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Quartett
Teil 36 - Strandparty
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
42. Strandparty
„Hej, da sind ja meine Lieblingsgäste!”
Kaum, dass die vier Freunde der Reihe nach aus der Toilette der Strandbar bei Tarragona herauskamen, hüpfte Eggsy auch schon mit einer gekonnten Hockwende über den Tresen hinweg und stürmte vor Freude mit ausgebreiteten Armen auf die Gruppe zu.
„Ich hatte Euch schon ein paar Tage eher erwartet. Kinners, wo wart Ihr denn?”
„Eggsy, frag nicht. FX musste erst noch seinen Holzkopf durchsetzen und wir haben einen Ausflug durch einen abgewrackten Tunnel gemacht. Das wiederum hat sich als großes Fiasko herausgestellt. Und die ganzen Details gibt's nachher. Lass uns erst mal ankommen.”
Michel war der Erste, der sich von Eggsy wie ein alter Freund, den man seit vielen Jahren nicht gesehen hat, in den Arm nehmen ließ. FX stockte kurzzeitig der Atem, weil er den begründeten Verdacht hatte, dass sein Freund und Meister seine Freunde komplett scannen würde. Aber er stellte mit Genugtuung fest, dass sich Eggsy zu benehmen wusste. Wahrscheinlich weil er sich bewusst war, unter der strengen Beobachtung von FX zu stehen.
„Faszinierend … Und warum war das Ganze nun so ein Fiasko? Was war denn nun am Ende des Tunnels? Ihr wisst ja, ein Licht am Ende des Tunnels kann nicht nur die rettende Sonne sein, sondern manchmal auch der entgegenkommende Zug!”
„Ach, hör auf, das war totale Zeitverschwendung! Da war nichts. Man landet nur auf einer kleinen runden Lichtung im Wald. Davon abgesehen ist es absolut lebensgefährlich, da hinzugehen, denn irgendjemand hat sich vor sehr vielen Jahren extrem viel Mühe gemacht, den Weg dorthin zu verhindern.”
„Faszinierend ...”
Nur für einen kurzen Augenblick warf Eggsy sein Gesicht in nachdenkliche Falten. So langweilig wie Michel diese Lichtung am Ende des Tunnels fand, so interessant fand Eggsy sie wiederum. Wenn etwas so spektakulär unspektakulär war und dann noch dazu so gut gesichert schien, dann musste dieser Ort definitiv ein Geheimnis verbergen. Aber er war sich sicher, dass die vier Freunde dieses Geheimnis lüften würden. Früher oder später. Vermutlich eher später, denn die meisten der Gruppe schienen daran gerade kein Interesse zu haben. Aber Eggsy war sich sicher, dass die Zeit dafür kommen würde. Für ihn gab es derzeit keinen Grund, das zu forcieren. Jäh unterbrach er seine Gedanken, stellte sie für einen späteren Zeitpunkt zurück und nahm Henne herzlich in den Arm.
„Da ist ja mein verrückter Papagei. Endlich ein bisschen Farbe hier am Strand. Ich sehe, Du bist bestens für die Strandparty gerüstet mit Deinem Regenbogen-Iro!”
„Eggsy, schön Dich wieder zu sehen. Man tut halt, was man kann. Ich hab mir gedacht, dass Du hier bestimmt viele knusprige Junx um Dich scharen wirst und dass ich deswegen ein Bisschen der Hahn im Korb sein darf. Deswegen hab ich mir erlaubt, meinen Kamm etwas aufzumotzen. Aber hej, so unaufregend wie Michel das beschrieben hat, war es dann doch nicht. Ben hat es immerhin geschafft, uns alle vier gleichzeitig in die Achte Dimension mitzunehmen. Das war vielleicht aufregend, sag ich Dir!”
Dann fiel Henne auf, dass er sich hier in der Öffentlichkeit total verplappert hatte und schlug sich voller Entsetzen mit der flachen Hand auf den Mund, als könne er damit das Gesagte ungesagt machen. In seinem Kopf machte sich sofort eine Geschichte selbstständig, dass ein Fremder gerade seine Worte aufgeschnappt haben könnte und sie jetzt in Gefahr waren, weil jetzt ein bisher gut gehütetes Geheimnis gelüftet worden war.
„Faszinierend ...”
Wieder erschienen die Denkfalten auf Eggsys Stirn. Ganz offensichtlich hatte ihn sein Gefühl nicht getäuscht und zumindest einer der Freunde schien ein paar Kräfte zu haben, die den meisten Menschen vorenthalten waren. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, hatte er die Freunde doch richtig eingeschätzt. Eggsys logischer Schluss daraus war dann, dass mit Sicherheit nicht nur Ben über interessante Kräfte verfügte, sondern ebenfalls die anderen beiden. Es blieb also weiterhin spannend mit den neuen Freunden seines Zöglings. Freundlich aber bestimmt nahm er Hennes Hand von dessen Mund wieder weg.
„Du musst vor mir keine Geheimnisse haben, Henne. Was hier bei Tarragona passiert, bleibt auch hier. Und von den wenigen umliegenden Gästen wird sich ohnehin niemand mehr an konkrete Details erinnern, dafür ist gesorgt. Das ist schon okay. Nicht wahr, Kleiner?”
„Diggi, nenn mich nich Kleiner!”
Ben war zwar deutlich größer als Henne, jedoch machte dieser das durch einen großen Iro mehr als wett, so dass Ben immer als der kleinste der Gruppe angesehen wurde, was ihm oft zuwider war. Seine tief sitzende Hose, die sich auf den Schuhen aufbauschte, tat ihr Übrigens, seine Körpergröße falsch einzuschätzen.
„Och Mensch, bekomm nun mal nicht schlechte Laune hier im Urlaub unter dieser herrlichen Sonne! Ich meinte doch gar nicht Dich, sondern FX! Das ist doch mein Kleiner. Zumindest war er es früher und er wird es auch immer bleiben. Auch wenn er es nicht hören will.”
Der Angesprochene nickte nur stumm zur Bestätigung.
„So, und nun komm her und lass Dich drücken, Ben. Jetzt bist Du dran.”
Eggsy und FX verzichteten dieses Mal darauf, zur Begrüßung ins Weiß zu wechseln. An diesem Nachmittag war es durchaus legitim, im Hier und Jetzt zu sprechen, zumal außer ein paar auserwählten Menschen niemand konkrete Erinnerungen an diese Party haben würde. Eggsy hatte einen mehr als bunten Strauß queerer Menschen an seinen Strand eingeladen. Es war eine faszinierende Mischung quer durch die Gesellschaft, fein säuberlich auf einander abgestimmt, um ein unvergessliches Partyerlebnis für diesen Abend zu haben. Was niemand der Gäste wusste war, dass mehr als eine vage Erinnerung an die beste Party ihres Lebens nicht zurückbleiben würde von diesem Abend. Niemand würde sich je erinnern, wo genau diese Feier stattgefunden hat, wie der Strand aussah oder was genau er an diesem Abend wirklich getan hatte. Ein jeder würde sich lediglich dran erinnern, dass er eine atemberaubende Party-Nacht verbracht hatte.
„Dein kleiner Skaterboy ist ja ein Wunderkind! Hat er wirklich Euch alle mit rüber genommen? Oder hast Du nachgeholfen? Ein Sprung nach Links mit drei weiteren Menschen. Das ist definitiv nichts für Anfänger. Seit wann macht er das schon? Und wer ist sein Trainer?”
„Er ist nicht MEIN Skaterboy ...”
„Aber Du findest ihn total sexy, stimmts? Du magst diesen schrecklichen Stil von weiten Klamotten und Hosen, die der Schwertkraft zu trotzen scheinen. Wieso kann man seine Hose nicht hochziehen? Muss man denn ständig seine Unterhose sehen?”
„Ich glaube, es ist unangemessen, über den Stil oder die Vorlieben seiner Mitmenschen herzuziehen. Zumindest hast Du mir immer beigebracht, zu leben und leben zu lassen. Überhaupt, sage mal, seit wann interessierst Du Dich für meinen Geschmack bezüglich Junx? Hast Du etwa das Ufer gewechselt?”
