft gefunden hatte.

„Bitte schön.”

Er reichte Michel ein Tumbler-Glas mit dem bestellten Amaretto Sour.

„Es gibt da allerdings ein kleines Problem, aber probiere erstmal. Ich bin selbst gespannt.”

„Wieso? Sieht doch gut aus. Sogar mit einem Schirmchen. Zum Wohl!”

Michel und FX prosteten sich zu. FX hatte ein kleines Glas, was etwa die Form einer Tulpe hatte, jedoch keinen Stiel besaß, sondern einen dicken Boden. Drin war eine kleine Pfütze einer dunkelbraunen Flüssigkeit.

In freudiger Erwartung führte Michel das Glas zum Mund. Die Eiswürfel im Glas hatten ihren Dienst getan und seinen Cocktail bereits heruntergekühlt. Das Glas war beschlagen und die ersten Tropfen rannen außen herunter. Genauso wie das Kondenswasser sammelte sich auch das Wasser in Michels Mund in voller Vorfreude auf diesen Cocktail und genussvoll nippte er an seinem Getränk.

In freudiger Erwartung einer Geschmacksexplosion aus dem kräftig süßen Amaretto zusammen mit der fruchtigen Säure der Maracuja nahm er den ersten Schluck. Er wollte sein Lieblingsgetränk in dieser besonderen Umgebung in vollen Zügen genießen.

Überrascht zuckte er zusammen, nachdem er seinen Cocktail im Mund hin und her schwenkte. Wie konnte das sein? Er roch am Glas. Verwundert nahm er einen zweiten Schluck. Und erneut der gleiche Geschmack. Nichts. Wasser.

„Nun sag schon, Michel, was schmeckst Du?”

„Es schmeckt nach nichts. Wasser. Nur kalt. Naja, die Eiswürfel halt.”

Michel kratzte sich am Kopf.

„Spannend! Ich hatte das noch nie.”

„Also FX, ich hatte das auch noch nie. Wir haben hier damals doch auch was getrunken und da hat das ganz normal geschmeckt. Wieso schmeckt es diesmal nicht?”

„Ich sagte doch: Ich hatte das noch nie. Ich meine, ich kenne diesen Cocktail nicht! Michel, Du bist hier in meinen Erinnerungen, nicht in der realen Welt. Was ich nicht kenne, existiert hier nicht. Ich kenne zwar die einzelnen Zutaten, aber ich weiß leider nicht, wie das zusammen schmeckt.”

„Oh.”

„Das tut mir leid. Ich konnte Dich leider nicht vorwarnen. Ich wusste auch nicht, was genau passiert, wenn ich hier neue Dinge ausprobiere. Das war für mich auch ein Experiment. Ich hab nicht so oft Besuch hier, weißt Du?”

„FX, Du bist total durchgeknallt!”

Michel konnte sich ein lautes Lachen nicht verkneifen.

„Du hattest letztes Mal einen Amontillado. Darf's der wieder sein? Oder lieber ein leckerer Rum aus einem Sherry-Fass?”

„Dann probiere ich gerne den Rum!”

„Bitte schön. Auf den zweiten Versuch. Auf die Freundschaft.”

„Auf unsere Freundschaft!”

Während beide an den Gläsern nippten, ließen sie die Atmosphäre des Bauwerks und die absolute Stille im Raum auf sich wirken. Tatsächlich konnte man außer den von ihnen verursachten Geräuschen hier gar nichts hören. Es gab in dieser Welt der Erinnerungen von FX kein Wetter, welches draußen die Bäume rascheln ließ oder keine anderen Menschen. Sie waren alleine in seinen Erinnerungen.

Eine Weile nachdem sie ihre Gläser geleert hatten, wurde FX unruhig.

„Hej, was ist los, FX?”

„Ich will ja nicht ungemütlich werden, aber die Zeit in der realen Welt läuft auch hier weiter. Wir sind hier, im wahrsten Sinne des Wortes, in Gedanken versunken. Also in meinen Gedanken zwar, aber das ist gerade zweitrangig. Wenn uns jemand da draußen findet, dann sieht er zwei Menschen, die gerade nachzudenken scheinen und nichts um sich herum wahrnehmen. Uns kann prinzipiell nichts Schlimmes in diesem Zustand passieren. Naja, es sei denn, es kommt da jemand mit einer Waffe. Aber sonst würden wir einfach erschrocken wieder zurück aus meinen Gedanken springen. Wann wird Deine Muckibude eigentlich geschlossen? Nicht, dass wir hier die Nacht verbringen müssen.”

