zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Hombres de ambiente

Weihnachtschallenge 2008

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Hombres de ambiente

Es war ein ungewöhnlich warmer November für kubanische Verhältnisse. Das Thermometer zeigte 30°C an, und die schwüle Feuchtigkeit kroch vom Meer bis in den letzten Winkel Havannas. Alle Fenster standen offen, um wenigstens den leisesten Windhauch, der ein wenig Abkühlung versprach, in die Räume zu lassen. Der Ventilator, der von der hohen Decke in meinem Büro hing, hatte schon seit Jahren kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben und bot so nur noch Halt für ein paar Spinnweben.

Ich saß an meinem Schreibtisch und tippte auf einer alten Schreibmaschine, die ebenso wie der Ventilator schon bessere Tage gesehen hatte, den Bericht fertig. Diese Schreibarbeit war lästig, aber notwendig.

Nach dem erfolgreichen Zugriff gestand die ZP in der anschließenden Befragung, illegale Kontakte zu einer Gruppe von republikflüchtigen Verrätern gehalten zu haben, die von den USA aus eine wirtschaftliche Schwächung Kubas zum Ziel hatten, um so unsere Regierung unter Druck zu setzen und zu stürzen. Außerdem gestand er, die illegale Ausreise einer Gruppe von 17 arbeitsfähigen Männern und Frauen in die USA vorbereitet zu haben. Ich empfehle daher die übliche Vorgehensweise bei der Bestrafung anzuwenden…

Ich zog das Blatt Papier aus der Schreibmaschine, überflog ein letztes Mal den Text und setzte meine Unterschrift unter den Bericht.

Dieser Idiot. Er hätte wissen müssen, dass ich seine Nachrichten nach Miami schon lange mithörte. Wir hatten sein Telefon angezapft und warteten nur darauf, dass er uns endlich etwas liefern würde, mit dem wir dem Spuk ein Ende bereiten konnten. Vor vier Tagen war es endlich soweit. In der Nacht vom 20. auf den 21. November wollten sie mit einem Holzboot von einem kleinen Fischerdorf an der Nordküste nach Florida aufbrechen.

Gerade, als sie mit dem Beladen fertig waren, griffen wir zu. Alle 17 Flüchtlinge und die ZP, die Zielperson, haben wir verhaftet. "Die übliche Vorgehensweise bei der Bestrafung…" Das bedeutete, dass die Republikflüchtigen wohl ein paar Jahre in Arbeitslagern landen würden, wo sie über ihre Einstellung würden nachdenken können. Die ZP würde wohl etwas mehr Zeit dazu haben. Ich vermutete, es würden 20 Jahre Zuchthaus sein.

Sein Pech. Selber schuld.

Ich legte den Bericht in die Mappe mit den Telefonprotokollen und den Geständnissen. Da es hier um insgesamt 18 Personen ging, war es eine Menge Schreibarbeit gewesen. Umso besser, dass die Untersuchung endlich abgeschlossen war.

In dem Moment klopfte es an der Tür und Ramón steckte seinen Kopf herein.

"Was gibt's?", fragte ich ihn.

"Der Capitán will dich sprechen."

"Wann?"

"Sofort."

"Gut. Danke."

Ramón verschwand wieder. Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass Fernández, unser Capitán und damit mein Vorgesetzter, mich zu sich rief.

Wahrscheinlich ein neuer Auftrag.

Ich nahm die Mappe mit dem fertigen Bericht und machte mich auf den Weg in sein Büro.

Ich lief durch einen langen Flur, dessen Wände mal in einem türkisartigen Grün gestrichen waren. An vielen Stellen blätterte der Putz ab. Aus offenen Bürotüren drang das monotone Stakkato der Schreibmaschinen wie Maschinengewehrsalven. Alles Berichte über Feinde der Republik und der Revolution.

Ich dachte nach. Es gab immer genug zu tun. Und es wird wohl immer genug zu tun geben. Was es wohl diesmal für ein Auftrag sein würde? Hoffentlich mal etwas Spannenderes als der Letzte.

Ich hatte Lust auf eine Herausforderung.

Schließlich stand ich vor dem Büro des Capitán. Auch seine Tür stand offen. Ich hörte, wie er telefonierte.

"Ja… nein… wissen wir noch nicht, Comandante…"

Ich klopfte vorsichtig und trat ein. Capitán Fernández blickte zu mir auf, hob kurz die rechte Hand, in der er einen Bleistift zwischen zwei Fingern hielt, zum Gruß und deutete auf den Stuhl, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches stand.

Ich nickte und setzte mich. Sein Schreibtisch war wie immer voll mit verschiedenen Zetteln und Mappen, die für mein Auge unsortiert und durcheinander zu sein schienen. Keine Ahnung, wie er sich in diesem Chaos zurechtfand.

"Natürlich, Comandante", sagte Fernández weiter ins Telefon. Leise drang die Stimme aus der Leitung. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Ich merkte nur, dass sie energisch klang.

"Wir werden das erledigen, Comandante… nein… ja… auf Wiedersehen, Comandante." Fernández legte auf, seufzte und sah mich ein wenig müde an. "Es wird niemals enden, Juan. Solange die verdammten Amerikaner die Verräter in Florida unterstützen, werden wir hier in unserer kleinen Republik keine Ruhe haben."

"Nein, Capitán."

"Ist das der Abschlussbericht?", fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf die Mappe in meiner Hand.

"Ja, Capitán", antwortete ich und reichte sie ihm über den Schreibtisch.

Er nahm sie und blätterte einzelne Seiten durch und überflog meinen Bericht. Dann klappte er sie mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck wieder zu und legte sie auf einen Stapel anderer Mappen.

"Mach mal die Tür zu, Juan."

Ich stand auf und schloss seine Bürotür, deren letzter Anstrich noch aus der Zeit der Revolution stammen musste.

"Weißt du, was hombres de ambiente sind?" fragte Fernández, nachdem ich mich wieder gesetzt hatte, und sah mich eindringlich an.

"Nein, Capitán", erwiderte ich wahrheitsgemäß.

"Nun, dann wirst du sie jetzt kennen lernen." Er fischte zielsicher eine Mappe aus einem mittelgroßen Stapel und reichte sie mir. Ich schlug sie auf und überflog ein paar der Notizen.

"Hombres de ambiente sind Männer, die gerne unter sich bleiben", erklärte er. "Sie bevorzugen die Gegenwart von anderen Männern – und nur von Männern, wenn du verstehst, was ich meine?"

Ich ahnte, worauf er hinaus wollte. "Sie meinen, es sind Homosexuelle?"

"Exakt. Das Problem dabei ist, dass sie kleine Gruppen bilden. Geschlossene Gruppen. Und wir wissen nicht immer genau, was sie vorhaben. Und das stört uns." Er deutete kurz auf die Mappe in meinen Händen. "Eine solche Gruppe besteht hier schon seit längerem in Havanna. Ein gewisser Felipe scheint der Anführer der Gruppe zu sein. Er ist links auf dem Foto."

Ich entdeckte eine Fotographie in der Mappe. Sie zeigte zwei junge Männer, den Arm jeweils um die Schulter des anderen gelegt. Beide lachten in die Kamera.

"Der rechte Junge auf dem Bild heißt Carlos Mendez und ist seit ein paar Monaten bei der Gruppe. Er arbeitet für uns und wird dir Zugang verschaffen. Dieser Felipe ist deine neue ZP. Deine Aufgabe ist herauszufinden, was sie so treiben, ob sie vielleicht etwas vorhaben oder Kontakte zu den Verrätern in den USA haben."

Ich sollte eine Gruppe von Homosexuellen ausspionieren? "Aber ist es nicht etwas riskant, wenn ich auch noch dazu komme?" fragte ich vorsichtig.

"Sicher", erwiderte Fernández. "Aber ich habe dich aus zwei Gründen für diese Ausgabe ausgesucht. Erstens bist du einer meiner besten Leute. Zweitens bist du mit deinen 23 Jahren noch in einem Alter, das unverdächtig wirkt. Die anderen aus meiner Abteilung sind zu alt, um in eine solche Gruppe eingeschleust zu werden. Und Carlos dagegen ist gerade mal 18 und zu jung und unerfahren für eine solche Aufgabe."

"Verstehe…", murmelte ich. Ich fühlte, dass mich irgendetwas an diesem Auftrag störte. Aber ich wusste nicht, was es war.

"Noch ein paar Informationen: Du bist Carlos' Cousin und arbeitest im Hotel 'Buena Vista' als Kellner. Eure Familie kommt aus einem kleinen Dorf bei Bayamo, wo du bisher auf einer Zuckerrohrfarm gearbeitet hast."

"Hm-hm", machte ich gedankenverloren.

"Noch Fragen?"

"Die übliche Vorgehensweise?", fragte ich.

"Genau. Du fängst morgen im Hotel an. Carlos wird dich bald kontaktieren, damit er dir noch ein paar Infos über die Gruppe geben kann und damit ihr euch ein paar Eckdaten über eure Familie ausdenken könnt. In zwei Wochen solltest du dann mal bei diesen hombres de ambiente auftauchen."

"In Ordnung, Capitán."

"Gut. Halte mich regelmäßig auf dem Laufenden, Juan. Dieser Auftrag ist uns sehr wichtig. Außerdem weiß ich, dass deine bisherige Karriere weiter oben mit viel Interesse verfolgt wurde. Also streng dich an, kapiert?"

"Ja, Capitán."

"Hasta luego, Juan."

"Hasta luego, Capitán."

Ich stand auf und verließ sein Büro.


Dass dieser Auftrag wirklich eine Herausforderung werden würde, war mir klar. Allerdings nicht die Art von Herausforderung, die ich erhofft hatte.

Ich saß in meiner kleinen Wohnung in Arroyo Naranjo, einem Stadtteil von Havanna. Ich steckte mir eine Zigarette an und las die Akte durch, die der Capitán mir gegeben hatte. Felipe Sanchez, meine neue Zielperson, war 22 Jahre alt und schien laut meiner Unterlagen nicht nur der Kopf der Gruppe zu sein, sondern auch ihr Gründer. Sie trafen sich regelmäßig in einer kleinen unauffälligen Spelunke im Viertel Diez de Octubre.

Die Informationen, die Carlos bereits beschafft hatte, zeigten, dass es unter diesen so genannten hombres de ambiente nicht nur zu konspirativen Treffen kam, sondern auch zu sexuellen Kontakten unter Männern.

Ich ahnte, dass dieser Auftrag unter Umständen eine andere Art von "Einsatz" erfordern würde als meine vorherigen Aufträge. Aber dann sei's drum. Wenn es erfordern würde, dass ich mich mit einem anderen Mann einließ, um mehr Informationen zu bekommen, dann würde ich es eben tun. Immerhin ging es um die Sicherheit unserer Republik. Und außerdem hatte der Capitán mir mit einer Beförderung gewunken, wenn ich den Auftrag zur allgemeinen Zufriedenheit erledigen würde.

Dafür würde ich gewisse Unannehmlichkeiten sicherlich auf mich nehmen.

"Die übliche Vorgehensweise", hatte der Capitán gesagt. Im Klartext bedeutete das "infiltrieren – ausspionieren – notfalls eliminieren". Den ersten Schritt hatte Carlos bereits gemacht, indem er sich Zugang zu der Gruppe verschafft hat. Meine Aufgabe würde dann das Ausspionieren sein, und auf der Basis der Erkenntnisse, die ich liefern würde, würde dann entschieden werden, wie mit der Gruppe umzugehen sei, ob sie eine Gefahr darstellten oder nicht. Aber da es eine geschlossene Gruppe war, ging ich davon aus, dass wir sie früher oder später ausheben würden.

Nachdem ich die Akte durchgestöbert hatte, fing ich an, meine Wohnung zu säubern – also alles zu entfernen, was darauf hindeutete, dass ich für den Geheimdienst arbeitete. Das war so üblich, denn es könnte ja sein, dass man mir folgt und mich hier plötzlich besuchen würde. Ich hatte im Wandschrank im Schlafzimmer einen kleinen Safe, der gerade groß genug war, um darin ein paar Akten, mein Dienstsiegel und meine Dienstwaffe zu verstecken.

Am nächsten Tag ging ich ins Hotel "Buena Vista". Es lag direkt am Strand von Havanna und wurde vom Geheimdienst öfters benutzt, um dort geheime Treffen mit Informanten zu organisieren. Der Restaurantchef, unter dem ich ab sofort als "Kellner" arbeiten würde, erwartete mich bereits. Er stand auch auf unserer Gehaltsliste.

Er ließ mich einkleiden und zeigte mir, was ich zu tun hatte. So verbrachte ich meine ersten Tage als Kellner. Es war ein öder Job. Tische decken, Bestellungen entgegen nehmen, abräumen… was zwar immer die gleiche Routine, aber trotzdem ziemlich anstrengend war. Ich fing morgens um sieben Uhr an und war selten vor 23 Uhr zuhause.

