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Luther und Ich

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Donnerstag, 5. Dezember 2002

„…umso mehr -äh- freuen wir uns -äh- heute -äh-, dass wir nach -äh- fast 500-äh-jähriger Abwesenheit die -äh- Lutherbibel wieder dort -äh- in Empfang nehmen dürfen, wo -äh- sie zwischen -äh- 1520 und 21 verfasst -äh- wurde, und zwar -äh- hier in der -äh- Wartburg…“

Mein Gott, ging mir das Gesabbel auf den Sack. Warum um alles in der Welt müssen Leute, die eine Rede halten müssen, immer so unwahrscheinlich unfähig darin sein, eine Rede zu halten?! Dieses Geseier von dem Meier („Meier mit einem Ei drin, haha“) ging nun schon fast eine Viertelstunde so. Und es gab absolut keine Fluchtmöglichkeit für mich. Das ist halt der Nachteil an meinem Job. Ich ergab mich meinem Schicksal und ließ die restliche Rede von dem Museumsleiter über mich ergehen.

Schließlich war das mein Job. Nein-nein, es war nicht mein Job, mir öde Reden von unbegabten Rednern anzuhören. Ich war als Vertreter von Robertson & Goldblum hier, einem weltweit tätigen Versicherungsunternehmen mit Hauptsitz in New York City. Wir versichern so ziemlich alles und jeden – wenn er dazu in der Lage ist, unsere Prämien zu zahlen. Immerhin sind wir die weltweite Nr. 1 und spezialisiert auf Kunstgegenstände. Und meine Abteilung (Art & Genuine Artifacts, kurz AGA) hatte gerade als neuesten Kunden quasi die echte Lutherbibel an Land gezogen. Und da war es nun meine Aufgabe, einerseits sicher zu stellen, dass das Objekt, das wir versichern, auch tatsächlich das Objekt ist, das hier in der Sicherheitsvitrine ausgestellt wird, und andererseits, dass es auch in seinem Museum ankommt. In diesem Falle in der Lutherstube der Wartburg.

Und so kam es, dass ich gestern unsere Europazentrale in Berlin-Mitte verließ und nach Eisenach gefahren bin. Hier fand heute Morgen um neun Uhr die Übergabe der Bibel statt, und nachdem ich mich zusammen mit dem Notar des Verkäufers von der „Authentizität des Objektes“ überzeugt habe, habe ich den durchsichtigen Safe, in dem das Ding auch ausgestellt werden sollte, nicht mehr aus den Augen gelassen. Denn unser Kunde, die Museumsgesellschaft Wartburg mbH, die sich seit neuestem Stolzer Besitzer dieser Lutherbibel schimpfen durfte, war an der Echtheit natürlich genauso interessiert wie wir.

„…präsentieren wir -äh- Ihnen hiermit nun -äh- unser neuestes Ausstellungsstück!“ Damit holte mich der Leiter der Wartburg-Gesellschaft zurück in die Realität. Meier war ein kleiner rundlicher Mann mit schwarzem Haarkranz und der unerschütterlichen aber leider völlig fehlgeleiteten Überzeugung, er sei witzig. Deswegen auch sein Spruch mit dem Ei. Ein Brüller, oder?

Nun trat er einen Schritt beiseite und gab den Anwesenden den Blick auf einen ca. 50 cm hohen wie breiten Kasten frei, der unter einem schwarzen Tuch versteckt war. Ein erwartungsfrohes Raunen ging durch die Gäste, ein paar Reporter vom Fernsehen und den Printmedien, ansonsten Fördermitglieder der Gesellschaft – allesamt Rentner mit uralten Kameras, die gleich Unmengen von Fotos schießen würden, die wahrscheinlich allesamt nichts werden würden.

Nun stellte sich Eier-Meier neben den betuchten Glaskasten, in den ich vor inzwischen 20 Minuten mein neuestes „Baby“ gelegt hatte. Die Kameraleute vom Fernsehen und die Fotografen (die wussten, wie sie Apparate zu bedienen hatten) machten sich bereit, während Eier-Meier eine Ecke des Tuches in die Hand nahm und feierlich verkündete:

„Meine Damen und -äh- Herren, ich -äh- präsentiere Ihnen: unsere -äh- Luther-äh-bibel!“ Er zog mit einem Ruck das Tuch weg und gab somit den Blick auf den Inhalt frei.

Der Kasten war leer.

Eier-Meiers Gesichtsausdruck glich dem von Rührei, mir fiel die Kinnlade runter und während ein Aufschrei des Entsetzens durch die Rentnerreihen ging und die Kameraleute die ganze Blamage ausführlich filmten und knipsten, wurde mir schlagartig klar, dass ich dafür mächtigen, mächtigen Ärger bekommen würde.


„Wie – weg?!“

„Okay, welchen Teil von ‚Die Lutherbibel ist weg’ hast du nicht verstanden?“ zischte ich in mein Handy. Normalerweise war Bernd, mein Vorgesetzter, nicht so schwer von Begriff.

Stille am anderen Ende, von den Fahrgeräuschen mal abgesehen. Dann: „Dir ist klar, dass du dafür mächtigen, mächtigen Ärger bekommst, oder?“

Ach was. Wirklich? „Erzähl mir was, was ich noch nicht weiß“, keifte ich zurück. „Wieso bist du eigentlich im Auto und nicht im Büro?“

„Auch wenn ich mich vor dir als dein Chef nicht zu rechtfertigen brauche“, schnauzte er mich an, „aber ich habe gestern meine Ex und die Kinder in Kiel besucht. Ich bin jetzt auf dem Weg nach Berlin.“

„Dann leite bitte das Prozedere ein, wenn du da bist, und sag bloß Homer Bescheid!“ Homer hieß eigentlich John Simpson und war der Leiter der Europazentrale aber wegen seines Namens wurde er hinter seinem Rücken nur Homer genannt.

„Ich kenne das Prozedere“, raunzte mich Bernd an. „Jetzt beruhige dich erstmal, verdammt! Einen hysterischen Mitarbeiter kann ich da unten jetzt nicht gebrauchen.“

„Ich bin nicht hysterisch“, knurrte ich zurück, „ich mache mir nur gerade Sorgen um meine Karriere!“ Vor meinem geistigen Auge sah ich schon die Schlagzeilen: „24jähriger der Inkompetenz überführt“.

„Um die brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, Marius, falls sich herausstellt, dass du Bockmist gebaut hast.“

Welch aufmunternde Worte mein Chef da doch für mich fand. „Danke für die Unterstützung, Bernd. Ich melde mich, wenn ich den Bericht von der Polizei habe.“ Stinksauer klappte ich mein Handy zu.

Ich ging rüber in den Nebenraum, wo der Glaskasten mit der Bibel bis kurz vor dem Empfang gestanden hatte – in einem leeren Raum wohlgemerkt, der nur einen Ausgang hatte. Und vor genau dieser verschlossenen Tür habe ich die ganze Zeit gestanden, bis Meier und ich den Kasten in die Lutherstube reinrollten. Niemand war rein gegangen, niemand war raus gegangen, also hätte die Bibel noch in dem Kasten sein müssen!!! Wieso habe ich nicht nochmal nachgeschaut?! Dann hätten wir uns wenigsten die peinliche Szene vor den Kameras ersparen können… Die Reporter hatten wir inzwischen alle rausgeschmissen, die verbreiteten die Story wahrscheinlich schon über den Äther.

Aber diese Selbstvorwürfe halfen mir jetzt auch nichts. Was ich jetzt wissen wollte, war, wie die Bibel aus einem geschlossenen Raum verschwinden konnte.

Vier Polizisten und ein Oberhäuptling (seinen Rang habe ich schon wieder vergessen) namens Lettner waren dabei, den Raum zu untersuchen und hoffentlich vorhandene Spuren zu sichern, während Meier schwitzend und fast heulend im Kreis lief und alle kirre machte. „Ogottogott, hoffentlich ist sie nicht beschädigt… Wo kann sie nur sein…? Haben Sie schon was gefunden?“

Die Polizisten schüttelten nur mit dem Kopf und untersuchten weiter den Raum. Ich weiß nicht, zum wievielten Male Meier sie das nun gefragt hat. Dann sah er mich. Leider. Die Panik in seinem Gesicht wich einem Zorn, wie er im Buche steht. Mit dem erhobenen Zeigefinger kam er auf mich zu.

SIE…!!! Das ist alles Ihre Schuld!“

„Was?! Ich habe doch genauso wenig Ahnung, wo Ihre Bibel jetzt hin ist!“

„Wenn Sie besser aufgepasst hätten,…“

„Moment mal, ich habe sehr gut aufgepasst!!!“ fuhr ich dazwischen. „Wir beide haben zusammen die Bibel in die Vitrine gelegt, haben zusammen das Tuch auf die Vitrine mit der Bibel gelegt und wir haben zusammen den menschenleeren Raum verlassen. Ich weiß genauso wenig wie Sie, wie die Bibel hier raus kam.“

„Durch diesen Geheimgang.“ Meier und ich drehten uns ruckartig zu dem Polizisten um, der das eben gesagt hatte.

Er stand neben einem Stück Wandvertäfelung, dass, anstatt die Wand zu vertafeln, nun offen stand und den Blick auf ein nicht ganz mannshohes, dunkles Loch freigab. Stufen führten irgendwohin nach unten und es roch kalt, nass und modrig.

„Den… den sehe ich zum ersten Mal“, stotterte ein erstaunter Meier, der den Mund kaum zubekam.

„Ich geh mal rein“, sagte der Polizist, der ihn gefunden hatte, „und schau mal nach, wo der hinführt.“

„Schmidt, Sie gehen mit“, sagte Lettner und nickte einem jungen Polizisten zu. „Seien Sie vorsichtig. Sieht nass und rutschig aus. Wer weiß, wer da noch alles drin rum kriecht.“ Die beiden Polizisten nahmen zwei Taschenlampen und verschwanden in dem Loch.

Na super. Das wird ja ein richtiger Kriminalroman hier, dachte ich und rieb mir die Augen. Ich war auf einmal furchtbar müde.

Meier fiel auf einen Stuhl. „Ich glaube das nicht. Da arbeite ich schon bald 20 Jahre hier und entdecke einen Geheimgang, den ich noch nicht kannte. Wieso war der in keiner der Karten verzeichnet?!“

Auch ich hatte mich gesetzt. „Weil es sonst kein Geheimgang mehr wäre“, erwiderte ich patzig auf seine Frage.

Meier hatte wohl nicht mit einer Antwort gerechnet und schaute mich gereizt an. „Was passiert jetzt eigentlich mit der Versicherung?“

„Nun, so wie es aussieht, darf sich Ihr Museum über 2,5 Millionen Euro freuen, denn auf diese Summe war die Bibel versichert. Wenn sie nicht wieder gefunden wird, natürlich.“

Lettner pfiff leise durch die Zähne. „Hübsches Sümmchen“, murmelte er.

„Hoffentlich ziehen sie es Ihnen vom Gehalt ab“, giftete Meier mich an.

Ich ignorierte ihn. Ich befürchtete nämlich, dass ich dafür gar nicht mehr lange genug bei Robertson & Goldblum arbeiten würde.

Nach einer knappen Viertelstunde kamen die beiden Polizisten zurück – aber nicht durch das Loch in der Wand, sondern durch die Tür.

„Der Gang führt noch ein gutes Stück nach unten“, berichtete der Polizist, der das Loch gefunden hatte. „Nach ein paar Minuten mündet er in eine kleine Kammer, in der noch Spuren im schlammigen Boden sind, wir sollten da gleich nochmal rein und Gipsabdrücke machen. Dann geht der Gang weiter und führt knapp unterhalb der Burgmauer nach draußen. Der Ausgang ist direkt hinter einem Felsvorsprung und so kaum zu sehen. Und direkt daneben ist eine kleine Parkbucht, wo noch vor kurzem ein Auto gestanden hat. Wir haben sowohl frische Reifenspuren im Schlamm als auch dunkle Lackspuren an einem Felsen gefunden, der am Rande der Bucht stand.“

„Gute Arbeit, Jungs“, brummte Lettner zufrieden. „Wir machen hier noch fertig, dann fahren wir zurück aufs Revier.“ Er wandte sich an Meier und mich. „Ich muss Sie beide bitten mitzukommen, Herr Meier und Herr Körner, weil wir Ihre Fingerabdrücke brauchen und Ihre Aussagen zu Protokoll nehmen müssen.“

Wir nickten erschlagen.


Nachdem ich das Polizeirevier wieder verlassen hatte und in mein Hotelzimmer zurückgekehrt war, wurde mir deutlich, wie besch…eiden die Lage wirklich war: Der Glasvitrinensafe war mit einem Zahlenschloss gesichert – und nur zwei Leute kannten die Kombination und das waren Meier in seiner Funktion als Museumsleiter und meine Wenigkeit als Vertreter des Versicherers. Das führte nun zu einer interessanten Konstellation: Ich wusste, dass ich die Bibel nicht hatte, also kam für mich nur Meier als Täter infrage. Meier wiederum wahrscheinlich wusste, dass er sie nicht hatte, also kam für ihn nur ich als Täter infrage. Ich gehe davon aus, dass das auch genau das war, was Eier-Meier und ich eben in der Einzelvernehmung ausgesagt hatten. Daher konnte Lettner wiederum nicht wissen, wer von uns beiden log und verdächtigte deshalb wahrscheinlich erstmal uns beide.

Das waren ja rosige Aussichten.

Ich packte meine Sachen und fuhr zurück nach Berlin. Hier gab es für mich eh nichts mehr zu tun. Vom Auto aus rief ich Bernd an.

„Was gibt’s Neues?“ fragte er.

„Die Polizei hat einen wohl bisher unbekannten Geheimgang entdeckt. Aber das erzähle ich dir, wenn ich zurück bin. Montag sollen wir den Polizeibericht bekommen. Hast du schon mit Homer gesprochen?“

„Jepp, und Homer is not amused.“

„Das dachte ich mir. Ich bin jetzt auf der Autobahn und müsste in knapp 3 Stunden in Berlin sein. Bis nachher, okay?“

Wir legten auf und ich folgte weiterhin der grauen Autobahn. Eigentlich war alles grau an diesem Tag. Der Himmel, die Straße, die Autos – meine Stimmung. Je länger ich über diese Situation nachdachte, in die ich da rein geschlittert war, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass meine gesamte Existenz jetzt an einem seidenen Faden hing. Und bei allem Respekt, das war einiges, was ich zu verlieren befürchtete.

Mit sechs wurde ich eingeschult, mit 18 habe ich mein Abitur gemacht mit einem Schnitt von 1,2, danach kam ein Jurastudium, das ich in 8 Semestern durchgezogen habe. Und nun arbeitete ich seit zwei Jahren bei R&G, und jetzt dieser Schlamassel. Gefrustet haute ich mit der Hand auf das Lenkrad.

Und heute fühlte ich mich zum ersten Mal seit meinem 18. Geburtstag nicht stark und unbesiegbar, sondern schwach und verwundbar. Zum ersten Mal dachte ich nicht, dass ich alles erreichen kann, sondern dass ich alles verlieren kann. Die ganze Arbeit, die ganzen Jahre – alles für die Katz?

Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Aber da gab es niemanden. Bernd? Mit dem würde ich darüber noch mehr reden, als mir lieb sein konnte. Außerdem war er mein Vorgesetzter und so prall verstanden wir uns auch nicht. Meine Eltern? Ich wusste nicht mal mehr, ob die noch lebten. Seit meinem 18. Geburtstag hatte ich nichts mehr von denen gehört, und die nicht von mir.

Freundin? Nein, danke.

Freund? Fehlanzeige. Leider.

Und genau da lag der Hase im Pfeffer.

Nachdem ich irgendwann feststellte, dass ich mich beim Sportunterricht mehr für meine männlichen Klassenkameraden interessierte als für die Mädchen in unserer Klasse, lief in meiner Jugend nichts mehr so, wie ich es mir gewünscht hätte. Nie hätte ich mich getraut, meinen Klassenkameraden was zu erzählen. Das hätte denen ja nur noch mehr Munition geliefert. „Ach nee, der Streber ist auch noch schwul?!“ Vor meinem geistigen Auge sah ich sie damals die Messer wetzen.

Aber das war eben mein Ruf. Meine Eltern (besonders mein Vater) waren nur auf eines bedacht: Leistung, Leistung, und nochmals Leistung. Nachmittags Freizeit? Nein, ich musste lateinische Verben konjugieren. „Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant – ich liebe, du liebst, er liebt…“ usw. Mein Einser-Abi habe ich nicht bekommen, weil ich hochgradig intelligent bin oder so. Nur was sollte ich anderes machen? Ich hatte keine Freunde und einen Vater, der mich dauernd zwang, noch mehr zu lernen. Sportverein? „Du Weichei willst Sport treiben?“ lachte er nur gehässig. Ein Musikinstrument lernen? Ich habe immer das Klavier geliebt, aber was sagte mein Vater? „Dieser lärmende Holzkasten kommt mir nicht ins Haus. Außerdem ist das viel zu teuer.“

Viel zu teuer, viel zu teuer!!! Wenn ich diesen Spruch schon höre! Meine ganze Schulzeit lang trug ich meine Kleidung solange, bis es wirklich nicht mehr ging. Meine Hosen waren grundsätzlich fünf Zentimeter zu kurz. Meine Pullis waren schon hässlich, als wir sie gekauft haben – im Second-Hand-Laden.

Und was dann erst los war, als meine Mutter unter meinem Bett eine Du & ich entdeckte, als ich 16 war! Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, nur soviel: mein Taschengeld wurde um 100% gekürzt und das Klima in unserer „Familie“ wechselte von frostig zu antarktisch. Mein Vater ignorierte mich seitdem, und meine Mutter faselte hin und wieder was von „krank“.

Am Morgen meines 18. Geburtstages nahm ich meinen Koffer, in den ich schon am Abend vorher die paar Habseligkeiten gepackt hatte, die ich besaß und verließ zum letzten Mal mein Elternhaus in der mecklenburg-vorpommerischen Pampa und ging nach Berlin. Es war Sommer, die Sonne schien, das Abitur lag gerade hinter mir (ich musste nur noch einmal in die Schule, um das Zeugnis abzuholen) und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich frei. Frei! FREI!!!

Zum Glück wurde ich ausgemustert und musste nicht zum Bund, weil irgendwas schief gewachsen war, was weiß ich. Also fing ich an, Jura zu studieren. Ich bekam ein Zimmer im Studentenwohnheim in Berlin und konnte mein Leben endlich so gestalten, wie ich es wollte. Das heißt, ich konnte Berlins schwule Seite entdecken, was ich auch ausgiebig tat. So fand ich zwar keine Freunde (oder den Freund), lernte aber immerhin die Cruising-Szene kennen. Anonymer Sex, geschützt natürlich, hatte mir immer genügt. Mehr hatte ich nie verlangt.

Und heute fühlte ich mich zum ersten Mal einsam. Richtig einsam.


Am späten Nachmittag bog ich mit meinem Golf in meinen Parkplatz in der riesigen Tiefgarage von R&G ein, direkt rechts neben Bernds Mercedes Kombi. Zündschlüssel raus, Gang rein, Handbremse – alles lief automatisch ab, während ich versuchte, mich gedanklich auf das mir bevorstehende Unwetter vorzubereiten.

Beim Aussteigen fiel mein Blick auf Bernds Auto, das ziemlich dreckig war, lauter Schlammspuren an der Fahrerseite. Mann, dachte ich bei mir, der könnte seinen Wagen auch mal wieder waschen. Und eine neue Beule hat er auch hinten rechts an der Tür…

Irgendwas machte „klick“ in meinem Kopf. Schlamm? Beule? „Wir haben sowohl frische Reifenspuren im Schlamm als auch dunkle Lackspuren an einem Felsen gefunden…“, hallten die Worte des jungen Polizisten in meinem Kopf wieder.

Und Bernds Wagen war dunkelgrau metallic.

Und Bernd war heute Vormittag im Auto unterwegs.

Er war bei seiner Ex, sagte meine rationale Gehirnhälfte.

Ach ja? erwiderte meine emotionale Gehirnhälfte.

Haltet endlich die Klappe, fuhr ich gedanklich meine beiden Gehirnhälften an. Ich brauch euch jetzt!

Okay, was nun?! Ich warf einen vorsichtigen Blick in den Wagen. Natürlich war da keine Lutherbibel drin zu sehen. Auch sonst nichts, was auf einen kleinen Einbruch deuten würde.