„Ja, Du hast Recht. Vielleicht sollten wir demnächst gehen. Duschen müssen wir ja auch noch. Ich glaub, wenn wir hier wieder raus sind, haben wir nämlich nichts an. Bezüglich des Einschließens musst Du Dir aber keine Sorgen machen. Ich als Dauernutzer habe einen eigenen Schlüssel!”


Das darauffolgende Wochenende lockte mit frühsommerlichem Wetter und die vier Freunde planten ein Picknick am Waldrand um den noch jungen Sommer gebührend in Empfang zu nehmen. Auf dem Campus deckten sie sich mit allen nötigen Utensilien für den kleinen Ausflug ein und der Picknickkorb wurde zusehends voller. Neben Baguette und Käse fanden auch Dauerwurst und Wein den Weg in den Proviant. Ein kleiner Nachtisch in Form eines frischen Schokokuchens durfte auch nicht fehlen. Bewaffnet mit Decken zogen die wieder vereinten Freunde am frühen Nachmittag los und verließen über die stets offene Zugbrücke ihre Burg.

Mit gemischten Gefühlen trottete Michel den Weg mit einem kleinen, aber doch merklichen Abstand hinter seinen Freunden.

„Diggi, was’n los?”

Ben blieb es nicht verborgen, dass Michel plötzlich still und nachdenklich geworden war, kaum dass sie die Burg verlassen hatten.

„Ach, naja. Ben, weißt Du, das letzte Mal, als ich hier lang bin, da hab ich geheult wie sonst was.”

Ben wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte, weshalb er sicherheitshalber schwieg und mit Michel zusammen knapp hinter ihren Freunden schweigend den Weg entlang ging.

„Diggi!” Schweigen fand Ben schon immer unerträglich, so dass er überaus erfreut war, dass ihm doch noch ein schöner Gedanke eingefallen war. „Diggi, dann is es doch umso besser, dass wir diesen Weg jetz noch ma’ gehen. Und zwar nich’ mit Tränen in den Augen, sondern mit lautem Lachen!”

„Ben! Du bist mir ne Marke!” Michel lachte laut und stupste Ben freundschaftlich mit dem Ellenbogen in dessen Seite. „Komm, lass uns zu den anderen aufschließen!”

Ein adäquates Plätzchen am Wegesrand im halbhohen Gras kurz vor dem Waldrand war schnell gefunden. Von dort aus hatten sie eine herrliche Aussicht auf das Umland mit der Burg auf der Anhöhe in der Mitte.

„Meine Güte, was ist das nur für eine kitschige Aussicht! Auf einem Bild im Museum würde ich mir das nie angucken! Voll hässlich! Aber hier, so mittendrin, also das lässt sich schon gut aushalten.”

Henne streckte vor Freude die Arme weit aus und drehte sich einmal im Kreis.

Während sie die Decken ausbreiteten und das Picknick vorbereiteten, kamen immer wieder Kommilitonen und ab und zu sogar ein paar Professoren vorbei. Man grüßte sich freundlich, einige wenige hielten sogar an und ärgerten sich, dass sie nicht auf solch eine geniale Idee gekommen waren. Unter den vereinzelten Spaziergängern waren auch Emil und Paul, die nicht nur freundlich herüber nickten, sondern unaufgefordert einen Zwischenstopp einlegten.

„Hej, Jungs, setzt Euch doch zu uns!”

Es war Michel, der die Beiden in die Runde einlud. Ihm war es unbedingt ein Bedürfnis die beiden bei sich zu haben, hatten sie ihn doch sehr beruhigt und aufgefangen, als er sich kürzlich von seinen Freunden getrennt hatte. Ihren beruhigenden Worten war es unter anderem zu verdanken, dass sich Michel überhaupt öffnete und ein paar Tage später FX Gehör schenkte.

