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Der Junge von der Bowlingbahn

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Vorwort

Nur eine Kleinigkeit zwischendurch, nix Wildes… Großes Dankeschön an meine Korrekturleser! :-)

Viel Spaß!

Euer

readmylips

 

Stell dich mit mir in die Sonne oder geh mit mir ein kleines Stück
Ich zeig' dir meine Wahrheit für einen Augenblick
Ich frage mich genau wie du, wo ist hier der Sinn
Mein Leben ist ein Chaos, schau mal genauer hin
Und du glaubst, ich bin stark und ich kenn' den Weg
Du bildest dir ein, ich weiß, wie alles geht
Du denkst, ich hab' alles im Griff und kontrollier', was geschieht
Aber ich steh' nur hier oben und sing' mein Lied

(Ich + Ich: "Stark" *)


Auf der Bowlingbahn ist richtig viel los. Nur gut, dass wir die zwei Bahnen lange im Voraus reserviert haben.

Wir, das sind insgesamt sieben Leute: drei Freunde von mir aus dem Studium mit ihren Frauen oder Freundinnen – und meine Wenigkeit. Ich bin das fünfte Rad am Wagen. Oder eben das siebte.

Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, die Jungs mal wieder zu sehen. Über ein Jahr ist es her, dass wir zuletzt mal etwas unternommen haben. Nachdem wir alle schon seit sechs Jahren mit dem Studium fertig sind, hat es uns in verschiedene Städte verschlagen. Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt, Berlin – das sind andere Entfernungen als damals, als wir noch in unserer Studentenstadt lebten und man eben aufs Fahrrad steigen konnte, um sich spontan auf ein Bierchen oder sechs zu treffen. Aber die Zeiten sind vorbei. Selbst wenn wir noch alle in der Stadt leben würden, in der wir damals studiert haben – wir sind jetzt alle Anfang dreißig, haben feste Jobs, ein geregeltes Einkommen, Verantwortung. Da sind manche Dinge einfach nicht mehr drin.

Jemand beginnt, unsere Namen auf diesem fummeligen Bedienfeld einzutippen, so dass sie auf dem Monitor über unseren Bahnen erscheinen. Ein anderer hat eine großartige Idee und bestellt erstmal eine Runde Bier. Der Rest zieht sich die eigenen Schuhe aus und die Leihschlappen an.

"Ihr seid übrigens die Gewinnergruppe", ruft Stefan Johannes, Anja und mir zu.

"Wieso Gewinnergruppe'?" frage ich und blicke zu ihm rüber.

"Naja", grinst er, "ich habe als erster gesagt, dass ich in der Verlierergruppe bin. Marina sagte sofort, dass sie auch in diese Gruppe gehört, und Peter und Nicole auch. Deswegen bist du mit Johannes und Anja in der Gewinnergruppe."

"Verstehe."

Ich bin als erster dran, mich auf der Bowlingbahn zum Deppen zu machen. Ich suche mir eine Kugel aus, deren Gewicht nicht zu schwer ist und deren Löcher nicht zu klein sind, bringe mich in Position, ziele, hole Schwung – und versenke die Kugel als erstes gleich mal in der Rinne.

Gejohle von den Tischen hinter mir, welches ich mit einem verlegenen Grinsen quittiere.

Als meine Kugel wieder aus der Rückführungsanlage, oder wie auch immer man dieses Ding nennen möchte, rollt, schwöre ich mir, dass ich jetzt richtig absahnen werde. Ich stelle mich wieder hin, halte die Kugel hoch, ziele und hole aus und konzentriere mich auf den Wurf.

Die Kugel trifft nicht einen einzigen Pin.

"Du brauchst dringend Alkohol!" ruft Peter und hält mir eines der Biergläser entgegen, die inzwischen an unseren Tischen angekommen sind.

"Scheißbahn ist schief", grummele ich, ergreife das Glas und nehme einen tiefen Schluck. Mein einziger Trost ist, dass sich die anderen anfangs auch nicht deutlich besser anstellen.