FX konnte es sich nicht verkneifen, Eggsy einen freundschaftlichen Klapps auf seinen Po zu geben, den man weithin hören konnte. Diverse Köpfe drehten sich in ihre Richtung.
„Mit Sicherheit nicht! Weder in diesem Leben noch im Nächsten!”
„Schade, ich wüsste schon jemanden, der total auf Dich abfährt. Ich glaube, er ist Morgen zur großen Party auch da.”
„Untersteh Dich!”
„Da kam kurz Panik auf, was? Aber mal Spaß beiseite. Ja, das hat Ben alles selber gemacht! Ich hab zwar aufgepasst und wäre für den Fall der Fälle da gewesen, aber ich musste zu keinem Zeitpunkt eingreifen. Nur an Hennes Iro ist er fast verzweifelt, bevor ihm der rettende Gedanke kam.”
„Ist er da alleine drauf gekommen?”
„Erstaunlicherweise ja.”
„Faszinierend ...”
„Geht das wieder los.”
FX rollte mit den Augen, kannte er doch das Wort von Eggsy zur Genüge. Auch wenn er es immer dementierte, so hatte Eggsy doch einen sechsten Sinn für Menschen im Allgemeinen und deren mögliche besondere Begabungen im Speziellen. Wie ein Trüffelschwein fand er immer wieder Menschen in der Umgebung, bei denen sich später eine Inselbegabung wie bei den drei Freunden herausstellte.
„Und die anderen? Was können die anderen? Die können etwas, das spüre ich doch.”
Eggsy wurde plötzlich ganz aufgeregt und seine ohnehin notorische Neugierde schien keine Grenzen mehr zu kennen. Er wusste genau, dass auch Henne und Michel zu irgendetwas Außergewöhnlichem im Stande waren. Was genau sie konnten, wusste er leider nicht, aber das stand für ihn außer Frage.
„Das, mein Lieber, werden sie Dir schon selber erzählen, wenn sie es denn für richtig erachten. Es ist einzig und alleine ihre persönliche Entscheidung, was sie wem erzählen. Du kannst sie lieb fragen, aber Du weißt auch, dass es sich nicht gehört, sie zu lesen. Also benimmt Dich und sei nett zu meinen Freunden!”
Mittlerweile sprach er so laut, dass auch seine Freunde ihn hören konnten.
„Und jetzt, mein lieber Eggsy, habe ich Durst! Zeig bitte Dein Können als Barkeeper! Dafür bist Du doch eigentlich hier, oder irre ich mich?”
„Sehr wohl!”
Eggsy verschwand wieder hinter dem Tresen, wenn auch nicht so galant, wie er vorhin darüber gesprungen war. Er wusste, wann es Zeit war, mit dem Nachhaken aufzuhören, auch wenn er zu gerne mehr Informationen aus FX und seinen spannenden Freunden herausbekommen hätte. Aber das würde sich mit Sicherheit zu einem späteren Zeitpunkt noch ergeben. Ihr Urlaub an der Costa Brava hatte ja gerade erst angefangen.
„Gentlemen, was darf es sein? Die Bar hat geöffnet.” Und etwas leiser an FX gewandt: „Und über die Lichtung sprechen wir noch, die ist sehr ...”
„Faszinierend, ich weiß.”
Die erste Nacht verbrachten die Vier nicht im Zelt, sondern alle waren der einhelligen Meinung, dass es am Strand direkt an der Wasserkante mit den Luftmatratzen viel romantischer war. Es ging nur ein laues Lüftchen, weshalb auch von Wellengang nicht die Rede sein konnte. Lediglich ein leises Plätschern sollte sie in den Schlaf wiegen. Obwohl laut Eggsy am morgigen Nachmittag bereits seine gigantische Party anstand, war an diesem Abend zuvor noch nichts davon zu spüren. Weder war eine Bühne aufgebaut, noch sah man Lautsprecher oder gar Lichtanlagen. Von möglichen Gästen ganz zu schweigen. Nur eine Hand voll Einheimischer hatte sich in den vergangenen Stunden am Strand und der Bar eingefunden.
Natürlich hatten sich die Freunde wieder an das versteckte Ende des Strandes zurückgezogen, wo ohnehin überhaupt nichts los war. Aber dass heute so gar kein Publikum zu sehen und der Strand am Abend absolut menschenleer war, ließ die Freunde aufhorchen, als sie den Tag Revue passieren ließen.
„Diggi, mir isses ja egal. Wir werden auch so nen geilen Urlaub haben, aber sollte hier nich mehr los sein, wenn Morgen hier Eggsys Megaparty steigen soll?”
Ben brachte das Thema als erster auf den Tisch, da er die Stille auf den Luftmatratzen am Wasser nicht mehr aushalten konnte. Alle anderen lauschten entweder der seichten Brandung oder aber beobachteten den Sternenhimmel.
„Kannst Du nicht einfach mal Deine Klappe halten und das hier genießen? Sterne, Satelliten, Sternschnuppen. Und das alles ohne Streulicht! Okay, bei uns an der Uni ist es genauso dunkel, nur haben wir da nicht das Meer zu unseren Füßen und am nächsten Morgen in der Regel wieder anderes zu tun.”
„Genialer Gedanke, Michel!” Henne war von der Idee total begeistert. „Wieso ist noch nie jemand von uns auf die Idee gekommen, eine Nacht auf einem der Türme zu verbringen? Sind die eigentlich offen? Kommt man da oben rauf? Naja, wobei das unterm Strich auch egal ist. Notfalls kann Ben uns auch da hoch bringen. Von da oben hat man bestimmt eine geniale Aussicht!”
FX überlegte kurz, ob er zu den Türmen ihrer Universität einen Kommentar abgeben sollte, entschied sich jedoch dagegen und verfolgte stattdessen eine ganze Phalanx von Kleinsatelliten, die gerade wie an einer Perlenkette aufgereiht den Himmel kreuzten, nur um Augenblicke später wieder zu verschwinden.
„Und wieso soll ausgerechnet hier in der Pampa irgendjemand auf eine Party kommen, Diggi? Sitges is gleich um die Ecke, da tobt doch das schwule Leben und nicht hier! Kein geradeaus Denkender würde diesen umständlichen Weg hier raus auf sich nehmen, wenn er doch alles da direkt vor Ort am Strand haben kann.”
„BEN!”
„Was’n? Eggsy hat gesagt, es werden Tausende kommen und alle sexy und alle schwul! Da wird man doch mal fragen dürfen, Diggi. Hat der überhaupt Ahnung davon, wie das schwule Partyvolk tickt? Ich glaub, das wird’n Reinfall. Der ist doch auch gar nicht schwul.”
„Er rafft es nicht.”
„Diggi, ich mein, wenn das hier morgen Mittag losgehen soll, dann muss doch wenigstens schon mal der DJ aufgebaut haben. Und Tausend Tunten haben Durst. Eggsy wird kaum so viel Prosecco in seiner kleinen Hütte haben. Wann will er das alles den vorbereiten?”
„Ich bringe ihn um.” Michel war zunehmend genervt und griff zum hoffentlich rettenden Strohhalm. „FX, so tu doch was. Kannste ihm nicht doch so richtig in die Fresse hauen? Der gibt einfach keine Ruhe.”
„Mach das doch selber. Die Muckis dafür hast Du doch.”
„Naja, aber Du hast das doch so cool vorgemacht. Das war schon krass beeindruckend!”
Michel klang etwas kleinlaut und fasziniert zugleich.
„Dann weißt Du doch, wie es geht.”
„Ich glaub, ich kann das nicht.”
„Besser ist das. So, und damit der kleine Quälgeist da drüben endlich Ruhe gibt, berichte ich Euch vom Stand der Vorbereitungen. Ihr kennt Eggsys einfach noch nicht richtig.”
Zwar blieb FX nach wie vor liegen und hatte das Sternbild des Orion im Auge, dennoch war er sich bewusst, dass er nun die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Freunde auf sich gelenkt hatte. Und genau aus diesem Grunde hielt er noch für eine dramatische Pause inne.