Ich kniete zwischen unseren Autos nieder und schaute mir den Schlamm an. Können die so was nicht in ihren Labors untersuchen? Ich nahm ein Taschentuch aus meiner Aktentasche, kratzte vorsichtig ein wenig Schlamm ab und verstaute es wieder in meiner Tasche. Und die Beule sah bei näherer Betrachtung tatsächlich aus wie ein Kratzer von einem Felsen…

Ich stand wieder auf. Das konnte doch nicht sein. Das wollte ich nicht glauben. Ruhig, Brauner, sagte ich mir in Gedanken und stand wieder auf, das sind doch noch keine Beweise! Das sind bestenfalls Hinweise! Vielleicht ist er wirklich nur bei seiner Ex und den Kindern gewesen. Sie waren im Zirkus, der auf einer schlammigen Wiese gastierte und dort hat eines seiner Kinder nicht aufgepasst, als es die Tür hinten rechts öffnete, und dann…

„He! Was machen Sie da an meinem Auto?!“ rief auf einmal jemand weit hinter mir.

Bernd! Schnellen Schrittes kam er auf mich zu. Er war gerade am Eingang zur Tiefgarage und hatte mich in dem Halbdunkel wohl noch nicht erkannt.

Eine Ausrede! Ich brauchte dringend eine Ausrede, und zwar pronto! Ein Königreich für eine Ausrede!!! Mir kam eine Idee, die mich zwar retten konnte, aber in der Seele wehtat. Aber für Emotionen hatte ich jetzt keine Zeit! Bernd war noch knapp 50 Meter von mir und unseren Autos entfernt.

Ich nahm meinen Autoschlüssel, seufzte „Verzeih mir, Kleiner“ und ritzte ein paar schnelle Kratzer in die Fahrertür meines geliebten Golfes. Während ich den Schlüssel wieder in meiner Manteltasche verschwinden ließ, trat ich zwischen den Autos hervor und kam Bernd entgegen.

„Keine Panik, Bernd, ich bin’s, Marius!“

„Und was hast du da an meinem Auto zu schaffen?“ fragte er misstrauisch.

„Komm, ich zeig’s dir.“ Ich führte ihn zu meiner Fahrertür. „Irgendein Penner hat mir mit dem Schlüssel die Fahrertür zerkratzt, siehst du?“ Ich zeigte ihm die Kratzer. „Das muss in Eisenach passiert sein. Schöne Scheiße, das. Und da habe ich gesehen, dass du auch ein neues Andenken im Lack hast.“ Ich deutete auf die Delle.

Bernd schien zu überlegen, dann lächelte er schief. „Tja, wie Kinder halt so sind. Wir waren zusammen im Zirkus, und der Parkplatz war völlig matschig, wie du ja siehst. Und die Wiese hatte so große Abgrenzsteine, und als Tommi einsteigen wollte – peng.“

„Kinder!“ Ich seufzte übertrieben, teils auch aus Erleichterung. Er schien meine Notlüge zu schlucken.

Er holte ein paar Papiere aus seinem Auto. „Lass uns hochgehen, Homer wartet schon auf deinen Bericht. Und ich übrigens auch.“ Die Kälte war zurückgekehrt in seine Stimme.


Mr. Simpson erwartete uns bereits. Bernd hatte von seinem Büro aus seiner Sekretärin Bescheid gesagt, dass ich eingetroffen wäre. Wir sollten sofort hochkommen.

Und nun saß ich in einem geräumigen Büro mit Blick auf das graue Berlin, neben mir Bernd und gegenüber saß Mr. Simpson und schaute mich an. Ich versuchte, seinen Blick zu deuten, schaffte es aber nicht. Weder Aufmunterung noch Zorn konnte ich in seinen Augen entdecken.

„All right, dann legen Sie mal los“, forderte er mich mit seinem amerikanischen Akzent auf.

Und ich erzählte. Wie ich die Bibel übernommen hatte, wie ich sie zusammen mit Meier in den Glassafe gelegt hatte, wie wir den Safe angeschlossen hatten und zusammen den Raum verließen, wie ich mich vor der Tür postierte, wie wir die Vitrine in die Lutherstube rollten, und wie sie weg war. Ich erzählte vom Geheimgang, den die Polizei entdeckt hatte und von den Fußabrücken, die sie gefunden hatten. Aber die Sache mit den Reifenspuren und dem Lack erzählte ich erstmal nicht. Denn ich hatte meinen Verdächtigen gefunden. Und der saß gerade neben mir.

Ich schloss meine Erzählung und wartete auf die Reaktionen meiner Chefs. Bernd schwieg. Mr. Simpson fummelte an einem Kuli rum und dachte eine Weile nach (mir kam es wie eine Ewigkeit vor), dann fragte er:

„Und wann bekommen wir die Bericht von die cops?“

„Montag. Frühestens. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen ihn mir so schnell wie möglich zukommen lassen.“

„Good. Irgendwelche Verdächtigen?“

Ich schwieg. Dieser Teil gefiel mir gar nicht.

Aber dafür hatte ich ja Bernd. „Eigentlich nur zwei, wenn ich mich nicht irre – und zwar die beiden, die die Kombination für das Zahlenschloss hatten: Herr Meier von der Museumsgesellschaft und Marius hier.“

Wer solch einen Chef hat, braucht keine Feinde mehr. Da kreidet der mich doch tatsächlich beim Obermacker an, wobei er selber mehr als genug Dreck am Stecken bzw. am Auto hat?! Ich biss mir auf die Zunge, um nichts Unvorsichtiges zu sagen.

„Wieso hat Mr. Körner denn die Kombination von der Safe?“ fragte Mr. Simpson weiter.

„Das war so auf deren Wunsch hin mit dem Museum vertraglich ausgehandelt worden, dass die Kombination aus Sicherheitsgründen bei uns hinterlegt wird“, erklärte Bernd.

„Soso.“ Das war die einzige Reaktion von Mr. Simpson. Er schaute uns beide nachdenklich an.

Keiner sagte etwas. Ich nahm dafür verschiedene Geräusche wahr: das Pusten vom Lüfter in Mr. Simpsons Computer, entfernte Geräusche auf der Strasse, das Ticken einer Uhr.

„Okay“, ergriff er endlich wieder das Wort. „Warten wir ab die Bericht von die cops. Bis dahin, Mr. Schulze, gelten alle als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Ich glaube, Ihr deutsches Rechtssystem funktioniert da genau wie das in America.“ Der strenge Blick galt Bernd. Ich feierte innerlich.

„Natürlich, Mr. Simpson“, kam es von ihm.

Wir standen auf und verließen das Büro.


Nachdem ich wieder in meinem eigenen Büro in der AGA war und die Tür hinter mir geschlossen hatte, atmete ich erstmal tief durch und verarbeitete die Eindrücke der letzten halbe Stunde: meine Entdeckungen an Bernds Auto und das Gespräch beim Boss.

Homer schien Bernd auch nicht wirklich zu mögen, so wie er ihn angeschaut hatte. Das war der einzige Lichtblick am heutigen Tage gewesen.

Aber es gab noch eine Frage, die mich schon die ganze Zeit quälte und dringend nach einer Antwort schrie: Könnte Bernd an die Zahlenkombination vom Safe gelangt sein? Und wenn ja, wie?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Inzwischen war es halb vier Uhr nachmittags, vielleicht war es noch nicht zu spät. Ich suchte aus meinem Adressbuch die Telefonnummer der ALLsafe GmbH in Zweibrücken heraus, die die Glasvitrine hergestellt hatte. Ich rief an und ließ mich mit ihrem Sicherheitsberater dort verbinden, Herrn Kaiser.

Seine Sekretärin ging ans Telefon.

„Büro von Herrn Kaiser. Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie gelangweilt.

„Körner von Robertson & Goldblum hier, guten Tag. Ist Herr Kaiser zu sprechen?“

„Nein, der ist außer Haus heute und kommt erst morgen wieder, tut mir Leid. Kann ich ihm etwas ausrichten?“ Sie klang immer noch gelangweilt. Vor meinem geistigen Auge sah ich sie ihre Fingernägel lackieren, während sie mit mir telefonierte.

„Nein, aber Sie können mir was ausrichten: Wie vorsichtig gehen Sie eigentlich mit den Kombinationen Ihrer Safes um? Geben Sie die am Telefon raus?“ Ups – das kam pampiger rüber, als ich es geplant hatte.

„Na hören Sie mal, wir sind ein ordentliches Unternehmen! Was erlauben Sie sich eigentlich?!“

„Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt. Es wäre fantastisch, wenn Sie sie auch genauso einfach beantworten würden“, giftete ich in die Leitung. Heute brauchte ich echt nicht viel, um auf 180 zu kommen.

„In diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden! Ich werde das Gespräch jetzt beenden.“ Sprach es und legte auf.

Okay, Freunde der Nacht. Ich kann auch anders. Ich wählte die hausinterne 694.

„Reisebüro, Beatrice, wat jibt’s?“ hörte ich eine Berliner Schnauze fragen.

„Beatrice, hallo, Marius hier aus der AGA.“

Mari!“ freute sie sich eine Winzigkeit zu viel über meinen Anruf. Was wollte die bloß von mir?

„-us“, entgegnete ich.

„Häh?“

„Ich heiße MariUS, und nicht Mari.“

„Is’ ja jut, wat willst’n?“ hörte ich sie grinsen.

„Ich muss irgendwie nach Zweibrücken. Kannst du mir einen Zug für morgen raussuchen?“

„Nee.“

„Wie – nee?“

„Ick such dir keenen Zug raus, sondern’n Flieja. Die ham ’nen schnuckelijen kleenen Flughafen, da kannste ab Berlin direkt hinfliejen. Jeht schnella und is billja. Wat hälste davon?“

„Dit wär knorke“, versuchte ich ihren Akzent zu imitieren, was sie mit einem Lachen quittierte.

„Okay, du Marke, ick schick’s dir per Mail, wa?“

Eine halbe Stunde später hatte ich meine Flugdaten für Freitag, den 6. Dezember.


Um 16 Uhr verließ ich das Büro. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll für heute. Aber eine Sache gab es noch zu tun. Ich nahm das Taschentuch mit dem Schlamm von Bernds Auto und steckte es in einen Umschlag, schrieb eine kurze Notiz dazu und steckte dann Umschlag und Notiz in einen noch größeren Umschlag und schickte es an das Landeskriminalamt Thüringen, z. Hd. Herrn Lettner, der die Spuren in der Wartburg untersucht hat. Auf alle Fälle aber würde ich dort morgen nochmal anrufen.

Auf dem Weg nach Hause hielt ich bei der Post und schickte mein „Beweisstück A“ ab. Mit ein wenig Glück würde der Brief morgen schon dort sein.

Zuhause angekommen packte ich erstmal meine Sachen aus und aß erstmal einen Happen, obwohl ich eigentlich keinen großen Appetit hatte. Danach ließ ich mir ein Bad ein. Das brauchte ich nach all den Ereignissen von heute erstmal. Und zwar die Deluxe-Variante: Ich hatte im Badezimmer ein kleines Radio mit CD-Funktion. Ich brauchte jetzt irgendwas Entspannendes und entschied mich für Nora Jones. Dazu eine Duftperle ins Badewasser, eine Flasche Rotwein – das war das wahre Leben!

Ich seufzte, während ich spürte, wie mich Wasser und Wärme sanft einlullten und nahm einen großen Schluck Rotwein.

Aber dann holten mich die Gedanken von der Autofahrt wieder ein. Eine innere Stimme fragte, ob es nicht viel schöner wäre, wenn man dieses Bad, diese Stimmung, diesen Augenblick mit jemandem teilen könnte? Und nicht nur diesen Moment, sondern alles?

Und wieder kam der Kloß im Hals zurück. Theoretisch wäre es schöner, ja. Aber ist es jetzt noch machbar? Ich wusste zwar, wie man schnell und effizient jemanden in einer Cruisingbar „klarmacht“. Aber etwas Ernstes mit jemandem anfangen? Das hatte ich nie gelernt. Meine Kontakte beschränkten sich in der Regel auf abchecken, zunicken, ausziehen, anziehen, fertig. Wie in der einen Autoreklame: rein, rauf, runter, raus.

Ich musste an meine Schulzeit zurückdenken. Ich weiß noch, wie die anderen Jungs in meiner Klasse mal hier, mal dort versuchten, bei den Mädels zu landen und so ihre Erfahrungen sammelten. Ich habe es erst gar nicht versucht. Wozu auch? Die Mädchen kamen für mich von einem anderen Stern (tun sie heute noch) und im Leben hätte ich mich nicht getraut, einen Jungen aus meiner Klasse oder Schule „näher“ kennen zu lernen.

Und nun kam ich mir zu alt dafür vor, nochmal wie ein Teenie zu versuchen, mich zu verlieben, mit all dem Herzschmerz etc.

Zu alt mit 24? Eigentlich erbärmlich, oder?

Ich fegte den Gedanken beiseite. Im Grunde genommen hatte ich nur Angst, nichts als Angst. Was, wenn ich aus dieser Geschichte heute nicht sauber raus käme? Zugegeben, ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Aber dennoch war ich in diese Geschichte irgendwie verstrickt. Wenn R&G mich nun deswegen feuert? Ich würde mit diesem Mist an den Hacken doch nie wieder einen Job in dieser Branche finden. Einen Job, den ich ebenso liebte wie den jetzigen.

Liebte ich diesen Job denn? Na klar, muss ich ja, wenn ich morgens früh anfing und lange blieb, oft bis zu neun Stunden am Tag.

„Ist das nicht eher eine Flucht?“ fragte diese fiese, kleine, nagende Zweifelstimme in meinem Kopf. Flucht in die Arbeit, damit du nicht in die kalte, einsame, leere Wohnung zurückkehren und dich der Realität stellen musst? Damit du nicht dauernd daran denken musst, dass du zwar vieles erreicht hast, aber das einzige, was du dir wirklich, wirklich im tiefsten Innern deines Herzens je gewünscht hast, noch nicht mal ansatzweise angegangen bist: nämlich eine eigene und vor allem intakte, kleine Familie?

Ich musste wohl lange genug gebadet haben, denn während ich diesen Gedanken nachhing, lief ein kleiner Wassertropfen meine linke Wange hinunter. Ich schwitzte wohl. Oh, und auf der anderen Seite auch! Ich schniefte.

Bevor meine Dämme endgültig brechen konnten, stand ich auf, zog den Stöpsel raus und trocknete mich ab.


Freitag, 6. Dezember 2002

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker wie immer um fünf. Ich stand auf und zog meinen Trainingsanzug und meine Laufschuhe an, um wie jeden Morgen eine halbe Stunde zu joggen. Ich ging nach draußen und zog die Haustür hinter mir zu.

Es hatte geschneit letzte Nacht, nicht viel, nur ein paar Zentimeter. Aber die Welt da draußen sah aus, wie mit Puderzucker überstreut. Und der Schnee dämpfte die Geräusche so schön. Ich merkte, wie ich langsam anfing zu frieren und trabte los. Den gleichen Weg wie jeden Morgen. Die Straße runter, dann links, am Park entlang, runter zum Bach und immer weiter.

Die kalte Morgenluft strömte in meine Lungen, und ich spürte, wie wieder neue Lebenskraft in meine Glieder kam. Heute würde es ein wichtiger Tag werden. Das spürte ich genau.

Um Viertel vor sechs kam ich wieder zuhause an und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten.

„Lutherbibel gestohlen – größter Kunstraub der Nachkriegsgeschichte“ prangte in großen Lettern auf der Titelseite.

„Erzählt mir was, dass ich noch nicht weiß“, knurrte ich. Mein Tatendrang wuchs mit jeder Minute, die verstrich.


Um sieben Uhr betrat ich mein Büro. Bernd war – wie immer – noch nicht da. Umso besser. Mein Flieger nach Zweibrücken ging erst um zehn, das bedeutete, dass ich noch eine Stunde Zeit hatte.

Zuerst rief ich beim LKA in Erfurt an und ließ mich mit Lettner verbinden. Zum Glück war er schon da.

„Na, auch’n Frühaufsteher?“ blökte er mit vollem Mund jovial in den Hörer.

„Entschuldigung, störe ich gerade beim Frühstücken?“

„Nö“, er schluckte geräuschvoll, „is’ nur’n Krossong.“

„Na, dann gesegneten Appetit“, meinte ich höflich – immerhin verdächtigte mich der Mann immer noch des Raubes der Lutherbibel.

„Danke-danke. Hab’ heute Morgen übrigens Ihr Päckchen bekommen. Ist ja interessant, was Sie da schreiben.“

Yesss!!! „Ich hoffe, Sie können was mit den Proben anfangen?“

„Mal schauen. Die gehen auf jeden Fall noch heute ins Labor. Ich denke, dass wir Montag schon ein paar Ergebnisse haben dürften. Haben Sie eigentlich auch das Nummernschild von dem Wagen? Vielleicht kann damit ja jemand hier was anfangen.“

Ich nannte ihm das Kennzeichen. Das ist der Vorteil, wenn man zwei Jahre lang am gleichen Auto vorbei fährt. Lettner versprach, es mal durch den Computer zu jagen.

Das lief ja prächtig soweit.


Um Punkt neun Uhr kam ich auf dem Flughafen Schönefeld an. Ich checkte ein und nahm noch im Café Platz. Erstens hatte ich ja noch genug Zeit, und zweitens konnte man von dort aus schön die Leute beobachten. Und drittens, wenn mir noch einmal jemand allen Ernstes erzählen möchte, dass die Airlines ihre Saftschubsen nicht nach dem Aussehen einstellen, dann lache ich mich tot.

Und viertens konnte ich die Zeit auch nutzen, um mir den Artikel in der Zeitung durchzulesen. Dort stand, dass es sich um einen Raub handelte (soweit korrekt), der durch einen bisher unbekannten Geheimgang begangen wurde (ebenfalls korrekt) und dass es über den Verbleib der Bibel bis dato noch keine Erkenntnisse gab (auch korrekt – jedenfalls soweit ich informiert war). Dann folgte allerdings ein Satz, der mir wieder das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Laut Aussage der Polizei gibt es noch keine konkreten Hinweise auf den oder die Täter. Der zuständige Leiter der SOKO ‚Luther’ erklärte lediglich, dass es zwei Personen gäbe, die unter dringendem Tatverdacht stünden…“ Und einer davon war ich.

Dieser Satz machte mir einmal mehr deutlich, dass ich in den Augen der Kripo ein potentieller Verbrecher war. Und sofort fühlte ich mich unwohl in meiner Haut. Ich, der nicht einmal im Leben schwarzgefahren bin! Machte es mich dann nicht nur noch verdächtiger, wenn ich mich jetzt in einem Flughafen aufhielt? Vielleicht denken die, dass ich mich mit der Bibel ins Ausland absetzen will?!

Automatisch ließ ich meinen Blick durch die Flughafenhalle schweifen. Wurde ich vielleicht beschattet? Der Typ da hinten am anderen Tisch vielleicht? Oder die Frau, die da gerade eine Zeitung kauft?

Ich hatte ein Gefühl, als ob 1000 Augen jede meiner Bewegungen genauestens registrierten. Es war zum Verrücktwerden! Und so tat ich das Verrückteste in dieser Situation: Ich nahm meine Tasche, in der ich ein paar Unterlagen aus dem Büro mitgenommen hatte und leerte sie deutlich sichtbar auf meinem Tisch aus, so dass jeder, der mich eventuell beschattete, auch sehen konnte, dass ich die Bibel nicht dabei hatte. Dann packte ich alles wieder ein.

Langsam begann ich, mir Sorgen um meine geistige Gesundheit zu machen.


Der Flug nach Zweibrücken dauerte knapp eine Stunde. In der kleinen Propellermaschine saß nur eine handvoll Leute. Zweibrücken war offensichtlich kein beliebtes Reiseziel für Berliner. Als die Maschine gegen 11 Uhr dort landete, regnete es in Strömen, was meine angeknackste Stimmung nicht wirklich verbesserte. Der einzige Lichtblick war die Erkenntnis, dass es unserer Republik ja nicht allzu schlecht gehen konnte, wenn jedes Kuhdorf seinen eigenen internationalen Flughafen hatte.

Vor dem Flughafengebäude wartete genau ein Taxi. Das war nicht weiter schlimm, denn die anderen Fluggäste waren von Freunden oder Verwandten abgeholt worden. Ich stieg ein und nannte dem Fahrer die Adresse der ALLsafe GmbH.

Eine Viertelstunde später saß ich in deren Foyer und wartete auf Herrn Kaiser. Die Empfangsdame hatte ihn angerufen und mich gebeten, auf der noblen Ledergarnitur Platz zu nehmen; eine Bitte, der ich nach dem einstündigen Flug in einer Sardinenbüchse nur allzu gern nachkam.