Da seine Freunde das Pärchen ja auch schon von der Party her kannten, setzte Michel einfach voraus, dass diese Einladung auch in deren Sinne war. Ein herzliches Hallo und Willkommen seitens seiner Freunde bestätigte auch seine Vermutung.

„Klar, setzt Euch doch. Ein bisschen Platz haben wir noch und wenn es etwas kuscheliger wird, ist das ja auch nicht schlimm. So warm ist es ja noch nicht.”

Ben rutschte etwas zur Seite, so dass auf seiner Decke ein Platz frei wurde.

„Oder wollt Ihr unbedingt zusammensitzen?”

Henne musterte die beiden kurz. Eigentlich hatte er sie noch nie einzeln gesehen. Ihm fiel auf, dass sie ständig, fast wie siamesische Zwillinge, immer nur paarweise auftraten.

Überhaupt: Wie Zwillinge sahen sie so gar nicht aus. Zwar waren sie beide von mittlerer Größe und sie trugen immer schwarze Kleidung, aber da endeten auch schon die Gemeinsamkeiten. Während Emil eher hager war und an FX’ schlaksigen Körperbau erinnerte, hätte Paul durchaus mit Michel verwandt sein können. Sein breites Kreuz machte Michel durchaus Konkurrenz und durch seine Kleidung konnte man hin und wieder ein gut durchtrainiertes Muskelpaket erkennen.

Emils Gesicht hätte das eines Kindes sein können, so weich und rein war seine Haut, wenn es nicht so schmal und kantig wäre. Kein einziger Bartstoppel ragte aus der makellosen Haut heraus, nicht einmal der Ansatz eines Bartwuchses war bei ihm zu erkennen. Seine wasserstoffblonden schulterlangen Haare waren sorgsam nach hinten gegelt und unterstrichen mit seinem kantigen Gesicht seinen sehr strengen Eindruck, den er auf andere machte. Nur selten löste sich mal eine Strähne und fiel in sein blasses Gesicht, was sehr selten ein Lächeln preisgab. Im Gegenteil, er zeigte quasi nie irgendeine Emotion, sondern war immer stocksteif und sprach mit einer nahezu monotonen Stimme. So wirkte er auf sein Gegenüber immer sehr kühl und distanziert. Nur seine goldenen Augen waren das genaue Gegenteil von seinem Rest und brachten Henne somit komplett in die Verwirrung, weil es einen derart krassen Kontrast in Emils Erscheinungsbild ergab.

Paul hingegen war vom Teint her deutlich dunkler. Seine polierte Glatze glänzte im Sonnenlicht und machte eben dieser eine enorme Konkurrenz. Fast schien es, als hätte er einen Heiligenschein über sich schweben. Im Gegensatz zu seinem Freund war Paul fast immer am Lächeln und entlockte so seinem Gegenüber oft ebenfalls ein Schmunzeln.

„Henne, richtig?”

Emil war sich nicht mehr ganz sicher, ob des Namens, aber er erinnerte sich noch sehr deutlich an die Party und den Ohnmachtsanfall von Henne. Dieser nickte zur Bestätigung. Emil hatte keine Ahnung, warum Henne damals ohnmächtig geworden war, aber da der kleine Punk hier wieder einen quietschfidelen Eindruck machte, vermutete Emil, dass es wohl nur die schlechte Luft auf der Party war, die einen kurzen Schwächeanfall ausgelöst hatten.

„Wir sind zwar seit vielen Jahren unsterblich ineinander verliebt, aber wir ertragen es durchaus, wenn wir für ein Stündchen oder so mal nicht Händchen halten können.”

All das entgegnete Emil in einem sehr neutralen Tonfall und nahezu emotionslos. Daher war Henne kurz irritiert. So hatte er Emil auf der Party gar nicht in Erinnerung. Eigentlich dachte er, dass beide durchaus sympathische Menschen waren und gerne lachten. Aber dieser Emil schien ja eher ein emotionaler Eisberg zu sein, der wenn überhaupt zum Lachen in den Keller gehen würde. Vermutlich konnte dieser Mensch nicht einmal lachen, so langweilig wie er klang. Henne vermutete, dass er auf der Party irgendwie zu viel getrunken haben musste, anders hätte er diesen Typen nicht so sympathisch in Erinnerung behalten können. Aber dieser schlaksige Emil hier hatte vermutlich ganz andere Leichen in seinem Keller versteckt, als sein Lachen. Henne war gar nicht wohl gerade. Wer hatte diese Beiden nur aufgefordert, sich hier hinzusetzen.