Am fünften Tag traf ich mich zum ersten Mal mit meinem "Cousin" Carlos. Er holte mich nach meiner Schicht ab, und wir gingen zusammen in meine Wohnung. Ich war zwar hundemüde, aber das Treffen war wichtig, damit wir unsere "Familiendaten" abgleichen konnten.

"Hast du eine Idee, wie wir das machen sollen?" fragte Carlos etwas ratlos.

Ich merkte, dass er wirklich noch jung und unerfahren war.

"Ich habe keine Familie, ich bin im Waisenhaus aufgewachsen. Nenn du mir doch einfach die Namen deiner Familie, das ist am einfachsten und sichersten", antwortete ich.

Daraufhin ratterte er seinen Familienstammbaum runter und ich notierte alles, damit ich es würde auswendig lernen können: Namen, Geburtsdaten, Berufe, Verwandtschaftsverhältnisse, Eigenarten, einfach alles.

Als wir fertig waren, steckten wir uns eine Zigarette an. Er saß mir gegenüber an dem kleinen Tisch, der in meinem Wohnzimmer mit Kochnische stand.

"Wie bist du eigentlich an die Gruppe gekommen?" fragte ich Carlos.

"Über Paco."

"Wer ist Paco?"

Carlos erzählte mir, dass er in einer Autowerkstatt arbeitete. Öfters gingen sie nach der Arbeit in die gegenüberliegende Taverne, die Pacos Vater gehörte. Paco arbeitete dort auch und hatte wohl mehr als nur ein Auge auf Carlos geworfen, wenn man dessen Erzählungen Glauben schenken durfte. Irgendwann hatte Carlos das durchschaut und ließ sich auf das Spiel ein. Dummerweise bloß hatte sich Paco jemanden ausgesucht, der bereits als Informant für den Geheimdienst tätig war, und so nahm die Angelegenheit ihren Lauf, bis sie quasi auf meinem Schreibtisch landete.

Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, sah er mich durchdringend an mit kalten Augen an.

"Und nun sollst du also diese Schwanzlutscher fertig machen?"

Seine feindselige Stimme jagte mir einen Schauer den Rücken runter.

"Hängt davon ab, was sie so treiben", erwiderte ich knapp, bewahrte dabei aber mein verschlossenes Gesicht.

"Ich hoffe, du gibst ihnen, was sie verdienen."

Ich zog an meiner Zigarette.

"Du weißt, dass Homosexualität an sich nicht strafbar ist, oder?"

Er lachte gehässig. "Ja, ich weiß. Darum wird sich der liebe Gott später kümmern. Solche Leute kommen nicht in den Himmel. Sie schmoren in der Hölle. Aber ich finde, dass ihnen ein paar Jahre Zuchthaus ganz gut tun würden. Da freuen sie sich immer über ein paar Neuzugänge, die beim Duschen gerne die Seife aufheben."

Ich beschloss, das Thema nicht weiter zu vertiefen. "Es geht bei diesem Auftrag um die Sicherheit unserer Republik. Das ist alles, was mich interessiert. Also: Wann ist das nächste Treffen?"

"Na, du hast es aber eilig. Bist du etwa auch so eine Schwuchtel?" Er grinste mich wieder mit dem eiskalten Blick in den Augen an.

Jetzt war es an der Zeit, dass ich ihm zeigte, wer hier der Boss ist. Mit einem Satz sprang ich auf, griff ihn am Kragen und zog ihn mit einem kräftigen Ruck von dem Stuhl hoch, auf dem er eben noch selbstsicher grinsend gesessen hatte, und knallte ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Er war zwar einen Kopf kleiner als ich, aber jetzt hing er auf Augenhöhe mit mir in der Luft, denn mein rechter Ellenbogen presste ihn zwischen Adamsapfel und Unterkiefer gegen die Wand. Mein linker Arm drückte gegen seinen Oberkörper, damit nicht sein ganzes Gewicht auf der schwachen, verwundbaren Stelle lag, die sein Hals nun in dieser Position war. Seine Füße hingen in der Luft und traten um sich, seine Hände versuchten krampfhaft, sich aus meinem Würgegriff zu befreien. Sein selbstgefälliges Grinsen war einem Ausdruck von Panik gewichen. Er röchelte und versuchte, nach Luft zu schnappen.

"Jetzt hör mir mal gut zu," zischte ich ihn wütend an, "es gibt da ein paar Dinge, die du niemals vergessen solltest. Erstens: Ich bin dein Vorgesetzter. Zweitens: Es gibt gewisse Dinge, die man seinem Vorgesetzten nicht an den Kopf wirft. Drittens: Wenn du noch eine Karriere im Geheimdienst machen willst, solltest du dir in Zukunft überlegen, was du zu mir sagst. Und Viertens: Wenn dir dein Leben lieb ist, solltest du solche Sprüche in Zukunft komplett sein lassen. Kapiert?"

Er deutete mit großen, angsterfüllten Augen ein Nicken an, so gut es ihm in dieser Position eben möglich war, und röchelte ein "Ja, Herr Leutnant!"

"Schon besser." Ich ließ ihn los. Er fiel auf den Boden und schnappte keuchend nach Luft. Ich hob den Stuhl auf, den er umgetreten hatte und setzte mich wieder.

"Sonst noch etwas?" Ich zog an meiner Zigarette, die noch immer glimmte.

"Nein, Herr Leutnant."

"Gut", erwiderte ich und blies blauen Rauch aus.

Er rappelte sich langsam auf. "Ich glaube, ich gehe besser", krächzte er etwas heiser.

"Das glaube ich auch", erwiderte ich, ohne ihn anzusehen. Dann verließ er eilig meine Wohnung.

Ich hoffte, er hatte seine Lektion gelernt. Dennoch würde ich ihn im Auge behalten müssen. Bei diesem Irren vermengten sich Fanatismus, Geltungswahn, religiöse Verblendung und wer weiß was noch zu einer gefährlichen Mischung. Solche Hitzköpfe können jede Beschattung zunichte machen.

Außerdem fragte ich mich, was dieser Paco an so einem Idioten nur finden konnte?


Ich bin sieben Jahre alt. Ich liege in meinem Bett. Auf einmal knallt es in der Wohnung. Erschrocken springe ich aus meinem Bett und öffne vorsichtig die Zimmertür. Überall sind Männer in Armeeuniformen mit Pistolen und Gewehren. Zwei von ihnen schleifen meinen Vater an seinen Füßen ins Wohnzimmer. Er wehrt sich nicht. Er bewegt sich nicht. Er hinterlässt eine dunkelrote Schleifspur auf dem nackten Betonboden. Zwei weitere Soldaten zerren meine Mutter ins Zimmer. Sie schreit und wehrt sich mit aller Macht. "IHR MÖRDER!", kreischt sie immer wieder mit hysterischer Stimme. "MÖRDER!" Plötzlich packt mich einer der Soldaten und trägt mich zu einem anderen. "Was machen wir mit dem da, Sargento?" höre ich den Mann fragen, der mich gepackt hat. Der Sargento, dessen Gesicht in nicht erkennen kann, blickt missbilligend auf mich herab. "Die übliche Vorgehensweise", knurrt er nur. Meine Mutter kniet vor ihm. Blut läuft in ihre großen braunen Augen, mit denen sie mich plötzlich entdeckt. Eine unglaubliche Traurigkeit sammelt sich auf einmal darin. "Ich liebe dich, mein tapferer kleiner Juanito", flüstert sie. "Vergiss das niemals. Ich werde dich immer lieben." Ich werde wieder in die Luft gehoben und nach draußen getragen. Als ich gerade aus der Tür geschleppt werde, gibt es drinnen einen einzigen lauten Knall. Ich beginne zu schreien. "NEEEEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIII…

…IIIIINNNNNN!!!"

Schweißgebadet wachte ich in meinem Bett auf, wie jede Nacht, seit ich denken konnte. Dieser Alptraum verfolgte mich jede verdammte Nacht. Es war zugleich die letzte Erinnerung, die ich an meine Eltern hatte. Ich habe nie genau gewusst, was damals passiert ist. In dem Kinderheim, in dem ich danach landete, sagte man mir, dass es von Washington unterstützte Dissidenten waren, die Castro aus dem Wege schaffen wollten. Als ich dann mit der Schule fertig war, bewarb ich mich beim Geheimdienst, um diese Feinde Kubas hier zu bekämpfen. Ich war fest entschlossen, irgendwann den Mörder meiner Eltern zu finden und ihren Tod zu rächen. Und wenn ich dafür bis nach Washington gehen müsste.

Der Schlafmangel machte mir zu schaffen. Selbst jetzt, wo ich so erschöpft aus dem Hotel kam, konnte ich nicht durchschlafen. Ich war zwar durch mein Fitnesstraining, dass ich als Geheimdienstmitarbeiter mehrmals pro Woche absolvieren musste, in guter körperlicher Verfassung, aber dieser Dauerstress ging mir doch ziemlich auf die Nerven.

Das war nicht meine Art von Job. Es juckte mich unter den Fingernägeln, endlich mit meinem richtigen Auftrag zu beginnen.

Ein paar Tage nach dem ersten Treffen mit Carlos traf ich zum ersten Mal auf meine neue ZP. Carlos holte mich bei mir ab, und nachdem wir nochmals "unseren" Familienstammbaum durchgegangen waren, um sicher zu gehen, dass ich alles richtig auswendig gelernt hatte, machten uns zusammen auf den Weg zu dieser Spelunke. Carlos war diesmal vorsichtiger in seinen Äußerungen und hielt einen gewissen Sicherheitsabstand ein. Er hatte wohl seine Lektion gelernt.

Schließlich erreichten wir die Bar, wobei das nicht der richtige Ausdruck war. Es war mehr ein Kellerraum in einem heruntergekommenen, unscheinbaren Hinterhaus, an dem nicht mal ein Schild darauf hinwies, dass es hier so etwas wie eine Bar gab. Wir liefen die Außentreppe hinab und standen vor einer Tür mit einem Sehschlitz.

Carlos klopfte vorsichtig an die Tür. Der Schlitz öffnete sich und ein Augenpaar lugte uns misstrauisch an.

"Was wollt ihr?" fragte eine unfreundliche Stimme.

"Ich bin's, Carlos", raunte er. "Ich habe meinem Cousin Juan dabei."

Das Augenpaar im Sehschlitz musterte mich eindringlich von oben bis unten. Etwas unsicher hob ich die Hand zum Gruß. Die Unsicherheit war nicht mal gespielt, denn ich war in der Tat unsicher, was mich hinter dieser Tür erwarten würde, und außerdem dachte ich mir, es würde authentischer wirken.

Der Sehschlitz wurde geschlossen, und wir hörten, dass drinnen ein paar Riegel und Schlösser geöffnet wurden. Dann ging die Tür auf, und Carlos und ich traten ein.

Vor uns öffnete sich ein kleiner Flur, der in einer Tür endete. Dumpfe Geräusche drangen aus dieser Richtung zu uns. Wir standen in einem kleinen Vorraum, und ein riesiger Typ schloss die Tür hinter uns. Carlos stellte sich an die Wand und spreizte Arme und Beine, und der Typ begann, ihn zu durchsuchen. Nachdem er mit ihm fertig war, bedeutete er mir mit einem grimmigen Nicken, mich auch an die Wand zu stellen. Er durchsuchte alle meine Taschen, aber ich hatte nur ein wenig Geld dabei.

Als der Typ fertig war, nickte er uns grimmig zu, und Carlos ging los. Ich folgte ihm. Dann öffnete er die Tür. Ein großer, spärlich beleuchteter Raum war dahinter, in dem sich etwa 20 Männer unterschiedlichen Alters aufhielten. Die Luft war fürchterlich stickig und voll von Zigarettenqualm, denn es gab offenbar keine Fenster, damit kein Lärm nach draußen dringen konnte. Eine alte Stereoanlage spielte Lieder von Ibrahim Ferrer.

Als wir den Raum betraten, drehten sich einige Männer nach uns um. Ein paar nickten Carlos kurz zur Begrüßung zu, aber die meisten beäugten mich misstrauisch.

Auf einmal tauchte ein Junge neben Carlos auf. Ich schätzte ihn auf höchstens 18 Jahre.

"Carlos!", rief er und umarmte ihn kurz. "Schön, dich wieder zu sehen!" Seine großen braunen Augen leuchteten Carlos regelrecht an.

Carlos ließ die Umarmung über sich ergehen, und für einen kurzen Augenblick sah ich wieder dieselbe diabolische Kälte in ihnen, die ich schon neulich dort entdeckt hatte, als er bei mir war.

"Paco, das ist mein Cousin Juan", stellte er mich vor.

"Willkommen", lächelte Paco höflich und gab mir die Hand. Er schien sich aber nicht wirklich für mich zu interessieren, denn er hatte nur Augen für Carlos.