Auf einmal stand er neben mir.

„Herr Körner?“ fragte er.

Ich stand auf und schüttelte seine Hand. „Der bin ich. Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Herr Kaiser.“

„Ebenso, danke, Herr Körner. Ich bin allerdings etwas überrascht von Ihrem Besuch bei uns.“

„Ja, das war eine ziemlich spontane Aktion. Sie können sich denken, warum ich hier bin?“

„Ich ahne es. Aber bevor ich Sie in mein Büro bitte, würde ich vorher gern noch Ihren Personalausweis sehen.“

„Meinen Ausweis? Wieso das denn?“ fragte ich verwundert.

„Nun, Sie befinden sich in einem Hochsicherheitsbereich. Hier werden die besten Safes Europas hergestellt und die wertvollsten Geheimnisse gehütet. Der Nikolaus höchstpersönlich könnte heute vor mir stehen und behaupten, er sei der Nikolaus, aber ohne Identifikation würde die Security ihn ratzfatz wieder auf seinen Schlitten setzen und vor das Firmentor geleiten, Sie verstehen?“

Ich verstand auch, dass das kein Scherz war. Ich reichte ihm meinen Pass. Nachdem er ihn am Schreibtisch von der Empfangsdame auf seine Echtheit überprüft hatte, sagte Herr Kaiser: „Alles in Ordnung. Sie werden verstehen, dass wir es hier mit der Sicherheit sehr genau nehmen. Aber nun kommen Sie doch bitte in mein Büro.“

Er führte mich durch das Bürogebäude und erklärte hier und da was, wo ich aber nur mit halber Aufmerksamkeit zuhörte. In Gedanken war ich schon bei unserem folgenden Gespräch.

Irgendwann kamen wir in einem Büro an, in dem eine Frau saß. „Das ist meine Sekretärin, Frau Fischer. Frau Fischer, das ist Herr Körner von Robertson & Goldblum.“

Die Temperatur in dem Raum wurde auf einmal eisig. „Wir hatten bereits das Vergnügen“, sagte ich ebenso grimmig wie sie mich anschaute. Wenn Blicke töten könnten, hätte Kaiser jetzt zwei Leichen im Büro.

Er führte mich ein Zimmer weiter, was dann endlich sein Büro war und wir nahmen Platz. Er fragte: „Nun, was kann ich für Sie tun?“

„Nun, es geht um die Lutherbibel.“

„Das dachte ich mir. Ich habe es heute Morgen in der Zeitung gelesen.“

„Es lässt mir einfach keine Ruhe, wie die Bibel aus dem Safe verschwinden konnte. Wie leicht kommt man denn an die Kombination ran?“

„Das hängt ganz von Ihnen ab“, antwortete Kaiser ohne eine Spur von Wut über diese Frage. „Von uns bekommt sie niemand, das ist ausgeschlossen.“

„Wie können Sie da so sicher sein?“

„Ganz einfach: weil niemand sie in diesem Hause kennt oder herausfinden kann. Der Code wurde vom Computer generiert und dann automatisch an zwei Abteilungen geschickt: an die Produktion, wo der Rechner mit der Maschine verbunden ist, die das Schloss programmiert, und an die Hauspost, wo er per Einschreiben abgeschickt wurde. Wir haben dafür eine weitere Maschine, die den fertigen Brief auswirft, der dann nur noch zur Post gebracht werden muss. In Ihrem Falle gingen zwei Briefe raus; einer an Sie, einer an den Museumsleiter. Wir haben sie beide in dem Einschreiben aufgefordert, den Code weder aufzuschreiben, noch an Dritte weiterzugeben. Des Weiteren sollten Sie das Schreiben vernichten. Wenn Sie das alles getan haben, kann der Code nicht in die falschen Hände geraten.“

„Und über den Computer kann man da nicht ran?“

„Völlig ausgeschlossen. Wir haben hier zwar ein Sicherheitsbackup auf einem Server liegen, allerdings ist es unmöglich, da ranzukommen.“

„Die Titanic galt auch als unsinkbar…“, setzte ich an.

Kaiser lächelte. „Das ist sicher richtig, aber die Sache ist die: Der Server ist nur dann mit dem System verbunden, wenn das Schloss programmiert wird. Ansonsten ist er völlig unabhängig, und um an seine Daten zu gelangen, braucht man nicht nur ein Passwort, sondern auch den richtigen Fingerabdruck, der wird nämlich auch gescannt. Darüber hinaus wird jeder Login und jede Veränderung der Daten auf dem Server genauestens protokolliert.“

„Und wann haben Sie das zum letzten Mal überprüft?“

„Sie werden lachen“, meinte Kaiser trocken, „vor zwei Stunden, als die Kripo da war und so ziemlich genau die gleichen Fragen wie Sie stellte.“

Ich lachte nicht. Ich fand das auch nicht im Geringsten witzig. Stattdessen bedankte ich mich dafür, dass er sich die Zeit für mich genommen hatte und ließ mich wieder ins Foyer bringen. Die Empfangsdame rief mir ein Taxi und zehn Minuten später war ich wieder unterwegs zum internationalen Flughafen Zweibrücken.


Im Taxi hatte ich genug Zeit zum Nachdenken. Das war ja eine Pleite gewesen. Eigentlich hätte ich mir das denken können. Was hatte ich denn erwartet? Einen verwirrten Herrn Kaiser zu treffen, der mir stammelnd gesteht, dass sie ein riesiges Sicherheitsleck entdeckt hatten und quasi jeder der 82 Millionen Bundesbürger der Täter sein konnte?! Ich meine, so…

Meine Gedanken wurden durch ein Klingeln unterbrochen, das aus meiner Leistengegend kam. Mein Handy. Ich kramte es auch meiner Hosentasche hervor und schaute auf das Display: Bernd. Na super. Da ich mich nicht bei ihm abgemeldet hatte, durfte ich mir jetzt wahrscheinlich meinen Anpfiff abholen. Ich seufzte und nahm das Gespräch an.

„Hallo B…“ fing ich an, schaffte es aber nicht, meine Begrüßungsformel zum Ende zu bringen.

Wo zum Henker bist du?“ schnauzte Bernd ins Telefon. Ich hielt den Hörer ein paar Zentimeter von meinem Ohr weg, um keinen Hörschaden davonzutragen.

„Ich bin in Zweibrücken und sitze im Taxi. Ich komme gerade von ALLsafe“, sagte ich ruhig. Es reichte, wenn er sich für zwei aufregte.

„Das ist aber nett, dass ich das auch mal erfahren darf“, sagte er sehr sarkastisch. „Darf ich vielleicht auch erfahren, warum? Nicht, dass es mich etwas angeht, aber ich bin ja nur dein Vorgesetzter, verdammt nochmal!!!“ Die letzten Worte sprach er nicht, er brüllte sie.

Ich merkte, dass es auch in mir anfing zu kochen.

„Das will ich dir gerne sagen. Ich wollte mir das Sicherheitssystem von dem Safe erklären lassen. Denn wie du ja weißt, bin ich seit gestern einer der beiden Hauptverdächtigen im größten Kunstraub der Nachkriegsgeschichte. Das lässt mir einfach keine Ruhe mehr! Ich will nur noch raus aus dieser Nummer, verstehst du das nicht?“ Zum Schluss schrie ich auch fast. Der Taxifahrer schaute nervös in den Rückspiegel.

„Ach, und deswegen lässt du einfach deine Arbeit liegen und tingelst in der Weltgeschichte rum. Im Übrigen ohne mir Bescheid zu sagen oder eine Genehmigung seitens der Firma, richtig? Wahrscheinlich auch noch auf Firmenkosten?“

Dazu fiel mir gar nichts mehr ein, denn: Er hatte einfach Recht. Ich hatte gestern einfach bei Beatrice angerufen und sie gebeten, mir einen Flug zu organisieren. Das musste ich in meinem Eifer einfach übersehen haben.

Bernd bemerkte mein Schweigen. „Okay, hör zu. Ich will mal ein Auge zudrücken.“ Er klang auf einmal väterlich. Es widerte mich an. „Ich verstehe ja, dass dir das Ganze zu schaffen macht. Aber diese Aktionen bringen auch nichts. Glaubst du etwa, du erfährst etwas bei ALLsafe, was die Polizei nicht schon längst weiß? Die strecken doch auch ihre Fühler aus. Außerdem, glaubst du etwa, da sitzen irgendwelche Idioten und basteln Safes aus Schuhkartons?“

„Ist ja gut, hast ja Recht“, warf ich ein. Ich fühlte mich auf einmal wie ein dummer, kleiner Junge, dem alle Älteren zeigen, wie dumm und wie klein er ist. „Ist eh nichts bei rumgekommen.“

„Sag ich ja“, meinte Bernd fast schon versöhnlich, was mich fast noch mehr anwiderte. „Übrigens, Mama will dich sehen. Du sollst Montag hinfliegen, ich habe schon bei Beatrice Bescheid gesagt.“

Mama ist unser Mutterkonzern, R&G in New York.

„Was wollen die denn von mir?“ fragte ich verwundert.

„Keine Ahnung. Mir sagt man hier ja nichts mehr“, zickte Bernd. „Du fliegst am Montagvormittag um 10.55 Uhr ab Tegel. Das Ticket liegt am Lufthansaschalter, wie immer. Wann bist du nachher wieder hier?“

Ich schaute auf meine Uhr. Es war jetzt etwa 12 Uhr mittags, mein Rückflug ging erst um 15 Uhr. „Ich lande gegen vier in Berlin. Bin also gegen fünf im Büro.“

„Dann bin ich schon weg. Ich lege dir die Mail aus New York auf deinen Schreibtisch. Also dann bis nächste Woche, wenn du von Mama zurück bist. Und bitte, lass diese Alleingänge, okay?“

Das war weniger eine Frage als ein Befehl.


Ich weiß nicht mehr, wie ich diesen Nachmittag noch über die Runden gebracht habe. Ich war jedenfalls heilfroh, als ich abends wieder in meiner Wohnung war.

Wieder war ich ziemlich niedergeschlagen. Das lag einerseits an dem Gespräch bei ALLsafe, das ja nun alles andere als konstruktiv war. Im Nachhinein war ich der Meinung, ich bin nur dahin geflogen, weil mich die Sekretärin so geärgert hatte. Oder klammerte ich mich an die Hoffnung, ein Loch in deren Sicherheitsnetz zu finden, das mir aus der Patsche helfen würde?

Andererseits lag es auch an Bernds Anruf mit der Info, dass ich nach New York vor den Europa-Koodinator Dr. Müller zitiert wurde, der in der Firmenhierarchie schon ziemlich weit oben war. Viel weiter ging’s danach nicht mehr. Ich wunderte mich wirklich, was er von mir wollte. Meine Version des Raubes hören? Erstens hatte ich das bereits Mr. Simpson erzählt, und zweitens hätte ich das auch per Mail oder Fax machen können. Außerdem flogen in der Regel nur Abteilungsleiter oder Homer nach New York und nicht die kleinen Angestellten wie ich.

Irgendwie passte das alles nicht zusammen.

Ich ging duschen und grübelte weiter, kam aber zu keinem Ergebnis. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, schaute ich in den Spiegel: straßenköterblonde Haare, blaue Augen, ein bisschen blass um die Nase, ein paar Sommersprossen. Ansonsten etwas schmal gebaut (ich hatte ja nie Sport getrieben, abgesehen von meinen morgendlichen Joggingtrips) aber nicht dürr… Sah so etwas ein Verbrecher, ein Kunsträuber aus?

Ich musste auf andere Gedanken kommen. In meiner Wohnung fiel mir die Decke auf den Kopf. Ich musste hier raus.

Ich wusste genau, was ich jetzt brauchte. Ich brauchte eine andere Umgebung. Und vor allem brauchte ich…


„Ein großes Bier!“

Der Typ hinter dem Tresen nickte und machte sich daran, meine Bestellung auszuführen. Ich hatte am Tresen Platz genommen und konnte von da aus so ziemlich den ganzen Raum überblicken.

Ich ging nicht oft eine Kneipe, geschweige denn eine schwule wie diese hier. Meine Ausflüge in der Szene beschränkten sich ja eher auf die Cruisingbars. Aber darauf hatte ich heute so richtig überhaupt keinen Bock. Bei all den Gedanken, die in meinem Kopf kreisten, hätte ich es wahrscheinlich nicht mal mehr geschafft, einen hoch zu bekommen.

Aber darum brauchte ich mir hier keine Gedanken zu machen. Ich merkte, wie die Atmosphäre, die Leute und das inzwischen zweite Bier langsam aber sicher meine Gedanken einlullten. Ich war noch nicht besoffen, das schafften zwei Bier selbst bei einem „Hänfling“ wie mir noch nicht. Aber ich merkte, wie ich etwas Abstand gewann zu den Ereignissen der letzten Tage.

In dem Moment kam der Weihnachtsmann zur Tür herein.

„Ho, ho, ho!“ rief er mit einer Stimme, die ziemlich verstellt klang. Die Leute drehten sich nach dem neuen Gast um und klatschten und johlten. Ich klatschte und johlte nicht. Das hatte mir gerade noch gefehlt, so eine Kinderkacke hier jetzt. Dabei fiel mir ein, dass heute ja Freitag, der 6. Dezember, war. Meine Güte, ich hatte seit sechs Jahren kein Weihnachten oder Nikolaus mehr gefeiert und würde dieses Jahr bestimmt nicht damit anfangen.

„Na, seid Ihr denn auch alle hübsch artig gewesen oder muss ich etwa meine Rute rausholen?“ fragte der Weihnachtsmann und wedelte mit einem Reisigbündel rum.

„Jaaaaaa!! Die Rute!!!“ schallte es auch etlichen Kehlen. Das war so dämlich, dass es fast schon wieder lustig war. Aber auch nur fast.

Dagegen gab es nur ein Mittel. Ich winkte den Typen hinter Bar heran. „Einen Scotch mit Eis und noch ein Bier bitte.“ Vielleicht würde es ja so lustig werden. Er brachte mir die Getränke und machte zwei neue Striche auf meinem Bierdeckel.

Inzwischen hatte sich der Weihnachtsmann mit einem Helfer, der hinter ihm in die Kneipe gekommen war, daran gemacht, Kondome und Flyer von der Aidshilfe zu verteilen und Spenden mit dem Klingelbeutel zu sammeln. Daher wehte also der Wind.

Ich beobachtete die beiden, wie sie durch die Kneipe liefen, und nippte an meinem Whisky. Es half nix, irgendwann würden sie auch bei mir vorbeischauen. Nun gut, immerhin kam es der Aidshilfe zugute.

Irgendwann war es schließlich soweit, ich sollte sein letztes Opfer werden. Der Weihnachtsmann baute sich neben mir mit seinem Sack mit den Kondomen und Flyern auf und sagte mit seiner verstellten, tiefen Stimme: „Na, ob denn der Marius Körner artig war dieses Jahr?“

Nanu? Woher kannte der Typ meinen Namen?! „Schau doch auf deiner Liste nach. Meinen Namen kennst du ja offensichtlich.“ Auf diese Nummer hatte ich ehrlich gesagt überhaupt keine Lust.

Dafür bekam ich einen sanften Schlag mit der Rute auf meinen Popo. „Nicht patzig werden, junger Mann. Das sieht der Weihnachtsmann gar nicht gerne.“

„Ich werde dran denken, wenn ich den Weihnachtsmann sehe“, erwiderte ich kühl. „Aber wer bist du, dass du meinen Namen kennst?“

Er schaute mich mit seinen braunen Augen etwas nachdenklich an (soweit man das hinter dem künstlichen Rauschebart erkennen konnte). Dann sagte er: „Du hast dich kaum verändert, Marius.“ Er nahm die Mütze ab, unter der dunkelbraune Haare zum Vorschein kamen und zupfte sich den Bart aus dem Gesicht, so dass ich ihn endlich erkennen konnte.

Vor mir stand…

Matthias?!“ Ich starrte ihn ungläubig an. Matthias und ich waren zusammen eingeschult worden und hatten zusammen Abitur gemacht. Er wohnte damals nicht weit von meinen Eltern entfernt, nur ein paar Straßen weiter. Aber da ich mit niemandem aus meiner Klasse Kontakt gehalten hatte, hatten wir uns seit über sechs Jahren nicht gesehen.

„Höchstpersönlich. Eine Spende für die Aidshilfe?“ Dabei klimperte er mit der Spendenbüchse und seinen langen Wimpern.

Ich zog mein Portemonnaie aus der Hosentasche und weil ich so verdattert war, steckte ich glatt einen 10-Euro-Schein in die Büchse. Naja. War ja für’n guten Zweck.

„Sehr nobel, vielen Dank“ sagte Matthias und machte dabei einen leichten Knicks. Er griff in seinen Sack und holte eine Handvoll Kondome raus und legte sie vor mir auf den Tisch. „Sollst natürlich auch was dafür bekommen.“

Ich schob sie zurück in seine Richtung. „Lass mal, danke. Erstens brauche ich die heute Abend nicht mehr und zweitens habe ich genug davon zu Hause.“

„Sehr gute Einstellung.“ Er steckte sie in seinen Sack zurück und bestellte sich auch ein Bier. „Was dagegen, wenn ich mich setze?“ fragte er mich.

„Unter einer Bedingung.“

„Die da wäre?“

„Du ziehst dieses alberne Kostüm aus.“

Er schaute an sich herab, grinste und sagte: „Gib mir 10 Minuten, die Aidshilfe ist gleich um die Ecke. Das war eh die letzte Kneipe, wir sind fertig für heute. Geh nicht weg!“ Er nahm seine Utensilien und verließ mit seinem Helfer das Etablissement.

Matthias. Meine Güte, damit hatte ich ja nun gar nicht gerechnet. Sechseinhalb Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen. Und jetzt in einem solchen Laden. Wusste er überhaupt, um was für eine Kneipe es sich handelte? Bestimmt, schließlich arbeitete er in der Aidshilfe. Sollte er etwa auch „zur Familie gehören“?

Ich dachte an unsere gemeinsame Schulzeit zurück. Er war eigentlich nie dabei gewesen, wenn die anderen es wieder auf mich abgesehen hatten. Gut, er hatte sich aber auch nie dazwischen gestellt. Aber das wäre wohl auch ein bisschen zuviel Zivilcourage verlangt gewesen; zu zweit gegen fünf Schränke, die zusammengerechnet einen IQ hatten, der sich nahe der Zimmertemperatur bewegte, und die es nur auf das Gymnasium geschafft hatten, weil ihre Eltern im Ort gute Kontakte hatten.

Der Barkeeper stand auf einmal mit einem Bier in der Hand vor mir. „Wo is’n der Weihnachtsmann hin?“

„Zurück zum Nordpol und sich umziehen. Kommt aber gleich wieder. Stellen Sie das Bier ruhig hier hin.“

Er stellte das Bier ab und machte einen neuen Strich auf dem Bierdeckel. Auf meinem Bierdeckel. Egal. Noch war ich berufstätig und konnte mir das leisten. Monatlich eineinhalb netto auf dem Konto zu haben war schon eine angenehme Sache. Hoffentlich würde es in Zukunft so bleiben.

„Besser so?“ Matthias stand auf einmal wieder neben mir, diesmal in ordentlichen Klamotten: Jeans, Sneakers, Kapuzenshirt, verwuschelte Haaren. Gesamteindruck: wow! Hatte er damals schon so ausgesehen?

Ich musterte ihn gründlich. Dann sagte ich wohlwollend: „Genehmigt. Setzen. Dein Bier und ich warten schon sehnsüchtig.“

„Gut zu wissen, dass man erwartet wird“, lächelte er, setzte sich neben mich an den Tresen und nahm einen kräftigen Schluck. „Ah! Das schmeckt jetzt!“ Dabei wischte er sich den Schaum vom Mund.

Wir schwiegen einen Moment. Dann setzte er an: „Erzähl mal. Wie ist es dir seit dem Abi ergangen? Was machst du jetzt?“

Ich betete meinen Lebenslauf runter. Alles erzählte ich nicht, denn die Geschichte mit der Lutherbibel ließ ich weg. Daran wollte ich nicht mehr denken. Nicht hier, nicht heute, nicht jetzt. Auch meine Besuche in der Cruising-Szene fielen irgendwie unter den Tisch.

Matthias schien beeindruckt. „Nicht schlecht“, sagte er.

„Und du? Bist du bei der Aidshilfe?“ fragte ich ihn.