„Ich glaub, ich kann das doch mit dem Faustschlag.” Michels Nerven waren, genau wie die der anderen, bis zum Bersten gespannt. „Aber bei Dir!”
„Na also, geht doch!”
Niemand konnte FX grinsen sehen, aber dennoch wusste jeder, dass er gerade alle seine Zähne zeigte.
„Also, das ist so: Noch weiß niemand so ganz genau von dieser Party, die morgen hier stattfinden wird. Also genauer gesagt weiß gerade jeder in Sitges, der drei Beine hat, dass morgen die genialste schwule Strandparty überhaupt steigen wird. Drüben ist das seit Tagen das Thema überhaupt. Es gibt unzählige Gerüchte über die Party und den Ort. Aber niemand weiß wirklich etwas, aber alle vertiefen sich in Spekulationen. Die Gerüchteküche brodelt! Und genauso wird es auch bleiben. Und hinterher, nach der Party, wird sich jeder an diese Megaparty erinnern, aber keiner weiß, wie er hin oder wieder weggekommen ist, geschweige denn, wo sie stattgefunden hat. Keiner wird sich an Details erinnern, welche Lieder gespielt wurden, wer da war, wie die Bühne aussah. Aber ein jeder wird tief in Erinnerung behalten, dass es die genialste Party des Jahrhunderts war.”
„Jo, Diggi, suuuper, und wie kommen die Leute dann hier her? Daran schonmal gedacht?”
„Entspann Dich, Ben. Was bist Du denn heute so pessimistisch? Nehmen wir mal an, Du bist auf ne Party um acht Uhr eingeladen. Was machst Du? Genau, auch Du brezelst Dich auf. Nicht so wie andere vielleicht, aber auch Du willst schließlich noch ein bisschen sexier aussehen, als sonst schon.”
Ben schnappte nach Luft ob des Kompliments und war ganz hin und her gerissen, ob er jetzt doch noch einen Kommentar machen oder aber das Kompliment genießen sollte. Bevor sein Mund ihm die Entscheidung abnehmen konnte, entschied er aber noch in letzter Sekunde, sich einen Kommentar in letzter Sekunde verkneifen.
„Und wenn Du fertig bist, was passiert dann?”
„Du meinst, wenn sich Ben die Nase gepudert hat und seine tiefsten Baggys und breitesten Sneaker angezogen hat?”
Michel liebte es, wenn er Ben aufziehen konnte, war das doch gar nicht sein Kleidungsstil, auch wenn er ihn an Ben durchaus sehr ansehnlich fand.
„Diggi, Vorsicht, jetzt spielst Du mit Deinem Leben!”
„Ja, genau so ähnlich. Wobei das mit dem Nase pudern eher Du bist, Süßer.”
„Hej, ich ...”
„Wenn unser imaginärer Ben fertig ist”, FX fuhr Michel über den Mund, weil alle am Strand wussten, dass das manchmal wirklich so war und Michel hin und wieder versuchte, irgendwelche Hautunreinheiten zu kaschieren, „dann verlässt er pünktlich das Haus, um ja nichts von der genialen Party zu verpassen. Und genau das ist dann der Augenblick, wo die Leute plötzlich drüben an der Holztreppe auftauchen werden. Sie verlassen das Haus und tauchen oben am Beginn der Treppe auf. Fast so ähnlich, wie wir vorhin durch die Tür gegangen sind.”
„Jo, Diggi, un nu lass mich raten. Wenn die Tunten nach der Party wieder nach Hause gehen und besoffen die Treppe wieder rauf stokeln, dann passiert genau dasselbe, nur rückwärts oder was?”
„Korrekt, Ben.”
„Ach, Ihr seid doch verrückte Supertypen. Das ist zu viel für meinen Kopp. Zu viel Zauberei für mich hier am Abend, Diggi. Ich schlaf jetzt.”
Der Morgen danach war weniger romantisch, als sich das die Freunde ursprünglich gedacht hatten. Schon früh am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass alle ziemlich schnell die Gesellschaft von Sand bekamen. Viel Sand, der in alle erdenklichen Ritzen vorgedrungen war. So kam es, dass alle außer FX schon sehr früh wach und sich ihrer leicht panierten Lage bewusst wurden. Lediglich FX hatte entweder so bewegungslos geschlafen, dass bei ihm kein Sand auf der Matte zu finden war oder, und das erachteten die anderen Drei als viel wahrscheinlicher, er hatte wieder irgendwelche Tricks angewendet, die ihm einen sauberen und entspannten Schlaf bescherten.
Doch sie waren sich einig, dass er damit nicht durchkommen sollte. So leise wie nur irgend möglich gingen sie zum Wasser hinunter, füllten ihre Getränkeflaschen vom Abend zuvor auf, um FX dann mit einer kalten Dusche frischen Meerwassers zu wecken. Erwartungsvoll versammelten sich die Drei um seinen Kopf, um auf ein taktisches Zeichen hin zusammen ihre Flaschen über ihren Freund auszuleeren.
Gleichzeitig drehten sie ihre Flaschen auf die lautlose Anweisung von Ben und dessen Inhalt floss dem tief und fest schlafenden FX entgegen. Jedoch stoppten die ersten Wassertropfen etwa eine Hand breit über dessen Gesicht und bildeten dort eine immer größer werdende Pfütze, die sich erfolgreich weigerte, der Schwerkraft zu folgen. Ihre Flaschen waren mittlerweile geleert und über FX schwebte wie von Geisterhand eine große Wasserblase.
„Es mag ja sein, dass ich etwas aus der Übung bin, was meine Selbstverteidigung angeht, aber so die grundlegendsten Reflexe funktionieren bei mir immer noch.”
FX öffnete die Augen und versuchte an dem Wasser vorbei seine Freunde anzuschauen.
„Das mit dem Wasser hatten wir doch damals im Whirlpool schon. Und das funktioniert natürlich auch mit Sand!”
Er blickte in drei Gesichter, die ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Empörung wortlos anstarrten.
„Okay, aber ich will Euch den Spaß nicht ganz vermiesen.”
Im gleichen Augenblick platschte ihm das Wasser direkt ins Gesicht und er schüttelte seinen Kopf, um zumindest einen Teil davon wieder los zu werden.
„Diggi, Du bist fies!”
Ben ließ seiner Empörung freien Lauf und versuchte, vor den Wasserspritzern in Deckung zu gehen.
„Fies ist, einen schlafenden Freund so zu wecken!”
„Ist eher so ein Unentschieden geworden, was?”
Michel schüttelte resigniert den Kopf.
„Hej, gleiches Recht für alle, gehen wir schwimmen?”
FX war aufgestanden und bereits zum Wasser gegangen, wurde aber sogleich von seinen Freunden überholt.
Nachdem sie ausgiebig im Wasser herumgetollt hatten, ertönte zunächst ganz zärtlich aber dann in einer angenehmen Lautstärke sommerliche Chillout-Musik vom anderen Ende des Strandes her, wo Eggsy seinen Kiosk hatte. Allerdings kam die Musik definitiv nicht von seinem Kiosk.
„Diggi, also mit so ner fetten Bühne mitten im Wasser muss das heut ja ne geile Party geben!”
„Wann haben die denn das Teil hierher gebeamt?”
„Jo! Jo!”
Alle Drei blickten gleichzeitig zu FX, der unaufhörlich laut einen ihnen bis dato unbekannten Namen rief.
„Bitte nicht!”
Michel wandte sich genervt von FX ab und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn.
„Diggi, was meinste, wie oft ruft er jetzt diesen Jo?”
Ben hingegen war total interessiert, um welchen unbekannten Menschen es sich hierbei handeln könnte. Er hatte festgestellt, dass FX irgendwie häufiger attraktive Menschen um sich scharrte. Aber er konnte es sich auch nicht nehmen lassen und zählte mit weithin sichtbaren Fingern, wie oft sein Freund schon diesen unbekannten Jo gerufen hatte.
