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Quartett

Teil 55 - Labor

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Informationen

61. Labor

“Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!”

Henne hatte gerade die Tür zum Apartment aufgeschlossen und einen Zettel auf dem Boden vorgefunden, den jemand in Ihrer Abwesenheit unter der Tür hindurch geschoben hatte.

“Diggi, was’n?”

Ben war nicht schnell genug, seine Neugierde aber wieder einmal grenzenlos. Jedoch war das Fluchen von Henne auch bis in den Flur zu hören, so dass sich in der Zwischenzeit alle Freunde um Henne herum versammelt hatten.

Dieser hatte in der Zwischenzeit jedoch den Zettel zusammengeknüllt und durch das halbe Wohnzimmer geworfen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren durchquerte er das Wohnzimmer, ging in sein Schlafzimmer und ließ mit einem klauten Knallen die Tür ins Schloss fallen.

“Autschn, was war das denn?”

Michel war wieder in Topform und hatte deswegen deutlich schneller den Papierball erreicht, als Ben, der auf seinem Skateboard erst einen Umweg um den Tisch rollen musste, während Michel diesen einfach mit einem gekonnten Sprung überbrückte

“Ufff, der lässt uns aber auch echt nicht in Ruhe, kann das sein?”

“Och Junx, nun ist aber mal gut mit der Geheimniskrämerei. Ich bin ja bei weitem nicht so neugierig, wie der Skaterboy in den überdimensionalen Klamotten hier, aber wenn sich jetzt schon zwei Menschen darüber aufregen, dann wird’s langsam spannend.”

“Also, Diggi, was is nu?”

Das total zerknitterten Blatt wechselte in Bens Händler, der es kurz überflog und dann an FX weiter reichte. Dieser schüttelte nur den Kopf und noch während Ben den Zettel festhielt, machte FX eine Wischgeste über dem Blatt.

Einen Augenblick später war der Zettel wieder faltenfrei, als wäre nichts passiert und FX griff danach und begann zu lesen.

“Morgen schon? Wollten wir da nicht mit Emil und Paul ...”

“Diggi, egal, was wir wollten, das is nich fair! Das is Mobbing!”

“Naja, theoretisch kann die Uni das schon ...”

“Ja, aber warum ausgerechnet wir? Diggi, ich wette, wir sind die Einzigsten!”

“Einzigen.”

“Sach ich doch, Diggi.”

“Dann ist das halt so.”

“Du gibst auf, noch bevor es angefangen hat?”

“Michel, soll ich mich jetzt so aufregen, wie der Herr auf dem Rollbrett?”

“Diggi, das is’n Skateboard! Und vielleicht kannste ja was zaubern.”

“Och Ben, ich bin eigentlich hier, weil ich gerade mal nichts dergleichen machen wollte. Ehrlich gesagt, ist schon viel zu viel passiert in den letzten Semestern. Ich will da gar nicht drüber nachdenken, was wir schon alles hinter uns gebracht haben.”

“Und was noch alles kommen wird. Denk an die Kreise ...”

“Zirkel!”

Henne hatte sich wieder etwas beruhigt und war aus seinem Zimmer gekommen. Unisono korrigierten alle drei Freunde Ben, der diesen Begriff immer noch nicht verinnerlicht hatte.

“Menno, Diggi.”

“Also, wir gehen da morgen einfach hin und bringen es hinter uns. Kurz und schmerzlos.”


Nach der letzten Vorlesung des Tages fanden sich die Freunde erneut im Lehrtrakt der Uni wieder, jedoch im ersten Keller-Geschoss, wo die Experimentallabore waren.

Nico, der Peiniger von Henne aus dem ersten Semester und derjenige, der auf Michel den hinterhältigen Anschlag mit einer Technologie aus der Zukunft verübt hatte, hatte die vier Freunde zum Nachsitzen eingeladen. Sie mussten, weil ihre Prüfungsleistungen angeblich nicht ausreichten, eine Zusatzaufgabe im Labor bearbeiten.