So entwickelt sich der Abend. Während wir uns abwechselnd vor den Pins blamieren, schwelgen wir in Erinnerungen an die guten, alten Zeiten. Anekdoten, die mit "Wisst ihr noch…?" beginnen. Gelächter. Noch ein Bier. Heute dürfen wir wie damals sein. Wir haben Wochenende, und die Kinder, die schon aus diesen Beziehungen entstanden sind, sind bei den jeweiligen Großeltern untergebracht.

"Wisst ihr noch, wie Anja Johannes auf der Party das Bier über den Kopf geschüttet hat?"

"Wisst ihr noch, wie wir wie blöde für VWL gebüffelt haben?"

Ein schier endloser Schatz an Erinnerungen wird wieder ausgegraben. Abwechselnd versuchen wir, diese zehn Holzknüppel umzukugeln – mit wechselndem Erfolg. Johannes und Anja sind ein gutes Team und liegen mit Abstand vorne. Als Marina zum zweiten Mal in Folge keinen Pin abräumt, gibt es ein Trostküsschen von Stefan. Als Peter den ersten Strike des Abends wirft, ein Belohnungsküsschen von Nicole.

Ich bekomme keine Belohnungsküsschen, was aber in erster Linie wahrscheinlich daran liegt, dass ich keine Strikes werfe. Ich bekomme aber auch keine Trostküsschen, wenn sich meine Kugel mal wieder in diese dämliche Rinne verabschiedet. Stattdessen ernte ich gut gemeinte Kommentare wie "Hast du das Spiel nicht kapiert? Du musst die Pins mit der Kugel umnieten!"

"Von wegen Gewinnergruppe", knurre ich und setze mich wieder an den Tisch. Eigentlich habe ich nicht den geringsten sportlichen Ehrgeiz. Aber irgendwie wurmt es mich doch.

Eine weitere Erinnerung kommt in mir hoch. Obwohl es eigentlich mehr ein Gefühl ist, dass ich auch früher schon hatte, wenn wir gemeinsam etwas unternommen haben: das Gefühl, einsam zu sein. Immer zusehen zu müssen, wenn meine Freunde ihre Freundinnen küssten, streichelten, mit ihnen Händchen hielten. Das Gefühl, fehl am Platze zu sein. Das Gefühl, zu stören, wenn ich sie mal anrief und fragte, ob wir nicht was unternehmen wollten, und das Gefühl, abgewiesen zu werden, wenn ich die Antwort erhielt, dass sie den Abend mit ihrer Freundin verbringen wollten. Aber ich könnte ja gerne dazukommen und mit ihnen den Film sehen. Das Angebot habe ich aber jedes Mal ausgeschlagen. Es war mir lieber, allein in meiner Wohnung zu sitzen und Trübsal zu blasen, als das Gefühl zu haben, dass ich störte, während die lieber zu zweit wären.

Sie wussten ja alle, dass ich schwul bin. Ich hatte von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht. Und ich wusste, ich hatte wirklich gute Freunde gefunden, denn es war ihnen schlichtweg egal.

Es ist ja nicht so, dass ich nicht versucht hätte, jemanden kennen zu lernen. Im Gegenteil. Ich war hin und wieder mal in der Szene unterwegs gewesen. Aber wohl gefühlt habe ich mich dort nie. Die Typen, die ich interessant fand, hatten entweder schon einen Freund oder machten mir schnell und relativ deutlich klar, dass meine unbeholfenen Flirtversuche sehr wenig Aussicht auf Erfolg hatten.

Darüber hinaus hat sich nie jemand richtig für mich interessiert. In den Bars wurde ich meistens ignoriert, also ging ich auch dort immer seltener hin. Es hat ewig und einen Tag gedauert, bis sich mal jemand auf einen One-Night-Stand mit mir eingelassen hat.

Im Internet war es auch nicht besser. Entweder bekam ich Nachrichten, in denen nur "hi meld dich mal" stand – eine Aufforderung, der ich nie gefolgt bin, weil ich sie einfach nur niveaulos fand. Oder es kamen nur plumpe Nachrichten, wo es nur um das Eine ging. Das war auch nicht das, was ich suchte.