„Ben, verzähl Dich nicht.”
Henne deutete auf FX, der sich gerade von der Gruppe entfernte.
„Oh, doch schon vorbei. Okay, Diggi, ich wette, dass dieser Jo auch einer von FX’ Zauberkumpanen is.”
„Jetzt komm hier nicht mit Trivia, Ben! Natürlich ist er einer der Zweiundvierzig!”
Michel tat immer noch leicht genervt und gab Ben zum Spaß einen leichten Klaps auf den nackten Po. Es lag schließlich nahe, dass FX hier auf solch einer Party einen Menschen aus seinem Umkreis treffen würde, zumal Eggsy ja auch der Organisator dieser Festivität war.
Aber es schien FX doch überrascht zu haben, dass er diesen Menschen hier traf. So ganz verstehen konnte Michel das in Gänze daher nicht. Wenn er all die Erklärungen seines Freundes richtig verstanden hatte, dann konnten diese Menschen doch jederzeit überall hinreisen. Und sogar auch in der Zeit reisen. Daher ergab es für ihn keinen Sinn, dass sich zwei Menschen nur selten sahen. Sie könnten sich doch jederzeit besuchen, wenn sie denn wollten.
Die Drei folgten ihrem Freund an den Strand zurück zur Bühne, die unweit des Kiosks aufgebaut war. Sie schwamm tatsächlich mehrere Meter weit draußen mitten im Wasser und wippte langsam sowohl im Takte der Musik als auch der Wellen. Von der Entfernung zum Strand und dem seichten Wasser hier konnte man die Bühne vermutlich ohne zu schwimmen erreichen. Jedoch würde ein Besucher der Bühne mindestens bis zum Bauchnabel nass werden. So war gewährleistet, dass ungebetene Besucher die Bühne nur schwer entern konnten, aber dennoch eine gewisse Nähe zum Publikum vorhanden war. Und man konnte problemlos im knietiefen Wasser tanzen.
Wie im Gänsemarsch spazierten die Vier nun zurück zum Kiosk. FX gab das Tempo vor und die anderen hatten durchaus Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Kurz vor dem Erreichen des Kiosks bog er dann links ab und steuerte direkt auf die Bühne zu. FX’ Füße versanken nicht im Wasser, sondern wurden lediglich bis zu den Knöcheln nass. Offensichtlich hatte man bei der Installation der Bühne knapp unter der Wasseroberfläche einen kleinen Laufsteg versenkt, so dass man doch problemlos zur Bühne und dem dort arbeitenden DJ gelangen konnte, wenn man denn wusste, wo sich dieser Steg befand.
Natürlich waren alle neugierig auf den neuen Unbekannten aus FX’ Leben, also folgten sie ihm weiter in Richtung Bühne. Allerdings stellte Henne, der den Trupp anführte, bereits nach wenigen Metern fest, dass es keinen versteckten Laufsteg unter Wasser gab, sondern man doch schwimmen musste.
„Der Blödmann hat uns wieder ausgetrickst.”
Henne stand bereits bis zu den Knien im Wasser und sah, wie FX gerade nahezu trockenen Fußes auf die Bühne stieg und sich nicht einmal zu seinen Freunden umdrehte. Anscheinend hatte er komplett vergessen, dass er hier nicht alleine war.
„Diggi, so’n bisschen nervt er ja manchmal schon, wenn er vergisst, dass er ganz normale Freunde hat, oder was sagt Ihr dazu?”
Ben versuchte, seine Frisur etwas zu richten, weil er vermutete, dass der Typ hinterm Mischpult ziemlich sexy war. Zumindest war es eine Mischung aus Hoffen und Erahnen, denn sie standen noch zu weit entfernt, als dass man genaueres erkennen konnte. Ben hingegen war der Meinung, dass er jetzt am Morgen nicht den weltbesten Eindruck auf Fremde machte, weil er gerade erst nach einer unruhigen Nacht am Strand aufgestanden war und noch keine Zeit hatte, sich für den Tag herzurichten.
„Ach Junx, lasst ihn doch. Wenn er nach so langer Zeit mal wieder alte Bekannte trifft, dann ist das doch auch irgendwie verständlich, findest Du nicht?”
Michel setzte wieder zum Rückweg an und steuerte direkt auf Eggsys Strandbar zu. Er war sich sicher, dass sie über kurz oder lang dem Fremden vorgestellt werden würden und bis dahin erhoffte er sich ein kleines Frühstück bei Eggsys.
„Moin Freunde! Macht Euch keinen Kopf um den Kleinen. Aber die beiden waren mal ...” Eggsy kratzte sich am Kopf, weil er noch nach den richtigen Worten suchte. „… sagen wir mal ‚dicke’. Jemand Kaffee?”
„Moment, Eggsy, willst Du sagen, dass dieser Mister Jo der Ex von FX ist?”
Hennes Iro war durch das Bad im Meer komplett zusammengefallen, aber während er sprach hatte Henne all seine Haare in alle Richtungen gezogen, so dass sie nun abstanden, als hätte er in eine Steckdose gefasst.
„Oh, Vorsicht, Henne! Johannes ist da extrem empfindlich, was seinen Namen angeht. Ich glaub, der Kleine ist der Einzige, der ihn so nennen darf. Alle anderen haben bisher einen ordentlichen Einlauf bekommen und die Wenigen, bei denen er das mit dem Einlauf wörtlich gemacht hat, sollten froh sein. Croissants? Oder lieber Baguette mit Marmelade?”
„Diggi, ich nehm ein Croissant mit Marmelade. Und’n Kaffee bitte.”
„Ben, das kannst Du doch nicht machen! Das arme Croissant!”
Michels Entsetzen war natürlich nur gespielt, aber nun tunkte er demonstrativ das Croissant in seinen Kaffee und biss genüsslich davon ab. Ein ungesunderes Frühstück konnte sich der sonst so gesund ernährende Michel kaum vorstellen, aber hier und heute war Urlaub und deswegen war ihm der Rest der Welt egal.
„FX hatte also ‘nen Freund ...” Gedankenverloren drehte Henne eine Strähne um seinen Finger und seufze romantisch. „Wie lange waren die denn wohl zusammen?”
„Ach Henne.” Eggsy rückte zu Henne am Tresen auf und stützte seinen Kopf direkt vor Henne auf. „Zeit ist bei uns sowas von egal. Aber Du darfst so eine Frage natürlich stellen. Noch! Du wirst Dich aber mittelfristig dran gewöhnen, dass das lineare Leben auch für Dich ein Stück weit geendet hat.”
Und dann zwinkerte er und lachte kurz, bevor er fortfuhr.
„Also wenn man die Zeit, die die beiden zusammen verbracht haben, in klassischen Maßstäbe ausrollt, dann waren das glaube ich etwas mehr als hundertsiebzig Jahre.”
Henne, der gerade seinen ersten Schluck Kaffee im Mund hatte, prustete vor Überraschung und versprühte den gesamten Kaffee in Eggsys Richtung. Der Sprühnebel aus Kaffee hielt jedoch kurz vor Eggsys Gesicht an und verharrte dort leicht wabernd als senkrechte rehbraune Pfütze aus Milchkaffee. Die Parallele zum Morgen, als das Wasser, was zum Wecken von FX gedacht war, über dessen Gesicht stoppte.
„Diggi, so schlecht schmeckt er doch gar nich.”
„Das wollte ich wohl meinen. Ich hab ihn gerade handgefiltert.”
Ben hatte offensichtlich nicht zugehört, denn er war die ganze Zeit mit der Filetierung seines Croissants beschäftigt. Michel flüsterte ihm kurz etwas ins Ohr, dann schluckte er wenig überrascht und widmete sich wieder seinem Frühstück.
Eggsy wartete einen Augenblick, bis er sich sicher war, dass die Aufmerksamkeit aller außer Ben auf ihn gerichtet war, bevor er mit einer kleinen Handbewegung Hennes nach wie vor in der Luft schwebenden Kaffee in den Ausguss dirigierte.