„Ehrenamtlich ja. Hauptberuflich studiere ich Sonderschulpädagogik“, antwortete er.

Immer noch?“ entfuhr es mir. Mist, das wollte ich nicht.

„Ja, immer noch“, antwortete er und schien nicht einmal beleidigt. „Erstens musste ich zum Zivildienst, und zweitens genieße ich nebenbei das Studentenleben. Es fällt mir schwer zu glauben, dass jemand, der in acht Semestern ein Jurastudium abreißt, auch nur einen Tag davon wirklich gelebt hat.“

Das hatte gesessen. Vor allem, weil er Recht hatte.

Wir schwiegen.

Dann legte er seine Hand auf meine und sagte: „Hey. Entschuldige. War nicht böse gemeint.“

„Passt schon“, antwortete ich. „Hast ja Recht im Prinzip.“ Ich war enttäuscht, als er seine Hand wieder wegnahm. Leg die da wieder hin!

Das erinnerte mich an etwas.

„Weißt du eigentlich, in was für einem Laden du hier bist?“ fragte ich Matthias.

Er grinste mich an. „Glaub mir, ich weiß genau, wo ich bin und ich bin nicht zum ersten Mal hier.“

Tu quoque, fili!“ entfuhr es mir, wieder unkontrolliert. Mist, ich musste unbedingt lernen, mein Maul unter Kontrolle zu halten. Oder war das der Alkohol?

„Bitte was?“ fragte Matthias.

„Tu quoque, fili“, antwortete ich kleinlaut. „Das ist lateinisch und bedeutet soviel wie ‚du auch, mein Sohn’. Soll Cäsar angeblich zu Brutus gesagt haben, als dieser ihn mit den anderen Senatoren erstach.“ Ich schaute beschämt auf mein Bierglas. Spätestens ab jetzt musste er mich doch für einen kompletten Idioten halten.

„Weißt du eigentlich, dass ich dich immer um deine Lateinkenntnisse beneidet habe in der Schule?“

„Echt?“

„Echt. Ich habe so mit der Scheißsprache gekämpft, aber dir schien das alles so leicht zu fallen…“

„Das lag an meinem Vater. Er zwang mich immer zum Lernen. Was hätte ich auch sonst nachmittags tun sollen? Freunde zum Spielen hatte ich ja keine.“

„A propos Freunde. Hast du einen Freund?“

Mann, konnte der schnell ein Thema wechseln. Ich schüttelte den Kopf.

Hattest du einen Freund?“ bohrte er weiter.

Wieder Kopfschütteln meinerseits.

„Warum nicht?“

Der konnte aber auch Fragen stellen. „Keine Ahnung. Hat sich nie was ergeben.“ Das war zumindest halbrichtig. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch nie jemanden an mich heran gelassen. „Und du?“

„Ich bin auch solo“, erwiderte Matthias. „Meine letzte Beziehung ist vor einem Jahr in die Brüche gegangen.“

„Oh. Woran ist sie denn gescheitert?“

„Er ging fremd.“

„Autsch.“

Schweigen.

„Du sagtest, dass das deine letzte Beziehung war. Wie viele hattest du denn schon?“ fragte ich weiter.

„So richtig? Drei.“

„Und wann die erste?“ Ich wurde immer neugieriger aber Matthias schien das noch nicht zu stören.

Er lächelte. „In der Schule damals.“

Ich verschluckte mich an meinem Bier, von dem ich gerade versucht hatte zu trinken.

„Du hattest während unserer Schulzeit einen Freund?“ fragte ich entgeistert, nachdem sich das Kratzen in meiner Kehle gelegt hatte. Es gab nur eine logische Frage, die jetzt kommen konnte: „Wen?“

„Rainer aus der Parallelklasse.“

„Rainer…“ Ich überlegte. Auf einmal machte es „klick“! „Rainer?! Der Rainer? Rainer Heyne? Rainer ‚Mir-widersteht-keine’ Heyne?!“

„Hihi! Genau der“, kicherte Matthias.

„Aber der hat doch so ziemlich jedes Mädchen aus dem Jahrgang angebaggert?!“

„Bis zur 11. Klasse, ja. Danach nicht mehr. Das habe ich ihm dann nämlich verboten. Ich konnte ihm nämlich auch nicht widerstehen“, grinste Matthias.

„Und er dir anscheinend auch nicht.“

„Genau.“

„Der Hammer…“ Ich dachte zurück. „Aber ich habe euch nie auf dem Schulhof mal zusammen gesehen oder so…“

„Der Schulhof war ja auch Tabu für uns. Uns war klar, dass das in der Schule geheim bleiben musste, denn sonst hätten unsere fünf Neandertaler noch mehr zu tun gehabt. Wir waren ganz froh darüber, dass sie mit dir beschäftigt waren…“ meinte Matthias mit einem vorsichtigen Seitenblick.

„Wie schön für euch“, knurrte ich kühl. Nein, das war eher eiskalt.

„Hey, tut mir ja auch Leid. Mein Gott, wir hatten so einen Schiss, dass das rauskommt.“

„Aber auf den Gedanken, mir mal zu helfen, wenn sie mich wieder in den Müllcontainer warfen, seid ihr auch nicht gekommen. Oder mal zu fragen, warum ich mich immer in den Pausen verdrückte oder nachmittags nie Zeit hatte. Oder hast du mich jemals auf einer Geburtstagsfeier gesehen? Oder auf einer Schulparty? Nur einmal in den zwölf Jahren, in denen wir zusammen zur Schule gingen? Nur ein einziges Mal? Nein! Denn erstens wurde der Klassenarsch eh nicht eingeladen und zweitens hätte er nicht kommen können, weil sein Vater ihn mit irgendwelchen Scheißlateinbüchern eingesperrt hätte!“

Matthias setzte an, etwas zu sagen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen, denn aus mir sprudelten Gefühle und Gedanken hervor, die ich seit mehr als sechs Jahren mit mir rumschleppte.

„Was glaubst du, was bei mir los war, als meine Mutter eine Du & Ich unter meinem Bett fand?! Glaub mir, den Himmel auf Erden stelle ich mir anders vor!“

Wieder Stille.

Nach einer kurzen Weile sagte Matthias: „Du hast dich wirklich kaum verändert.“

„Wie meinst’n das jetzt?“

„Wir haben damals versucht, dich anzusprechen. Nicht nur Rainer und ich, sondern auch ein paar andere. Aber jedes Mal, wenn wir uns dir nur näherten, machtest du einen Eindruck wie ein gefangenes Tier, dem man was antun wollte und hast uns angeschnauzt, sobald wir mit dir reden wollten. Irgendwann haben wir es dann gelassen.“

Ich konnte mich beim besten Willen nicht an eine solche Situation erinnern. „Echt?“

„Echt.“

„Aber wundert es dich? Ich meine, lande du mal ein paar Mal im Müllcontainer. Dann glaubst du auch, dass dir das wieder blüht, wenn sich dir jemand nähert. Und außerdem trug ich damals ja noch mein Geheimnis mit mir rum. Nicht auszudenken, die hätten das herausgefunden! Ich dachte damals, ich wäre der einzige Homo in ganz Mecklenburg-Vorpommern.“ Und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich würde das sogar heute noch glauben, wenn du mir nicht gerade eben die Geschichte mit dir und Rainer erzählt hättest…“

Matthias musste auch grinsen.

„Glaub mir, ich bin froh, dass die Zeiten vorbei sind“, sagte ich.

„Ich auch. Das Versteckspiel mit Rainer ging mir ganz schön gegen den Strich.“

„Wie lange wart ihr eigentlich zusammen?“

„Bis zum Ende des Zivildienstes. Danach ging er zum Studieren nach Würzburg und ich ging nach Berlin. Das war dann das Ende.“

Wir schwiegen wieder. Ich bemerkte, dass mein Whisky alle war. „Scherge! Scotch! Eis!“, rief ich dem Barkeeper zu und deutete auf mein leeres Glas.

„Zwei!“ rief Matthias.

Der Barkeeper nickte.

„Bestellst du eigentlich immer deine Getränke so?“ fragte Matthias grinsend.

„Nein, manchmal bin ich auch nett und formuliere einen ganzen Satz, anstatt nur mit Substantiven um mich zu werfen“, erwiderte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue und in einem gespielt arroganten Tonfall.

Matthias lachte. Es war ein schönes Lachen. „Aber heute hattest du einen schlimmen Tag, oder?“

Da waren sie wieder, meine Erinnerungen, die ich versucht hatte zu vergessen. Ich seufzte. „Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wie schlimm. Normalerweise trinke ich auch nicht soviel.“

„Was ist denn passiert?“

Ich schaute ihm in die Augen. Er schien aufrichtig interessiert zu sein. Ich seufzte.

„Hast du das mit der Lutherbibel mitbekommen?“

„Dass sie geklaut wurde? Ja klar, es war den ganzen Tag in den Nachrichten. Angeblich gibt es zwei Tatverdächtige. Wieso? Was hat das mit dir zu tun?“

Ich näherte mich seinem Gesicht, reduzierte meine Stimme auf ein Flüstern und hauchte: „Einer der beiden Tatverdächtigen bin ich.“

Matthias schaute mich verwundert an. Dabei schien er angestrengt darüber nachzudenken, ob das mein Ernst war oder ob ich ihn gerade auf den Arm nahm. Nach einer Weile schien er beschlossen zu haben, dass es mein Ernst war, und fragte: „Aber ich dachte, du bist bei einer Versicherung?“

„Genau. Bei Robertson & Goldblum in der AGA.“

„Was ist denn die AGA?“

Art & Genuine Artifacts. Kunst und wertvolle Artefakte. Wir haben das Ding versichert.“

„Aber wieso bist du dann einer der Tatverdächtigen?“

Es half nichts. Ich musste die Erlebnisse der letzten zwei Tage nochmal erzählen.

Matthias lauschte aufmerksam und bekam den Mund nicht mehr zu. Als ich endlich fertig war, war er platt.

„Na, da hast du dir ja was eingebrockt.“

„Und das Schlimmste ist, ich habe keine Ahnung, wie oder ob ich da je wieder rauskomme! Was, wenn die Bibel verschwunden bleibt? Das bleibt doch ewig an mir kleben!“

Ein paar Augen drehten sich nach mir um. Ich wurde wohl etwas zu laut.

„Lass uns das Thema wechseln“, meinte ich zu Matthias. Er nickte.

Langsam merkte ich auch, dass ich gut einen im Tee hatte. Matthias sah auch nicht mehr ganz frisch aus. Ich musste lächeln. Ich freute mich irgendwie, dass wir uns hier getroffen hatten und so lange unterhielten.

Er bemerkte mein Lächeln und lächelte ebenfalls. „Was grinst du?“

„Ach, nix. Ich freue mich nur gerade darüber, wie sich der Abend hier entwickelt hat.“

Er kicherte. „Ich freue mich auch.“ Er beugte sich zu mir rüber und hauchte mir einen ganz zarten Kuss auf die Wange.

Meine körperlichen Reaktionen auf diese Berührung hin waren sehr interessant. Vor meinen Augen explodierte ein Feuerwerk, wie ich es noch nie erlebt hatte, ein heißkalter Schauer kletterte in Sekunden von meinen Zehspitzen bis zum Scheitel hoch und zurück und hinterließ eine elektrische Spannung, die sich irgendwo zwischen meiner Magen- und Lendengegend sammelte und danach schrie, sich zu entladen, während meine linke Wange an der Stelle vor Leidenschaft brannte, wo seine sanften Lippen mich berührt hatten. Mein Gehirn schaltete auf Notbetrieb um. Denken und Handeln war unmöglich.

Matthias schaute mich etwas verunsichert an. „Alles klar?“

Wie ein Fisch auf dem Trockenen öffnete und schloss ich meinen Mund, ohne irgendwelche Laute von mir zu geben.

„Marius?“

Ich schaffte es, drei Worte zu krächzen: „…nochmal…bitte…Mund…“

Matthias grinste und kam meiner Bitte nach.

Danach erinnere ich mich an nichts mehr.

Samstag, 7. Dezember 2002

Das erste, was sich am folgenden Morgen in mein Bewusstsein drängte, war ein stechender Kopfschmerz, gefolgt von der Wahrnehmung des dringenden allmorgendlichen Bedürfnisses, auf Toilette zu gehen, und die Feststellung, dass die Sahara im Vergleich zu meinem Mund ein Feuchtbiotop war.

Insgesamt eine sehr unangenehme Situation.

Wo bin ich eigentlich? Ich öffnete langsam und vorsichtig ein Auge und stellte fest, dass ich in meinem Schlafzimmer in meinem Zweimeterbett lag.

So weit, so gut.

Uhrzeit?

Mist. Dafür musste ich mich umdrehen, denn mein Radiowecker stand auf dem rechten Nachttisch, während ich dem linken Nachttisch zugewandt lag. Ich hatte aber keine Lust mich umzudrehen.

Beweg dich! befahl mein Geist meinem Körper, der auch prompt gehorchte. Als ich mich fast vollständig um die eigene Achse gedreht hatte, prallte ich mit der Nase gegen irgendetwas.

Gegen einen Rücken.

Gegen irgend jemanden.

Ich bekam einen furchtbaren Schreck und fuhr so stark zurück, dass ich aus dem Bett fiel. „Woah!“

Der Mensch neben mir wurde wach und drehte sich verschlafen zu mir um.

Matthias?!“

„So verdattert hast du gestern Abend auch geschaut, nachdem ich den Bart abgenommen habe“, murmelte er.

Bart?! Ach ja, richtig. Der Abend in der Kneipe. Langsam kamen die Erinnerungen zurück.

Mein Harndrang meldete sich wieder. Ich murmelte was von Toilette, stand mühsam auf und verschwand im Bad. Dort angekommen stellte ich fest, dass ich nur noch meine Unterhose trug. Eigenartig. Normalerweise schlüpfte ich doch immer in mein Schlafzeug? Und Matthias’ Rücken eben war auch unbekleidet gewesen…

Haben wir etwa…?!

Ich spülte und wusch meine Hände, auch mein Gesicht bekam einen kalten Schauer ab. Dann kontrollierte ich die Kondome in meinem Badezimmerschrank. Die neue Packung, die ich gerade erst gekauft und noch nicht geöffnet hatte, war noch versiegelt. Hm.

Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Der Wecker zeigte 10:24 an. Matthias lag auf dem Rücken und schaute mich an.

„’nmorgen…“ nuschelte ich.

„Du siehst aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve!“ lachte er los.

„Hmpf.“ Ich krabbelte wieder unter die Decke.

Sein Gesicht näherte sich meinem. „Guten Morgen“, hauchte er und küsste mich auf die Wange. Dabei wurden einige Erinnerungen wach. Ich schnurrte wohlig und igelte mich in seinen Armen ein. Eine Weile lagen wir so nebeneinander, bis Matthias unruhig wurde.

„Ich habe Kopfschmerzen“, meinte er.

„Ich auch.“

„Hast du’n Aspirin da? Soviel wie gestern Abend habe ich schon lange nicht mehr gesoffen.“

„Ich auch nicht. Aspirin ist in der Küche. Bring mir eins mit, ja?“ Ich beschrieb ihm, wo er es finden würde. Er wurschtelte sich aus dem Bett, ging in die Küche und kam kurz darauf mit zwei zischenden Wassergläsern zurück. Dabei fiel mir auf, dass er auch nur eine Boxershorts trug.

„Sag mal“, fragte ich ihn, als ich wieder in seinen Armen lag, „ich stelle fest, dass wir beide etwas leicht bekleidet sind. Haben wir etwa…“

Matthias prustete los. „Mit Sicherheit nicht! Dazu waren wir nicht mehr in der Lage.“

Ich atmete innerlich auf. Mit irgendwelchen Fremden, okay. Aber nicht mit Matthias. Nicht nach diesem Abend. „Wie spät war es eigentlich?“

„Muss gegen drei Uhr gewesen sein.“

Holla, die Waldfee.

Schweigend lagen wir in meinem Bett, kuschelten, hörten dem Lärm von der Straße zu und warteten darauf, dass die Aspirin wirken würden. Meine Gedanken fingen wieder an zu wandern. Ich dachte an mein Bad vom Donnerstag, als ich mir vorstellte, wie schön es wäre, jemanden zu haben, mit dem man alles teilen konnte. Und ich dachte daran, wie ich mir zu alt dafür vorkam. Und wie unerreichbar weit weg das zu sein schien.

Und nun lag ich hier, keine zwei Tage später, nach einer durchzechten Nacht mit meinem Kopf auf Matthias’ Brust und lauschte seinem Herzschlag, während seine rechte Hand sanft mit meinen Haaren spielte und meine mit seinem Bauchnabel und seinen dunklen Härchen, die von dort „gen Süden“ wuchsen. In meinem ganzen Leben hatte ich mich nicht so sauwohl gefühlt wie in diesem Moment.

Es war gerade zu perfekt.

„Entschuldige mich mal kurz“, unterbrach Matthias meine Gedanken, „erstens wird mein Arm lahm und zweitens muss ich auch mal wohin…“ Ich legte mich zurück auf mein Kissen und Matthias verschwand im Bad.

Und schon wuchsen wieder Zweifel in meinen grauen Zellen. Wie sah er das denn? War es für ihn nur ein lustiger Abend? Will er vielleicht gleich nach Hause, und dann sehen wir uns nie wieder?

Nach ein paar Minuten kam Matthias zurück und krabbelte wieder ins Bett. Ich blieb auf meinem Kissen liegen.

„Was ist los? Schon Schluss mit kuscheln?“ fragte er.

Schweigend rutschte ich wieder zu ihm rüber. Seine Hand fand wieder meinen Kopf und fing wieder an, mich zu kraulen. Ich legte meine Hand aber nicht wieder auf seinen Bauch.

„Warum bist du so still?“ fragte er weiter.

Ich sagte nichts.

„Was geht gerade in diesem Köpfchen vor, hm?“ Dabei klopfte er zu jeder Silbe sanft auf meine Stirn.

„Ach“, begann ich ziemlich schlechtes Ausweichmanöver, „ich denke gerade nur ein wenig nach…“

„Lust, mich daran teilhaben zu lassen?“

Ich zögerte. Sollte ich es ihm sagen oder lieber nicht?

„Ich mache mir Sorgen, dass der Abend gestern und der Morgen hier und jetzt eine kurze Geschichte waren. Ich finde das alles zu schön, um es einfach so wieder enden zu lassen. Und ich möchte dich einfach gerne wieder sehen…“

Damit war es raus. Ich hatte quasi die Hosen runtergelassen. Was würde er jetzt machen? Aufstehen und gehen?

„Gib mir mal deine Hand“, antwortete er einfach.

Ich tat, wie mir befohlen.

Er nahm meine Hand und legte sie auf seinen Bauchnabel. „Da. Weitermachen.“ Ich fing wieder an, mit seinem Bauchnabel und den Härchen zu spielen. „Ich fand den Abend auch sehr schön. Und ich finde es auch gerade jetzt sehr schön. Ich will dich auch wieder sehen. Und vor allem möchte ich eines…“

„Und zwar?“

„Uns Zeit lassen und sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Okay?“

„Okay!“ Ich konnte wieder lächeln, denn mehr wollte ich auch nicht.

Fürs erste.

Wir schwiegen wieder eine Weile. Schließlich drehte ich meinen Kopf in seine Richtung und fragte ihn: „Was hast du eigentlich noch vor heute?“

Er drehte seinen Kopf so, dass wir uns anschauen konnten. „Eigentlich wollte ich an einer Hausarbeit weiterarbeiten.“

„Und uneigentlich?“

„Keine Ahnung. Mach mir ein Gegenangebot.“

Ich dachte kurz nach. „Wir könnten erstmal ausgiebig frühstücken. Ich gehe frische Brötchen holen, während du im Bad bist. Dann gehen wir kurz einkaufen für heute Abend und dann könnte ich mein preisgekröntes „Pasta napolitana“-Rezept kochen aus frischen Tomaten und frischem Basilikum. Dazu könnten wir noch einen gekühlten Rosé trinken und hinterher ein Dessert verspeisen, nach dem du dir alle zehn Finger leckst. Danach könnten wir einen Film oder zwei auf DVD sehen.“

Er schien nachzudenken. Dann grinste er und sagte: „Wenn du Kaffee im Hause hast, bin ich dabei.“

Wie ein geölter Blitz raste ich in die Küche und schmiss die Kaffeemaschine an.