Natürlich war die Stimmung alles andere als gelöst, hatten sie an diesem Nachmittag doch andere Pläne mit ihren neuen Freunden vor. Aber das musste jetzt warten, da dieser Sondertermin keinen Aufschub duldete, wollten sie bei der Fachschaft nicht weiter in Ungnade fallen.

Anscheinend war Nico dorthin ausgezeichnet vernetzt, so dass er diesen angeblichen Mangel bei einem Professor geschickt platziert hatte. Wie es der Zufall so wollte, war es natürlich Nico, der dieses Experimentallabor betreute. Mit anderen Worten, die Freunde sollten einen unvergesslichen und arbeitsreichen Abend erleben.

Kaum dass die Aufgabe verkündet war, fiel den Freunden die Kinnlade herunter, obwohl Nico keinerlei Kommentare von sich gab, aber sich ein gehässiges Grinsen und hin und wieder Zwinkern mit einem Auge nicht verkneifen konnte. Augenscheinlich war die Aufgabe nicht besonders schwierig, denn sie zielte lediglich darauf hinaus, sinnlose und stupide Arbeit zu verrichten.

Ihr Peiniger zog sich mit einem breiten Grinsen zurück und vergrub sich hinter seinem Rechner.

“Diggi, der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Was soll’n das?”

“Je länger wir hier diskutieren, desto länger brauchen wir. Lasst uns anfangen und dann nichts wie raus hier!”

Michel hatte sich an den Tisch gesetzt und machte sich ans Werk, den Versuchsaufbau der Anleitung entsprechend zu rekonstruieren. Außer Ben, der schon aus Prinzip schmollte, halfen alle fleißig mit.

Als sie nach Stunden dann die Experimente und das dazugehörige Protokoll bei Nico ablieferten, überflog dieser nur grob ihr Werk, um es danach einfach zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. Er verwies sie zurück an den Experimentiertisch mit dem Hinweis, dass der Versuchsaufbau fehlerhaft sei und sie sich noch einmal auf Fehlersuche begeben sollten.

“Es wundert mich, dass es mich wundert. Es war natürlich zu viel verlangt, dass er uns einen Tipp hätte geben können, wo wir den Fehler gemacht haben, oder?”

“Diggi, diese Versuchsanleitung is voll für’n Arsch!”

Für den Korrekturlauf benötigten sie zwar etwas weniger Zeit, jedoch war der selbsternannte Laborleiter auch mit diesem Ergebnis nicht zufrieden. Erneut landete ihr Protokoll im Papierkorb.

“Los, Freunde, aller guten Dinge sind drei! Wir schaffen das!”

“Manchmal weiß ich nicht, woher Du diesen Optimismus nimmst, Henne. Ist das vielleicht auch eine Fähigkeit von Empathen?”

“Ich glaube nicht, oder FX?” Dieser schüttelte den Kopf, bevor Henne fortfuhr: “Ich kann diese Zuversicht aber in Deinen Kopf einpflanzen, wenn Du das möchtest.”

“Diggi, Du könntest mir lieber die Mordgelüste nehmen. Habt Ihr mal auf’n Tacho geguckt? Die Mensa macht jetzt zu und wir haben nix im Kühlschrank.”

Jedoch fand auch der dritte Anlauf nicht den erhoffte Anklang bei Nico. Erneut wurden sie eiskalt abserviert und auch dieses Protokoll landete als Konfetti im Papierkorb. Ein weiteres Mal schickte er sie mit einem gehässigen Grinsen zurück an den Versuchsaufbau.

“Okay, jetzt reicht’s mir aber auch!”

Mit verschränkten Armen, was trotz seines Gipsarms erstaunlich natürlich aussah, baute sich FX vor seinen Freunden auf und kehrte Nico gleichzeitig den Rücken.

“Diggi, jetzt kommt der interessante Teil!”

“Ben, unterbrich ihn doch nicht!”

“Irgendwann reißt auch bei mir der Geduldsfaden. Ich hab keinen Bock mehr, ich hab Hunger und unser Abend mit Emil und Paul ist ohnehin schon versaut. Jetzt ist es auch egal.”

FX schnappte sich den Schreibblock, der auf dem Tisch lag und riss zunächst einmal alle schon beschriebenen Seiten raus.