„Nimm meinen Mann nicht so ernst”, relativierte Paul sogleich die Aussage seines Freundes. „Wenn er keinen Alkohol getrunken hat, ist er fast immer unausstehlich!”

Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte, setze sich Paul neben Henne und stieß ihn freundschaftlich mit dem Ellenbogen in die Seite. Henne entspannte sich etwas. Dieser Paul schien auf jeden Fall definitiv netter zu sein, als sein Freund.

Etwas zögerlich tat Emil den letzten Schritt bis zur Decke, zog sich seine Schuhe aus und setzte sich zwischen FX und Ben, wobei er peinlich genau darauf achtete, keinen der beiden zu berühren.

Kaum, dass er gesessen hatte, zuckte FX vor Schreck kurz zusammen und rückte unbewusst etwas von Emil weg. Als er sich gleich darauf seiner spontanen Reaktion bewusstwurde, korrigierte er sich sofort und rückte wieder an seinen ursprünglichen Platz, in der Hoffnung, dass ihn niemand dabei beobachtet hatte. Es war ihm sehr unangenehm und FX konnte überhaupt nicht einordnen, warum er unbewusst den Abstand zwischen dem noch unbekannten Menschen vergrößern wollte. Eigentlich gab es dafür ja keinen Grund, aber irgendetwas in ihm drin mahnte zur Vorsicht.

„Also, Leute, ein Fünf-Gänge-Menü können wir Euch nicht bieten, aber für Brot und Wein, sowie Wurst und Käse und ein paar Gemüsestäbchen mit Soßen hat es auf jeden Fall gereicht!”

Michel präsentierte mit einer ausladenden Geste stolz das Buffet, was sie aufgebaut hatten. Ein buntes Sammelsurium hatten sie hübsch in der Mitte der Decke drapiert und es sah sehr einladend aus. Besonders Ben konnte es nicht mehr erwarten, bis das Buffet eröffnet wurde und er endlich zuschlagen durfte.

Da er den längsten Arm hatte, füllte FX die Gläser und dann wurde ein Toast auf den gerade beginnenden Sommer ausgesprochen. Das Brot wurde gebrochen und dann begann das muntere Futtern in der warmen Nachmittagssonne. Verschiedene Soßen wurden herumgereicht und die Wurst- und Käseplatten wechselten ebenfalls des Öfteren ihre Besitzer.

„Paul, wenn wir das alles auf dem Campus haben, dann frage ich mich, wo Du immer dieses langweilige Zeug besorgst.”

Emil hatte gerade einen Streifen Paprika durch eine Joghurt-Curry-Soße gezogen und ihn genüsslich verspeist.

„Ihr müsst wissen, dass wir nicht so oft in die Mensa gehen. Ich koche meistens selber bei uns in der WG und dann essen wir abends zusammen warm. Mittags gibt’s stattdessen nur ein Pausenbrot. Weder mein Gatte noch meine Mitbewohner haben sich bisher beschwert, deshalb bin ich...”

„Diggi, was’n mit Dir los?”

Ben war der erste, dem aufgefallen, dass Emil gar nicht mehr so blass, wie sonst üblich war, sondern dass sein Kopf knallrot angelaufen war. Sein Gesicht war auch gar nicht mehr markant eckig, sondern innerhalb kürzester Zeit dick und angeschwollen.

„Mist, ich glaub, da war was drin was Du nicht verträgst!”

Henne hatte noch nie einen allergischen Schock bei einem Menschen gesehen, aber in dem Augenblick wusste er sofort, dass es genau so etwas war.

„Scheiße, wir haben den Pen nicht dabei! Wir wollten doch gar nichts essen, sondern nur ne Runde drehen!”