Und wenn ich mal jemanden angeschrieben habe, der ein halbwegs intelligentes Profil hatte, das nicht nur auf das Eine aus war, dann bekam ich entweder eine einsilbige Antwort, die bedeutete, dass der andere kein Interesse daran hatte, sich weiter in irgendeiner Form mit mir einzulassen, oder er schaute sich mein Profil an und zog es danach vor, nicht zu antworten. Oder er schaute sich nicht mal mehr mein Profil an. Irgendwann habe ich dann völlig entnervt sämtliche Profile, die ich bei verschiedenen Communities hatte, gelöscht.

Ich bin mir bis heute nicht sicher, wo der Fehler lag: im System, in diesem oberflächlichen Internet – oder bei mir, dass ich einfach nur zu blöde dazu war. Ich weiß es nicht, und inzwischen ist es mir auch egal.

Jedenfalls war auf einmal das Studium zu Ende, und ab dann ging alles sehr schnell. Plötzlich war ich über 30, und Freizeit und Privatleben und Haupthaar wurden immer weniger, Einladungen zu Hochzeiten dafür umso häufiger.

Und eines Tages merkt man ganz plötzlich, dass dieses lockere Studentenleben schon eine Ewigkeit her ist.

Im Prinzip sehe ich nur zwei Möglichkeiten: entweder mein Traummann und ich greifen eines Tages im Supermarkt gleichzeitig nach der Margarine, unsere Hände berühren sich kurz und der Blitz schlägt ein, oder aber es passiert gar nichts. Da ich an Wunder und Zufälle wie im ersten Szenario nicht glaube, bleibt mir nur noch Szenario Nummer zwei. Aber das ist in Ordnung; es kann ja nicht jeder glücklich werden. Wir brauchen ja auch ein paar depressive Romantiker, die uns mit kitschigen Geschichten, Romanen und Drehbüchern voller Herzschmerz versorgen und die den Pro-Kopf-Alkoholkonsum stabil halten. Allerdings sind diese zwei Dinge auch nicht meine raison d'être, da ich weder besonders gut im Schreiben bin, noch es mir leisten kann, dauernd blau zu sein.

Oha – Johannes hat wieder alle Pins abgeräumt. Ich bin dran.

Du Kugel geht soweit daneben, dass ich fast befürchte, sie schlägt auf der Bahn nebenan ein. Drauf geschissen.

Ich setze mich wieder an den Tisch und lasse meinen Blick durch die Bowlinganlage schweifen. Zwei Bahnen rechts neben uns bemerke ich einen Mann, der vom Alter her Mitte oder Ende vierzig zu sein scheint, sowie zwei Jungs, die ich auf etwa 18 und 20 Jahre schätze. Der ältere der beiden ist sportlich gebaut und hat kurze, blonde Haare und trägt Jeans und einen Pulli, der jüngere wirkt eher schlaksig, hat braunes, fast schulterlanges Haar und trägt ein Kapuzenshirt und eine Baggy-Jeans, deren Schnitt in der Hüfte kürzer als normal aussieht. Als er sich nach vorne beugt, sieht man seine Shorts mit senkrechten Streifen.

Irgendwas ist anders an dieser Dreiergruppe. Ich vermute, dass der Mann der Vater von einem der Jungs ist. Ich glaube nicht, dass sie Brüder oder Cousins sind. Sie scheinen zwar vertraut im Umgang miteinander zu sein, aber nicht so wie Geschwister oder simple Freunde. Da ist etwas anderes in ihren Augen, wenn sie sich ansehen. Etwas, das ich schon häufiger in einem Blick gesehen habe. Etwas ganz Besonderes, etwas Wunderbares.

Zum Beispiel bei Stefan und Marina. Oder bei Peter und Nicole. Oder bei Johannes und Anja.

Es ist Liebe.

Es ist niedlich zu sehen, wie sehr sie versuchen, nicht aufzufallen oder sich zu verraten. Die Beine, die sich unter dem Tisch berühren, und eben diese Blicke. Ein junges schwules Paar, das mit Vater oder Schwiegervater in spe zum Bowling geht.