Das Frühstück verlief ohne weitere erwähnenswerte Zwischenfälle. Ich war nur froh, dass ich einen gut gefüllten Kühlschrank hatte – eine der wenigen Lektionen, die ich freiwillig von meinem Vater gelernt hatte. Er legte immer großen Wert darauf, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Es konnte doch nicht angehen, dass ein unerwarteter Gast vor der Tür stand und man ihn nicht „standesgemäß“ (das war immer sein Ausdruck gewesen – was auch immer er damit meinte) bewirten zu können. Daher rührte wohl meine Vorliebe für gute Weine. Und wenn ich „gut“ sage, meine ich „teuer“.

Nach dem Frühstück ging Matthias kurz nach Hause, um frische Wäsche zu holen, denn abends würde er ja wieder hier bei mir schlafen.

Wovon ich leider gar nichts verstand, war das Thema „Inneneinrichtung“. In meinem Wohnzimmer hing kein Bild an der Wand und eine einfache Lampe sorgte für Licht. Als Matthias und ich spätnachmittags einkaufen waren, deutete er an, dass er mein Wohnzimmer etwas kalt und nackt fand. Ich staunte, denn ich hatte darauf noch nie so richtig geachtet.

„Was würdest du denn ändern?“ fragte ich verwundert.

„Lass mich mal drüber nachdenken“, antwortete er und kniff dabei die Augen zusammen.

Während er stillschweigend weiter grübelte, kümmerte ich mich um meinen Einkauf – immerhin musste ich meine Pasta napolitana kochen. Ich wog die Tomaten ab, wählte sorgsam die Gewürze aus (frische!), während Matthias vom einen Ende des Supermarktes zum anderen rannte.

Als ich fertig war, fragte ich ihn: „Ich habe jetzt alles. Und du? Willst du noch weiter hier rumlaufen?“

„Ja, will ich“, antwortete er sehr bestimmt. „Geh schon mal vor, ich komme in einer halben Stunde nach.“

Ich zuckte mit den Schultern und ging zur Kasse. Inzwischen war es wieder dunkel geworden. Viel hatte ich nicht vom heutigen Tageslicht gehabt. Dafür umso mehr von Matthias… Zuhause angekommen packte ich die Einkäufe aus und nutzte die Gelegenheit und räumte noch ein wenig auf. Was hatte der bloß vor?

Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür. Ich machte auf und ließ Matthias rein, der mich mit einem konspirativen Grinsen im Gesicht begrüßte und mir einen Kuss auf die Wange gab. Mmh, so möchte ich öfters begrüßt werden…

Er hatte eine Einkaufstüte dabei, die aber keine Rückschlüsse auf den Inhalt zuließ. Außerdem musste ich feststellen, dass er sie verteidigte wie eine Bärin ihr Junges, als ich (erfolglos) versuchte, einen Blick rein zu werfen.

Ich schmollte. Matthias lachte, gab mir einen Klaps auf den Hintern und sagte: „Nur keine Ungeduld! Du erfährst schon noch, was da drin ist!“

Also ging ich in die Küche und machte uns erstmal einen heißen Kakao. Matthias kam hinterher und fragte: „Wie lange brauchst du denn fürs Kochen?“

„Zum Schneiden der Tomaten und Gewürze brauche ich eine knappe Viertelstunde. Die Nudeln brauchen auch nochmal 8 Minuten, bis sie al dente sind, also gib mir eine halbe Stunde.“

„Ist genehmigt“, erwiderte er, „aber du darfst in der Zeit nicht die Küche verlassen, okay? Wenn du raus willst, musst du vorher klopfen.“

„Das wird ja immer schöner! Erst schmuggelst du wer-weiß-was hier rein und nun werde ich auch noch in meiner eigenen Küche gefangen gehalten!“

„Ganz recht“, antwortete Matthias schnippisch und verschwand grinsend mit seinem Kakao im Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ich zuckte mit den Schultern und machte mich an die Arbeit. Während ich die Tomaten und das Basilikum wusch, dachte ich über den Tag nach. Matthias hatte es tatsächlich geschafft, mich soweit abzulenken, dass ich noch nicht einmal an die Lutherbibel gedacht hatte. Dieses war tatsächlich das erste Mal, dass sich die Ereignisse der letzten Tage in mein Bewusstsein drängten.

Aber das Erstaunliche daran war, dass es mir nichts ausmachte! Es war mir zum ersten Mal egal, was aus der Geschichte werden würde, denn ich wusste, dass Matthias da war, gleich mit mir essen würde und gerade irgendwas im Wohnzimmer plante.

Kurz: heute war ein richtig schöner Tag, und es würde ein richtig schöner Abend werden.

Ich summte vor mich hin, während ich konnte.

Ziemlich genau eine halbe Stunde später goss ich die Nudeln ab und rief: „Essen ist fertig!“

„OK!“ kam es dumpf durch die geschlossene Tür.

Ich verteilte die Nudeln auf zwei Teller, während hinter mir die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.

„Mmh! Riecht lecker“, meinte Matthias.

„Danke. Darf ich jetzt wieder in mein Wohnzimmer?“

„Darfst du. Aber lass die Teller besser erstmal hier stehen. Ich will nicht, dass du die gleich vor Schreck fallen lässt.“

„Aha…“

Ich ging zur Tür und Matthias blieb direkt hinter mir. Als ich öffnete, legte er mir von hinten seine Hände auf die Augen. Vorsichtig tastete ich mich vorwärts. Nach ein paar Schritten flüsterte er mir ins Ohr: „Bereit?“

„Jepp!“

Er nahm seine Hände weg, und mich traf der Schlag. In meinem Wohnzimmer brannten Dutzende Kerzen, die ein angenehmes Licht ausstrahlten. Auf dem Esstisch, dem Wohnzimmertisch, dem Fernseher, auf den Schränken, überall! Dazu hatte er so ein Duftding aufgestellt, wo man oben Wasser reinschüttet und ein paar Tropfen Duftöl, und das verströmte einen weihnachtlichen Geruch. Sogar einen Adventskranz hatte er besorgt.

Matthias, der immer noch hinter mir stand, griff in seine Hosentasche und brachte die Fernbedienung für meine Anlage zum Vorschein. Er drückte auf Play und ein Orchester begann leise, „Es ist ein Ros’ entsprungen“ zu spielen.

Es war perfekt.

„Es ist perfekt“, sagte ich leise und bekam feuchte Augen.

Matthias legte von hinten seine Arme um meine Hüfte und zog mich an ihn heran. „Das ist vom Weihnachtsmann. Ich habe auf meiner Liste nachgeschaut und gesehen, dass du artig warst. Du hast die Bibel nicht geklaut“, flüsterte er in mein Ohr.

Ich drehte ihm meinen Kopf zu. „Danke.“

Wir küssten uns.

In dem Moment blubberte etwas in der Küche. „Meine Napolitana!“ rief ich, befreite mich aus seinen Armen und machte mich daran, unser Abendessen zu retten.


Es war ein traumhaftes Candlelight-Dinner. Matthias, die Kerzen, Matthias, die Musik, Matthias, das Essen (bei aller Bescheidenheit) und Matthias – alles war einfach perfekt. Und so romantisch! Wenn ich solche Szenen im Fernsehen sah, hielt ich das für übertrieben und kitschig. Aber an diesem Abend, in meiner Wohnung, an meinem Esstisch verstand ich, was die Magie eines romantischen Essens zu zweit ausmachte: Die Elektrizität, die den Raum füllt, der Mensch, mit dem man das alles teilt, der einem viel bedeutet und der einem das Gefühl gibt, ihm auch viel zu bedeuten… Ich wünschte, es würde nie aufhören.

Doch irgendwann waren wir satt und räumten den Tisch ab. In der Küche stapelten wir einfach alles in der Spüle, denn keiner von uns beiden hatte wirklich Lust, jetzt noch den Abwasch zu machen.

Kurz darauf saßen wir aneinander gekuschelt auf meiner Couch und schauten den Film „Moulin Rouge“. Bei irgendeiner Szene, in der es um die „körperliche Vereinigung eines Mannes und einer Frau“ ging, fragte Matthias beiläufig: „Sag mal, auch wenn du noch keinen Freund hattest… wie steht’s denn dann um dein Sexleben?“

Ich musste lachen. „Dem geht’s gut, danke! Ich komme zwar vom Lande, habe aber nie behauptet, die Unschuld vom Lande zu sein.“

Matthias lachte auch. „Und wie machst du das dann?“

„Na, rate mal.“

„Hm.“ Er überlegte. Dann nahm er meine rechte Hand und betrachtete sie eingehend.

„Schwielen hast du jedenfalls keine…“

Ich dachte, ich höre nicht richtig! Na warte!!! Ich grinste und schaute ihm tief in die Augen und sagte: „Erstens bin ich Linkshänder aber auch an dieser Hand wirst du keine Schwielen finden. Zweitens habe auch ich meine Geheimnisse, und drittens, mein lieber Matthias, erinnere ich mich daran, dass wir einen extrem kitzeligen Klassenkameraden hatten.“

Bei dem Wort „kitzelig“ quiekte Matthias erschrocken, sprang auf und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Ich sprang ebenfalls auf und rannte ihm hinterher. Im Schlafzimmer schließlich erwischte ich ihn und kitzelte ihn von oben bis unten durch. So landeten wir auf meinem Bett und rangelten weiter, bis Matthias, der etwas stärker war als ich, irgendwann auf mir saß und meine Arme festhielt. Der Ärmste sah völlig fertig aus.

„Frieden?“ japste er.

„Frieden.“

Er sackte über mir zusammen, ließ meine Arme los und legte seinen Kopf auf meine Schulter.

„Mach…das…nie…wieder…ok?“ Er war immer noch völlig außer Atem.

Wir lagen eine Weile so da und ich fing an, seinen Kopf zu streicheln. Im Wohnzimmer fingen eben Ewan McGregor und Nicole Kidman an, „Come What May“ zu singen, als mir bewusst wurde, dass unsere Lendengegenden gerade gefährlich nahe aneinander lagen. Als direkte Reaktion darauf schoss mir auch sofort sämtliches Blut genau dorthin. Ich hoffte inständig, dass Matthias das nicht bemerken würde – ich wusste ja nicht, wie er darauf reagieren würde…

Aber es half nix. „Oh-oh…“, sagte er und setzte sich wieder auf, stützte sich auf seine Hände, schaute auf mich herab und grinste: „Hast du da ein Kaninchen in der Hose oder freust du dich so, mich zu sehen?“

Ich wurde knallrot und biss mir auf die Lippe. Was sollte ich denn jetzt darauf bloß Intelligentes antworten?!

Anstatt auf eine Antwort zu warten, rutschte Matthias ein Stückchen weiter nach unten, was zur Folge hatte, dass ich erstens wegen der plötzlichen Reibung unserer Hosen im Lendenbereich scharf die Luft einzog und zweitens bemerkte, dass es ihm genau so ging.

Etwas überrascht schaute ich zu ihm herauf. Matthias hatte einen Gesichtsausdruck, wie ich ihn noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Aber ich wusste sofort, dass es dafür nur einen richtigen Namen gab: Schlafzimmerblick. Mir wurde schlagartig klar, dass wir beide mehr wollten. Viel mehr, und wir wollten es hier und jetzt.

Worte waren ab jetzt überflüssig, wir kommunizierten nur noch über unsere Sinne. Langsam beugte er sich zu mir runter und küsste mich auf die Lippen, erst sanft, dann etwas fordernder, als ich merkte, dass seine Zunge in meinen Mund wollte und seine Hände unter meinen Pullover.

Come what may.

Komme, was wolle.

Und es kam.

Montag, 9. Dezember 2002

„Verehrte Fluggäste, Lufthansa-Flug 491 von Frankfurt nach New York John F. Kennedy ist nun bereit zum Einsteigen. Wir bitten zunächst die Passagiere der 1. Klasse zum Ausgang A12 zu kommen…“

Halb drei Uhr nachmittags. In einer halben Stunde ging mein Flug nach New York zu Mama. Heute Morgen hat mich Matthias noch zum Flughafen Tegel begleitet, obwohl er eigentlich eine Vorlesung gehabt hätte. Wenn der so weiter macht, wird der nie mit dem Studium fertig.

Aber ich fand’s toll, dass er mich begleitet hat. Wir hatten vorher noch zusammen gefrühstückt, dann machte er den Abwasch, während ich packte. Auch wenn der Abschied etwas unangenehm war, hatte ich immer noch dieses Kribbeln im Bauch, wenn ich an ihn dachte. Und irgendwo ganz tief in mir drin spürte ich, dass wir uns demnächst öfter sehen und noch mehr Zeit miteinander verbringen würden.

Ich freute mich darauf. Denn eines hatte ich am Samstag mit Matthias Hilfe gelernt: Sex mit Gefühlen ist unendlich viel besser als Sex.

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

Ich stand im Terminal A vom Frankfurter Flughafen vor dem großen Panoramafenster, das den Blick auf das Rollfeld und die Boeing 747 freigab, die uns nach New York bringen sollte. Rechts neben mir bildete sich eine kleine Schlange aus reichen Geschäftsleuten und Rentnern, die ein Ticket für die 1. Klasse hatten. Ich schaute auf meine Bordkarte: KOERNER, MARIUS MR. Economy. Seat 43 C. Nicht mal Business Class. Aber immerhin ein Gangplatz.

Ich schaute wieder auf das Rollfeld. Der Schnee war inzwischen komplett geschmolzen und hatte überall schmutzige Pfützen gebildet. Die letzten Koffer wurden zur Maschine gebracht und verstaut.

Was wollten die in New York bloß von mir?!

„Verehrte Fluggäste, wir bitten nun alle Passagiere der Reihen 33 bis 50 zum Ausgang A12…“

Nun, ich würde es bald wissen.


Gegen 17 Uhr Ortszeit betrat ich amerikanischen Boden. Nicht zum ersten Mal, denn ich war schon früher zweimal dienstlich hier gewesen. Dieses Mal war ich allerdings zum ersten Mal alleine hier. Aber es ist jedes Mal wieder ein faszinierender Moment. Eben war man noch im kalten, grauen und dunklen Frankfurter Wetter, jetzt war man im kalten, grauen und dunklen New Yorker Wetter. Der Unterschied lag an der anderen Luft (New York liegt immerhin direkt am Atlantik!) und den anderen Häusern, den anderen Autos…

Ich nahm den Shuttlebus direkt vom Flughafen nach Manhattan rein und stand eine Stunde später an der Pennsylvania Station. Eigentlich hätte die Fahrt nur eine halbe Stunde dauern sollen, aber die Rushhour in New York ist gnadenlos.

Ich winkte nach einem Taxi und ließ mich ins Lexington Hotel bringen, unser Stammhotel an der Ecke Lexington Avenue/48th Street. Nachdem ich eingecheckt hatte, beschloss ich, noch etwas zu essen. Ich war zwar hundemüde, denn immerhin war es in Deutschland sechs Stunden später, also schon nach Mitternacht und im Flieger hatte ich auch nicht geschlafen. Aber ich musste mich wach halten. Wenn ich jetzt ins Bett ginge, wäre ich spätestens um ein Uhr Ortszeit aufgewacht. Und darauf hatte ich überhaupt keinen Bock.

Also trat ich aus dem Hotel und tauchte ein in den vorweihnachtlichen New Yorker Feierabend. Ich ging nach Westen, immer die 48. Straße entlang, bis ich irgendwann auf das Rockefeller Center traf. Dort stand der größte Weihnachtsbaum Amerikas, während die Menschen eine Etage tiefer Schlittschuhe laufen konnten. Ich zückte meine Digicam und machte ein paar Aufnahmen.

In diesem Moment durchzog ein Stechen meine Brust. Ich vermisste Matthias. Wie gerne hätte ich mir das alles mit ihm zusammen angeschaut. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und schaltete es ein. Es fing an, ein Netz zu suchen und tatsächlich: nach ein paar Sekunden war ich eingeloggt bei AT&T mobile.

Egal, was es kosten würde und egal, dass es schon fast ein Uhr morgens in Berlin war – ich musste ihn einfach anrufen. Ich drückte drei Sekunden lang auf die Taste 2, wo ich seine Handynummer als Kurzwahl abgespeichert hatte.

Es tutete einmal.

„Hallo?“

„Hi, ich bin’s, Marius.“

„Marius! Hi! Bist du gut angekommen?“

„Ja, alles bestens. Habe ich dich geweckt?“

Er zögerte kurz. „Nein. Ich war noch wach und…habe auf deinen Anruf gewartet…“

Wie lieb von ihm!

„Wo bist du gerade?“ fragte er weiter.

„Ich stehe gerade vor dem größten Weihnachtsbaum der USA draußen am Rockefeller Center und wünschte mir, du würdest neben mir stehen…“

„Das wünschte ich mir auch“, seufzte er, „aber das hätte mein Budget gesprengt. Denk dran, ich bin ein armer Student!“

„Ich weiß. Außerdem hätten wir so schnell wahrscheinlich eh keinen Flug für dich gefunden…“

Wir schwiegen beide.

„Ich vermisse dich“, flüsterte ich nach ein paar Sekunden.

„Ich vermisse dich auch“, flüsterte er zurück. „Aber Kopf hoch. Mittwoch früh bist du ja wieder in Berlin. Dann hole ich dich in Tegel ab.“

„Verpasst du dann wieder eine Vorlesung?“

Er lachte. „Das lass mal meine Sorge sein!“

Wieder schwiegen wir kurz. Dann sagte er leise: „Lass es uns mal nicht zu teuer machen, ja?“

„Okay…“ Ich wollte noch nicht auflegen.

„Also bis Mittwoch.“

„Bis Mittwoch… und gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

Tut-tut-tut-tut-tut-tut…

Ich brauchte jetzt ganz dringend einen Kaffee.

Dienstag, 10. Dezember 2002

Ich schaffte es noch, mich bis 22 Uhr auf den Beinen zu halten, nachdem ich irgendwo was gegessen hatte. Mit einem europäischen Kaffee hätte ich es vielleicht sogar bis 23 Uhr geschafft aber mit dem Brackwasser, welches man in diesem Land so leichtfertig als „coffee“ bezeichnet, war mehr beim besten Willen nicht drin. Ich schleppte mich zurück ins Hotel und fiel halbtot ins Bett.

Um sechs Uhr war ich wieder auf den Beinen. Ich duschte ausgiebig und ging um sieben Uhr zum Frühstücken. Meinen Termin bei R&G hatte ich um 9 Uhr. Ich hatte also über eine Stunde Zeit für mein „American breakfast“, was auf deutsch Toast, Orangensaft, Brackwasser bis zum Abwinken, „pancakes“ mit Ahornsirup, „scrambled eggs“ (Rührei), gebratener Speck und gegrillte Würstchen bedeutete. Es war das beste Frühstück meines Lebens. Gleichzeitig war ich froh, dass ich nur einmal in New York frühstücken würde, denn sonst müsste ich den Rückflug im Frachtraum miterleben. In den Sitz in der Holzklasse hätte ich nämlich nicht mehr reingepasst.

Um halb neun stand ich in Anzug, Mantel und mit meiner Aktentasche an der Lexington Avenue und suchte ein Taxi. Das Empire State Building lag zwar nur einen Block westlich, aber dafür 14 Blocks südlich von meinem Hotel. Kurz: zu weit zum Laufen.

Als ich endlich ein Taxi sah, winkte ich es heran. Es hielt, ich stieg hinten ein und nannte dem Fahrer mein Ziel: „Empire State Building, please.“

Er musterte mich im Rückspiegel und fragte: „Tourist or business entrance?“

„Business entrance.“ Welch eine Frage!

Fünfzehn Minuten später stand ich im Foyer des Empire State Buildings. Am Empfang fragte mich eine Dame höflich: „May I help you, sir?“

„Yes, I have an appointment with Robertson & Goldblum at 9 o’clock.”

“What is your name, please?”

„Marius Körner. “

Sie telefonierte kurz mit R&G („Mr. Corner is here for you.“) und schickte mich dann zu einem Fahrstuhl, der mich automatisch in den 63. Stock fuhr. Dort wurde ich von der nächsten Dame in Empfang genommen.

„Mr. Corner“, sprach auch sie meinen Namen falsch aus und reichte mir die Hand, „welcome to New York City. My name is Beverly. Mr. Müller is expecting you, would you please follow me?“

Sie führte mich durch einen langen Korridor an etlichen Büros vorbei, bis wir vor einer verschlossenen Tür hielten. Sie klopfte an und wartete das „Come in!“ ab. Dann öffnete sie.

Vor mir an seinem Schreibtisch saß ein Mann um die 40, der ziemlich humorlos aussah. Er stand auf und begrüßte mich.