„Die beiden waren gut. Sie waren sogar sehr gut! Ein perfektes Team. Und das, obwohl ich Johannes gar nicht ausgebildet habe.” Eggsy konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, bevor er fortfuhr. „Ich glaube, sie waren eines der besten Teams, die der Club je gehabt hatte. Es hat einfach gepasst mit den Beiden. Sie waren eins. Ich meine, Du kennst das ja selber, dass man begrenzt in andere hinein schauen kann. Aber die beiden waren keine Zwei, sie waren quasi Eins. Rechte Hirnhälfte, linke Hirnhälfte. So in etwa. Ich glaube, das war das Geheimnis ihres Erfolgs. Sie funktionierten immer perfekt. Automatisch. Als hätten sie es vorher abgesprochen. Es war bei ihnen jedoch die pure Intuition.”
„Und wenn das so ein traumhaftes Team war, wieso sind sie dann auseinander?”
„Ach Henne, irgendein berühmter Hirnforscher sagte mal: Nur, weil man hinein schauen kann, weiß man noch lange nicht, wie es funktioniert. Vielleicht haben sie sich einfach auseinandergelebt. Ich weiß es nicht.”
„Also ich möchte mit meinem Partner ewig zusammen sein.”
„Ja, verständlich. Nur dass Dein ‚ewig’ nach spätestens hundert Jahren zu Ende ist. Menschen leben in der Regel einfach nicht länger. Unser ‚ewig’ hingegen ist wirklich ewig. Deshalb sind wir da etwas vorsichtiger mit dem Begriff. Das dauert nämlich mitunter verdammt lange.”
„Hej, Junx, ich hoffe, Eggsy hat Euch nicht zu sehr genervt.” FX war von der Bühne zurückgekommen und hatte den DJ mitgebracht. „Darf ich Euch Johannes vorstellen?”
Ben, der den Kampf mit seinem Croissant schließlich gewonnen und gerade genüsslich abgebissen hatte, drehte sich um und blickte dem neuen Gast in ihrer trauten Runde in die Augen. Dann etwas höher auf die Augenbrauen, dann zwischen die Augen. Sein Blick ging weiter, die Nase hinunter zu den Lippen und erst an den Ohren schaffte er es nur widerwillig, sich von FX‘ Exfreund zu lösen. Irgendwie konnte er sich an diesem Typen gar nicht satt sehen, war sich aber dennoch bewusst, dass es unhöflich war, ihn so lange anzustarren. Was er in all seiner Aufregung jedoch nicht bemerkt hatte war, dass er die ganze Zeit seinen Mund vor Erstaunen offen hatte und darin noch ein Stück Croissant mit Marmelade war.
Michel, der neben Ben saß, schloss ihm vorsichtig den Mund, in dem er langsam seinen Kiefer hochschob, was Ben gar nicht richtig mitbekam und ganz automatisch seinen Mund schließen ließ.
„Ich entschuldige mich für Ben und sein Benehmen. Aber was er eigentlich sagen wollte ist, dass der FX-Exfreund sich sehr freut, Dich kennen zu lernen und außerdem findet er Dich total sexy. Naja, letzteres wollte er eigentlich nicht sagen, aber das denkt er gerade. Aber er hätte es dennoch gesagt, wenn er dazu im Stande gewesen wäre, weil er immer erst redet, bevor er denkt. Aber Du hast ihn leider gerade komplett hypnotisiert, weshalb er heute ausnahmsweise mal ganz still ist.”
Langsam begann Bens Gehirn wieder zu arbeiten. Dieser Typ sah einfach nur genial aus. Er hatte so viele Piercings im Gesicht, dass Ben sich ständig verzählt hatte. Spätestens jetzt wurde ihm klar, dass ihn das total erregte. Es war quasi das i-Tüpfelchen eines hübschen Menschen, sozusagen die bunten Streusel auf dem Pudding.
„Diggi, hast Du gesehen, was für geile Piercings der Typ hat? Is das nich total scharf? Ich will das auch!”
„Ben, er kann Dich hören.”
„Mist, Diggi, ich muss ...”
Das letzte Wort hörte niemand mehr, denn Ben war auf der Toilette verschwunden.
„Irgendwie hab ich mir Deine Freunde anders Vorgestellt, Schätzchen.”
Verwirrt blickte Johannes hinter Ben hinterher, von dem man nur noch die zuschlagende Toilettentür hörte.
„Hej, Jooo...hannes, ich bin Henne.”
Fast hätte Henne das Fettnäpfchen getroffen, vor dem sie Eggsys gewarnt hatte, konnte sich allerdings im letzten Moment noch zusammenreißen. Mit einem verlegenen Lächeln streckte er ihm die Hand entgegen, die Johannes ergriff und fest drückte. Für einen ersten Händedruck war es definitiv zu fest und Henne schoss der Gedanke durch den Kopf, ob das nicht schon eine kleine Rache für seinen Versprecher war.
„Hej, ich bin Michel und Ben hast Du ja schon kennengelernt. Der ist manchmal etwas schüchtern Fremden gegenüber. Nicht.”
Michel war der feste Händedruck und Hennes kurzzeitig schmerzverzerrtes Gesicht nicht entgangen, weshalb er jetzt die Initiative übernahm und mit seinen durchtrainierten Händen beherzt zupackte. Er war nur ein bisschen überrascht, dass Johannes so sicher parierte. Aber eigentlich war es auch klar, dass er sich von so einer Lappalie nicht überraschen lassen würde. Denn ganz offensichtlich spielte er in derselben Liga wie auch FX.
„Eggsy, ich sehe, Du weißt immer noch, wie man gute Partys organisiert. Ich freue mich jetzt schon auf den Abend. Mit Jo hinter den Tellern kann gar nichts mehr passieren.”
„Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss noch ein paar Titel vorbereiten für nachher. Außerdem will ich Eurem Freund noch die Chance geben, wieder vom Klo raus zu kommen. Du hast ihm schon gesagt, dass Türen nicht ewig verbunden bleiben, oder? Nicht, dass er nochmal schnell zu Euch nach Hause wollte.”
Kaum war Johannes auf dem Rückweg zu seiner schwimmenden Bühne, kam Ben wieder zum Vorschein.
„Ich dachte, Du wärst schon etwas länger kein Teenager mehr.”
Michel wedelte mit der flachen Hand vor seinem Gesicht und blickte Ben vorwurfsvoll an, als dieser verlegen wieder zurück zum Tresen kam.
„Krass, Diggi, hast Du gesehen wie zugetackert der war? FX, der is ja wohl voll süß! Ob ich da mal beigehen darf?”
„Ben, was ist denn mit Dir los? Du bist ja ganz aus dem Häuschen! So kenne ich Dich gar nicht. Komm mal wieder runter. So begegnet man doch keinem fremden Menschen!”
Michel drückte seinen Freund zurück auf den Barhocker und drehte ihn zum Frühstück hin, in der Hoffnung, dass sich Ben wieder etwas beruhigte.
„Ich fürchte, der spielt in einer anderen Liga als Du. Den kannst Du nicht bedienen. Nimm’s nicht persönlich. Ich möchte nur nicht, dass Du Dir da die Finger verbrennst. Und was die Piercings angeht: Frag ihn, er macht Dir bestimmt gern welche rein! Er zückt einfach sein Leuchtschwert und brennt Dir ein paar Löcher in den Pelz.”
„Diggi, neee, das trau ich mich nich.”
Demonstrativ schlug Michel mit seinem Kopf auf den Tresen auf, bevor er aufstand.
„Ich geh mich jetzt für den Tag rüsten. Ich glaub, das wird heut’ wirklich aufregend. Eggsy, danke für den Kaffee, der war definitiv spitze!”
Der Strand füllte sich langsam mit dem Partyvolk, welches einen sehr internationalen Touch hatte. Wie auch immer es Eggsy geschafft hatte, hier an seinem Strand versammelten sich gerade Menschen aus aller Herren Länder. Und auch die Rhythmen, die Johannes mittlerweile anspielte, waren schon deutlich schneller und mitreißender als noch die sommerlich entspannende Musik am Vormittag.