Ich muss schlucken. Das Gefühl der Einsamkeit kocht wieder in mir hoch, viel stärker noch als vorhin, während ich die beiden beobachte. Nicht, weil ich auf sie abfahre oder sonst was, dafür sind sie eindeutig zu jung – oder ich zu alt, wie auch immer. Nein, ich beneide sie. Um ihr Glück. Um die Liebe, Nähe und Zuneigung, die sie spüren dürfen. Um ihre Jugend. Um das, was sie – im Gegensatz zu mir – richtig gemacht haben. Um das, was sie noch gemeinsam erleben werden. Und in meinem tiefsten Innern wünsche ich ihnen, dass sie noch lange glücklich sein werden.

Ich frage mich, wie sie sich kennen gelernt haben mögen. In der Schule? Im Internet? Auf einer Party? Ich werde es wohl niemals herausfinden.

Ich denke zurück an die Zeit, als ich 18 war. Das Internet gab es damals noch nicht. Erst Ende der 90er Jahre schaffte ich mir ein 56k-Modem an, was damals als hochmodern galt. Daher waren die einzigen Informationsquellen, die ich davor hatte, das Fernsehen, meine Fantasie und Schulhofkommentare. Anstatt mich mit dem Thema zu beschäftigen, habe ich die Ängste, Zweifel und Fragen, die in mir wuchsen, tief in mir in der Hoffnung vergraben, dass sie nie ans Tageslicht kommen mögen. Aber den Gefallen taten sie mir natürlich nicht. Es hat bis zum Zivildienst gedauert, bis ich anfing aufzutauen. Obwohl – so richtig aufgetaut bin ich eigentlich nie. Tief in mir drin bin ich immer noch eisig.

Wenn ich heute noch mal 18 sein könnte, würde ich alles anders machen. Ich würde mir eine Chance geben, normales schwules Leben und Lieben kennen zu lernen. Aber heute fühle ich mich zu alt dafür. Zu unflexibel. Außerdem habe ich keine Zeit für so was. Und ich könnte mir noch etliche andere Argumente aus dem Ärmel schütteln, die genauso plausibel wären.

Fakt ist, ich habe aufgegeben. Resigniert. Ich habe es versucht und bin gescheitert. Ich habe meine Lektion gelernt.

"Na, an wen denkst du gerade?" holt mich Marina aus meinen Gedanken in die Realität zurück und zwinkert mir zu.

Ich schenke ihr das überzeugendste Lächeln, das ich gerade noch aufbringen kann. "Kennst du nicht", antworte ich.

"Gibt es bei dir eigentlich etwas Neues in Bezug auf Männer?" bohrt sie grinsend weiter.

Ich hatte mit dieser Frage schon gerechnet und mir im Vorfeld die passende Antwort bereitgelegt.

"Lass es uns so handhaben, wie wir es bisher getan haben", erwidere ich und lächele sie müde an, "wenn es etwas zu erzählen gibt, dann werde ich es erzählen. Ansonsten lass uns das Thema einfach totschweigen, okay?"

Auf dem Monitor über der Bowlingbahn leuchtet mein Name in blauen Lettern auf gelbem Grund. Ich stehe auf und mache mich daran, eine weitere Kugel in der Rinne zu versenken.


Dein Leben dreht sich nur im Kreis
So voll von weggeworf'ner Zeit
Deine Träume schiebst du endlos vor dir her
Du willst noch leben, irgendwann
Doch wenn nicht heute, wann denn dann?
Denn irgendwann ist auch ein Traum zu lange her
Immer vorwärts, Schritt um Schritt
Es geht kein Weg zurück
Was jetzt ist, wird nie mehr ungescheh'n
Die Zeit läuft uns davon
Was getan ist, ist getan
Was jetzt ist, wird nie mehr so gescheh'n

(Wolfsheim: "Kein Zurück" ** )

Ende


*

Ich + Ich: "Stark"

Komponist: Adel El Tawil, Flo Fischer, Annette Humpe und Sebastian Kirchner

Textdichter: Annette Humpe

Originalverleger: Ambulanz Edition

Originalverleger: Aquarium Edition

**

Wolfsheim: "Kein Zurück"

Komponist: Axel Ermes, Peter Heppner, Markus Reinhardt

Textdichter: Peter Heppner und Markus Reinhardt

Originalverleger: Hanseatic Musik Verlag GmbH & Co KG

Originalverleger: Wolfsheim Musikverlag Peter Heppner und Markus Reinhardt)

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