Auf einmal tauchte ein weiterer Typ neben Carlos auf. "Hallo Carlos!", begrüßte er ihn und legte ihm seinen Arm um die Schulter. Ich erkannte ihn sofort von dem Foto in der Akte wieder. Felipe, meine neue Zielperson, war sportlich gebaut, hatte ein paar funkelnde braune Augen und glatte schwarze Haare, die etwas zu lang zu sein schienen. "Willst du mir nicht den charmanten jungen Mann vorstellen, den du uns da mitgebracht hast?"

"Klar", antwortete Carlos. "Das ist Juan, mein Cousin. Juan, das ist Felipe, der Anführer dieser Gruppe."

Meine ZP gab mir die Hand und lachte auf. "Nun, 'Anführer' ist sicherlich nicht der richtige Ausdruck. Wir sind ja schließlich keine paramilitärische Organisation. Aber freut mich, dich kennen zu lernen, Juan." Seine Augen leuchteten mich an.

"Hallo", erwiderte ich schüchtern. Im Gegensatz zu Carlos, den ich von Anfang an nicht mochte, weil er etwas Bedrohliches an sich hatte, war mir dieser Felipe sofort sympathisch. Das war nicht gut, denn man muss seine ZP immer mit einem gewissen Abstand betrachten –besonders wenn es um eine direkte Überwachung ging wie in diesem Falle.

Erst jetzt bemerkte ich den Tresen an der Rückseite der Bar, wo Carlos bereits von Paco hingeführt wurde.

"Komm mit, ich lade dich auf ein Bier ein", sagte Felipe, legte seine Hand auf meine Schulter und führte mich ebenfalls zum Tresen. Ich ging davon aus, dass er mich jetzt ausfragen würde, um abzuschätzen, ob ich wirklich homosexuell sei oder eine Gefahr darstellen würde.

Wir stellten uns an den Tresen. Felipe bestellte zwei Bier und stieß mit mir an. Dann sagte er: "Du bist also Carlos' Cousin."

"So ist es", erwiderte ich und pulte an dem Etikett meiner Bierflasche rum, ohne ihn anzusehen. Aus einem mir unbekannten Grunde wollte ich ihm nicht in die Augen sehen.

"Und wie kommt es, dass er dich hierher mitgenommen hat?"

Ich zuckte kurz mit den Schultern. "Na ja, wir haben uns immer sehr gut verstanden, als wir noch beide in Bayamo waren. Nachdem ich dann auch hier nach Havanna gekommen bin, erzählte er irgendwann, dass er öfters was mit Freunden unternimmt. Und da wurde ich halt neugierig. Schließlich gab er dann zu, was das für Freunde sind, mit denen er sich trifft. Und dann wollte ich mal mitkommen. Immerhin muss ich ja auf meinen kleinen Cousin aufpassen", erzählte ich mit einem schüchternen Lächeln. Ich fand, dass ich meine Rolle echt gut spielte.

"Na, ich glaube, den Part hat Paco schon übernommen", gluckste Felipe und deutete mit einem Kopfnicken zu den beiden rüber. Paco und Carlos standen etwas abseits der anderen Leute. Carlos hielt ein Bier in der einen Hand, den anderen Arm hatte er um Pacos Schulter gelegt, während dieser beide Arme um Carlos' Hüfte und seinen Kopf auf dessen Schulter gelegt hatte. Paco hatte dabei einen verträumten Gesichtsausdruck, während Carlos' Augen eher etwas entrückt dreinschauten.

"Ja, die beiden sehen sehr glücklich aus zusammen", kommentierte ich diesen Anblick. In Wirklichkeit aber bedauerte ich Paco außerordentlich. Der Kleine schien Carlos zu vergöttern und den Boden zu küssen, über den er lief, während Carlos ja mir gegenüber seinen Standpunkt mehr als deutlich dargestellt hatte.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens fragte Felipe leise: "Bist du denn auch ein hombre de ambiente?"

Es kribbelte kurz in meinem Nacken. "Du meinst, ob ich homosexuell bin?"

Wieder kicherte Felipe. "Weißt du, wir bevorzugen den Ausdruck 'hombre de ambiente', 'homosexuell' oder sogar 'gay' hört sich für uns zu amerikanisch an."

Ich war etwas beruhigt, eine etwas antiamerikanische Haltung von Felipe zu hören. Ich nahm einen Schluck Bier.

"Du hast meine Frage nicht beantwortet", meinte er nach einer kurzen Pause.

Mir wurde auf einmal sehr warm in diesem stickigen Kellerloch. "Na ja…", fing ich an zu stammeln, "ich weiß nicht… ich habe noch nie… also…"

Felipe lachte kurz auf. "Schon gut, ich verstehe. Lass dir Zeit mit der Antwort, ja? Wenn du sie dann irgendwann gefunden hast, sag Bescheid." Er klopfte mir kurz auf die Schulter.

"Hey, Felipe!" rief auf einmal jemand quer durch den Raum. "Spiel uns doch nochmal was vor!"

"Genau! Felipe an die Gitarre!", stimmten ein paar andere mit ein.

Felipe drehte sich um, hob beschwichtigend die Hände und rief: "Okay, okay!" Dann holte er aus einer Ecke, in der auch ein altes Klavier stand, eine Gitarre und setzte sich auf einen Hocker neben dem Klavier. Jemand setzte sich an das Klavier, ein anderer nahm ein paar Bongos, und dann legten sie los. Sie spielten ein paar fetzige Lieder von Ibrahim Ferrer, Compay Segundo und Tito Puente. Die meisten Leute schienen die Texte zu kennen und sangen lauthals mit. Ein paar Paare fingen an zu tanzen. Die Stimmung wurde immer heißer.

Und ich sang mit… Und nicht nur das! Ich stellte erstaunt und erschrocken fest, dass ich mich unheimlich wohl fühlte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut gefühlt hatte…

Ich stand immer noch am Tresen, trank ein paar Bier und schaute gebannt auf Felipes Finger, wie sie über die Gitarre hüpften und ihr die verschiedensten Töne entlockten. Ich war fasziniert, hoffte aber, dass Carlos das nicht bemerken würde. Der könnte mir hier alles versauen. Ich suchte und entdeckte ihn und Paco bei den Leuten, die direkt neben dem Klavier standen. Er stand mit dem Rücken zu mir, also konnte er mich nicht sehen.

Die Stimmung wurde ebenso wie die Luft immer heißer. Dann spielten sie ein langsameres Lied, was aber keine Abkühlung brachte. Im Gegenteil. Es wurde noch viel erotischer: "El cariño que te tengo / No te lo puedo negar – Die Zuneigung, die ich für dich empfinde / kann ich nicht leugnen", sangen alle mit.

Ich bemerkte, dass Felipe, während er weiterspielte, mir während dieser Zeilen direkt in die Augen sah. Seine Lippen formten die Worte mit. Es kam mir so vor, als würde er sie nur mir sagen.

Hastig nahm ich einen großen Schluck vom meinem Bier. Ich musste sofort weg hier. Ich gefährdete nicht nur die Mission, sondern auch meine Karriere.

In dem Moment war das Lied zu Ende, und die Musiker beschlossen, eine Pause zu machen. Felipe lehnte die Gitarre ans Klavier, kam zurück zum Tresen und stellte sich neben mich.

"Na, du scheinst dich ja gut amüsiert zu haben! Du hast die ganze Zeit mitgesungen", lächelte er mich an.

Ich trank mein Bier aus. "Ihr habt ja auch toll gespielt", erwiderte ich nervös. Es wurde höchste Zeit, dass ich hier raus kam.

"Aber ich muss jetzt nach Hause. Ich muss morgen wieder früh arbeiten", fuhr ich fort.

Felipe schaute mich enttäuscht an. "Schade… In welchem Hotel arbeitest du denn?"

"Im 'Buena Vista'", erwiderte ich.

Er grübelte über etwas nach. "Ich weiß nicht, ob ich jetzt einen großen Fehler mache oder nicht – aber ich würde dich gerne wieder sehen. Wenn du möchtest, kann ich dich morgen nach der Arbeit abholen, und dann könnten wir zusammen noch etwas trinken gehen oder so…" Er sah mich mit einer Mischung aus Hoffnung und Unsicherheit an.

Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, sagte ich schnell zu. "Sagen wir um neun Uhr?"

Seine Augen leuchteten auf. "Super!"

Ich stellte die Bierflasche auf den Tresen. "Okay, dann bis morgen."

"Bis morgen, Juanito!" Er gab mir die Hand, und ich ging.


Ich bin wieder ein kleiner Junge und liege in meinem Bett in der Wohnung meiner Eltern. Plötzlich fallen wieder Schüsse. Erschrocken springe ich aus meinem Bett und öffne vorsichtig die Zimmertür. Ich sehe wieder überall Männer in Armeeuniformen mit Pistolen und Gewehren. Zwei von ihnen schleifen Paco an seinen Füßen ins Wohnzimmer. Er wehrt sich nicht. Er bewegt sich nicht. Er hinterlässt eine dunkelrote Schleifspur auf dem nackten Betonboden. Zwei weitere Männer zerren Felipe ins Zimmer. Er schreit und wehrt sich mit aller Macht. "IHR MÖRDER!" kreischt er immer wieder mit hysterischer Stimme. "MÖRDER!" Plötzlich packt mich einer der Soldaten und trägt mich zu einem anderen. "Was machen wir mit dem da, Sargento?" höre ich den Mann fragen, der mich gepackt hat. "Die übliche Vorgehensweise", knurrt dieser nur. Felipe kniet vor ihm. Blut läuft in seine großen braunen Augen, mit denen er mich plötzlich entdeckt. Eine unglaubliche Traurigkeit sammelt sich auf einmal darin. "Ich liebe dich, mein tapferer kleiner Juanito", flüstert er. "Vergiss das niemals. Ich werde dich immer lieben." Ich werde wieder in die Luft gehoben und nach draußen getragen. Auf einmal höre ich drinnen einen einzigen lauten Knall. Ich beginne zu schreien. "NEEEEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIII…

…IIIIINNNNNN!!!"

Ich sprang aus dem Bett, rannte ins Badezimmer und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Als das Würgen nach einer Weile nachließ, spülte ich meinen Mund aus und schleppte mich zurück ins Bett. Mein Wecker zeigte vier Uhr morgens an. Ich umklammerte mein Kopfkissen und ergab mich einem heftigen Weinkrampf.

Was war bloß los mit mir? Was war bloß los?

Ich weinte mich wieder in einen kurzen Schlaf, der aber nicht mehr lange andauerte, da mich der Wecker um halb sieben erbarmungslos zur Arbeit schickte. Ich sah zum Fürchten aus: käsige Gesichtsfarbe, rot unterlaufene Augen mit dicken Rändern.

Als ich völlig ermattet im Hotel ankam, fragte mich der Restaurantchef, welchem Gespenst ich den über den Weg gelaufen sei.

"Nicht genug Schlaf", murmelte ich und machte mich daran, die Tische einzudecken.

Während meiner Arbeit versuchte ich, wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Die Bilder aus meinem letzten Alptraum gingen mir einfach nicht aus dem Sinn.

"Ich liebe dich, mein tapferer kleiner Juanito. Vergiss das niemals. Ich werde dich immer lieben."

Jedes Mal, wenn ich diese Sequenz vor meinen Augen sah, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals.

Was hatte das alles bloß zu bedeuten? In meinem tiefsten Innern wuchs eine Befürchtung, die ich nicht mal ansatzweise zu Ende zu denken wagte.

Und er hatte mich "Juanito" genannt. Nur ein Mensch hatte mich jemals so genannt, und das war meine Mutter…

Dieser Auftrag wurde mir eindeutig zu heiß. Den ganzen Tag über suchte ich krampfhaft nach einer Lösung, wie ich den Auftrag loswerden konnte. Wie sollte ich das bloß machen? Wie sollte ich das dem Capitán erklären? "Entschuldigung, Capitán, ich kann das nicht weitermachen, ich habe mich in meine ZP verliebt?" – "Kein Problem, Juan, dann nehmen wir eben jemand anderes und setzen dich nur noch auf Frauen an." Von wegen.

Ich sah nur zwei Möglichkeiten. Die eine war, dass ich auffliegen musste. Das wäre die einzige Chance. Meine Beförderung und mein guter Ruf wären zwar hinüber, und ich konnte mir jetzt schon denken, welche Sprüche ich mir dafür würde anhören dürfen, aber das war mir egal.

Die andere Möglichkeit war, dass ich feststellen könnte, dass die Gruppe in illegale Aktivitäten verstrickt ist und sich damit strafbar machte. Das wäre sogar die bessere Lösung. Ich wäre gerettet und könnte wieder zurück in mein altes Leben. Und selbst wenn ich nichts finden sollte, wäre das kein allzu großes Problem. Ich hatte in meiner Laufbahn genug Beweismittel gesehen und könnte ein paar Briefe, die anscheinend aus Florida gekommen waren, selber fälschen. Den Rest würden ein paar Tricks in den Verhören besorgen.