„Herr Körner.“ Endlich mal jemand, der meinen Namen richtig aussprach. „Der Mann, der die Lutherbibel verloren hat.“ Das wiederum hätte er sich sparen können. „Möchten Sie etwas trinken?“

Ich verneinte.

„Just some coffee for me, please, Bev.“ Bev nickte und ging. “Setzen Sie sich”, fuhr er fort und deutete auf einen Stuhl an seinem Schreibtisch. Ich nahm Platz, während Müller wieder auf seine Seite des Schreibtisches zurückging und sich ebenfalls setzte.

Es wurde unangenehm still im Büro, denn er sagte erst einmal nichts, sondern schaute mich nur einfach nur an, als wollte er meine Gedanken lesen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also fragte ich ihn: „Nun, warum haben Sie mich hierher zitiert, Herr Müller?“

„Wegen der Lutherbibel natürlich, was dachten Sie denn?“ antwortete er ruhig.

„Das war mir schon klar, dass es um die Bibel gehen würde. Aber dafür hätte ich doch nicht persönlich kommen müssen, oder? Ich hätte Ihnen den Polizeibericht oder meine Aussage auch faxen oder mailen können.“

„Den Bericht haben wir schon“, sagte Müller, nahm einen Stapel Papier und reichte ihn mir. Ich warf einen kurzen Blick drauf: Die Zeugenaussagen von Eier-Meier und mir, der Bericht des Polizisten, der den Geheimgang gefunden hat, Analysen des Schlammes und der Lackspuren.

Müller fragte: „Da steht interessanterweise drin, dass Sie dem LKA Schlammspuren geschickt haben, welche zu 99,985% identisch sind mit dem in der Parkbucht bei der Wartburg. Wie sind Sie denn daran gekommen?“

Ich erzählte ihm von meiner Ankunft in Berlin und dem Dreck an Bernds Auto.

„Aha“, meinte Müller nachdenklich. „Und davon haben Sie eine Probe genommen, aber als der Herr Schulze auf einmal in der Tiefgarage auftauchte, mussten Sie Ihren eigenen Wagen zerkratzen.“

Ich bekam tellergroße Augen. Woher wusste er das denn?!

Müller interpretierte meinen Blick richtig und sagte: „Kommen Sie mal rüber und schauen Sie sich das hier an.“

Ich stand auf und stellte mich hinter ihn, so dass ich auf seinen Computerbildschirm schauen kann. Dort war gerade ein Standbild einer Videokamera zu sehen und nach ein paar Sekunden der Orientierung erkannte ich Bernds Wagen an seinem Nummernschild, rechts daneben einen freien Parkplatz – meinen Parkplatz. Ein Überwachungsvideo aus der Tiefgarage in Berlin!

Und die Kamera hing anscheinend genau so, dass sie in die Lücke zwischen unseren Autos blicken konnte.

Müller klickte auf „Play“. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts, dann erschien auf einmal der Lichtkegel eines Autos, dann sah man einen Golf in die Parklücke einparken. Meinen Golf. Mich. Wieder nach ein paar Sekunden sah man mich aussteigen und abschließen und gerade als ich gehen wollte, konnte man sehen, wie ich stehen blieb, stutzte, mir Bernds hintere Autotür anschaute und zwischen den Autos niederkniete. Wie ich das Taschentuch aus der Aktentasche holte und an seinem Auto rumfummelte. Wieder aufstand.

„He! Was machen Sie da an meinem Auto?!“ konnte man auf einmal eine verzerrte Stimme hören.

Eine Schrecksekunde später sah man mich meinen Schüssel aus der Jackentasche fummeln, kurz zögern und dann mein Auto zerkratzen. Es tat mir immer noch weh. Sogar hier, 6000 Kilometer von meinem geliebten Golf entfernt. Und es erinnerte mich daran, dass ich noch die Kratzer überlackieren lassen musste.

Dann tauchte Bernd im Blickfeld der Kamera auf. Der darauf folgende Dialog war wie ein einziges langes Déjà-vu.

„…irgendein Penner hat mir mit dem Schlüssel die Fahrertür zerkratzt, siehst du? Das muss in Eisenach passiert sein. Schöne Scheiße, das. Und da habe ich gesehen, dass du auch ein neues Andenken im Lack hast“, hörte ich meine Stimme, etwas metallisch und verzerrt.

Dann hörte man Bernd, ebenfalls metallischer als in natura: „Tja, wie Kinder halt so sind. Wir waren zusammen im Zirkus, und der Parkplatz war völlig matschig, wie du ja siehst. Die Wiese hatte so große Abgrenzsteine und als Tommi einsteigen wollte – peng.“

„Kinder!“ Das war wieder ich auf dem Video.

Dann sah man Bernd, wie er an sein Auto ging und ein paar Zettel rausholte. „Lass uns hochgehen, Homer wartet schon auf deinen Bericht. Und ich übrigens auch.“

Dann sah man uns beide aus dem Bild verschwinden. Müller klickte auf „Stop“.

Ich ging auf meinen Platz zurück.

„Wer ist Homer?“ fragte Müller.

„Mr. Simpson“, antwortete ich verlegen. „Jeder im Hause nennt ihn so, wenn er es nicht mitbekommt…“

„Dacht’ ich’s mir“, grinste Müller. Aha, er hatte also doch Humor. „Wissen Sie, Herr Körner, mich haben sie damals immer SM genannt, als ich noch der Leiter in Berlin war.“ Er deutete auf sein Namensschild auf dem Schreibtisch. „Stephan Müller – Coordinator Europe“ stand da drauf. „Eine etwas zweifelhafte Ehre, wenn Sie mich fragen. Aber was will man machen.“

Das war ja alles schön und gut, aber für einen Kaffeeklatsch bin ich nicht nach New York gekommen.

„Aber warum musste ich jetzt herkommen?“

„Weil irgendjemand versucht, diese Geschichte mit der Lutherbibel Ihnen in die Schuhe zu schieben.“

„Bitte was?!“

Müller nahm einen weiteren Stapel Papiere und reichte ihn mir. „Schauen Sie sich das mal an.“

Ich schaute mir den obersten Zettel an. Es war offensichtlich der Ausdruck einer Mail.

--------------------------------------------------------------------

from: robinhood@netmail.com

to: godfather65@netmail.com

date: 05.12.02 12:49:21

subject: buch

godfather,

habe das buch der bücher. bitte um teil eins wie besprochen.

weitere anweisungen?

mk

--------------------------------------------------------------------

Etwas kryptisch, diese Mail. Ich schaute mir den zweiten Zettel an.

--------------------------------------------------------------------

from: robinhood@netmail.com

to: godfather65@netmail.com

date: 09.12.02 10:35:54

subject: RE:RE:buch

godfather,

teil eins angekommen. köder freitag ausgelegt. treffen?

mk

--------------------------------------------------------------------

In diesem Stil ging das noch ein paar Mal so weiter. Ich schaute Müller an. „Da versucht wohl jemand, der eine Bibel hat, sie zu verkaufen. Aber ich habe keine Ahnung, was ‚Teil eins’ oder ‚Köder’ bedeuten soll beziehungsweise, was das alles mit mir zu tun hat.“

Müller reichte mir schweigend ein weiteres Dokument.

--------------------------------------------------------------------

Mail-Traceback

authorization ok

authorization by jsimpson@rgeurope.com

--- beginning of original email ---

from: robinhood@netmail.com

to: godfather65@netmail.com

date: 09.12.02 10:35:54

subject: RE:RE:buch

godfather,

teil eins angekommen. köder freitag ausgelegt. treffen?

mk

--- end of original email ---

traceback successful

traceback date 09.12.02 10:36:12

!!! private information !!! for internal use only !!!

message-Id: 169458326490@netmail.com

page-ID: http://www.netmail.com

server-ID: out.rgeurope.com

login-ID: mkoerner@rgeurope.com

login at 10:32:17

logoff at 10:36:09

login time: 00:03:52

--------------------------------------------------------------------

Ach du Kacke. Die Login-ID war verräterisch. Jemand hatte sich an meinem Computer in meinem Büro angemeldet mit meinem Passwort und von der Seite netmail.com aus diese Mails verschickt!

Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

Ich starrte erschrocken Müller an. „Ich - ich war das nicht! Ich habe diese Mails nicht geschrieben! Sie müssen mir das glauben!“

„Ganz ruhig, Herr Körner, ich glaube Ihnen ja“, beschwichtigte Müller meine aufsteigende Panik.

„Ja?“ fragte ich unsicher.

„Ja. Schauen Sie sich mal das Datum der Mails an.“

Die erste Mail war datiert auf den 05. Dezember 2002 um 12:49 Uhr. Ich rechnete kurz zurück. Das war Donnerstag, der Tag, an dem die Bibel geklaut wurde! Und um 12:49 Uhr saß ich im Polizeirevier von Eisenach und gab meine Aussage zu Protokoll!

Ich blätterte hastig wieder um. Die zweite Mail war von gestern Vormittag 10:35 Uhr. Das war 20 Minuten vor meinem Abflug nach Frankfurt! Da stand ich in der Schlange vor dem Gate in Tegel und wartete darauf, endlich ins Flugzeug steigen zu können.

„Ich weiß, dass Sie ein wasserdichtes Alibi für diese Zeitpunkte haben. Wir haben Ihre gesamten Onlineaktivitäten überprüft. Da ist nichts dabei, was Ihnen zur Last gelegt werden könnte. Nicht ein einziges Mal waren Sie auf einer privaten E-Mail-Seite oder so. Wenn Sie online waren, haben Sie Seiten von unseren Kunden aufgerufen, sonst nichts!“ Ich machte innerlich drei Kreuze für meine Arbeitseinstellung – meine Einsiedelei zahlte sich in diesem Moment zum ersten und einzigen Mal aus. „Diese E-Mails an den ‚Paten’ gingen aber immer nur dann von Ihrem Computer raus, wenn Sie nicht im Hause waren.“

„Aber wer hat sie dann geschrieben?“

Müller schnaubte. „Ihr Kollege mit dem dreckigen Auto.“

Bernd!!! Ich wusste es!!! In mir stieg wieder eine Wut auf dieses Rindvieh auf.

„Allerdings können wir es nur halbwegs beweisen.“

„Wie - halbwegs?“

„Mr. Simpson ist der einzige, der in Berlin von dieser E-Mail-Rückverfolgung wusste. Wir mussten das natürlich geheim halten, sonst hätte Schulze es mitbekommen. Und jedes Mal, wenn sich jemand an Ihrem Computer einloggte, ging Mr. Simpson in den Flur, wo Ihr Büro und das von Schulze liegen und kopierte irgendetwas auf dem Kopierer dort. So konnte er einen Blick drauf haben, wer Ihr Büro verließ.“

„Und das war Bernd“, beendete ich seinen Gedankengang.

„Genau.“

„Aber wieso ist das nur ein halber Beweis?“

„Weil wir keine Aufzeichnungen davon haben. Wir können nicht einfach unsere Mitarbeiter filmen, das hätte durch den Betriebsrat gemusst. Damit hätten alle davon erfahren und Schulze hätte sich eine andere Möglichkeit gesucht. Daher steht Aussage gegen Aussage und das heißt in dubio pro reo, im Zweifelsfalle für den Angeklagten, wie Sie ja sicher wissen.“

„Bleibt die Frage, wie er an mein Passwort kommt.“

„Das kann ich Ihnen auch nicht beantworten. Hat er Ihnen vielleicht mal über die Schulter geschaut, als Sie sich eingeloggt haben? Oder haben Sie vielleicht Ihr Geburtsdatum oder Nummernschild als Passwort?“

Schei…benkleister. So wie ich sein Nummernschild kannte, kannte Bernd wahrscheinlich auch meins. Und damit auch mein Passwort. Verdammt!

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Wann fliegen Sie wieder zurück nach Berlin?“ fragte Müller.

„Heute Abend um 21 Uhr.“

„Okay. Ich schicke einen Bericht mit diesen Ausdrucken und unseren Erkenntnissen an das zuständige LKA in Thüringen, damit Sie erstmal aus dem Schneider sind. Was die dann damit machen und wie die dann weiter vorgehen, weiß ich nicht.“

Ich atmete auf, denn auf einmal wusste ich, dass ich wieder rauskommen würde aus diesem Schlamassel.

Müller fuhr fort: „Mein Ratschlag an Sie: Genießen Sie diesen Tag noch in New York. Fahren Sie rauf auf die Aussichtsplattform hier vom Empire State Building und schauen Sie sich die Skyline von New York an. Bis vor einem Jahr hatten wir hier noch einen tollen Ausblick auf das World Trade Center… Jedenfalls genießen Sie Ihren Aufenthalt. Denn Stress werden Sie zurück in Deutschland noch genug haben.“

Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich erhob mich ebenfalls.

„Kommen Sie gut nach Hause“, sagte Müller zum Abschied.

„Danke für alles“, erwiderte ich.

„Nicht dafür. Ich hoffe bloß, dass die Polizei die Bibel noch rechtzeitig finden kann.“

Er brachte mich zum Empfang, wo Bev mir anbot, zur Aussichtsplattform zu fahren, denn für Mieter des Empire State Buildings sei das kostenlos. Ich nahm dankend an. Den Ausblick wollte ich mir jetzt nicht entgehen lassen. Zum Glück hatte ich meine Kamera eingesteckt.

Oben angekommen fegte mir ein kalter Wind um die Ohren. Kein Wunder, ich war ja immerhin in knapp 400 m Höhe. Aber der Anblick war atemberaubend. Das Wetter spielte heute mit, denn der Himmel war blau, keine Wolke in Sicht und eine kalte Wintersonne schien hell auf die Stadt herab.

Ich lief einmal um die Aufsichtsplattform. Im Südosten sah man die Skyline von Downtown Manhattan, wo bis vor kurzem noch zwei etwa gleichgroße Türme standen. Etwas weiter westlich konnte ich in der Bucht Ellis Island, die Einwandererinsel, und Liberty Island, die Insel mit der Freiheitsstatue, erkennen. Ich ging weiter rum. Im Nordosten breitete sich weit, groß und dunkel der Central Park aus, und fast im Osten stand das Chrysler Building mit seinem eigentümlichen Dach.

Es war beeindruckend. Der Lärm der Straßen drang nur ganz leise und entfernt auf die Plattform hinauf. Die Autos waren winzig und die Menschen auf den Bürgersteigen waren kaum noch zu erkennen. Aber am faszinierendsten war, dass alles bebaut war, soweit das Auge blicken konnte. Die Bronx im Norden, Queens im Osten, Brooklyn im Süden und Newark im Westen; mit Ausnahme des Central Parks schien alles eine einzige Stadt, nein, Metropole zu sein. Es war, als ob die gesamte Erde eine einzige Stadt war: New York.

Für ein paar Minuten, in denen ich die Aussicht genoss, verdrängte ich erfolgreich den Ärger und den Stress, der mir noch bevorstand. Ich machte etliche Fotos und dachte dabei an Matthias. Ich musste hier einfach nochmal hin aber dann nur mit ihm.

Wieder spürte ich dieses Stechen in der Brust.

Es wurde Zeit, New York zu verlassen und zurück nach Berlin zu fliegen.

Mittwoch, 11. Dezember 2002

Ein heftiges Wackeln ließ mich aus meinem Schlaf hochschrecken. Die Maschine war wohl in Turbolenzen geraten. Fast sofort danach ging das Anschnallsignal mit einem sanften „Bing!“ über den Sitzen an, gefolgt vom mehrfachen Klicken der Gurte der anderen Passagiere.

Ich nahm den Kopfhörer ab, mit dem ich das Bordprogramm gehört hatte, rieb mir die Augen und gähnte. Der Film war bereits zu Ende und die Beamer zeigten wieder die Karte an, auf der die Passagiere sehen konnten, wie weit wir schon geflogen waren. Ich stellte fest, dass wir uns bereits kurz hinter Schottland über der Nordsee befanden und schaute auf meine Uhr. Es war gerade fünf Uhr morgens in Frankfurt. Also noch knapp eineinhalb Stunden Flug.

In dem Moment meldete sich die Stimme des Piloten über Bordfunk. „Verehrte Fluggäste, hier spricht noch einmal der Pilot. Wie Sie bemerkt haben, sind wir in ein paar Turbolenzen geraten, denn über Nordwesteuropa befindet sich gerade eine ziemlich große Unwetterfront. Wir möchten Sie daher bitten, auf Ihren Sitzen zu bleiben und die Gurte geschlossen zu lassen. Außerdem hat uns der Tower in Frankfurt soeben darüber informiert, dass der Flughafen Frankfurt wegen eines plötzlichen Wintereinbruchs vorübergehend komplett geschlossen werden musste. Wir wurden daher nach München umgeleitet, wo wir in ca. 2 Stunden landen werden. Unser Bodenpersonal wird sich dann um Ihre Weiterreise kümmern. Wir danken für Ihr Verständnis.“

Ein Murren ging durch das Flugzeug. Umgeleitet nach München? Darauf hatte hier niemand Lust. In meinem Falle bedeutete das, dass ich nicht – wie geplant – um 12.45 Uhr in Berlin landen würde. Und dass ich nicht – wie geplant – dort Matthias wieder sehen würde.

Ich seufzte, setzte den Kopfhörer wieder auf und versuchte wieder einzuschlafen. Tja, liebe Lufthansa, dann sieh mal zu, wie du mich schnell nach Hause bekommst.


Es gibt nichts Schlimmeres, als nach einem wetterbedingt umgeleiteten Transatlantikflug völlig verschlafen mit 415 wetterbedingt umgeleiteten Passagieren auf seinen wetterbedingt umgeleiteten Koffer warten zu müssen. Zum Glück hatte die Lufthansa ein paar mobile Kaffeeeinheiten organisiert: Bodenpersonal, das uns mit kostenlosem Kaffee aus großen Thermoskannen versorgte. Nach den Erfahrungen mit dem amerikanischen Kaffee tat das richtig gut. Ich spürte, wie das Gebräu mir direkt ins Blut ging.

Nach einigen Minuten sah ich meinen Koffer und ging zum Lufthansa-Schalter, wo man sich um unsere Weiterreise kümmern sollte. Dabei zog sich die Wartezeit wieder in die Länge, weil manche Leute offensichtlich der Meinung waren, sich bei den Lufthansa-Angestellten über das schlechte Wetter beschweren zu müssen. Als ob es deren Fehler war.

Endlich war ich an der Reihe.

„Grüß Gott“, begrüßte mich die Dame mit einem bayrischen Akzent tapfer lächelnd.

„Mach ich, wenn ich ihn sehe“, erwiderte ich trocken und reichte ihr mein Ticket. Sie kicherte und tippte was in Ihren Computer.

„Okay, Herr Körner, wir können Sie umbuchen nach Berlin, da haben wir heute genügend Verbindungen. Allerdings wird das noch ein wenig dauern. Ich habe erst einen freien Platz in der Maschine um 16 Uhr…“

Och nööö…

„…aber dafür kann ich Ihnen einen Sitz in der Business Class anbieten. Wäre das in Ordnung für Sie?“

Und ob das in Ordnung wäre!


Nachdem ich mich in einer Flughafentoilette ein wenig frisch gemacht hatte, rief ich Matthias an.

Es tutete ein paar Mal, dann ging er ran.

„..mja…?“ nuschelte er verschlafen.

„Guten Morgen. Habe ich dich geweckt?“

„Mari?“ Jepp, ich hatte ihn geweckt.

„Genau. Sorry. Du, ich wollte nur kurz Bescheid sagen, dass ich in München bin, weil unser Flug wegen Unwetter umgeleitet wurde.“

„Oh. Alles in Ordnung?“

„Ja, nix passiert. Ich werde aber später in Berlin sein, erst so gegen 17 Uhr. Die haben mich umgebucht.“

„Um fünf erst?“ Langsam schien sein Gehirn an Fahrt aufzunehmen. Ich hätte ihn knuddeln können. „Schade… Aber okay, ich hole dich dann natürlich trotzdem ab.“

Wir hauchten uns zum Abschied einen Kuss durch das Telefon zu. Nach dem ich aufgelegt hatte, musste ich feststellen, dass ich bis über beide Ohren verliebt war.

Es war ein wunderbares Gefühl. Vor mich hinsummend und mit federnden Schritten ging ich zur S-Bahn.


Gegen halb zehn kam ich am Münchner Hauptbahnhof an. Sechs Stunden Aufenthalt ist eine dämliche Zeit, um irgendwo auf seinen Weiterflug zu warten. Es ist zu viel Zeit, um einfach am Flughafen zu bleiben und zu warten, und zu wenig Zeit, sich irgendetwas richtig anzuschauen.