„Ben, wo bleibst Du denn?” Henne feuerte seinen Freund an, während er gelangweilt zwischen Brandung und Zelt auf und ab lief. Mehr zu sich selbst als zu seinen Freunden gewandt murmelte er: „Was ist nur mit ihm los heute?”
„Ach lass ihn doch, Henne.” Michel war das Gemurmel anscheinend nicht entgangen. „Ich glaub, er hat gerade ein neues Steckenpferd gefunden. Und dieser Johannes scheint ihm einfach nur mit seinem Anblick gehörig den Kopf verdreht zu haben. Unser lieber Ben ist halt einfach nur aufgeregt, wie ein kleines Kind vor Weihnachten. Ich glaub auch nicht, dass er sich in Johannes verliebt hat. Der findet ihn einfach nur cool.”
„Ja, vermutlich hast Du recht. Hej! Sexy Klamotten, Michel! Steht Dir, kannst Du tragen. Aber das Hemd ist nicht Deins, oder?”
Henne buffte seinen Freund mit dem Ellenbogen in die Seite und piekste demonstrativ in Michels Oberarm, der sein weißes Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln schon im nicht angespannten Zustand komplett ausfüllte. Henne hatte etwas Sorge, das ein kurzes Zucken mit dem Bizeps das Hemd von Michel bersten ließ, wie eine Bockwurst im heißen Wasser.
„Danke, Du bist echt lieb! Aber was ist mit Dir? Dein Iro steht schon wie eine Eins und der Regenbogen ist ja wohl richtig cool. Aber willst Du in diesen Klamotten gehen?”
„Wieso? Ist mein T-Shirt nicht sauber? Ich hab’s sogar gebügelt!”
Henne blickte prüfend an sich herunter.
„Ach, was solls. Deine Springerstiefel sind vielleicht gar nicht so unpraktisch beim Tanzen. Ich weiß jetzt schon, dass mir nachher die Leute auf meine Füße treten werden.”
Gleichzeitig blickten beide nach unten. Unterschiedlicher konnte die Sicht nicht sein: Springerstiefel standen neben Flip-Flops, luftige dreiviertel lange Leinenhose neben abgeschnittener roter Karohose.
„Na? Wer hat den längsten? Oder was guckt Ihr gerade?”
FX kam vom Strandkiosk zurück und wollte seine Freunde für den Abend abholen. Seine Dreads wippten im Takte der Musik und man konnte an seinen leuchtenden Augen ablesen, dass FX sich schon riesig auf die Party freute.
„Püppi braucht noch etwas länger.”
Henne verdrehte die Augen und deutete auf deren Zelt weiter oben am Strand.
„Michel, hast Du von Eggsy ‘nen Tipp bekommen? Vorne sind auch alle in Weiß unterwegs. Hab ich was verpasst?”
Fragend hob FX seine Schultern hoch und drehte die Handflächen zum Himmel.
„Hallo? Wir gehen auf eine Strandparty! Was soll man da anderes anziehen, als etwas Weißes? Das passt doch wie die Faust aufs Auge!”
„Diggi, wie weiß? Das hat mir niemand gesagt! Damit kommst Du jetzt? Dann muss ich mich noch einmal umz…”
„Nix da, wir gehen jetzt!”
Henne, der ähnlich wie FX immun gegen jeden Modetrend war, packte Ben am Arm und zog ihn mit.
„Endlich mal jemand, der Tacheles redet.”
Michel und FX trotteten gemütlich hinter den anderen Beiden hinterher.
„Aber, Michel, ich will nichts gesagt haben. Wenn es einer tragen kann, dann Du! Dieses knallenge Leinenhemd und diese passende Hose, die Deinen Popo so schön betont … Die Junx werden Dir zu Füßen liegen.”
„Danke, FX, das hör ich gern. Aber einer würde mir reichen.”
Michel legte seinen Arm um FX’ Hüfte und zog ihn zu sich heran. Optisch war es ein Bild zum Schmunzeln. Michel mit seinen wohl definierten Muskeln hatte zwar einen wunderhübschen Körper, jedoch sah er aberwitzig klein aus im direkten Vergleich zu FX, der ihn um fast zwei Köpfe überragte. Daher blieb Michel auch nichts anderes übrig, als seinem Freund den Arm um die Hüfte zu legen. Alles andere hätte von der Größe her einfach nicht funktioniert. Eng umschlungen mischten sie sich so unter das Partyvolk.
Die Stimmung war am Kochen. Vor der Bühne im Wasser und am Strand tanzten hunderte junge Männer und ließen sich von den Künsten des DJs verführen und in die Ektase treiben. Johannes war quasi dazu geboren, die Plattenteller zu füllen, liebte er doch die Musik über alles und er genoss es, sein Publikum für diesen Zweck zu lesen und ihnen exakt die Musik aufzulegen, nach der sie gerade verlangten. Mit seinen Fähigkeiten, Menschenmassen in Windeseile zu scannen, konnte er den Musikgeschmack des Publikums perfekt treffen und sorgte somit dafür, dass ihm das Publikum zu Füßen lag. Wilde Lichtblitze heizten das tanzende Volk zusätzlich an und rundeten die Stimmung unter freiem Himmel perfekt ab. Es wurde am Strand und im Wasser getanzt, fast bis zur Ektase.
Aber auch an der Bar herrschte reges Treiben. Es wurde gelacht und geschwatzt. Die Schwulen musterten ihre Konkurrenz und man tauschte den neuesten Tratsch aus. Das internationale Publikum war perfekt von Eggsy abgestimmt und seine Rechnung ging einhundertprozentig auf. Es wurden neue Freundschaften geschlossen und selbstverständlich wurden über so ziemlich jeden Gast auf der Party gelästert, weil unterm Strich doch irgendwie jeder jeden kannte. Lediglich die Frage, wie man zu einer Einladung zu dieser zweifellos genialen wie auch exklusiven Feier gekommen war und wie ein jeder angereist war, blieb außen vor. Es war unwichtig - und niemand hätte eine Antwort darauf gehabt.
Weiter hinten, etwas versteckt bei den Felsen, wo das Flackerlicht der Disco nur selten hin leuchtete, erkannte man indes in der Dunkelheit ein etwas dezenteres Treiben. Die meisten Nischen zwischen den Felsen waren von Pärchen belegt. Teilweise waren es auch eindeutig mehr als zwei Personen. Jedoch hüllte die Nacht den Mantel des Schweigens über jene Tätigkeiten.
Erschöpft vom Tanzen ließ sich FX auf einem Barhocker sinken. Er hatte sehr ausgiebig unten am Wasser getanzt und sich ganz den Rhythmen seines Ex-Freundes hingegeben. Natürlich wusste Johannes genau, mit welcher Musik er seinen ehemaligen Partner bis zur Ektase anfeuern konnte und hatte dies auch schamlos ausgenutzt. FX hingegen musste sich indes sehr zusammenreißen, damit er im Wasser tanzte und nicht aus Versehen auf dem Wasser. Durch seine Körpergröße fiel er ohnehin schon genug auf, da brauchte er nicht noch mehr Aufmerksamkeit und schon gar nicht, wenn es um irgendwelche seltenen Fähigkeiten ging. Für ihn galt es, einen weiteren Termin bei der Chefin unbedingt zu vermeiden.
„Eggsy, mein Dank gilt heute einzig und alleine Dir! Das ist die geilste Party, die ich bisher erlebt habe!”
„Du meinst, wir sollten das öfter machen? Was möchtest Du trinken?”
„Ein großes Wasser ohne Kohlensäure und einen Cosmo bitte. Ich brauche etwas erfrischendes. Nein, nicht öfter bitte. Es muss etwas seltenes und besonderes bleiben.”
„Sag mir nur wann. Du weißt, ich bin für solch einen Spaß immer zu haben. Ich liebe es, Euch Schwuppen um mich zu scharren und zu genießen, wie Ihr Euch amüsiert. Es ist mir, wie immer, eine Ehre, Euer Gastgeber zu sein!”