Und mit ein wenig Glück könnte ich sogar diesen Scheißkerl Carlos loswerden.

Mir gefiel dieser Plan. Er gefiel mir sogar außerordentlich. Gedanklich setzte ich mir einen Zeitrahmen. Wir hatten jetzt Anfang Dezember. Bis Weihnachten wollte ich das Problem aus der Welt schaffen.

Ich spürte, wie ich neue Kraft sammelte, je mehr ich über diesen Plan nachdachte. Und je später es wurde, desto mehr brannte ich mich auf das Treffen mit der ZP.


Um exakt fünf Minuten nach neun Uhr verließ ich das Hotel. Meine Absicht war es, ihn ein wenig warten zu lassen. Das war mir lieber als auf ihn warten zu müssen, und als ich aus der großen Hoteltür auf die Straße trat, musste ich feststellen, dass zumindest dieses Vorhaben komplett in die Hose gegangen war: Felipe war noch nicht da.

Nervös ging ich um die Ecke und sah nach, ob er vielleicht an einer anderen Stelle wartete. Fehlanzeige. Ich steckte mir eine Zigarette an.

Sollte er etwas bemerkt haben? Das würde natürlich bedeuten, dass von den zwei Alternativen, die ich mir ausgedacht hatte, um den Auftrag "zu Ende" zu führen, diejenige bereits gescheitert war, die ich bevorzugte.

Während ich durch die warme Nacht vor dem Hotel auf und ab lief, merkte ich wieder die Müdigkeit, die in meinen Knochen steckte. Ich hoffte, dass Felipe bald auftauchen würde, denn sonst würde ich im Stehen einpennen.

Gerade als ich die Zigarette austreten wollte, hörte ich ein Moped um die Ecke kommen. Ich drehte mich um und sah Felipe auf mich zukommen. Mein Herz machte einen Satz. Er kam direkt vor mir zum Stehen und strahlte mich an.

"¡Hola! Wartest du schon lange?"

"Ziemlich genau eine Zigarettenlänge", antwortete ich.

"Entschuldige, aber der Verkehr war auf einigen Straßen noch ziemlich stark", entschuldigte er sich. Dann klopfte er auf den hinteren Teil des Sitzes und sagte: "Na, dann steig mal auf!"

Ich betrachtete skeptisch das klapprige Moped, auf dem er saß. "Meinst du, dass hält das noch aus?"

Er lächelte. "Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Also komm!"

Ich zuckte mit den Schultern und stieg hinter ihm auf. Um mich festhalten zu können, musste ich meine Hände um seine Hüfte legen. Während ich seine Wärme an meinem ganzen Körper spürte, bemerkte ich, dass er ganz dezent nach Kokosnuss roch. Mir wurde leicht schwindelig.

"Bereit?", fragte er.

"Hm-hm", machte ich nur zustimmend und hoffte, dass ich diesen Ritt überleben würde.

Und los ging die Fahrt. Felipe steuerte sein Moped durch das nächtliche Havanna, an Bars, aus denen Musik drang, hupenden Autos und Menschen vorbei, die gerade von der Arbeit kamen. Zwischendurch hielt er an einem kleinen Supermarkt an und kaufte einen Träger Bier, den er auf das untere Blech des Mopeds zwischen seine Füße stellte. Nach etwa 20 Minuten erreichten wir schließlich die Marina Hemmingway. Sie lag in einer deutlich besseren Wohngegend als die, in der ich wohnte. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich, denn sie lag direkt am Strand. Sanft brach sich die Dünung der Karibik zu unseren Füßen, während wir abstiegen.

Ich sah mich um und stellte fest, dass keine Menschenseele weit und breit zu sehen war. Ich atmete die Luft ein, die in einer sanften Brise vom Meer her wehte und noch frei von Abgasen war, und streckte meine müden Muskeln. Irgendwie fand ich es fast schade, dass die Fahrt schon vorbei war. Ich bemerkte, dass über uns die Sterne leuchteten und der Vollmond schräg über dem Meer stand.

"Komm mit", sagte Felipe und ging zum Strand runter. Ich folgte ihm. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und setzte sich in den Sand. Ich setzte mich links neben ihn. Er öffnete zwei Flaschen Bier und reichte mir eine.

"¡Salud!" Wir stießen an. Ich nahm einen Schluck und ließ meinen Blick über die Karibik schweifen. Der volle Mond, der noch relativ niedrig stand, spiegelte sich in der ruhigen See.

"Es ist schön hier", bemerkte ich wahrheitsgemäß.

"Ja, ich komme gerne hier her, um nachzudenken oder mal alleine zu sein." Er legte sich zurück in den Sand. Ich tat es ihm gleich. Über mir konnte ich nur noch die Sterne sehen.

Nach einer Weile des Schweigens fragte er sanft: "Und? Erzähl mal, wie war dein Tag?"

Es hatte mich noch nie jemand gefragt, wie mein Tag war. Es hatte noch nie jemanden interessiert.

"Och naja… der übliche Alltag halt. Abgesehen davon, dass ich hundemüde bin, weil ich letzte Nacht nicht viel Schlaf bekommen habe…" Und das war noch nicht mal gelogen.

"Willst du wieder nach Hause?" fragte Felipe besorgt.

"Nein nein", antwortete ich schnell. Das wollte ich wirklich nicht. Mir gefiel es wirklich dort. Und irgendwo in meinem Hinterkopf trug ich noch den Gedanken mit mir rum, dass ich noch Informationen brauchte.

"Und… wie war… dein Tag?", fragte ich, um schnell wieder über was anderes zu reden.

"Vorlesungen, Übungen… wie immer", antwortete er beiläufig.

"Vorlesungen?" fragte ich.

"Ich studiere Gitarre am Instituto Superior de Arte."

"Das hätte ich mir eigentlich denken können, so klasse wie du gestern gespielt hast…", sagte ich bewundernd.

"Ach das…", winkte er lachend ab, "das war nun wirklich harmloses Geplänkel."

"Klang aber trotzdem gut", warf ich ein und drehte meinen Kopf, so dass ich ihn ansehen konnte.

"Danke… Juanito." Im fahlen Mondlicht konnte ich sehen, dass er lächelte.

Wir schwiegen wieder eine Weile. Auf einmal wurden meine Augenlider furchtbar schwer, und ich hatte immer größere Probleme, sie offen zu halten. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein.

Ich träumte von meinem Vater. Er sang jeden Abend das gleiche Lied, wenn er darauf wartete, dass Mama wieder von der Arbeit kam. In meinem Traum saß ich auf seinem Schoß und lauschte dem Lied, das ich damals jeden Abend hörte.

Luna que se quiebra
Mond, der du durch

Sobre la tiniebla de mi soledad
das Dunkel meiner Einsamkeit brichst,

A dónde vas?
wo gehst du hin?

Dime se esta noche
Sag mir, ob du heute Nacht

Tú te vas de ronda
deine Runden drehst

como él se fue
wie er es tat

Con quién estás?
und mit wem?

Ich hatte es schon ewig nicht mehr gehört. In meinem Traum saßen wir auf der Veranda vor unserem Haus, blickten gemeinsam die Straße hinab und warteten, dass Mama um die Ecke bog.

Er hörte aber nach dieser Strophe auf. Ich wendete meinen Blick von der Straße ab und blickte ihm in die Augen. "Warum singst du nicht weiter, papá?" fragte ich. Er lächelte mich an und sang weiter.

Dile que lo quiero
Sag ihm, dass ich ihn liebe

Dile que me muero
sag ihm, dass ich daran sterbe,

de tanto esperar
so lange zu warten,

que vuelva ya
bis er wieder kommt,

que las rondas no son buenas
dass diese Runden nicht gut sind,

que hacen daño, que dan penas
dass sie schaden, dass sie Leid bringen,

y que acaban por llorar
und das endet in Tränen.

Während ich auf Papas Schoß saß und seiner Stimme lauschte, wiegte er mich in seinen Armen. "Dile que lo quiero…"
Sag ihm, dass ich ihn liebe…

Sag IHM, dass ich IHN liebe???

Schlagartig öffnete ich meine Augen. Ich lag offenbar an einem Strand auf meiner rechten Seite. Mein rechter Arm lehnte gegen meinen Bauch, mein Kopf lag auf Felipes Arm, während mein linker Arm auf seinem Bauch lag.

Felipe?!

"…y que acaban por llorar...”, sang er leise.

"Wa…?", schreckte ich hoch. Plötzlich fiel mir wieder ein, wo ich war, und kapierte, dass ich zwar von meinem Vater geträumt hatte, aber offenbar nicht ihn im Traum singen gehört habe.

"Ach du Scheiße!" Ich sprang erschrocken auf. Felipe starrte mich mit großen Augen an.

"Aber…", setzte er an.

"Es tut mir Leid, wirklich!", versuchte ich hastig zu beschwichtigen.

"Was-"

"Ich… ich bin eingeschlafen… geträumt… entschuldige…!", überschlug ich mich mit meinen Versuchen, Felipe die Situation zu erklären.

"Juan-" Auch er hatte sich aufgesetzt und sah mich verwundert an.

"Es tut mir Leid, ich wollte nicht… Oh Gott, das war keine Absicht-"

Diesmal unterbrach er mich. "Juanito!"

Ich verstummte und schaute ihn erschrocken an. Mir war der Schweiß auf die Stirn getreten. Mein Herz raste.

"Juanito, es ist… alles… in Ordnung!" Er hob beschwichtigend die Hände. "Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen! Es ist nichts Schlimmes passiert!"

Ich stand immer noch einen Meter von ihm entfernt und schaute ihn an wie eine Baumratte im Scheinwerferlicht. Warum bloß nutzte er immer die Verniedlichungsform meines Namens?!

"Komm, setz dich wieder." Er klopfte auf die Stelle im Sand, wo noch der Abdruck meines Körpers war. Zögernd folgte ich seiner Bitte. "Na also."

"Felipe, ich wollte dir wirklich nicht zu nahe kommen, wirklich nicht…"

"Juanito." Er sprach meinen Namen ganz ruhig und gelassen aus. Er bedeutete mir dadurch, dass ich einfach mal den Mund halten sollte. "Du erinnerst dich doch noch, wo wir uns gestern Abend kennen gelernt haben, oder?"

Ich nickte.

"Gut. Ich bin ein hombre de ambiente. Dir ist doch klar, was das bedeutet, ja?"

Wieder nickte ich nur.

"Gut. Dann lass mich dir versichern, dass ich es nicht schlimm fand, dass du eingeschlafen bist. Ich fand es auch nicht schlimm, als du im Schlaf deinen Arm auf meinen Bauch gelegt hast und immer näher an mich herangerutscht bist. Okay?"

Ich atmete innerlich auf.

"Aber eines möchte ich nicht noch einmal erleben!", fuhr er mit fester Stimme fort.

Ich zuckte zusammen, mein Herz schlug wieder schneller.

"Nenn mich bitte nie, nie wieder papá, verstanden?! Ganz so alt bin ich noch nicht."

Ich schluckte. Ich muss wohl im Schlaf mit ihm geredet haben. "Okay…", nickte ich und starrte auf das Meer hinaus. Meine Güte, ich musste mich dringend besser unter Kontrolle halten, sonst…

Ein Glucksen von Felipe unterbrach meine Gedanken. Ich sah ihn an. In dem Moment prustete er los, ließ sich rückwärts in den Sand fallen und brüllte vor Lachen.

"HAHAHA!!! Du hättest dein Gesicht sehen sollen!!!", wieherte er. "BUAHAHAHA!!! Aufgesprungen, als wenn dich eine Tarantel gestochen hätte!!!"

Widerwillig musste ich auch kichern. Felipe rollte sich weiter vor Lachen im Sand.

"Is' gut jetzt…", nölte ich und gab ihm einen Knuff an die Seite.

"HAHAHA!!! 'Komm, Papa, sing weiter!' HIHIHI!!! Ich lach mich tot!!!"

Kichernd gab ich ihm einen kräftigeren Knuff. Sein Lachen war richtig ansteckend.

"Ho ho, man schlägt seinen Papa nicht, Sohnemann!", kicherte er mit tiefer, verstellter Stimme.

"Hör jetzt bitte auf, ja?", versuchte ich ernst zu bleiben, was mir aber nicht wirklich gelang.

"Zwing mich doch!", rief er und sprang auf. Ich sprang hinterher und versuchte, ihn zu fangen. Er hüpfte und tänzelte und schlug einen Haken nach dem anderen auf dem Strand. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war, ihn zu erwischen, sprang er wieder in eine andere Richtung, und ich landete wieder im Sand.

So tollten wir eine Weile im Mondlicht über den Strand, bis ich seine Taktik durchschaut hatte. Ich versuchte immer, seinen Oberkörper zu erwischen, und wenn ich zum Sprung ansetzte, drehte er sich zur Seite, so dass ich immer ins Leere sprang. Als ich das kapiert hatte, stürzte ich mich auf seinen Unterkörper. Volltreffer. Er landete lachend rückwärts im Sand, und ich setzte mich schnell auf ihn, damit er mir nicht mehr entkommen konnte, und hielt seine Hände fest.