Panik stieg in Paul auf. Noch bevor Ben in Verwunderung über Emils geschwollenem Gesicht seinen Satz beenden konnte, war Paul bereits aufgesprungen und hatte Emils Rucksack durchwühlt, um den lebensrettenden Adrenalin-Pen zu finden.

„Ihr versucht, Emil zu stabilisieren. Paul? Los, wir laufen! Ich wollte schon immer ein Rennen gegen Dich machen, aber jetzt laufen wir anscheinend um Leben und Tod!”

Paul wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab als diese, daher hauchte er noch im Aufspringen einen Kuss auf Emils glühend heiße Stirn, bevor er zu einem atemberaubenden Sprint ansetzte und Michel zunächst um mehrere Meter abhängte. Dieser nahm jedoch alle Kräfte zusammen und schloss innerhalb kurzer Zeit auf.

Während die beiden den Berg zur Burg hinauf liefen, kümmerten sich Ben und Henne um Emil. FX hingegen saß nahezu apathisch daneben und hatte sich seit dem Vorfall nicht ein bisschen gerührt.

Intuitiv griff Henne zu seinem Telefon und fing an, eine Nummer einzutippen.

„Diggi, der Krankenwagen braucht hierher über eine Stunde! Du weißt doch, dass wir hier mitten in der Pampa sind!”

Ben ließ seinen Blick nicht von Emil ab, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Noch bekam er Luft, aber das laute Röcheln verriet, dass sich dieser Zustand schon bald ändern würde.

Ben nahm sich eine Serviette, tränkte sie mit Wasser und legte sie Emil auf die Stirn. Ob es irgendetwas helfen würde, wusste er nicht, aber etwas anderes, als seinem Bekannten etwas Kühlung zu verschaffen, viel ihm nicht ein.

„Kein Krankenwagen. Aber ich bin mir sicher, unsere Krankenstation hat auch solche Adrenalin-Spritzen. Und wenn, dann können die unseren Jungs entgegenkommen. Dann müssen sie nicht erst bis in deren Turm hochlaufen!”

Das darauffolgende Telefonat war knapp und präzise. Das Personal der Krankenstation war über die Allergie und die Behandlung von Emil bereits bei der Immatrikulation informiert worden und entsprechend vorbereitet. Sie schickten den Läufern jemanden mit einem entsprechenden Pen entgegen.


FX steckte in einer Zwickmühle. Für ihn wäre es ein Leichtes gewesen, Emil zu helfen. Es hätte nicht einmal einen Fingerschnipp gebraucht und der anaphylaktische Schock wäre vorbei. Jedoch waren gerade viel zu viele Menschen vor Ort, um dem armen Emil schnell und diskret zu helfen.

Es würde viel zu viel Aufsehen erregen, FX müsste erneut Erinnerungen manipulieren und sich wieder vor dem Club verantworten. Dabei wollte er doch nur ein ganz normales und entspanntes Leben führen! Einfach ein paar Jahre entspannen und keine Wunder vollbringen und Welten retten. Aber nein, erst sein eigener Unfall im alten Geheimgang unter der Universität, dann Bens und Hennes Fähigkeiten und zwischendrin noch Ausflüge in seinen Gedächtnispalast und eine Jagd eines Verbrechers. Das war alles andere als ein normales Leben. Viel auffälliger ging es eigentlich gar nicht.

Okay, gegenüber seinen Freunden war das etwas anderes. Das machte ihm nichts aus, sich ihnen voll zu offenbaren. Zumindest machte es ihm mittlerweile nichts mehr aus. Aber das hier jetzt war es etwas anderes. Sie kannten die beiden erst seit ein paar Wochen. Da konnte FX unmöglich schon wieder den Wunderheiler spielen. Das ließe sich nur sehr schwer gegenüber den Fremden erklären.

Also entschied sich FX dafür, zunächst einmal abzuwarten und den Gesundheitszustand von Emil, nur zu beobachten. Selbstverständlich würde er eingreifen. Aber erst, wenn klar war, dass der herkömmliche Weg scheitern würde. Scheitern insofern, als dass Emil nicht sofort wieder absolut gesund werden würde.