„Scheiß auf die Zukunft, Eggsy. Heute ist wirklich einfach mal nur heute! Salud.”
„Recht hast Du. Prost.”
„Ich hoffe, Du hast Deinen Partygästen noch ein bisschen was anderes eingeimpft.”
FX nickte in Richtung der Felsen.
„Selbstverständlich! Heute wollen alle nur safer Sex. Und mit ein bisschen Glück bleibt das sogar noch ein Weilchen länger so. Aber da hab ich dann meine Finger nicht mehr im Spiel.”
Eggsy mimte die Unschuld.
FX nippte an seinem Cocktail. Er liebte die Erfrischung eines gut gemachten Cosmopolitan Cocktails. Ferner war es bei dieser mehr als internationalen Veranstaltung ohnehin das ideale Getränk. Und Eggsy hatte auch nicht zu viel versprochen: er war wirklich perfekt!
„Trinkst Du immer alleine?”
Fast hätte sich FX an seinem Cosmo verschluckt. Er hatte ihn weder erwartet noch kommen hören. Aber diese Stimme würde jederzeit wiedererkennen. Es war diese monotone Stimme, die so gar keine Interpretation zu ließ. Es war die Stimme, wo man die Stimmung nur erraten konnte. Es war die Stimme von Emil.
„Hätt ich Dich heut erwartet, hätt ich noch einen bestellt.”
„Danke, sehr lieb. Ein Kuchen würde hier auch nur schwer her passen. Ich nehme aber lieber einen Martini Cocktail mit drei Oliven. Gerne welche mit Kern.”
Emil nickte freundlich aber bestimmt zu Eggsy hinüber. Er hatte sofort bemerkt, dass dieser Mensch nur ausnahmsweise ein Barkeeper war. Welches Geheimnis er hütete, konnte er sich nicht ausmalen, jedoch war ihm klar, dass diese Bar hier nur Fassade für etwas größeres war. Emil hatte Fragen, doch fürchtete er, dass sie warten mussten.
„Wo ist Paul? Ich dachte, Ihr habt etwas Wichtiges vor. Wieso wisst Ihr von Eggsys Party? Dein Cocktail steht übrigens hinter Dir.”
„Danke, das ging ja fix. Gutes Personal ist schwer zu bekommen. Noch dazu, wenn man es nur als hoffentlich angemeldete Nebentätigkeit durchführt.”
Emil nippte an seinem Martini und es war einer der seltenen Momente, wo er sich zu einer Reaktion hinreißen ließ. Der Cocktail schien ihm zu schmecken.
„Wir müssen auch arbeiten. Deshalb haben wir gelost, wer kommen darf.”
„Fein! Und Du hast also gewonnen. Gratuliere. Und woher wusstet Ihr nun davon?”
„Nein.”
Emil liebte es, Pausen zu machen und seine Gesprächspartner auf die Folter zu spannen. Allerdings hatte er in der Zwischenzeit auch bemerkt, dass er bei FX da auf unfruchtbaren Boden stieß. Dieser ließ so gar nicht mit sich spielen, was Emil wiederum umso mehr antrieb und es immer wieder aufs Neue probierte.
„Paul meinte, dass ich Dich wohl sehr gerne wiedersehen wollte.”
„Donnerwetter! Respekt. Ein Kompliment. Das nehme ich gerne an! Bitte nimm ihn ganz lieb in den Arm von mir!”
„Gern.” Nach einem weiteren Schluck fuhr Emil fort. „Es ging das Gerücht der besten schwulen Party des Jahrhunderts um. Da konnten wir kaum widerstehen. Ihr hättet ja auch etwas sagen können, dann hätten wir drum herum geplant. Naja, jedenfalls sollte man einigen Gerüchten nachgehen. Und ich muss sagen, dass Paul echt nicht wusste, was er da an mich abgetreten hat. Das hier ist ja wohl eine mega Nummer. Respekt für den Organisator!”
„Du kannst ihm selber danken. Es ist das ‚Personal’, was hinter Dir steht. Emil, Eggsy. Eggsy, Emil.”
FX stellte die Beiden einander kurz vor, jedoch zog sich Eggsy mit einem dezenten Nicken gleich danach unter einem Vorwand wieder zurück und ließ die beiden alleine. Etwas irritiert blieb FX zurück und blickte mit zuckenden Schultern in Emils Gesicht.
„Er ist einer von Euch, nicht wahr?”
„Woher weißt Du ...”
„Dem Protokoll zufolge ...”
„Was denn für ein Protokoll?”
„Nun, dem Protokoll zufolge müsstet Ihr genau dasselbe Protokoll haben.”
„Was denn für ein Protokoll?”
„Dem Protokoll zufolge müsstet Ihr es auch alle kennen.”
„Meine Fresse, ich kann mir doch nicht alles merken, was ich je gelesen habe. Deswegen lese ich ja auch nicht alles, was ich lesen sollte.”
„Ich hoffe, Du bist in der Uni besser als mit Deiner eigentlichen beruflichen Ausbildung. Wer ist denn Dein Lehrer gewesen?”
„Die letzte Frage ignoriere ich absichtlich. Ja, ich glaub da war mal was mit einem Protokoll für ich weiß nicht mehr was. Und weil es das einzige Protokoll war was auch so hieß, hab ich gedacht, dass das nicht so wichtig ist.”
„Nun, Du hättest gut dran getan, es zu lesen. Es beschreibt, wie der erste Kontakt zwischen den Schattenjägern und den Zweiundvierzig stattfinden soll, wenn sie irgendwann aufeinandertreffen sollten.”
„Alter, mach es doch nicht so spannend! Ja, ich geb zu, wir haben auch so etwas und nein, ich hab es nicht gelesen. Zumindest nicht bis ins kleinste Detail. Vermutlich habe ich jetzt alles vermasselt und zettele gerade einen Krieg zwischen Deinen und meinen Leuten an. Das wiederum hat zur Folge, dass die Welt und das gesamte Universum vernichtet wird und alles in einem neuen Urknall endet – wenn wir denn Glück haben. Aber daran wird sich nie jemand erinnern können, weil alles Wissen überhaupt gelöscht wird dabei.”
„Stimmt, das gesamte Wissen. Bis eben auf das Protokoll. Du hast es also doch gelesen?”
Tatsächlich machte sich Überraschung in Emils Stimme breit und die Tonhöhe ging am Ende des Satzes nach oben, wie es sich bei einer Frage gehörte.
„Nein, hab ich doch gesagt!”
„Aber grob zusammengefasst steht genau das da drin.”
„Oh.”
„Und damit das halt nicht passiert, soll der erste Kontakt ausschließlich durch zwei Personen erfolgen, nicht mehr. So lange, bis die sich ausreichend vertrauen und dann kann ...”
„Fertig.”
„Wie jetzt?”
„Fertig. Ich vertraue Dir. Uneingeschränkt. Falls Du Dich nicht mehr erinnerst, hast Du mich ohnehin fast schon umgebracht mit Deinen Runen. Mein Leben lag also bereits in Deinen Händen. Mehr Vertrauen geht von meiner Seite aus nicht.”
Verlegen nippte Emil an seinem Cocktail und er beobachtete die tanzende Menge. Nur ungern erinnerte er sich an den Vorfall, wo er FX eigentlich nur seinen vermeintlich gebrochenen Arm mit Hilfe einer Rune heilen wollte. Leider ging das vollkommen daneben, da FX irgendwie allergisch darauf reagierte. Letzten Endes war dieser unglückliche Vorfall jedoch der Punkt, an dem sich die beiden offenbart hatten, was ihre wahren Hintergründe waren.
„Irgendwie hast Du Recht. Aber guck, wir sind jung und ...”
FX konnte sich ein Räuspern nicht verkneifen, worauf Emil auch gleich einging. Anscheinend waren auch die Schattenjäger überdurchschnittlich alt.
„Naja, also Du weißt, was ich meine. Das Protokoll wurde sehr lange vor unserer Zeit geschrieben. Und unsere Altvorderen sind … Ich will es mal so sagen … etwas unflexibel. Wir sollten uns also zumindest ein bisschen an das Protokoll halten.”