Keuchend und kichernd verharrten wir eine Weile in dieser Position, bis ich merkte, dass von ihm keine Gegenwehr mehr kam. Ich ließ seine Arme los und blickte in seine großen braunen Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte.

"Komm", flüsterte er nach ein paar Sekunden und klopfte mit einer Hand auf seine Brust. Ich rutschte von ihm runter und legte mich wieder in die Position, in der ich aufgewacht war, nur noch etwas enger. Er fing wieder an, leise die Melodie von "Noche de ronda" zu summen.

Reflexartig, automatisch und ohne darüber nachzudenken, fing ich an, seine Brust mit meinen Fingern zu streicheln. Dabei stieg mir wieder sein feiner Kokosnussduft in die Nase. Bald spürte ich, wie seine Hand anfing, mit meinen Haaren zu spielen.

Und in genau diesem Moment wünschte ich mir, diese Nacht würde niemals enden.

Und nur der Mond war unser Zeuge.


Ich sah Felipe und Carlos erst ein paar Tage später wieder, als das nächste Treffen der hombres de ambiente anstand. Das gab mir ein wenig Zeit, meine Gedanken zu sortieren.

In jener Nacht ist nicht mehr viel passiert. Wir lagen noch eine Weile am Strand, hörten den Wellen zu und beobachteten den Mond auf seinem Weg über das Firmament. Schließlich schlug Felipe vor, mich nach Hause zu bringen, was ich teils dankbar, teils traurig annahm. Als wir dann schließlich vor dem Haus standen, in dem ich wohnte, sahen wir uns einen etwas zu langen Moment in die Augen, bevor wir uns umarmten. Dann setzte er sich auf sein Moped und brauste davon.

Ich hatte das Gefühl, dass wir beide mehr gewollt hätten.

Ich fiel wie ein Stein ins Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag grübelte ich wieder vor mich hin. Meinen Plan, den Laden auffliegen zu lassen, hatte ich ersatzlos gestrichen. Denn ich war zu der Erkenntnis gelangt, dass ich das nicht über das Herz bringen würde, ihn ins Zuchthaus zu bringen. Außerdem hatte ich ja noch nicht den leisesten Hinweis auf irgendwelche illegalen Aktivitäten. Ich hoffte, dass es auch so bleiben würde.

Ich summte den ganzen Tag "Noche de ronda" vor mich hin. Und jedes Mal, wenn die Textstelle "Dile que lo quiero" kam, musste ich ein wenig lächeln und an Felipe denken. Und so gelangte ich schrittweise zu einer für mich völlig neuen Erkenntnis:

Ich hatte mich verliebt.

Ich hatte mich in Felipe verliebt.

Ich hatte mich in einen hombre de ambiente verliebt.

Dann musste ich auch ein hombre de ambiente sein.

Als ich diesen Gedanken zum ersten Mal hatte, fiel mir eine unheimliche Last vom Herzen. Es war irgendwie befreiend. Aber dieses Gefühl wich einer neuen Last: was würde aus meinem Auftrag werden? Was, wenn ich doch etwas entdecken würde, das ich melden müsste?

Ich war mir nicht sicher, was schlimmer war: dass ich mich in einen Mann verliebt hatte oder dass ich mich in meine ZP verliebt hatte…

Mir graute davor.

An diesem Abend fiel ich wieder müde ins Bett und dachte an Felipe. Was sollte ich bloß tun?


Ich liege wieder in meinem Bett in der Wohnung meiner Eltern. Plötzlich fallen wieder die Schüsse. Es ist wieder die gleiche Szene wie beim letzten Mal. Aber als Felipe mich diesmal entdeckt, fragt er traurig flüsternd: "Warum hast du mich verraten, Juanito? Ich habe dich doch geliebt…!" Seine großen braunen Augen sehen mich verzweifelt an. Dann werde ich wieder in die Luft gehoben und nach draußen getragen. Dann höre ich nur noch den Schuss. "NEEEEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIII…

…IIIIINNNNNN!!!"

Ich rannte wieder ins Badezimmer. Nachdem ich mich ausgekotzt hatte, kroch ich wieder ins Bett und weinte vor Verzweiflung.

"Ich liebe dich doch auch, Felipe…", schluchzte ich.

So konnte das nicht weiter gehen.


Am nächsten Tag nahm mich der Restaurantchef beiseite. "Ich soll fragen, ob's was Neues gibt."

Das war eine Nachricht vom Capitán. Er erwartete einen ersten Zwischenbericht von mir.

Meine Stimmung sank gen Nullpunkt. Als ich abends wieder zuhause war, saß ich lange vor einem leeren Blatt Papier. Dann setzte ich den Stift an und schrieb los.

Der Kontakt mit der ZP wurde erfolgreich aufgenommen. Das Vertrauensverhältnis wird weiter ausgebaut. Bisher konnten keine illegalen Aktivitäten weder seitens der ZP noch anderer Beteiligter festgestellt werden.

Dann schrieb ich noch ein paar allgemeine Informationen auf; wo sich der Club befand, eine grobe Skizze der Räumlichkeiten, wie viele Personen an meinem ersten Abend dort waren. Zum Schluss schrieb ich noch meine Empfehlung, die Observation für mindestens zwei weitere Monate fortzuführen.

Ich überlegte, ob ich noch irgendetwas über Carlos schreiben sollte, entschied mich aber dann dagegen. Ich wollte ihn zwar immer noch loswerden, befürchtete aber, dass das jetzt noch zu früh war. Ich würde noch ein wenig abwarten müssen.

Ich steckte den Bericht in einen Briefumschlag und versiegelte ihn. Dann kroch ich ins Bett und harrte der Alpträume, die mich höchstwahrscheinlich wieder verfolgen würden.


Zwei Tage später war wieder ein Treffen in der Bar. Ich hatte mir vorsorglich den nächsten Tag frei genommen, weil ich davon ausging, dass es wieder später werden würde.

Wie schon beim letzten Mal holte mich Carlos ab. Auf dem Weg fragte er beiläufig: "Und? Wie läuft's mit Felipe?" Er warf mir einen lauernden Blick zu.

"Fragst du mich das als 'Cousin' oder als Untergebener?" knurrte ich. Der Dreckskerl sollte aufhören, sich in mein Leben einzumischen.

Mit dieser Gegenfrage hatte er scheinbar nicht gerechnet. "Ähm… na ja… beides… irgendwie…"

"Das wirst du gleich sehen."

Schweigend liefen wir weiter. Als wir an der Bar im Keller ankamen, ließen wir die übliche Abtasterei über uns ergehen und gingen schließlich rein. Drinnen bot sich uns das gleiche Bild wie am ersten Abend, als ich dort war: Es waren wieder knapp 20 Leute in dem heißen, stickigen und verrauchten Raum. Aus der Anlage drang wieder kubanische Musik.

Paco hatte uns wieder als erster entdeckt und begrüßte mich nur knapp mit einem "Hallo", Carlos dagegen begrüßte er umso überschwänglicher, was dieser anscheinend etwas widerwillig über sich ergehen ließ.

Auf einmal stand auch Felipe neben uns. "Hallo, Juanito", grüßte er mich sanft und gab mir einen Kuss auf die Wange.

"Hallo…", hauchte ich überrascht von seiner Begrüßung und dem Kribbeln, welches meinen Körper von oben bis unten durchzog. Dann nahm er meine Hand und führte mich an den Tresen.

"Schön, dich wieder zu sehen", sagte er, nachdem er uns zwei Bier bestellt hatte. "Ich habe dich vermisst…"

Ich schluckte. "Ich… habe dich auch vermisst", flüsterte ich. Es stimmte ja auch.

Felipe lächelte mich an und legte seinen Arm um meine Schulter. Das schien für alle Anwesenden das Signal zu sein, dass man mir wohl vertrauen konnte. Während am ersten Abend niemand mit mir gesprochen hatte, kamen nun ein paar Leute an und unterhielten sich mit uns, fragten mich, wo ich herkäme und so weiter. Dabei lag Felipes Arm die ganze Zeit um meine Schulter gelegt und streichelte sanft meinen Arm, während ich mich an ihn schmiegte.

Ich fühlte mich so wohl und so gut wie schon lange nicht mehr.

Nur die finsteren Blicke von Carlos erinnerten mich daran, dass hier was im Argen lag – dass ich eine Doppelrolle spielte, wobei ich nicht wusste, wie das Theater enden würde. Tief in mir drin hoffte ich inständig auf ein Happy End, was ich aber, ganz nüchtern und rational betrachtet, nicht für möglich hielt.

Als wir für einen Moment allein waren, stupste Felipe mich an und deutete mit einem Kopfnicken zu Carlos und Paco rüber. Sie standen in einer Ecke der Bar und schienen uns nicht zu beachten. Paco hatte wieder seine Arme um Carlos geschlungen, während dieser etwas unbeteiligt dreinschaute.

"Weißt du", setzte Felipe an, "manchmal frage ich mich, was Paco an deinem Cousin findet."

"Keine Ahnung…", erwiderte ich vorsichtig. Jetzt musste ich aufpassen.

"Irgendwas ist eigenartig an ihm", grübelte er. "Ich frage mich, ob…" Er sprach seinen Satz nicht zu Ende.

"Ob was…?", fragte ich und sah Felipe an.

Er dachte einen Moment lang weiter nach.

"Nicht so wichtig", wiegelte er dann ab. Ich fragte mich, ob Felipe vielleicht etwas ahnte. Ich schluckte meine Angst runter.

In dem Moment rief wieder jemand: "Felipe! Gitarre!" Wie am ersten Abend brach ein Sturm an Jubelrufen und Applaus los.

"In Ordnung, in Ordnung!", beschwichtigte er. Dann nahm er meine Hand und zog mich mit zum Klavier, auf dem auch die Gitarre lag. Er setzte sich auf einen Hocker und stellte einen weiteren direkt daneben, auf den ich mich setzte. Jemand setzte sich ans Klavier, ein anderer griff nach den Bongos, und schon legten sie los.

Der ganze Raum vibrierte. Alle sangen mit, mich eingeschlossen, und bewegten sich einzeln oder paarweise zum Rhythmus der Musik, die sich machten. Ich beobachtete Felipe und wie seine zarten Finger über die Gitarre und die Saiten hüpften. Ich war fasziniert und verzaubert.

Nach ein paar Liedern sagte Felipe zum Klavierspieler: "Jetzt 'Noche de ronda', Gis-Dur!"

Ich bekam wieder eine Gänsehaut, als er anfing, "unser Lied" zu spielen. Reflexartig legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und sang leise mit.

"Dile que lo quiero…"

Ich schmolz regelrecht dahin. Als das Lied vorbei war, blieb es einen Moment lang still im Raum. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Felipe legte die Gitarre beiseite. Mein Kopf lag noch immer auf seiner Schulter.

"Hey, Jorge!", rief Felipe dann dem Barkeeper zu, "mach mal wieder Musik an, bevor wir hier gleich noch alle anfangen zu heulen!" Kurz darauf dröhnte "El negro Bembón" aus den alten Lautsprechern, und die Stimmung hellte sich wieder auf. Felipe und ich gingen zurück an die Bar.

"Du hast 'unser Lied' gespielt", meinte ich etwas schüchtern. "Das war schön…"

Felipe grinste verlegen wie ein kleiner Schuljunge. Dann fragte er plötzlich: "Darf ich dich küssen?"

Ich nickte nur.


Der Abend entwickelte sich zu einer tollen Party. Bier und Rum flossen in Strömen, und ich war froh, dass ich am nächsten Tag nicht arbeiten musste.

Ich war überglücklich – eigentlich. Was mir aber Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass ich diesen Laden und hauptsächlich Felipe observieren sollte. Das alleine wäre ja vielleicht noch machbar gewesen. Aber das Problem war, dass es hier einen Unsicherheitsfaktor gab, eine Variable, die ich nicht kontrollieren konnte, die aber meinen eigentlichen Auftrag hier kannte: Carlos.

Nachdem Felipe mich innig geküsst hatte, befand ich mich für einige Zeit in einem Zustand von purer Euphorie. Das Glück strömte förmlich durch meinen Körper, und jede Faser von mir sehnte sich nach weiteren Berührungen von ihm. Und es war natürlich nicht der einzige Kuss, den wir an dem Abend genießen durften.

Aber das Gefühl des Glückes bekam einen jähen Dämpfer, als Carlos mir einen Blick zuwarf, den ich nicht eindeutig lesen konnte. Da lagen Wut, Verachtung, sogar Hass, aber auch etwas von "Ich habe dich durchschaut" drin. Es kam mir so vor, als ob er mich dazu auffordern wollte, über meine Prioritäten und Loyalitäten nachzudenken.

Dann haute er ab.