“He, Diggi, das is meiner!”

“Die sollst Du ja auch behalten.”

Sorgfältig richtete FX alle herausgetrennten Seiten aus, bevor er den Stapel an Zetteln seinem Besitzer übergab. Den jetzt leeren Block hielt er Henne und Michel entgegen.

“Hier, einer von Euch gibt das jetzt ab.”

“Aber der ist doch leer.”

Michel griff als erste nach dem Block und ließ die Seiten einmal alle durchblättern. Nicht eine Notiz war darin zu finden.

“Gib ihn einfach ab und frag, ob das so okay ist.”

“Okay. Mehr als zum Horst machen kann ich mich ja nicht. Wir sind bei dem eh schon unten durch.”

Den unbeschriebenen Block mit beiden Händen vor sich her tragend, durchschritt Michel das Labor und legte ihn bei Nico auf den Schreibtisch. Sie wechselten kurz ein paar Worte, bevor dieser den Block aufschlug und sich intensiv in das Studium des darin geschrieben vertiefte.

Verblüfft beobachtete Michel vor dem Tisch stehend, was der Möchte-Gern-Tutor gerade tat. Er traute seinen Augen nicht, denn Nico schien sehr vertieft in das Studium der leeren Seiten zu sein. Er machte den Eindruck, als lese er ein durchaus anspruchsvolles Werk.

Es dauerte mehrere Minuten und unzählige Male blätterte dieser Mensch am Schreibtisch den Block vorwärts und rückwärts, bis er schließlich wieder zu Michel auf blickte.

Unterdessen beobachteten die anderen Drei das Geschehen aus der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Weder hatten sie gehört, was Michel gesagt hatte, noch vernahmen sie irgendwelche anderen Geräusche. Nicht einmal das Blättern schaffte es durch den Raum.

Wohlwollend nickte Nico und redete länger auf Michel ein, bevor er aufstand und ihm gratulierte.

“Diggi, was hat er gesagt?”

Natürlich konnte Ben es nicht erwarten und forderte Michel zu einer Antwort auf, noch bevor er in sicherer Entfernung vom Schreibtisch des Chefs war.

“Raus hier!”

“Das hat er gesagt? Is ja krass, Diggi!”

“Nein, das hab ich gesagt. Los, alle raus hier, bevor er es sich anders überlegt. Wir haben bestanden. Ich weiß nicht warum, aber wir haben mit Auszeichnung bestanden. Er war ganz begeistert von unserer Arbeit. Er will sogar den Versuch für uns abbauen und bedankt sich für das exzellente Protokoll. Er will es als Referenz für zukünftige Studenten aufbewahren.”

Die kleine Gruppe verließ das Labor, zog die Tür hinter sich zu und eilte durchs Treppenhaus in das Sockelgeschoss. Erst dort hielten sie inne und blickten sich nach einander alle in die Augen, bevor sie lauthals loslachten.

“Na, so schlimm scheint das Nachsitzen nun auch nicht gewesen zu sein, wenn ich Euch so lachen sehe, oder?”

Emil und Paul kamen Hand in Hand um die Ecke geschlendert und waren durch Zufall auf die Vier gestoßen.

“Diggi, das glaubt Ihr nich, was uns gerade im Labor ...”

“Neee, Ben, jetzt entspann Dich mal, wenn Du das alles wieder erzählst, dann versteht das doch kein Mensch. Also, Junx, passt auf, das war so ...”

“Sekunde, bevor Ihr los legt: Habt Ihr schon gegessen?”

“Ach Paul, kann doch gar nicht! Guck doch Mal auf die Uhr. Wie, wann und wo denn?”

Nicht ein Hauch des Vorwurfs lag in Emils Stimme, die so monoton klang wie immer. Er legte ihnen kurzerhand die Arme um die Schultern und dirigierte sie zu sich ins Apartment. Bei einem Glas Wein und Baguette ließen sich die beiden dann die Geschichte erzählen, was passiert war. FX wiederum ergänzte Michels Bericht, wie er Nico manipuliert hatte, dass er in den weißen Seiten exakte das las, was er erwartete.