Also lief ich ziellos durch München. Die Geschäfte öffneten gerade und so schaute ich mich überall in wenig um. Da mein Koffer schon eingecheckt war, musste ich meine Einkäufe auf ein Minimum reduzieren, um nicht mein Handgepäck zu sprengen. Ich beließ es daher bei einem Buch über Innendekoration. Mal schauen, ob ich Matthias mit ein paar Ideen zu meinem Wohnzimmer begeistern konnte…

Gegen Mittag meldete sich mein Magen und ich beschloss, einmal mehr Tourist zu sein und im Hofbräuhaus zu essen. Wie zu erwarten war, war der Laden voll mit weiteren Touristen, größtenteils Japaner und Chinesen, die alles und jeden fotografierten. Sogar die Kellnerinnen mussten für Fotos herhalten.

Ich fand einen kleinen Tisch etwas abseits und bestellte mir Weißwürste mit süßem Senf und eine Brezel. Nach dem Flugzeugfraß hatte ich jetzt einen Löwenappetit auf etwas Deftiges. Ich spielte sogar kurz mit dem Gedanken, auch eine Mass Bier zu bestellen, entschied mich aber doch dagegen. Ich wäre sofort besoffen gewesen und hätte wahrscheinlich meinen Business Class-Rückflug verpasst.

Inzwischen war es 13 Uhr geworden. Ich beschloss, zum Flughafen zurück zu kehren. Die Fahrt dorthin würde zwar nur eine knappe Dreiviertelstunde in Anspruch nehmen aber ich merkte, dass ich wieder müde wurde (dieses ganze Hin und Her zwischen New York und Deutschland mit den verschiedenen Zeitzonen hatte meinen Rhythmus verkorkst) und außerdem hatte ich keine Lust mehr, durch München zu laufen.

Gerade, als ich bezahlt hatte, sagte auf einmal jemand neben mir: „Mahlzeit, Herr Körner.“

Erschrocken fuhr ich herum. Lettner, flankiert von zwei Polizisten in Uniform! Was wollten die denn hier? Und vor allen Dingen, was wollten sie von mir?!

„M-Mahlzeit“, stotterte ich verwirrt.

„Ich möchte Sie bitten, uns zu begleiten. Und im allgemeinen Interesse wäre es toll, wenn Sie freiwillig mitkommen würden. Sie wollen doch sicherlich unseren Besuchern aus dem Ausland hier kein weiteres Fotomotiv bieten, oder?“

Uh-oh.

„Und warum soll ich mitkommen?“ fragte ich ängstlich.

„Sie sind vorläufig festgenommen wegen dringenden Verdachts auf schweren Raub, Hehlerei und damit einhergehendem Versicherungsbetrug und Kunstschmuggel.“ Er holte aus seiner Mantelinnentasche den Haftbefehl des Staatsanwaltes hervor und hielt ihn mir vor die Nase.

„Noch Fragen?“ Das Joviale war vollständig aus seiner Stimme verschwunden und einem schroffen Befehlston gewichen.

Ich schüttelte den Kopf, nahm meine Tasche und stand auf. Lettner ging voraus, ein Polizist vor mir, einer hinter mir. Im Hinausgehen merkte ich, dass es doch deutlich stiller geworden war in dem großen Saal und das, obwohl er fast voll war. Aus den verschiedensten Gründen wünschte ich mir in diesem Moment von ganzem Herzen, dass der Boden sich auftun und mich verschlucken möge.


Zur Vernehmung wurde ich in Handschellen und mit einem Polizeiwagen ins nächste Polizeirevier gefahren, wo man mich in einen sterilen Raum brachte, in dem nur ein Tisch und zwei Stühle standen. Putz bröckelte in den Ecken von den Wänden und widerlich nackte Neonlampen strahlten Kopfschmerzen verursachendes Licht in den Raum, dessen Luft nach einer Mischung aus Zigarettenqualm, Linoleum und Putzmittel stank.

Kurz, ich befürchtete, dass ich in dieser Umgebung sogar den Mord an John F. Kennedy gestehen würde – nur um da wieder raus zu kommen.

Aber was hatte ich denn zu befürchten? Ich hatte doch nichts getan!!! Die ganze Autofahrt hierher war ich alles nochmal durchgegangen. Ich hatte die Bibel nicht geklaut! Sie konnten mir nichts aber auch gar nichts nachweisen! Sollten sie sich doch Eier-Meier holen, meinetwegen. Wegen Verbrechen an der Menschlichkeit, bei den schlechten Witzen und dem Redetalent.

Dennoch hatte ich einfach eine Scheißangst. Immerhin saß ich nicht allzu häufig in Handschellen in einem Verhörzimmer und musste beweisen, dass ich unschuldig war. Und ich hatte auch nicht das leiseste Interesse daran, es zur Gewohnheit werden zu lassen.

Schwerer Raub, Hehlerei und damit einhergehender Versicherungsbetrug und Kunstschmuggel. Verdammt! Wenn ich damals in der Uni in Strafrecht besser aufgepasst hätte, wüsste ich jetzt, wie viele Jahre mir blühen, falls sie mich wirklich verknacken sollten.

Wieder schrie mein innerer Sinn für Gerechtigkeit auf. ICH HATTE DOCH NICHTS GETAN!!!

Ich wollte nur nach Hause in mein Bett. Und zu Matthias…

Ich versuchte es mit Autosuggestion: „Es ist alles in Ordnung, du hast nichts verbrochen, du hast nichts zu befürchten, du steckst nicht in der Scheiße…“

„Ihnen ist klar, dass Sie ganz schön in der Scheiße stecken?“ sagte auf einmal eine Stimme hinter mir, die ich ohne hinzusehen als die von Lettner identifizieren konnte.

Soviel zum Thema Autosuggestion.

Lettner und ein Polizist waren in den Raum gekommen und nahmen mir die Handschellen ab. Dann setzte er sich auf den anderen Stuhl, während der Polizist sich vor der geschlossenen Tür positionierte. Ich rieb mir die schmerzenden Handgelenke.

„Hören Sie“, sagte ich und versuchte, mich unter Kontrolle zu halten, weniger aus Wut als aus Verzweiflung, „ich habe doch schon ausgesagt, dass ich nicht weiß, wo die Bibel ist oder wie sie aus dem Safe verschwinden konnte.“

Lettner schaute mich seelenruhig an. „Dafür haben Sie aber eine erstaunliche Reisetätigkeit an den Tag gelegt in der letzten Zeit, Herr Körner. Sie müssen wissen, dass wir seit Donnerstag ein Auge auf Sie geworfen haben.“

Also hatten sie mich doch beschattet. „Am Freitag war ich in Zweibrücken bei der Firma, die den Safe hergestellt hat, um mich zu erkundigen, ob es eventuell Sicherheitslücken im System geben könnte“, rechtfertigte ich mich.

„Das wissen wir bereits. Wir haben nach Ihrem Besuch mit Herrn Kaiser telefoniert. Aber vielleicht hätten Sie die Güte, uns zu erklären, was Sie in New York gemacht haben?“

Müllers Bericht! Den hatte ich völlig vergessen! Haben die den denn nicht bekommen?

„Ich war in der Zentrale von Robertson & Goldblum, der Europachef hatte mich dorthin zitiert.“

„Und warum?“

„Wegen der betriebsinternen Nachforschungen in dieser Sache. Er wollte Ihnen auch einen Bericht zukommen lassen, der meine Unschuld beweist. Haben Sie den noch nicht?“

„Nein. Aber erzählen Sie mir doch einfach, was drinsteht.“

Ich merkte, dass er mir die Geschichte nicht abkaufte. Aber was sollte ich anderes tun? Also erzählte ich ihm die Geschichte mit den Mails und der Rückverfolgung.

Als ich fertig war, schwieg er einen kurzen Moment. Dann meinte er: „Wissense, das ist eine wirklich interessante Situation. Es ist mir in meinen 15 Jahren Dienstzeit noch nicht einmal vorgekommen, dass einer der Hauptverdächtigen in einem Fall dauernd Beweisstücke hervorzaubert, die ihn entlasten und einen anderen belasten. Lassense mich mal zusammenfassen: Sie sind einer von zwei Menschen, die die Kombination des Safes kennen. Dann verschwindet die Lutherbibel, die auf stolze 2,5 Millionen Euro versichert ist, was in etwa dem Schwarzmarktwert entsprechen dürfte. Noch am Tag des Verbrechens verschicken Sie mit der Post Schlammspuren, die tatsächlich von der Stelle stammen, wo das vermutete Fluchtfahrzeug stand. Jetzt auf einmal behaupten Sie, dass es Ausdrucke von Mails gibt, die Sie entlasten, obwohl sie von Ihrem Rechner aus verschickt wurden. Wissense, Herr Körner, ich finde das alles sehr abenteuerlich.“

Er öffnete die Mappe, die er mit in den Raum gebracht hatte und zog einen Zettel hervor.

„Und dann finde ich auch noch das hier.“ Er gab mir den Zettel.

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Kontoinformation

Institut: HPB Handels- und Privatbankgesellschaft Berlin mbH

Filiale: Berlin 017

Kontonummer: 0004200945328

Bankleitzahl: 980 790 07

Kontoinhaber: Herr Marius Körner

Zeitraum: 02.12.02-10.12.02

Buchungsdatum Zweck Betrag (EUR)

Übertrag alter Saldo per 03.12.02 1284,23+

0212 R&G Europe MA-Nr. 05600234 11/02 1487,47+

0312 Miete Körner, Marius 350,00-

0412 SB Tank Berlin 43,15-

0512 Hotelpension Wartburgblick 42,50-

0512 Tankstation Eisenach 29,84-

0612 Skycafé Airport Zweibrücken 4,50-

0612 Barabhebung 100,00-

0612 Abhebungsgebühr lt. AGB 4,00-

0712 schnellkauf Warenhaus GmbH 35,43-

0912 quid pro quo 250000,00+

neuer Saldo per 10.12.02 252162,28+

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Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Was war das denn? Wer hatte mir denn da bitte 250.000 Euro überwiesen?! Das war gar nicht gut. Das musste der Köder sein, von dem in der einen Mail gesprochen wurde.

Fassungslos starrte ich Lettner an, der auf eine Erklärung von mir zu warten schien.

„Sie müssen mir glauben! Ich habe nicht die geringste Ahnung, von wem das Geld ist!“

„Wir wissen es leider auch nicht“, meinte Lettner trocken, „denn das Geld kommt von einem Schweizer Nummernkonto. Und die Banken dort sind da sehr zurückhaltend, wenn es um solche Ermittlungen geht. Aber wir haben die nötigen Anträge gestellt, morgen wissen wir, wer Ihnen das Weihnachtsgeld gespendet hat.“

Langsam sah ich meine Felle davonschwimmen. „Hören Sie, Herr Lettner, ich bin sicher, dass die in New York schon den Bericht gefaxt haben oder gemailt haben oder was weiß ich. Aber ich habe wirklich nichts mit dieser Sache zu tun! Bitte glauben Sie mir doch! Meinen Sie im Ernst, ich würde mir meinen Anteil an der Beute auf mein Girokonto auszahlen lassen?!“

Lettner lächelte genüsslich. „Ich habe schon Pferde kotzen gesehen und das vor der Apotheke. Sie ahnen ja nicht, wie dämlich manche Kriminelle vorgehen.“

Ich verzweifelte langsam. „Fragen Sie nach dem Bericht! Bitte!“

Lettner seufzte. Dann sagte er zum Polizisten vor der Tür: „Sagense mal bitte Bescheid, die sollen mal in Erfurt anrufen und nachfragen, ob da was gekommen ist, ja?“

Der Polizist verschwand nach draußen.

Lettner beugte sich vor und schaute mir fest in die Augen. „Wissen Sie, was ich glaube, Herr Körner?“ Er hatte auf einmal eine Kälte in seiner Stimme, die mich erschaudern ließ. Lauernd starrte er mich an wie ein Wolf, der gleich auf sein Lamm losgehen würde. „Ich glaube, dass Sie dahinter stecken und versuchen, es Ihrem Chef in die Schuhe zu schieben, aus was für Gründen auch immer.“

Er lehnte sich wieder zurück.

Wir schwiegen. Ich beschloss, ohne einen Anwalt nichts mehr zu sagen.

Nach fünf Minuten kam der Polizist wieder rein. Er hatte einen Stapel Papiere dabei und reichte ihn Lettner. Ich versuchte zu erkennen, ob es sich um den Bericht aus New York handelte, aber Lettner hielt die Zettel so, dass ich nichts sehen konnte. Aber von Zettel zu Zettel schien er ärgerlicher zu werden.

„Na, die kriegen was zu hören in Erfurt“, brummte er schließlich und rieb sich energisch seinen Dreitagebart. „Warum sagt denn keiner mal Bescheid?!“

Ich hielt es vor Neugierde kaum noch aus. „Nun?“

„Es ist tatsächlich der Bericht aus New York. Wir müssen ihn zwar noch kurz überprüfen, aber ich gehe davon aus, dass er echt ist und Sie damit entlastet sind. Aber was noch interessanter ist-“, er reichte mir einen der Zettel, „ist die Tatsache, dass Ihr Chef in Eisenach am letzten Donnerstag Vormittag geblitzt wurde.“

Also war er etwa zur Zeit der Übergabe in der Nähe der Wartburg, welche – nebenbei erwähnt – nicht mal annähernd in der Nähe von Kiel ist, wo er angeblich seine Ex besucht hat.

Ich atmete erleichtert auf. „Heißt das, dass ich gehen darf?“

„In zehn Minuten. Warten Sie bitte wenigstens noch solange, bis wir den Bericht überprüft haben, das sind zwei Anrufe“, erwiderte Lettner genervt. Er konnte mir fast Leid tun. Aber auch nur fast.

„Okay, aber um 16 Uhr geht mein Flieger.“

„Wohin geht’s denn diesmal?“ fragte er.

„Nach Hause, wenn nicht wieder ein Unwetter dazwischen kommt.“


„Willkommen an Bord, Herr Körner“, begrüßte mich eine Stewardess der Lufthansa so freundlich, dass ich davon überzeugt war, dass sie es auch so meinte. „Darf ich Ihnen ein Glas Sekt bringen?“

Sie durfte. Ich lehnte mich genüsslich in meinem Sessel zurück und bedauerte es fast, dass dieser Flug nach Berlin nur eine knappe Stunde dauern würde.

Bernd würde hoffentlich in nächster Zeit nicht so gemütlich reisen können. Noch bevor Lettner den New Yorker Bericht überprüft hatte, hatte er eine internationale Fahndung nach Bernd rausgegeben. Danach hatte er angeboten, mich zum Flughafen bringen zu lassen, was ich aber dankend ablehnte – mein Bedarf an Polizeiautos war für den Rest meines Lebens gedeckt.

Aber ich war so unendlich froh darüber, dass die Verdächtigungen gegen mich fallen gelassen wurden und ich endlich in mein altes Leben zurückkehren konnte. Allerdings mit einem Unterschied, von dem ich hoffte, dass er mich wirklich am Flughafen abholen würde.

Leise rüttelnd setzte sich das Flugzeug auf dem Rollfeld in Bewegung, und noch bevor wir in der Luft waren, war ich eingeschlafen.


Was ist schlimmer: Auf Toilette zu müssen, wenn keine Toilette weit und breit in Sicht ist, oder auf seinen Koffer zu warten in der Hoffnung, dass draußen vor dem Ausgang jemand auf einen wartet? Ich konnte mich zu keiner Antwort durchringen, bis ich endlich meinen Rollkoffer sah. Ich schnappte ihn mir und hastete endlich zum Ausgang. Bitte, lass ihn dort warten…

Die Schiebetüren öffneten sich vor mir und gaben den Blick frei auf das Innere des Terminals, wo – anders als in Zweibrücken – etliche Leute auf jemanden warteten. Matthias konnte ich nicht sehen.

Ich schlängelte mich mit meinem Koffer durch die Menschenmassen, als plötzlich eine dunkle Stimme hinter mir fragte: „Einen Moment mal, junger Mann, haben Sie zufällig die Lutherbibel geklaut?“

Erschrocken fuhr ich herum und starrte in Matthias lachende braune Augen. Der Schuft! Anstatt auf eine Antwort zu warten, zog er mich zu sich heran und küsste mich. Zuerst ließ ich es geschehen und genoss das Kribbeln, das sich wieder in meinem Körper ausbreitete. Als ich dann aber ein kleines Kind neben mir fragen hörte: „Du Papa, warum küssen sich die beiden Männer?“, beendete ich den Kuss sanft. Der Papa grinste jedenfalls nur und sagte: „Die zwei haben sich halt sehr lieb.“

Auf dem Heimweg vereinbarten wir, dass wir wieder bei mir was essen und dann eine DVD schauen würden. Dann musste ich erstmal erzählen, was alles passiert war, denn dass ich zwischenzeitlich in U-Haft war, hatte er ja noch gar nicht mitbekommen. Umso mehr freute er sich darüber, dass ich endlich aus der Geschichte raus war.

Als wir bei mir waren, bestellten wir uns eine Pizza, denn ich war einfach zu müde zum Kochen. Danach legten wir eine DVD ein und lümmelten uns auf mein Sofa. Ich weiß nicht mal mehr, welchen Film wir schauten, denn noch nur 10 Minuten war ich in Matthias Armen eingepennt.

Donnerstag, 12. Dezember 2002

Am nächsten Tag erwachte ich erst gegen 9 Uhr in meinem Bett, Matthias schlief noch neben mir. Nachdem ich kapiert hatte, dass ich verpennt hatte, überlegte ich, ob es nicht ein Zeichen war, dass ich vergessen hatte, den Wecker zu stellen.

Ich ging ins Wohnzimmer und rief R&G an. Bernd war nicht da und in der Personalabteilung sagte man mir, dass er die ganze Woche noch nicht aufgetaucht war. Ich ahnte, warum. Dann erklärte ich der Personalchefin, dass ich gestern aus New York zurückgekommen war und deswegen verpennt hatte. Wir einigten uns darauf, dass ich heute einen Gleittag nehmen würde – was bedeutete, dass ich den ganzen Tag mit Matthias verbringen konnte.

Ich legte auf und krabbelte zurück ins warme Bett, wo Matthias inzwischen auch aufgewacht war.

Nach dem Guten-Morgen-Kuss fragte er: „Sehe ich das richtig, dass ich heute wieder nicht in die Uni komme, weil du dir frei genommen hast?“

„Lass dich von mir nicht aufhalten“, lachte ich. „Ich will ja nicht, dass ich später schuld daran bin, dass du kein Diplom hast!“

Er knuffte mich. „Ich schaffe das schon noch, keine Angst. Gut Ding will Weile haben!“

Wir haben den ganzen Vormittag nur gefaulenzt. Frühstück gab’s im Bett und erst am späten Nachmittag haben wir die Wohnung verlassen, um über den Weihnachtsmarkt zu gehen. Es dämmerte bereits und ein leichter Schneefall hatte eingesetzt, der in mir eine richtige Lust auf Weihnachten entfachte.

Das war auch etwas, was ich seit meinem Auszug nicht mehr erlebt hatte. Noch vor einem Jahr hatte ich mich darüber geärgert, dass Weihnachten eine reine Zeitverschwendung für mich war, da alle Geschäfte geschlossen waren und ein Film auch nicht besser wird, wenn man ihn zweimal in drei Tagen schaut. Für dieses Jahr hatte ich schon vorgesorgt und mir einen Stapel Bücher gekauft, die ich lesen wollte.

Allerdings stellte sich die Situation auf einmal anders da. Ich stand mit Matthias gerade in einer ruhigen Ecke einer Weihnachtsmarktbude, wo wir einen heißen Kakao mit Amaretto tranken, als ich mir plötzlich darüber bewusst wurde, dass ich Weihnachten nicht schon wieder allein verbringen wollte. Im Gegenteil, ich wollte einen Tannenbaum kaufen und Schmuck und Geschenke und lecker essen und drei ruhige Tage verbringen. Aber mit Matthias.

Wieder bemerkte er, dass etwas in meinem Kopf vorging und fragte: „Na, woran denkst du gerade?“

Ich nahm vorsichtig einen Schluck von meinem Kakao. Inzwischen wusste ich, dass es keinen Sinn machte, ihm etwas verheimlichen zu wollen. „Ich dachte an Weihnachten und fragte mich, was du wohl machst über die Feiertage.“

„Ich werde wie jedes Jahr bei meinen Eltern feiern, mein Bruder kommt und meine Schwester auch mit ihrer Familie, das wird toll!“

Ich hatte es geahnt, nein, befürchtet. Nur gut, dass ich schon die Bücher gekauft hatte.