Paco kam etwas ratlos zu Felipe und mir rüber. "Wisst ihr, was mit Carlos heute los war?" fragte er. "Der war den ganzen Abend schon so komisch…" Er und Felipe sahen mich erwartungsvoll an.

"Keine Ahnung", erwiderte ich schulterzuckend, "Wir reden eigentlich so gut wie gar nicht über unser Privatleben."

"Hm", machte Felipe nachdenklich. "Ich frage mich, ob…"

"Was?", fragten Paco und ich gleichzeitig, als er seinen Satz nicht beendete.

Felipe grübelte über etwas nach und sah mich dabei komisch an. Dann schüttelte er seinen Kopf und sagte: "Egal. Wollt ihr noch etwas trinken?"

Danach redeten wir nicht mehr über Carlos.

Dieses Erlebnis aber bereitete mir große Sorgen. Ich hatte hier im Prinzip alles unter Kontrolle. Der Einzige, den ich aber nicht kontrollieren konnte, war aber eben nun mal Carlos. Und Felipe wurde gerade ein wenig hellhörig – oder skeptisch. Vielleicht hatte er Verdacht geschöpft, ließ es sich aber nicht anmerken, sondern verhielt sich ganz normal. Nun ja, so normal, wie ein verliebter Kubaner sich in einer Untergrundbar eben verhalten konnte.

Ich musste dringend zusehen, dass ich Carlos loswurde. Und diese Szene eben lieferte mir die perfekte Erklärung für den Capitán. Ich würde ihm einfach erzählen, dass meine ZP und andere Besucher Verdacht geschöpft hatten, was Carlos betraf, und dass es besser sei, wenn er für einige Zeit verschwinden würde, um nicht meinen Auftrag zu gefährden.

Meine Stimmung wurde sofort besser. Ich würde Carlos zurück in die Pampa schicken können und bräuchte mich hier nicht mehr zu verstellen.


Sobald ich am nächsten Morgen wieder nüchtern war, machte ich mich auf den Weg in die Zentrale des Geheimdienstes. Ich nutzte dabei Umwege und sah mich ständig um, ob mir jemand folgte, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen.

Ich war schon nervös, als ich im Gebäude ankam. Aber ich hatte mich gedanklich gut auf dieses Gespräch vorbereitet. Ich durfte einfach keinen Zweifel an meiner Loyalität aufkommen lassen, sonst wäre alles vergebens.

Ich ging direkt zum Büro des Capitán. Seine Tür stand wie immer offen. Ich klopfte.

Er blickte auf und schaute mich überrascht an. "Nanu, Juan? Was machst du denn hier?" Er bat mich rein und ich schloss die Tür hinter mir.

"Es gibt ein Problem, Capitán", begann ich.

"Welches?", fragte er scharf.

"Carlos."

"Inwiefern?"

"Nun, er scheint nicht damit einverstanden zu sein, wie ich arbeite." Ich schilderte ihm in knappen Worten, was sich gestern Abend zugetragen hatte. Ich erwähnte auch sein Verhalten bei unserem ersten Treffen, dass er ein Problem mit Autoritäten zu haben schien (besonders mit meiner), und dass er aus persönlichen Rachegefühlen die Gruppe sprengen wollte.

Der Capitán rieb sich nachdenklich seinen Dreitagebart. "Und aus welchen Gründen willst du die Gruppe sprengen, Juan?"

Mit der Frage hatte ich gerechnet. "Ich will sie nicht sprengen. Das ist nicht mein Primärauftrag. Ich soll herausfinden, ob der Anführer der Gruppe was verbirgt, ob in diesem geschlossenen Kreis illegale Aktivitäten durchgeführt werden, insbesondere ob Kontakte zu Dissidenten im Ausland bestehen und ob sie etwas planen. Sollte sich herausstellen, dass sich die Gruppe oder ihre Mitglieder in diesen Fällen nicht gesetzeskonform verhalten, werde ich es in den Berichten erwähnen und die angemessenen Schritte vorschlagen und in Absprache mit Ihnen veranlassen. Das geht aber nur solange, wie ich anonym bin und die Leute mir vertrauen. Und ein Verhalten wie das von Carlos ist das äußerst kontraproduktiv."

Er schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Er dachte einen Moment lang nach. Dann sagte er: "Einverstanden. Ich ziehe Carlos von dem Fall ab. Offiziell wird er in den nächsten Tagen zu seinem Vater zurück nach Bayamo fahren, weil der plötzlich schwer erkrankt ist und Carlos sich um die Familie kümmern muss."

Ich nickte, versuchte allerdings, keine Gefühlsregung zu zeigen. Schon gar nicht die Freude, die sich in meiner Brust breit machte.

"Ich erwarte dich hier in einer Woche mit deinem nächsten Bericht. Sonst noch was?"

"Nein, Capitán."

"Gut, Juan. Den anderen Bericht von dir habe ich bekommen. Ich bin sehr zufrieden mit deiner Arbeit."

Ich dankte ihm und verabschiedete mich.


Die nächsten Tage verliefen relativ ereignislos. Felipe holte mich oft abends am Hotel ab, und wir fuhren zum Strand, wo wir im Mondschein im warmen Sand lagen, dem sanften Rauschen der Wellen lauschten und einfach nur die Nähe des anderen genossen. Ich dachte damals noch, dass ich alles unter Kontrolle hatte und dass sich irgendwie all die Konflikte, die mein Doppelleben mit sich brachte, in Wohlgefallen auflösen würden.

Einmal waren wir auch bei ihm, weil er mir seine kleine Studentenwohnung in der Nähe des Instituto Superior de Arte zeigen wollte. Im Prinzip bestand sie nur aus einem Zimmer mit einem Bett, einem Schreibtisch und einem Schrank, es gab eine Gemeinschaftsküche und ein kleines Gemeinschaftsbadezimmer. Aber am liebsten waren wir am Strand.

Es war eine wunderschöne Zeit. Aber wie alles Schöne musste auch diese Zeit irgendwann mal vorbei sein.

Es begann am Abend des dritten Tages nach meinem Gespräch mit dem Capitán. Felipe holte mich wieder am Hotel ab. Alles schien auf den ersten Blick normal zu sein, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht mit Felipe zu stimmen schien.

Als wir wieder an der Marina Hemmingway ankamen und Arm in Arm im Sand lagen, fragte er nachdenklich: "Hast du eigentlich schon das mit Carlos gehört?"

In mir schrillten die Alarmglocken. "Wieso? Was ist denn mit ihm?"

"Mit ihm ist nichts. Aber er musste wohl zurück zu seinen Eltern."

Ich atmete innerlich auf. "Ach so, du meinst die Krankheit seines Vaters. Der ist wohl plötzlich krank geworden, und jetzt muss er sich um die Familie kümmern."

Felipe nickte stumm. "Weißt du das schon lange?"

"Nein", erwiderte ich. "Er hat mir einen Brief geschrieben und muss den gestern bei mir eingesteckt haben. Ich habe ihn erst gefunden, nachdem du mich abends wieder zu Hause abgeliefert hast."

Im Hintergrund rauschte leise das Meer.

"Woher weißt du das eigentlich?" fragte ich schließlich.

"Paco kam heute ganz aufgelöst zu mir und erzählte mir, dass Carlos sich von ihm verabschiedet habe."

Ich war ein wenig überrascht, dass Carlos soviel Anstand besaß. Das hatte ich ihm gar nicht zugetraut.

"Kommt er drüber hinweg?", fragte ich vorsichtig. Ich mochte Paco. Es war nie meine Absicht gewesen, ihm weh zu tun, als ich den Capitán ersuchte, Carlos abzuziehen. Aber ich war davon überzeugt, dass es für uns alle das Beste war. Für Paco, für Felipe und für mich.

"Ich denke schon", seufzte Felipe. "Aber er ist halt noch so jung, und er mochte Carlos wirklich sehr gern."

Wir lagen eine Weile schweigend am Strand und beobachteten den Mond. Dann drehte sich Felipe zu mir um und fragte: "Ich hoffe, deinen Eltern geht's gut. Ich will nicht, dass du auch so plötzlich verschwindest."

"Keine Angst", erwiderte ich, lächelte ihn aufmunternd an und küsste ihn auf den Mund. "Solange du hier bist, zieht mich nichts nach Bayamo…"


Zwei Tage später war ich wieder in der Bar. Ich ahnte nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass Felipe und ich dort zusammen sein würden. Die Stimmung war so ausgelassen wie üblich. Nur Paco saß traurig wie ein Häuflein Elend auf einem Stuhl und ließ sich nicht aufmuntern. Es brach mir das Herz, den Jungen alleine in einer Ecke sitzen zu sehen. Jedes Mal, wenn jemand Neues hereinkam, blickte er hoffnungsvoll zur Tür, nur um festzustellen, dass es nicht Carlos war. Felipe und ich verzichteten darauf, uns allzu offensichtlich zu küssen, denn wir wollten ihm nicht noch mehr wehtun.

Irgendwann ging ich zu ihm rüber. "Paco…", sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter. Ich bekam nur ein Schluchzen als Reaktion.

Dann sah er mich mit Tränen in den Augen an. "Glaubst du, dass er wieder kommt?"

Ich musste schlucken. "Ich weiß es nicht."

"Wenn du ihn das nächste Mal siehst, Juan," schniefte Paco und wischte sich eine Träne ab, die an seine Wange herunter lief, "dann sag ihm bitte, dass ich ihn liebe und dass er mir fehlt, ja?"

Mir standen bei seinem Anblick auch die Tränen in den Augen. "Das mache ich, Paco."

Er stand auf und ich umarmte ihn. Das öffnete bei ihm sämtliche Schleusen und er heulte sich an meiner Schulter aus. "Oh Gott, ich liebe ihn so…", schluchzte er herzzerreißend.

"Ich weiß", schniefte ich. Der arme Paco tat mir richtig Leid. Aber am schlimmsten war, dass ich derjenige war, der dafür gesorgt hatte, dass Carlos verschwunden war. Das Problem war, dass ich Paco leider nicht erklären konnte, warum. Ich fühlte mich richtig mies.

Dann ging er.

Felipe kam zu mir rüber und umarmte mich. "Danke, dass du versucht hast, ihn zu trösten."

"Der Kleine tut mir halt so Leid…"

"Mir auch… aber das Leben geht halt weiter. Wir müssen alle mit Enttäuschungen leben", seufzte er und sah mich auf eine Art und Weise an, die ich nicht deuten konnte. Da schwang noch etwas anderes mit in seiner letzten Aussage.

Daraufhin drehte er sich um und ging zum Tresen und machte die Musik aus. "So, Leute, hört mal her. Wir müssen noch unsere Weihnachtsfeier planen!"

Ein Jubel der Begeisterung ging durch den Raum. Ich war etwas überrascht, da ich noch nichts von einer Weihnachtsfeier gehört hatte.

"Also," fuhr Felipe fort, "Marcos hat uns freundlicherweise sein Haus am Strand dafür angeboten, weil es etwas schöner ist als unsere kleine Bar hier."

Alle klatschten Beifall und klopften einem etwas älteren Herren, den ich hier jedes Mal gesehen hatte, auf die Schulter. Dieser winkte bescheiden ab. Felipe gab allen die Adresse, Beginn war neun Uhr abends.

"Also gut, wer bringt was mit? Wir brauchen Getränke und ein paar Kleinigkeiten zu essen", organisierte Felipe weiter, holte einen Stift und einen Zettel hinter dem Tresen hervor und notierte alles, was man ihm zurief.

"Ich bringe Bier mit!", rief jemand.

"Ich mache Flan!", rief ein anderer.

So ging es eine Weile weiter. Nachdem Felipe alles notiert hatte, musste er wieder Gitarre spielen. Die Stimmung heizte sich auf, und wir tranken viel Rum und Bier. Ich hielt mich zurück, weil ich ja einen halbwegs klaren Kopf bewahren musste. Gegen drei Uhr morgens ging ich nach Hause.


Am nächsten Abend stand Felipe wie verabredet um neun Uhr am Hotel und fuhr wieder mit mir zum Strand an der Marina Hemmingway. Irgendwas gefiel mir nicht an ihm – er wirkte steifer als sonst. Auch schienen seine Augen, die sonst immer leuchteten, etwas trüber zu sein als sonst.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Als wir wieder im warmen Sand saßen, blickte er gedankenverloren auf das Meer hinaus.

Schließlich meinte er nachdenklich: "Weißt du, Juanito, eines Tages werde ich frei sein."

Ich stutzte. Was sollte das denn heißen?

"Was meinst du damit?", fragte ich verwundert.

"Eines Tages werde ich an einem Ort leben, wo ich sein kann, wie ich bin", erklärte er mit einem Anflug von Traurigkeit.

Ich bekam Angst. So hatte ich ihn noch nie reden gehört. "Und wo soll das sein?"

"Da drüben." Er zeigte grob in Richtung Norden.

"Was ist da?"

"Amerika. Da drüben darf ich frei sein."