“Und wie lange wird dieser Effekt anhalten? Wenn er den Block jetzt nächstes Semester wieder rausholt. Ist er dann in seinen Augen immer noch perfekt beschrieben oder ist er dann wieder weiß.”

Natürlich war Henne klar, dass FX in diesem Falle keine empathischen Tricks angewendet hatte, dennoch wollte er wissen, wie er das gemacht hatte und ob nicht vielleicht doch eine gewisse Chance bestand, dass er so etwas auch könnte.

“Gute Frage. Mit etwas Glück hält das ohne Auffrischung ein Jahr. Also das nächste Semester hätte da auch noch einen gewissen Nutzen.”


Zwar hatte FX mit einem kleinen Trick dafür gesorgt, dass sie schließlich doch aus dem Labor erfolgreich entlassen wurden, jedoch konnten die Freunde es auch ein paar Tage später noch nicht ganz verarbeiten, dass sie von Nico derart gegängelt wurden. Zu tief saß noch der Stachel des Ärgers in ihrem Fleisch, als dass sie das Kapitel hätten abschließen können.

Erstaunlicherweise war es der sonst so einfühlsame Henne, dem ein paar Tage später der Kragen platzte. Es war zur Mittagszeit in der Mensa und die Freunde saßen an ihrem Stammplatz unter dem Baum in der Nische am Fenster, als sie am Eingang den verhassten Laborleiter sahen.

Natürlich kam sofort wieder das als verarbeitet geglaubte Thema auf die Tagesordnung, was der eindeutige Beweis dafür war, dass es eben noch nicht abgeschlossen war.

“Am liebsten würde ich diesen Widerling einfach …”

“Henne, sag mal, was ist denn in Dich gefahren? So kenne ich Dich gar nicht.”

Es überraschte Michel sehr, wir aufbrausend sein Freund auf einmal war und wie schnell seine Stimmung ins Negative kippte.

“Ja, ist doch wahr. Der Typ ist und bleibt halt ein Arschloch und er hat es definitiv verdient, wenn …”

“Was denn genau?”

“Was?”

“Was genau hat er denn verdient? Was würdest Du wirklich mit ihm anstellen, wenn Du könntest?”

Nun war es FX, der sich ebenfalls in die Diskussion einmischte, sah er doch die Chance, ein bisschen Gutes aus der negativen Energie von Henne heraus zu ziehen.

“Ja, was weiß denn ich, was man mit ihm am sinnvollsten macht. Aber er soll genauso leiden, wie wir es mussten, jawohl!”

“Na, Henne, das muss jetzt aber etwas konkreter werden. Also, was würdest Du mit ihm gerne machen? Wenn irgendjemand auf dieser Welt einen Wunsch zur Bestrafung von Nico hat, dann bist Du es. Er hat Dich damals gekidnappt, er hat Dich damals gequält. Das mit dem Labor, das waren nur Erdnüsse, das war ein kleiner Nadelpiekser, das war nichts. Wenn jemand den Nico abgrundtief hassen darf, dann bist Du es, Henne. Also, was soll mit ihm geschehen? Du darfst Dir alles erdenkliche wünschen. Nur zu.”

Und dabei zeigte FX explizit auf Henne, der überrascht ein wenig zurückwich.

“Ehrlich gesagt… Keine Ahnung. Jetzt, wo Du mich so direkt fragst, weiß ich es auch nicht so recht.”

Jetzt war Henne wieder ganz der Alte. Bedächtig, zurückhaltend und freundlich. Natürlich würde er die Torturen im Kerker nie in seinem Leben vergessen. Zu sehr hatten sich die Schmerzen und die Todesangst in sein Gedächtnis eingebrannt. Er würde niemanden in diese Situation wünschen. Nicht einmal Nico, der der Verursacher all des Ganzen war. So war Henne, er konnte verzeihen. Er hatte Nico verziehen. Kurz, er war ein Mensch, der anderen definitiv nichts schlechtes antun würde.