Peinlich genau kontrollierte FX alle Vitalfunktionen von Emil. Praktischerweise konnte er das machen, ohne dass er den Menschen überhaupt berühren musste. Das war eine sehr diskrete Fähigkeit, die ihm zuteilgeworden ist. Noch hatten sie Zeit, Emil war erstaunlich widerstandsfähig, denn jeder andere hätte nach so vielen Minuten fast ohne Atmung schon lange die Augen verdreht und wäre ohnmächtig geworden. Erstaunlich, wie sehr sich dieser Typ dagegen wehren konnte. Aber FX konnte auch in die Zukunft hinaus extrapolieren und so wusste er, dass die Zeit, die Emil noch hatte, nicht reichen würde, bis Paul und Michel wieder hier waren.

Seinen Berechnungen nach würde Emil in weniger als einer Minute wirklich ohnmächtig werden und nahezu zeitgleich würde sein Hals so weit zugeschwollen sein, dass er gar nicht mehr atmen konnte. FX wusste schon jetzt, dass die beiden Sprinter erst gut eine weitere Minute später eintreffen würden und dass das der Pen vor dem Einstechen erst der Nervosität wegen runterfallen würde. All diese kleinen Verspätungen würden dafür sorgen, dass Emil in Koma fallen würde. FX beendete seinen geistigen Exkurs in die Zukunft mit einer Gänsehaut.

Daher entschied er sich, Henne einen genialen Gedanken einzupflanzen. Bei Henne war es besonders einfach, da er aufgrund seiner empathischen Fähigkeiten ohnehin sehr empfänglich dafür war und seine Abwehrmechanismen erst sehr grundlegend trainiert waren. In der jetzigen Situation hatte Henne seine Verteidigung ohnehin komplett vernachlässigt, so dass er den Gedanken von FX sofort als rettenden Einfall von sich selbst interpretierte.

Würde es ausreichen, wenn Michel und Paul die rettende Spritze an der Zugbrücke bekämen? Erneut berechnete FX die Laufgeschwindigkeit der Beiden abzüglich der zunehmenden Erschöpfung jedoch plus der Tatsache, dass der Rückweg zu der Gruppe bergab ging.

Nein, auch das reicht nicht, stellte er fest. Emil würde in exakt zweiundvierzig Sekunden keine Luft mehr bekommen und weitere sieben Sekunden später ohnmächtig werden. Die beiden Läufer jedoch sollten erst viel später wieder hier sein.

In Anbetracht der Tatsache, dass Emil jetzt schon kaum noch Luft bekam, war über eine Minute Atemstillstand nicht akzeptabel. So würde es nicht funktionieren. FX musste seinen Plan noch optimieren.

Die Idee des Wettlaufs mit Paul war Michel schon am Tag nach der Party gekommen, als er den neuen Bekannten das erste Mal bei Tageslicht sah. Es war klar, dass unter dieser schwarzen und sehr figurbetonten Kleidung ein sehr durchtrainierter Körper steckte. Umso mehr wunderte es Michel, dass er Paul noch nie im Fitnessstudio gesehen hatte. Offensichtlich hatten sie komplett andere Trainingszeiten. Und in der kurzen Zeit war es ihm noch nicht gelungen, seine Zeiten zu ermitteln.

Die Idee des Wettlaufs um Leben und Tod von Emil war jedoch nicht von Michel, die kam von FX. In diesem Falle bedurfte es nur den Hauch eines gedanklichen Anstoßes und Michels Gehirn entwickelte den Rest des Vorhabens ganz von alleine. FX hoffte, nein, er wusste, dass Michel ihm diesen kleinen geistigen Tritt in den Po verzeihen würde. Allen Beteiligten war klar, dass der gegenseitige Ansporn im Rennen beide nur schneller machen würde, niemals langsamer. Daher war es nur logisch, dass sie sich zu zweit auf den Weg machten, um den Adrenalin-Pen zu holen.

FX wusste, dass die Beiden bereits voller Freude den Pen an der Zugbrücke vom medizinischen Team der Universität bekommen hatten und bereits auf dem Rückweg waren. Dennoch würde die verbleibende Zeit von Emil nicht ausreichen. Auch das wusste FX. Emil würde zwar nicht sterben, aber unweigerlich ins Koma fallen.

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