Mir rutschte das Herz in die Kniekehlen. Warum schwärmte er auf einmal so von Amerika?

"Wie meinst du das?"

"Da darf man schwul sein, ohne sich verstecken zu müssen. Da drüben darf ich gay sein!"

"Oh…" Die Dinge, die Felipe hier auf einmal erzählte, gefielen mir gar nicht. Ganz und gar nicht.

"Und woher weißt du das alles?" Bitte, dachte ich inständig, sag jetzt nichts Falsches.

Aber er sagte das Falsche. "Ein Freund aus Miami hat es mir erzählt."

In mir brach alles zusammen. Verdammt. Verdammt!!! Warum musstest du das sagen?, dachte ich. Jetzt hatte ich den Beweis, den ich nie finden wollte.

Felipe, MEIN Felipe, hatte Kontakte zu den Exilanten in Florida und dachte an Flucht.

"Aber warum nicht Kuba?", startete ich einen letzten Versuch, ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu retten.

Er lachte kurz bitter auf. "Ich liebe Kuba. Es ist meine Heimat, und die werde ich immer in meinem Herzen mit mir tragen. Aber hier bin ich nicht frei. Hier kann ich nicht so sein, wie ich will. Hier muss ich ständig aufpassen, was ich sage."

Oh, Felipe. Du hast ja gar keine Ahnung, wie Recht du hast…

Für mich brach eine Welt zusammen. Traurigkeit und Verzweiflung umklammerten meine Brust.

Was sollte ich bloß tun?

"Was ist los? Du bist so still?", fragte er vorsichtig.

Ich zögerte. Dann antwortete ich leise: "Du wirst mir fehlen…"


Wir stürmen eine Wohnung. Sie kommt mir merkwürdig bekannt vor. Dann erkenne ich, dass es die Wohnung ist, in der ich aufgewachsen bin. Ich halte meine Waffe in der Hand und bin einer der ersten, der das Wohnzimmer betritt. Die anderen schwärmen aus und überprüfen die anderen Räume. Irgendwo fallen Schüsse. Dann schleifen zwei Soldaten einen leblosen Körper ins Wohnzimmer. Es ist Paco. "Wer war das?" frage ich wuterfüllt. Ich bekomme keine Antwort. "WER HAT IHN ERSCHOSSEN?" brülle ich meine Soldaten nochmal an. "Das war ich, Leutnant", höre ich eine kalte Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und erkenne Carlos. "War er bewaffnet? Hat er Widerstand geleistet?", frage ich ihn, während in mir der kalte Hass aufsteigt. "Nein", erwidert er kühl. "Warum hast du dann meinen ausdrücklichen Befehl missachtet, nur im Notfall von der Waffe Gebrauch zu machen?" Er lacht nur kurz. "Weil er ein dreckiger Schwanzlutscher war." Ohne weiter darüber nachzudenken, lade ich meine Waffe durch und puste ihm das Gehirn weg. Sein nun lebloser Körper klatscht gegen eine Wand und rutscht an ihr herunter. Das Grinsen ist ihm vergangen. Auf einmal wird Felipe ins Wohnzimmer gezerrt. Er schreit und wehrt sich, kann aber gegen die zwei kräftigen Soldaten nichts ausrichten. Dann kniet er vor mir und erkennt mich. Blut läuft aus einer Platzwunde in diese großen, traurigen braunen Augen, die ich so sehr liebe. "Warum, Juan", flüstert er leise. "Ich wollte doch nur frei sein…" Anstatt zu antworten, halte ich die Waffe gegen meinen Schädel und drücke ab.

Nachdem ich von der Toilette zurückkam, wo ich mich nach diesem Horroralptraum wieder auskotzen musste, fiel ich ins Bett und bekam einen Heulkrampf. Ich musste heute wieder zum Capitán und berichten. Und ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen wollte. Dass ich tatsächlich festgestellt hatte, dass meine ZP Kontakte zu den Dissidenten unterhielt und von Flucht redete, konnte ich ihm unmöglich sagen. Es würde bedeuten, dass Felipe in einem Arbeitslager landen würde. Er würde vom Instituto fliegen. Das konnte ich ihm unmöglich antun.

Aber welche Alternative hatte ich? Es gab darauf nur eine Antwort: Ich musste für ihn lügen und den Capitán täuschen. Es würde vielleicht mein Ende bedeuten, weil ich dann im Arbeitslager landen würde, aber das war mir egal. Besser ich, als er.

Mit einem mehr als mulmigen Gefühl machte ich mich auf den Weg zur Geheimdienstzentrale. Ich hoffte, dass ich nicht mehr so blass aussah.

"Nun, Juan, was gibt's Neues?", fragte mich der Capitán, als ich die Tür geschlossen und ihm gegenüber Platz genommen hatte.

Ich schluckte kurz meine Angst runter. "Nicht viel. Ich bin immer noch dabei, mir das Vertrauen der Gruppe zu erarbeiten."

Er nickte. "Ist heute Abend wieder ein Treffen in dieser Bar?"

"Nein, heute nicht", antwortete ich.

"Sondern wann?", fragte er weiter.

Warum wollte er das so genau wissen? "In drei Tagen, am 23., ist eine Weihnachtsfeier geplant", erwiderte ich vorsichtig.

"In der Bar?"

"Nein, in einem Privathaus."

"Und wo ist das?"

Ich nannte ihm die Adresse. Ich wollte es ihm nicht sagen, hatte aber keine Wahl. Wenn ich ihm eine falsche Adresse genannt hätte, wäre ich geliefert.

Der Capitán trommelte nachdenklich mit seinen Fingern auf dem Schreibtisch. "Gut. Ich habe gestern einen Anruf von weiter oben bekommen. Sie wollen ein Signal der Stärke in diese Kreise aussenden und fordern, dass wir mal eine Räumungsaktion durchführen. Ich denke, wir sollten dann auch mal zu dieser Weihnachtsfeier kommen und ein wenig mitfeiern." Er lachte gehässig.

Ich bekam Panik, versuchte aber, sie zu verbergen. "Aber wir haben doch noch keine Beweise, dass es illegale Aktivit-"

"Darum geht es nicht, Juan", unterbrach mich der Capitán scharf. "Es geht um die Signalwirkung. Verstanden?"

Ich nickte.

"Wir halten uns also an die übliche Vorgehensweise. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, werden wir dich zum Schein mit den anderen festnehmen. Wenn hier alle in Untersuchungshaft kommen, stecken wir sie in Einzelzellen. Da lassen wir dich dann raus. Noch Fragen?"

Ich schüttelte mit dem Kopf.

"Gut, dann kannst du jetzt gehen."

Ich erhob mich und ging zur Tür.

"Ach, noch was, Juan", sagte der Capitán, als ich sie erreichte. "Ich soll dir ausrichten, dass man sehr zufrieden ist mit deinem Einsatz."

"Danke, Capitán." Dann ging ich.

Auf dem Weg zu mir befand ich mich in einem Nebelschleier. Den einzigen Gedanken, den ich fassen konnte, war, dass ich es vermasselt hatte. Alle würden festgenommen werden, nur weil ich nicht aufgepasst hatte. Nun hatten sie noch drei Tage in Freiheit. Und es war allein meine Schuld.

Ich war wirklich so naiv, so dumm gewesen zu glauben, dass ich den Auftrag unter Kontrolle hatte. Ich hatte wirklich geglaubt, dass nichts passieren würde, solange ich keine belastenden Beweise lieferte. Und nun wollten sie die Gruppe auffliegen lassen.

Aber warum??? Das konnte ich nicht im Geringsten verstehen. Sie hatten doch nichts Illegales getan? Zumindest nichts, was ich an den Geheimdienst weitergegeben hatte. Was also sollte diese Aktion?!

Ich musste die ganze Zeit an Felipe denken. "Aber hier bin ich nicht frei. Hier kann ich nicht so sein, wie ich will. Hier muss ich ständig aufpassen, was ich sage", hatte er an unserem letzten Abend am Strand gesagt. Und mein Gedanke dazu war, dass er gar keine Ahnung hatte, wie Recht er damit hatte.

Und nun musste ich erkennen, dass ich auch keine Ahnung hatte, wie Recht er hatte. Aber es war so: Wir waren nicht frei. Wir konnten nicht so sein, wie wir wollten. Wir mussten hier aufpassen, was wir sagten.

Und ich war derjenige, der ihn ans Messer lieferte.

"Die übliche Vorgehensweise", hatte der Capitán wieder gesagt. Das bedeutete, dass das Haus im Schutze der Nacht zu fortgeschrittener Stunde gestürmt würde, wahrscheinlich so gegen 1 Uhr. Mir wurde schon wieder speiübel.

Als ich zuhause ankam, öffnete ich eine Flasche Rum, nahm ein Blatt Papier und einen Stift. Dann fing ich an meinem Küchentisch an zu schreiben.

Felipe,

es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest. Da ich nicht weiß, wie ich sie aufschreiben soll, fange ich einfach vorne an.

Carlos hat als Informant für den Geheimdienst gearbeitet. Als Paco sich in ihn verliebte und in die Bar mitbrachte, informierte er seine Vorgesetzten. Die beschlossen, die Gruppe zu infiltrieren. Den Auftrag dazu bekam ich.

Ja, ich arbeite auch für den Geheimdienst. Ich sollte herausfinden, was in dieser Gruppe vor sich geht. Also behaupteten wir, dass ich Carlos' Cousin sei, damit er mich einschleusen konnte. Ich habe nämlich keine Familie, sondern bin in einem staatlichen Waisenhaus aufgewachsen.

Ich lieferte genau zwei Berichte ab. Im ersten schrieb ich, wo die Bar sei, wie in etwa der Grundriss aussah und wie viele Leute dort zu verkehren schienen. Ich schrieb außerdem, dass ich keine illegalen Aktivitäten entdeckt hatte.

In der Zwischenzeit sorgte ich dafür, dass Carlos aus der Gruppe verschwand, denn du musst wissen, dass er kein hombre de ambiente ist. Er hasst solche Menschen sogar aus tiefster Seele. Er hoffte auf eine Karriere im Geheimdienst und benutzte Paco dafür. Da ich aber befürchtete, dass er meine Tarnung auffliegen lassen würde, musste ich ihn aus dem Weg räumen. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen, aber ich gehe davon aus, dass er irgendwo anders auf der Insel ist und mich und euch alle dort verflucht.

Den zweiten Bericht musste ich mündlich beim Geheimdienst abliefern. Das war heute. Mein Vorgesetzter wollte wissen, wann das nächste Treffen sei, und so musste ich ihm Ort und Datum nennen. Der Geheimdienst wird das Haus gegen 1 Uhr stürmen, alle festnehmen und in Untersuchungshaft stecken, um ein Signal der Stärke auszusenden. Wahrscheinlich werden ein paar abschreckende Gerichtsurteile verkündet werden. Es soll als Warnung gelten für alle anderen Gruppen, die im Untergrund operieren.

Es tut mir Leid, Felipe. Ich wollte das nicht. Ich wollte euch beschützen. Aber ich musste feststellen, dass ich nur eine Marionette des Geheimdienstes war.

Und ich will, dass du eines weißt: Meine Gefühle für dich waren echt, sie sind es immer noch und sie werden es immer sein. Daher schreibe ich dir nun diesen Brief. Ich weiß, dass ich mich damit des Hochverrats schuldig mache, aber das ist mir egal. Lieber lande ich im Zuchthaus, als dass ich in Freiheit lebe mit dem Gefühl der Schuld und der Schande, die ich auf mich geladen habe.

Du darfst unter keinen Umständen zur Weihnachtsfeier kommen!!! Wenn du kannst, warne die anderen.

Mehr kann ich nicht für dich tun.

Ich werde nie die wunderschönen Stunden vergessen, die du mir geschenkt hast. Jedes Mal, wenn ich den Mond sehe, werde ich daran denken müssen. Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft. Und vergiss nicht: Eines Tages wirst du frei sein.

In ewiger Liebe,

Juan

Zum Schluss schrieb ich noch eine Strophe aus "Noche de ronda" unter den Brief:

Luna que se quiebra
Sobre la tiniebla de mi soledad
A dónde vas?
Dime se esta noche
Tú te vas de ronda
como él se fue
Con quién estás?

Dann drückte ich mein Dienstsiegel neben meine Unterschrift, um jeden Zweifel, der Felipe vielleicht noch haben konnte, zu beseitigen. Dann schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr zu seinem Haus. Im großen Flur hing sein Briefkasten. Ich warf den Brief ein und fuhr zurück.


Ich ging die nächsten Tag wieder zur "Arbeit" ins Hotel. Nicht weil ich es wollte, sondern ich hoffte, dass ich dort ein wenig Ablenkung bekäme von der Angst und Verzweiflung und den schwarzen Gedanken, die sich in mir ausbreiteten.

Aber es ging mir dreckig. Ich musste immer wieder an die Zeit denken, die ich mit Felipe verbringen durfte. Und ich hatte eine Scheißangst, dass ihm doch noch etwas zustoßen würde.