Mit nichts anderem hatte FX gerechnet. Er kannte den kleinen Punk zu gut, als dass er etwas anderes als Antwort erwartet hätte. Natürlich wusste FX genau, dass er Nico die Qualen verziehen hatte. Zwar hatte Henne das bisher nie gesagt, weder zu ihm, seinen Freunden oder gar zu Nico selbst. Aber in seinem Herzen hatte er damit abgeschlossen. Das weiche Polster, in das er sich seitdem hatte fallen lassen können, die starken Arme und die Liebe seiner Freunde, die er seitdem erfahren durfte, hatten alles Böse schon lange aufgewogen.

Für Nico war es nach Hennes Ansicht Strafe genug, dass dieser niemals solch eine Wärme und Geborgenheit fühlen würde, wie es ihm zuteil wurde. Das Wissen darum war für Henne ausreichend an Genugtuung.

Und er, FX, wusste genau, dass sie Nico nicht bestrafen durften. Selbstverständlich war er in der Lage, diesen bösen Menschen eine mehr als gerechte Strafe teil werden zu lassen. Aber es war nicht an ihm, darüber zu urteilen. Er war lediglich die Exekutive, die ausführende Gewalt. Das Urteil zu fällen oblag ihm nicht, das mussten andere tun. Und solange das noch nicht geschehen war, hielt er sich zurück. Würden er oder seine Freunde jetzt Selbstjustiz an Nico ausüben, wären sie nicht besser als er, sondern würden sich hinunter begeben auf die schmutzigen Stufen dieses Menschen.

Dennoch ließ FX nicht locker, er wollte Henne etwas weiter fordern.

“Nun bin ich aber etwas enttäuscht von Dir. War das alles nur ein Strohfeuer? Du sollst Nico ja nicht zusammenschlagen oder so etwas. Aber ich gebe Dir Recht, dass ein kleines bisschen Rache jetzt durchaus angebracht wäre und dass Rache bekanntlich süß oder bitter sein kann. Also, was würdest Du konkret machen? Machen wollen? Machen können?”

Erneut zeigte FX mit seinem langen Zeigefinger direkt auf Henne und zielte ihm damit sicher zwischen die Augen.

“Du meinst, ich könnte versuchen …”

“Warum nicht? Es tut nicht weh und es wäre gleichzeitig eine spannende Trainingseinheit für Dich. So etwas hast Du ja noch nie gemacht.”

Er musste nur einen kurzen Augenblick überlegen, bis schließlich ein Lächeln über seine Lippen huschte. Henne hatte eine Idee und arbeitete diese in Windeseile in seinem Kopf aus. Ein letztes Mal blickte er hinüber zu Nico und ließ auf dem Rückweg seinen Blick über die restlichen Kommilitonen in der Mensa schweifen.

Zwar war der Essensaal nur etwa halbvoll, aber für ihn als Empathen war das schon eine beachtliche Zahl an Quellen emotionalem Wirrwarr, in dem er sich zurechtfinden musste. Aber er war sich sicher, dass er Nico gleich eindeutig identifizieren würde.

Leider konnte er nicht wie FX mit offenen Augen auf die mentale Pirsch gehen, sondern musste nach wie für dafür die Augen schließen. Aber dieser Raum war einfach und er kannte die empathische Signatur von Nico bereits. Es gab nur sehr wenige Menschen mit solch negativer emotionaler Ausstrahlung.

Und so dauerte es auch nicht lange, bis er nach dem Schließen seiner Augen seinen mehrfachen Peiniger und jetziges Opfer gefunden hatte. Zielstrebig begab er sich in dessen Richtung, umrundete dessen dunkle Aura mehrfach und setzte dann zu seiner kleinen Racheaktion an.

Den ersten Schub setzte er nur ganz vorsichtig ab, damit Nico nicht von der Welle an Gefühlen überrumpelt wurde. Erst nach und nach erhöhte er die Dosis für seine Revanche, bis er sich sicher war, dass er genug davon in dessen Gefühlswelt abgesetzt hatte.

Zügig zog er sich von Nico zurück und ebenso aus der Welt der farbenfroh schillernden Empathie-Wolken, um das Resultat seiner Aktion hoffentlich gleich in der realen Welt betrachten zu können.