FX rollte mit den Augen. Er hasste jegliche Art von Einschränkungen und Vorgaben. Besonders die Sinnlosen hatte er noch nie beachtet. Aber selbst, wenn es Regeln gab, die offensichtlich einen Sinn ergaben, war er zumeist der Erste, der sich über sie hinwegsetzte, was ihn natürlich zum Dauergast bei der Chefin des Clubs machte. Und diese Regel hier, oder besser das gesamte Protokoll, hatte er definitiv auch in die Kategorie ‚zu umgehen’ einsortiert.
„Emil, ich hasse Dich, weil Du so schrecklich vernünftig bist.”
„Ich weiß, man will immer das haben, was man nicht hat.”
„Hej, Wasserstoffblondi, mach mal Platz, ich will was bestellen.”
FX kannte Emil noch nicht lange, aber er war sich sicher, dass diese Art der Anmache nicht gerade zu Emils Lieblingssprüchen gehörte. Insgeheim hoffte FX, dass Emil so vernünftig war und nicht überreagierte. Eine Schlägerei unter Tunten, noch dazu mit so ungleichen Fähigkeiten, war das letzte, was sie auf dieser Party hier gebrauchen konnten.
Emil schloss kurz die Augen und stand dann auf. Er war etwa von gleicher Größe wie sein angetrunkener Gegenüber. Wortlos griff Emil mit beiden Händen an die Knopfleiste seines schwarzen Hemdes und riss es mit einem Ruck auseinander. Die verbleibenden Stofffetzen segelten zu Boden und man hatte den Eindruck, dass die Musik in diesem Augenblick etwas leiser geworden war. Es folgte das Klappern unzähliger Knöpfe, wie sie auf dem Steinfußboden aufprallten. Zum Vorschein kam Emils überaus muskulöser und von Runen-Tattoos übersäter Oberkörper. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken spannte er alle Muskeln gleichzeitig an, was im flackernden Streiflicht der Bühne noch einmal beeindruckender aussah, als bei Tageslicht.
„Ach, da drüben seid Ihr!”
Emils Gegenüber winkte ins Leere zu irgendwelchen imaginären Freunden und wollte sich gerade verlegen abwenden, als er Emils schwere Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn wieder zurück drehte, so dass er ihm in die Augen blicken musste.
Ganz nah zog er das Gesicht des Fremden an seines heran, so dass nur noch wenige Zentimeter dazwischen waren.
„Das ist Naturblond.”
Emil ließ ihn los und der Typ verschwand in der Menge. Er setzte sich wieder auf den Barhocker und zuckte mit den Schultern.
„Was? Ich hab da wirklich nicht nachgeholfen!”
„Soll ich Dein Hemd wieder heile machen?”
FX war ein kleines Bisschen beeindruckt, konnte es aber ganz gut überspielen.
„Findest Du das gerade unpassend ist, hier oben ohne zu sitzen?”
„Nein, ganz und gar nicht. Aber ich hab sonst Schwierigkeiten, Dir in die Augen zu schauen. ”
Lachend stießen die beiden erneut mit einem weiteren Cocktail an und FX stellte kurz sowohl Eggsy als auch Johannes als zwei der Zweiundvierzig vor.
„Du, FX, ich muss unhöflicherweise mal das Thema wechseln: Du sagtest vorhin irgendwann, dass Ihr erst gestern angekommen seid. Was habt Ihr denn die Tage vorher noch Aufregendes gemacht? Also mich hätten keine zehn Pferde mehr in der Uni gehalten, sobald Ferien sind.”
„Tja, also ...”
FX mochte Emil zwar sehr, und er hatte keinerlei Zweifel an dessen Integrität, dennoch war er sich nicht sicher, inwieweit er Emil und Paul in die sprichwörtliche Parallelwelt der Uni und in den Gang zu der runden Lichtung einweihen sollte. Zweifellos würde er es irgendwann tun, denn wenn selbst der Nichtsnutz Nico und seine Freunde von den geheimen Gängen wussten, konnte es so geheim auch wiederum nicht sein. FX entschied sich daher dafür, Emil jetzt nur den aufregenden Teil der Wahrheit zu erzählen und das ganze thematisch sinnvoll zu portionieren.
„Ach, wir hatten vor kurzem so eine verlassene Lichtung entdeckt. Die machte irgendwie einen sonderbaren Eindruck und das wollte wir in Ruhe noch einmal checken, wenn in der Uni nicht ganz so viel los ist.”
„Eine verlassene Lichtung? In der Nähe der Burg, sagst Du? Interessant. Was gab es denn dort zu sehen?”
„Am Ende war es viel unspektakulärer, als wir dachten. Es gab nämlich nichts zu sehen, rein gar nichts, das war das Eigenartige. Ein Kreis aus verkohlten Resten. Mehr nicht.”
„Feuer!”
„Was?”
„Die Reste eines Feuers.”
„Ja, genau. Verkohltes Holz, hab ich ja gesagt. Und?”
„Ach, nichts weiter. Naja, klingt ja irgendwie geheimnisvoll. Mehr nicht.”
Etwas verwirrt wandte sich FX ab. Er hatte den Eindruck, als wenn Emil ihm wiederum Informationen vorenthalten würde, was ihn etwas ärgerte. Auf der anderen Seite konnte er sich auch denselben Vorwurf machen, hatte er ihm auch nicht alles erzählt.
Die Bar nun im Rücken sah er sich das bunte Treiben der schwulen Partywelt an. Ben stand abseits in einer kleinen Gruppe und hatte sein Skateboard aufrecht im Sand stecken. Im Geiste schüttelte FX den Kopf. Auf der einen Seite war Ben der Denker der Gruppe und hatte ein Händchen für alles, was irgendwie technischer Natur war. Auf der anderen Seite hingegen war er oft wie ein kleines Kind und die Ungeduld in Person! FX liebte diesen verrückten Skater einfach nur, eben weil er so durchgeknallt war.
Unten am Strand im feuchten Sand sah er Michel tanzen. Wie geschmeidig er seinen Körper mit der Musik bewegte. Mitunter hatte FX den Eindruck, dass nicht die Musik seinen Freund bewegen ließ, sondern dass Michels Bewegungen die Musik steuerten. Aber so, wie er Jo kannte, waren da auch dessen Finger im Spiel. Mit ihm zusammen tanzte eine kleine Gruppe ebenfalls ganz in Weiß gekleidet. Als hätten sie monatelang geübt, sah die ganze Choreografie perfekt einstudiert aus! Innerlich schüttelte FX nur den Kopf. Kaum, dass man Schwuppen die richtige Musik zum Tanzen gab, rasteten sie alle aus.
Henne hingegen stand etwas abseits der tobenden Menge und unterhielt sich mit …
FX hielt das Glas mit einem Cosmo in der linken Hand und zerdrückte es vor Entsetzten. Sofort rann ihm das Blut durch die Finger, aber das merkte er nicht. Er fühlte keinen Schmerz in seiner Hand, wohl jedoch einen Stich ins Herz. Gerade war er noch da. Er hatte ihn gesehen und natürlich auch ganz genau gespürt. Seitdem Henne seine empathischen Fähigkeiten entdeckt hatte, war FX irgendwie ständig mit ihm verbunden. Mal mehr, mal weniger, aber stetig spürte er die Verbindung zwischen ihnen. Dies musste wohl das Band sein, von dem Eggsy manchmal sprach. Es war ein stärkeres Gefühl zu ihm, eine stärkere Bindung als zu den anderen beiden Freunden, was nicht bedeutete, dass er sie weniger liebte.
Und nun in diesem Augenblick war jenes Band fort. Vielleicht sogar gerissen.
Ohne dass Panik in seiner Stimme lag, rief FX nur einen einzigen Satz, der sowohl an Emil als auch an Eggsy gerichtet war. Niemand anders in ihrer Umgebung konnte ihn hören, obwohl er ihn laut heraus schrie.
„Henne ist weg!”
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