Abends, als ich das Hotel verließ, sah ich mich automatisch um, ob er vielleicht doch auf mich warten würde. Aber er war nicht da. Ich wusste auch, dass er nicht kommen würde. Wahrscheinlich hasste er mich für das, was ich ihm und den anderen angetan hatte.

Die Alpträume, die ich in diesen zwei Nächten hatte, waren die schlimmsten, die ich je erlebt hatte. Ich kam kaum zum Schlafen.

Am 23. machte ich mich gegen halb neun mit einem Taxi auf den Weg zu Marcos' Haus, wo die Weihnachtsfeier stattfinden sollte. Ich steckte vorher noch meine Dienstwaffe ein. Wer weiß, ob ich sie nicht doch noch brauchen würde.

Es war ein schönes, weißes Haus mit einer hohen Mauer, einen Steinwurf von der Marina Hemmingway entfernt, wo Felipe und ich unsere Abende am Strand verbracht hatten.

Ich versteckte meine Waffe unter einer Mülltonne neben dem Eingang und klopfte. Nichts passierte. Ich klopfte nochmal, aber es kam immer noch keine Reaktion. Ich drückte auf die Türklinke und stellte fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Ich steckte meinen Kopf rein und lauschte.

Es war totenstill im Haus. Mein Blick fiel auf einen Zettel, der direkt vor der Tür lag, so dass man ihn sofort sehen musste, wenn man rein kam.

Danke für die Warnung.

Ich holte meine Waffe wieder unter der Mülltonne und ging ins Haus. Es war komplett leer geräumt.

Felipe hatte also tatsächlich alle warnen können. Das beruhigte mich ein wenig. Aber während ich durch das leere Haus schlich, brach aus mir all die Traurigkeit hervor, die seit zwei Tagen in mir unter Druck stand. Ich ging raus in Garten, wo ein Swimmingpool war. Ein paar Liegestühle standen noch rum. Ich setzte mich auf einen und blickte auf den Strand, der direkt vor dem Haus verlief. Zweihundert Meter ostwärts sah ich die Marina Hemmingway. Ich sah die Treppe, wo Felipe immer sein Moped geparkt hatte. Ich sah den Strand, wo wir zusammen unsere Stunden verbracht hatten.

In dem Moment brachen meine Deiche. Tränen liefen immer schneller über meine Wangen, bis ich schließlich Rotz und Schnodder heulte wie ein Schlosshund. Ich konnte mich kaum wieder einkriegen.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch so da saß. Es war dunkel, und der Mond schien wieder über der Karibik. Jedenfalls war nun alles egal. Die anderen waren in Sicherheit, vor allem war Felipe in Sicherheit. Zumindest solange er die Füße stillhielt.

Es gab für mich nichts mehr zu tun. Irgendwann würde der Geheimdienst hier auftauchen und feststellen, dass irgendetwas in dieser Operation wohl schief gegangen ist. Es würde nicht lange dauern, bis sie wissen würden, wer der Verräter war.

Ich nahm meine Waffe in die Hand und betrachtete sie nachdenklich. Ihr grauer Lauf schimmerte matt im Mondlicht.

"Es gibt nichts mehr, wofür es sich noch zu leben lohnt, Juan", sagte ich leise zu mir. Ich entsicherte sie und warf einen letzten Blick auf den Mond.

"Dile que lo quiero", bat ich ihn und steckte den Lauf in meinen Mund.

Gleich ist es vorbei, dachte ich. Gleich bist du frei.

"Tu's nicht, Juanito", sagte auf einmal eine sanfte Stimme hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um.

"FELIPE!!!", rief ich mit einer Mischung aus Panik und Freude.

Er trug eine Weihnachtsmannmütze und einen roten Wams. In einer Hand hielt er seine Gitarre und kam eilig auf mich zu. Ich sprang auf und fiel ihm in die Arme. Stürmisch küssten wir uns. Dann ließ ich von ihm ab.

"Verdammt, Felipe, was tust du hier?! Du darfst nicht hier sein! Du musst hier weg!", fuhr ich ihn panisch an.

"Beruhige dich! Und hör mir zu!"

Ich verstummte.

"Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich das Land verlasse. Es ist alles dafür vorbereitet. Da hinten an der Marina ist ein kleines Holzboot, mit dem ich nach Amerika flüchten will."

Er schluckte.

"Aber ich ahnte, dass du hier sein würdest, und ich wollte ein letztes Mal mit dir zusammen sein." Er zog mich rüber zu dem Liegestuhl, neben dem noch meine Waffe lag. Er schob sie mit dem Fuß weg.

"Setz dich", forderte er mich auf. Ich setze mich neben ihn auf den Liegestuhl.

Dann nahm er seine Gitarre und stimmte ein Lied an:

Es la historia de un amor
Es ist die Geschichte einer Liebe

Como no hay otro igual
wie es sie keine andere gibt,

Que me hizo comprender
die mich verstehen ließ

Todo el bien, todo el mal
alles Gute, alles Schlechte,

Que le dio luz a mi vida
die meinem Leben Licht gab,

Apagándola después
und es dann auslöschte

Ay, que vida tan obscura
Oh, was für ein dunkles Leben

Sin tu amor no viviré...
Ohne deine Liebe werde ich nicht leben

Als der letzte Akkord verklungen war, schaute er mich an. "Ich kann ohne dich nicht leben, Juanito. Ich liebe dich."

"Aber ich bin Schuld daran, dass du flüchten musst", warf ich ein.

"Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich liebe dich. Ich kann ohne dich nicht leben! Egal, was du getan hast. Außerdem hast du uns ja gewarnt. Wenn du das nicht getan hättest, wären wir alle im Gefängnis gelandet!"

"Es tut mir so Leid", schluchzte ich wieder.

Felipe fuhr sanft mit meinen Finger über mein Gesicht. Dann küsste er mich auf den Mund.

"Ach nein, wie niedlich", ätzte auf einmal eine Stimme hinter uns. Ruckartig drehten wir uns um. Ich spürte, wie die Panik wieder in mir aufstieg.

Fünf Meter von uns entfernt kamen Carlos und der Capitán in den Garten. Carlos hatte ein siegessicheres Grinsen im Gesicht.

"Na, hatte ich Ihnen zu viel versprochen, Capitán?"

Der Capitán sah mich finster an und spuckte vor uns auf den Boden. "Juan, du hast mich schwer enttäuscht. Nur gut, dass Carlos mich gewarnt hat über seine Zweifel, was deine Loyalität betrifft."

Carlos feixte.

Der Capitán zog seine Waffe aus dem Halfter. "Mitkommen. Ihr seid beide wegen Hochverrats verhaftet."

Felipe blickte mich traurig an und hob seine Hände. Dann flüsterte er: "Ich bereue nichts. Ich liebe dich, Juanito."

In diesem Moment packte mich die blanke Wut. Mit einem Satz sprang ich neben den Liegestuhl und griff nach meiner Waffe.

"STEHENBLEIBEN!" brüllte der Capitán und drückte ab. Der Schuss hallte ohrenbetäubend durch die Nacht und verfehlte mich knapp. Felipe sprang hinter einem Mauervorsprung in Deckung, Carlos, der unbewaffnet war, flüchtete ins Haus.

Noch mit dem Schwung meines Sprungs rollte ich mich ab und zielte mit meiner Pistole auf den Capitán. Gleichzeitig schossen wir. Ich erwischte ihn an der Schulter. Er schrie auf vor Schmerz, fiel nach hinten um und ließ seine Waffe fallen, die mit einem schweren Plumpsen im Pool landete.

Ich versuchte aufzustehen, brach aber vor Schmerz stöhnend zusammen, als ich einen brennenden Schmerz in meinem linken Bein spürte. Ich sah an mir runter. Blut lief aus meinem Oberschenkel, wo mich die Kugel des Capitán getroffen hatte.

"CARLOS!", brüllte dieser. "Ruf nach Verstärkung!"

Ich hörte, wie die Haustür zuschlug und jemand eilig davon rannte.

Felipe war hinter seinem Mauervorsprung hervorgekommen. "Oh mein Gott, Juan, du blutest!" Hastig zog er sein Weihnachtsmannwams aus, riss einen Ärmel ab und versuchte, meine Wunde zu verbinden.

"Felipe", stöhnte ich, "du musst hier verschwinden… SOFORT!"

"Ich gehe nicht ohne dich."

"Vergiss mich, mir kann hier eh keiner mehr helfen! Aber du musst dich in Sicherheit bringen!" Ich stieß ihn von mir weg.

Er rappelte sich wieder auf und verband weiter Bein. "Entweder wir gehen zusammen, oder wir sterben hier beide. Es ist deine Entscheidung."

Als er fertig war, half er mir auf. Ich konnte bestenfalls humpeln. Mein linker Arm klammerte sich um Felipe, während ich in der rechten Hand noch meine Pistole hielt.

Der Capitán lehnte mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Hauswand und hielt sich die blutende Schulter. Hasserfüllt blickte er mich an. "Du bist genauso ein dreckiger Verräter wie deine Eltern es waren. Ich dachte, du wärst anders als sie. Ich habe dir eine Chance gegeben, als wir dich da raus geholt haben an jenem Abend. Aber ich habe mich getäuscht und dir vertraut. Möge der Himmel dir die gerechte Strafe schicken."

Plötzlich wurde mir alles klar. ER war der Sargento aus meinem Traum gewesen, der meine Mutter erschossen hatte!!! Mit einem Schrei der Wut und der Verzweiflung zielte ich auf den Capitán.

"Juan, nicht!!!", flehte Felipe. "Du bist kein Mörder wie er!"

Ich drückte ab. Die Kugel schlug zehn Zentimeter neben dem Ohr des Capitán in die Mauer ein.

Panisch blickte er mich an. Ich spuckte ihn an.

"Komm jetzt!", drängte Felipe. Er führte mich um das Haus zum Strand, wo wir weiter in Richtung der Marina humpelten. Ich hatte fürchterliche Schmerzen und verlor immer mehr Blut.

"Ich schaffe das nicht, Felipe", stöhnte ich. "Geh ohne mich! Aber bring dich in Sicherheit!!! BITTE!!!"

"Zum letzten Mal, Juan!", zischte er vor Anstrengung. "Wenn du das noch einmal sagst, bleibe ich hier stehen, und wir warten zusammen, bis sie uns abholen! Also reiß dich zusammen und komm!!!"

Es waren noch etwa hundert Meter bis zur Marina.

Hinter uns hörten wir die ersten Sirenen.

Noch fünfzig Meter.

Autos bremsten neben dem Haus, wo wir eben noch gewesen waren.

Noch zehn Meter.

Ich entdeckte ein kleines Holzboot in der Marina. Es hatte einen kräftigen Außenbordmotor, zwei Benzinkanister und etwa Verpflegung geladen.

Hinter uns begannen Männer, Befehle zu brüllen. Hunde bellten wütend. Ein Suchscheinwerfer warf seinen Lichtkegel über den Strand.

"Los, rein da!" Felipe half mir hastig ins Boot und machte sich sofort daran, den Außenborder zu starten.

"DA HINTEN SIND SIE!", brüllte jemand vom Strand her.

Blubbernd erwachte der Motor zu Leben. Felipe löste das Seil, mit dem das Boot festgemacht war und gab Vollgas. Brüllend schob uns der Motor in die Nacht.

Das letzte, was ich hörte, bevor ich in Ohnmacht fiel, waren Schüsse am Strand.


Später erzählte Felipe mir, dass ich fast zwei Tage lang ohnmächtig in dem Boot lag, bis wir von der amerikanischen Küstenwache aufgegriffen wurden. Er sagte, dass er fast tausend Tode gestorben sei vor Sorge.

Das Ganze ist inzwischen zwei Jahre her. Felipe und ich wurden in den USA als politische Flüchtlinge akzeptiert und sind von der kubanischen Exilgemeinde in Miami, Florida, aufgenommen worden. Wir haben eine kleine Wohnung gefunden und haben schon große Fortschritte mit der englischen Sprache gemacht.

Wir sind immer noch so glücklich miteinander wie eh und je. Und wir feiern jeden Jahrestag von unserem ersten gemeinsamen Abend am Strand, als Felipe "Noche de ronda" sang.

Jeden Samstagabend sind wir in einem Gay Latino Club in Miami und tanzen bis in die Morgenstunden. Aber der emotionalste Moment ist immer der, wenn der DJ das Lied "Cuba" von den Gibson Brothers auflegt. Dann stürmen Felipe und ich die Tanzfläche und tanzen und singen uns mit Tränen in den Augen die Seele aus dem Leib. Denn Kuba ist immer noch unsere Heimat und fehlt uns wahnsinnig. Es wird immer einen besonderen Platz in unserem Herzen haben.

Aber hier – hier können wir frei sein.

Und eines Tages werden wir vielleicht heimkehren.

Lesemodus deaktivieren (?)