Henne wusste, oder besser gesagt erhoffte, was gleich passieren sollte. Die anderen hingegen hatte er nicht in seine Idee eingeweiht. Und tatsächlich mussten sie nicht lange warten, bis eine für Nico absolut untypische Handlung begann.

Er sprach einen anderen Kommilitonen aus einem niederen Semester an. Vermutlich kannte Michel diesen Typen, denn so wie er aussah, verbrachte er einen Großteil seiner Freizeit im Fitnessbereich der Universität. Er hatte Oberarme, die dicker waren als Hennes Oberschenkel und einen Bürstenhaarschnitt.

Jedoch sprach Nico ihn nicht wie jeden anderen Studenten an, denn seine Körpersprache war plötzlich so ganz anders. Er schien nervös zu sein, strich sich mehrfach mit den Händen durch die Haare und über seine Brust. Er blickte den Fremden von unten herauf in die Augen und klimperte mit seinen Wimpern.

“Diggi, was haste denn mit dem gemacht? Sach ma, flirtet Nico gerade mit der Schrankwand da?”

Henne hingegen musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszulachen. Sein Plan war tatsächlich aufgegangen. Er hatte Nico eine Dosis an homo-erotischen Gefühlen verpasst und der Bodybuilder war anscheinend der erste, der unter dem Gefühlsausbruch von ihm leiden musste.

“Oh je, der arme Nico.” Michel meldete sich zu Wort. “Den kenne ich aus dem Studio. Der trainiert bestimmt doppelt so oft wie ich. Naja, das ist ja auch offensichtlich. Aber wenn ich eines mit Bestimmtheit weiß: Der steht definitiv nicht auf Junx und nicht auf Kerle.”

“Meinst Du, dass das ein Problem …”

“ALTER, HAST DU MICH GERADE ANGEBAGGERT? MEINST DU, ICH BIN SCHWUL ODER WAS?”

Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatten sie aufgrund der Entfernung und der Geräuschkulisse in der Mensa nichts von den Flirtversuchen von Nico hören können, aber anscheinend war er dem breitschultrigen Menschen etwas zu nahe gekommen, denn dieser schrie gerade die gesamte Mensa zusammen.

Sein Tablett fiel zu Boden und stattdessen hatte er jetzt den Hals von Nico in der Hand und hatte ihn kurzerhand auf den Tisch geworfen. Ganz nah kam er mit seinem kantigen Gesicht an Nico heran, der kreidebleich im Klammergriff auf den Tisch festgenagelt war.

Sie konnten erkennen, dass Nico versuchte etwas zu sagen und vorsichtig seine Lippen bewegte. Jedoch waren sich die Freunde nicht sicher, ob es überhaupt ein Wort über seine Lippen geschafft hatte, oder ob es bei dem Versuch geblieben war.

Anscheinend war es jedoch von Erfolg gekrönt, denn das Kraftpaket ließ Nico schließlich wieder los.

“WENN DU NOCH EINMAL MIT MIR FLIRTEST, DANN WERDE ICH DIR SÄMTLICHE KNOCHEN BRECHEN, HAST DU VERSTANDEN?”

Nico hatte bereits die Flucht ergriffen, noch bevor die Drohung komplett ausgesprochen war, dennoch hatte er den Satz unzweifelhaft auch komplett vernommen, so laut hatte ihn der Typ durch die Mensa gebrüllt.

“Henne, ich denke, das war angemessen. Bitte bedenke, Du und auch alle anderen: Aus unseren Fähigkeiten erwächst eine große Verantwortung und auch wenn es nicht immer offensichtlich ist, kann man damit durchaus auch Unheil anstellen. Du hast gesehen, wie einfach die Situation kippen konnte und dass sich Nico ganz offensichtlich einen etwas schwierigen Partner zum Flirten ausgesucht hat. Hättest Du ihm stärkere Emotionen mitgegeben, wäre er hartnäckiger gewesen, was ihm wiederum sicherlich einen körperlichen Schaden eingebracht hätte. Bitte macht euch das immer klar. Jetzt und in Zukunft.”

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