„Und du?“ fragte er mich.

„Ich werde hier in Berlin bleiben.“

„Wie – du feierst nicht mit deinen Eltern?“ Er schaute mich entgeistert an.

„Ich war seit über sechs Jahren nicht mehr dort und habe die feste Absicht, noch mindestens ein siebtes Jahr hinten dran zu hängen.“

„Hm.“ Er schien mit dieser Antwort nicht zufrieden zu sein und dachte kurz nach. „Und wie wäre es, wenn du mit mir und meiner Familie feiern würdest?“

Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. „Ich weiß nicht…“, startete ich einen Versuch, mich rauszureden, „das ist immerhin ein Familienfest und du hast ja selbst gesagt, dass du dich auf deine Familie freust und da möchte ich nicht stören…“

„Quatsch, du störst doch nicht! Außerdem hat meine Mutter neulich gesagt, dass sie dich auch mal gerne wieder sehen möchte…“

Das waren ja mal interessante Neuigkeiten.

„Du hast deiner Mutter von mir erzählt?“

Er schaute verlegen in den Kakaobecher in seiner Hand. „Naja, wir haben neulich telefoniert und da hat sie gefragt, ob ich ihr bald nicht mal einen Schwiegersohn vorstellen möchte und da habe ich ihr eben erzählt, dass wir uns wieder getroffen haben und so…“

Moment! „Was ‚und so’?“

Mann, wurde er rot. Das konnte ich sogar in diesem Dämmerlicht von der Weihnachtsmarktbude erkennen.

„Naja“, begann er zögerlich, „ich habe ihr halt erzählt, dass ich hoffe, dass wir in Zukunft noch mehr Zeit miteinander verbringen…“

„…und…?“

„…und da hat sie halt gesagt, dass ich ‚meinen Freund’ mitbringen soll…“

Hatte er gerade „Freund“ gesagt?

„… und daraufhin habe ich geantwortet, dass ich ihn fragen werde.“ Er räusperte sich. „Und das habe ich hiermit getan.“

Wir müssen ein putziges Bild zusammen abgegeben haben; er war so rot wie eine Tomate und ich staunte Bauklötze.

„Noch’n Kakao?“ fragte uns die Frau, die das Zeug verkaufte und riss mich damit aus meinen Gedanken. Matthias und ich stellten unsere Becher ab und sagten unisono: „Mit Amaretto.“

Sie grinste, nahm unsere Becher und füllte sie auf.

Während wir darauf warteten, dass der Kakao auf Trinktemperatur abkühlte, meinte Matthias: „Du hast noch immer nicht auf meine Frage geantwortet.“

Ich wusste auch nicht so recht, was ich antworten sollte. „Weißt du, das ist jetzt etwas kompliziert für mich…“

Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht.

„Versteh mich nicht falsch“, fuhr ich schnell fort, bevor er auf falsche Gedanken kommen konnte, „als ich dich gestern angerufen hatte, um dir zu sagen, dass ich in München war anstatt in Frankfurt, habe ich gemerkt, dass ich tierisch verliebt in dich bin…“

Sein Gesicht leuchtete wieder auf.

„…aber jetzt gleich Weihnachten mit deiner Familie zu verbringen – ich weiß nicht, ich fühle mich irgendwie komisch bei dem Gedanken… Gib mir bitte noch ein paar Tage zum Nachdenken, ja?“

Er lächelte und streichelte über meine Hand. „Kein Problem, Mari.“

Wir tranken aus und gingen Hand in Hand nach Hause.

Freitag, 13. Dezember 2002

Diesmal hatte ich nicht vergessen, den Wecker zu stellen und so wurden wir erbarmungslos um sechs Uhr aus den Federn geklingelt. Ich hatte beschlossen, heute mal auf das Joggen zu verzichten und so machten wir uns abwechselnd auf den Weg ins Badezimmer. Nach dem Frühstück stiegen wir in mein Auto, das noch immer verkratzt war und fuhren zu seiner WG, wo er seine Unterlagen für die Uni holte. Nach fünf Minuten war er wieder da und auf dem Weg zu R&G setzte ich ihn an der Uni ab.

Dafür, dass es meine erste Nacht mit meinem ersten Freund war, ist alles eigentlich ziemlich unspektakulär abgelaufen. Und doch war es einzigartig, denn wir wussten, dass wir jetzt zusammen waren. Auf einmal war diese kalte, graue Dezemberwelt da draußen nicht mehr bedrohlich oder deprimierend, sondern romantisch und voller Magie. Auf einmal konnte ich über die schlechten Witze der Moderatoren im Radio lachen, auf einmal nervte mich der morgendliche Verkehr nicht mehr, auf einmal freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen und Matthias wieder zu sehen.

Es war, als wäre alles, was mich immer genervt oder angewidert hatte, über Nacht zu etwas Schönem geworden. Zum ersten Mal in meinem Leben war die Welt für mich in Ordnung; ich hatte einen Job, der mir Spaß machte, war aus der Bibelnummer raus, hatte einen Freund. Und als im Radio auf einmal Chris Rea „Driving Home for Christmas“ sang, spielte ich sogar ernsthaft mit dem Gedanken, meinen Eltern einen langen Brief zu schreiben.

Ich fuhr in die Tiefgarage von R&G. Auch wenn heute Freitag, der 13. war, es konnte einfach nichts schief gehen.

Gerade, als ich meinen Wagen abschließen wollte, hörte ich ein metallisches Klicken an meinem rechten Ohr. Ich drehte mich vorsichtig um und sah direkt in den Lauf einer Pistole. Er roch nach Metall, Ruß und Rauch.

„Guten Morgen, Marius“, sagte eine kalte Stimme. Bernd!?!

„Was soll das?“ fragte ich ängstlich. War der jetzt völlig durchgeknallt?!

„Steig wieder in deinen Wagen, wir machen jetzt eine kleine Spritztour.“

Ich schloss mein Auto wieder auf.

„Einsteigen!“ befahl er mir noch einmal. Ich tat, wie mir befohlen. Bernd öffnete die hintere Tür, warf ein mittelgroßes Paket auf die Rückbank und setzte sich direkt hinter mich.

„Und nun fährst du zur Autobahn!“

„Zu welcher?“

„A2 Richtung Hannover. Und denk dran: Dir sitzt eine Pistole im Nacken.“ Zur Erinnerung tippte er mir mit dem kalten Metall ins Genick.

Ich fuhr los.

Von wegen, es konnte einfach nichts schief gehen. Heute war ein guter Tag, um abergläubisch zu werden.


Nachdem wir die allmorgendliche Rushhour hinter uns gelassen hatten und auf der A10 in Richtung Westen waren, wagte ich es, meinen Mund zu öffnen.

„Was wird das eigentlich, wenn’s fertig ist?“

„Du fährst mich gerade zur Übergabe der Lutherbibel.“

Damit war auch der Inhalt des Pakets geklärt.

„In Hannover?“

„Nein, das ist nur erstmal die grobe Richtung“, erwiderte Bernd kühl. „Ich sage dir rechtzeitig Bescheid, wenn du runter musst.“

„Danke übrigens, dass du versucht hast, mir den Raub in die Schuhe zu schieben.“ Ich merkte, wie sehr ich diesen Menschen hinter mir hasste.

„Nicht dafür. Und nun halt die Schnauze und fahr weiter.“

Ich fing an, mir ernsthaft Sorgen darüber zu machen, ob ich gesund aus dieser Nummer rauskommen würde.


So fuhr ich Kilometer für Kilometer. Nach knapp zweieinhalb Stunden kamen wir an den Rand von Hannover.

„Am Kirchhorster Kreuz fährst du auf die A7“, kam der Befehl von hinten.

„In Richtung Norden oder Süden?“

„Norden.“

„Ay, Sir“, zischte ich so leise, dass Bernd es nicht hören konnte.

Ich suchte in Gedanken fieberhaft nach einer Möglichkeit, irgendwie einen Hilferuf absetzen zu können. Kurz hinter Hannover sah ich endlich eine Möglichkeit dazu.

„Mein Tank ist fast alle.“

Bernd lehnte sich rüber, um auf meine Armaturen zu schauen. Dann schaute er wieder auf die Straßenschilder.

In dem Moment tauchte ein Schild auf mit dem Schriftzug „Rasthof Allertal 5 km“.

„Na also. Da fährst du raus.“

Auf der Ausfahrt sagte er: „Ich steige mit aus und mach mir ja keine Dummheiten, klar?!“ Auch das war weniger eine Frage als ein Befehl. Zur Erinnerung tippte er mir nochmal mit der Pistole in den Nacken.

Ich hielt an einer Zapfsäule und wir stiegen aus. Wenn ich jetzt nur irgendwie an mein Handy kommen könnte! Aber ich konnte es nicht einfach aus der Hosentasche holen, Bernd beobachtete jeden meiner Schritte, die Pistole griffbereit in seiner Jackentasche.

Dann hatte ich die Idee! Nachdem ich getankt und den Wagen abgeschlossen hatte, steckte ich den Autoschlüssel in die Tasche, in der auch das Handy war. Dann gingen wir bezahlen, Bernd immer zwei Schritte hinter mir.

Als wir wieder zum Auto gingen, lief ich vorne am Wagen vorbei und Bernd hinten. Das war meine Chance. Ich griff in meine Hosentasche und holte das Handy und den Schlüssel hervor, ließ das Handy aber im Ärmel meiner Jacke verschwinden, als er hinter dem Auto war. Dann schloss ich auf und wir setzten uns wieder rein.

Ich legte das Handy vorsichtig zwischen meine Beine, während wir uns anschnallten. Bernd hatte offenbar immer noch nichts bemerkt. Ich fuhr los.

Schritt eins war also erfolgreich erledigt. Das Herz klopfte mir bis zum Hals.

Als wir wieder auf der Autobahn in Richtung Norden fuhren, konnte ich meinen linken Fuß von der Kupplung nehmen und meine Hand auf den Oberschenkel legen. Ich hoffte inständig, dass das wie eine relaxte Geste aussah, während ich versuchte, die Tastensperre zu lösen und den Klingelton auszuschalten. Wenn das Handy jetzt piepsen würde, wäre das gar nicht gut.

Nach ein paar Versuchen hatte ich es tatsächlich geschafft. Besonders schwierig dabei war, kein Gesicht zu verziehen, denn Bernd beobachtete mich weiterhin mit Hilfe des Rückspiegels.

Jetzt galt’s. Jetzt oder nie! Ich drückte drei Sekunden lang auf die „2“, die einzige Kurzwahl, die ich abgespeichert hatte. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass das Handy eine Verbindung aufbaute. Bitte, lieber Gott, lass ihn ans Telefon gehen, bitte!!!

„Da vorne runter!“ bellte auf einmal Bernd hinter mir.

„WAS?!“ Hatte er etwa was bemerkt?! Mein Herz schlug wieder heftig in meiner gestressten Brust.

„Du sollst da vorne runter! Da, am Walsroder Kreuz auf die A27 nach Bremen!“

Ja, spinnt der denn jetzt total?! 200m vor der Abfahrt?! Ich schaute nach hinten, ob die Spur frei war, zog das Steuer rüber und bremste scharf. Irgendwer hupte wütend hinter mir, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Erstens konnte ich nicht mit 170 Sachen eine Abfahrt nehmen und zweitens hatte ich einen Verrückten mit Pistole hinter mir sitzen.

Als das Ende der Abfahrt in Sicht kam, hatte ich den Wagen immerhin auf 100 km/h runtergedrosselt, dennoch quietschten die Reifen gefährlich, als wir uns in die Kurve legten. Ich war froh, dass die Fahrbahn hier trocken war und nicht so nass wie in Berlin. Nach ein paar weiteren Metern hatte ich den Wagen und meine Sinne und Nerven wieder vollständig unter Kontrolle.

„Was sollte denn der Scheiß?!“ schnauzte ich Bernd an.

„Ich wollte nur sicher gehen, dass uns niemand folgt“ erwiderte er seelenruhig. „Bist’n guter Autofahrer, Marius.“

„Ach, leck mich doch da, wo die Sonne nicht hin scheint, Bernd!!!“

„Ganz ruhig, Brauner!“ Wieder tippte er mir mit der Pistole ins Genick.

„Und hör auf mit deiner Scheißpistole in meinem Nacken rumzufummeln!!!“ keifte ich ihn an. „Ich bin schon so nervös genug!“

„Jetzt halt die Schnauze und fahr weiter. In Bremen müssen wir zum Hauptbahnhof. Ist dir das so rechtzeitig genug?“

Ich schnaubte nur wütend.

In dem Moment fiel mir mein Handy ein. Ich linste vorsichtig auf das Display und sah, dass eine Verbindung hergestellt war. Bitte, lass es nicht die Mailbox sein…!

„Und am Hauptbahnhof ist dann die Übergabe der Lutherbibel, oder was?“

„Ich sagte, du sollst den Mund halten!“ Seine Geduld schien am Ende zu sein.

Ich schwieg. Ein vorsichtiger Blick auf das Display zeigte mir, dass das Gespräch jetzt beendet war.

Und noch knapp 40 km bis Bremen.


Gegen zwölf Uhr erreichten wir den Hauptbahnhof Bremen und wie es der Zufall wollte, fanden wir auch prompt einen Parkplatz. Ich stellte den Motor aus und schnallte mich ab, während Bernd sich gründlich umschaute.

„Wir machen das jetzt wie beim Tanken eben. Ich laufe direkt hinter dir und du trägst das Paket. Damit gehen wir direkt zu den Schließfächern, verstanden?!“

„Kann ich nicht wenigstens noch einen Parkschein kaufen?“

„Wozu? Für 250.000 Euro kann man sich doch mal ein Ticket leisten, oder?“

Ich schwieg. Ich hatte eine Menge Kommentare auf Lager, die aber allesamt kontraproduktiv für mein Weiterleben gewesen wären.

Er schaute sich noch einmal um.

„Okay, dann los.“

Wir stiegen aus, und ich nahm wieder unauffällig mein Handy an mich. Dann holte ich das Paket vom rechten Rücksitz und schloss ab. Zusammen liefen zum Eingang.

Es war zum Verrücktwerden. Hier drinnen deutete aber auch nichts darauf hin, dass mein Hilferuf empfangen oder gar richtig interpretiert wurde: keine Polizei weit und breit.

Schweigend liefen wir weiter, bis wir die Schließfächer erreichten.

„Such dir eins aus“, meinte Bernd leise.

Ich ging zum nächsten freien Schließfach und legte das Paket hinein. Dann schloss ich die Tür, und Bernd gab mir das Geld. Immerhin brauchte ich es nicht auch noch zu bezahlen. Ich zog die Schlüsselkarte ab und reichte sie Bernd.

Gerade, als er sie nehmen wollte, brüllte jemand: „HÄNDE HOCH, ALLE BEIDE!“

Ich zuckte zusammen und ließ die Karte fallen. Bernd schien geistesgegenwärtiger zu sein, denn mit seiner freien Hand zog er mich an sich, während seine andere Hand, die er die ganze Zeit an der Waffe in seiner Jackentasche gehabt hatte, die Pistole zog und sie mir an die Schläfe drückte.

Ich war jetzt seine Geisel, sein lebendes Schutzschild.

„Jetzt ist es aus!“ dachte ich bei mir, während vermummte und gepanzerte Polizisten den Raum mit den Schließfächern stürmten und einen großen Halbkreis um uns bildeten. Mit dem Rücken standen wir buchstäblich an der Wand.

„Lasst uns durch oder ich knalle ihn ab!“ brüllte Bernd mit zitternder Stimme.

Wieder schrie mein Sinn nach Gerechtigkeit auf! Dieses Schwein würde mich nicht erschießen. Er hatte mir in den letzten Tagen das Leben schon schlimm genug gemacht, aber nun reichte es EIN FÜR ALLE MAL!!!

In einem Anflug von Wut, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, rammte ich ihm meinen Ellbogen in die Magenkuhle. Mit einem würgenden Geräusch strömte die Luft aus Bernds Körper, wobei er mich losließ. Die andere Hand, mit der er die Pistole hielt, rutschte von meiner Schläfe ab.

Auf einmal gab es eine Explosion, dann wurde es pechschwarze Nacht.


Absoluter Frieden.

Absolute Stille.

Absolute Dunkelheit.

Ich schwebte.

Dann tauchte ein kleiner weißer leuchtender Punkt auf. Und dann noch einer. Und noch einer. Milliarden von kleinen weißen Punkten tauchten überall um mich herum auf. Es war wunderschön.

Ich flog durch das Weltall. Planeten, Monde und Sonnen rauschten an mir vorbei, Kometen kreuzten meine Flugbahn.

Dann tauchte vor mir ein Planet mit einem Ring auf. Ich frohlockte, denn ich wusste, dass ich in unserem Sonnensystem war. Hier war ich zu Hause. In diesem System. Ich passierte den riesigen Jupiter, dann tauchte der rote Mars vor mir auf.

Biep…biep…biep…

Eine Raumsonde rauschte an mir vorbei, während vor mir und unendlicher Stille, Schönheit und Perfektion der blaue Planet auftauchte, flankiert vom bleichen Mond.

Biep! Biep! Biep!

Das Piepen wurde eindringlicher, obwohl kein Satellit und keine Sonde zu sehen war. Ich raste weiter auf die Erde zu.

Biep! Biep! Biep!

Ich durchflog die Stratosphäre und drang in die Atmosphäre ein. Unter mir erkannte ich Europa.

Ich musste irgendwie bremsen.

Biep!! Biep!! Biep!!

Nordsee und Ostsee kamen immer näher. Auf einmal konnte ich Spuren von Zivilisation erkennen.

Bremsen…!!!

Biep-biep-biep!!!

Das Piepen wurde immer lauter.

Anhalten. Anhalten! ANHALTEN!!!

BIEP-BIEP-BIEP!!!

Irgendwo rief eine Stimme: „Schwester! Schwester!! Er wacht auf!“

Dienstag, 24. Dezember 2002

„Fröhliche Weihnachten, Marius, schön, dich wieder zu sehen!“ begrüßte mich Matthias’ Mutter mit einer kräftigen Umarmung.

„Erdrück ihn nicht, Mama, den brauch ich noch!“ lachte Matthias.

In all den Jahren hatte ich vergessen, wie nett diese Menschen immer zu mir gewesen sind. Als Matthias und ich zusammen im Kindergarten waren, haben wir oft hier gespielt und jedes Mal haben wir Kekse bekommen.

Nachdem mich der Rest der Familie begrüßt hatte, nahm Matthias meine Hand und führte uns hoch in sein Zimmer. Ich war froh, dass ich doch noch zugesagt hatte, denn jetzt, den alten Ostseegeruch in der Nase, war ich froh, dass ich nicht in meiner Wohnung in Berlin saß und las. Erstens hätte ich mich nicht konzentrieren können ohne Matthias und zweitens wäre mir die Decke auf den Kopf gefallen.

Außerdem konnte ich nach den letzten Wochen die Ruhe und die Seeluft gut gebrauchen. Der Bauchschuss, den Bernd mir verpasst hatte, hatte zwar glücklicherweise keine Organe verletzt, ich hatte aber viel Blut verloren und ein paar Tage in einem künstlichen Koma verbracht. R&G hatte mir zum Glück für den restlichen Dezember freigegeben und den halben Januar auch, damit ich mich richtig erholen konnte.

Bernd würde kein schönes Weihnachtsfest haben in seiner Zelle. Aber daran kann sich schon mal gewöhnen, denn er steht unter Anklage wegen schweren Raubes, Hehlerei, Versicherungsbetrug, Kunstschmuggel und wegen Entführung und schwerer Körperverletzung. So schnell würde der nicht wieder raus kommen.

Ebenso Eier-Meier. Bernd hatte nämlich gestanden, dass der Museumsdirektor sein Komplize war, der sowohl den Geheimgang als auch die Kombination kannte.

Und dank meines Hilferufes mit dem Handy konnte die Bibel gerettet werden, anstatt ins Ausland verkauft zu werden. Matthias hatte meinen Anruf und die Gesprächsfetzen richtig gedeutet und das LKA in Erfurt informiert. Die hatten dann Bremen angerufen usw.

Damit war die Geschichte endlich zu einem glücklichen Ende gekommen. R&G hatte mich befördert (ab Januar war ich Leiter der AGA) und Matthias und ich waren immer noch glücklich zusammen.

Nach dem Abendessen gingen Matthias und ich noch ein wenig spazieren.

„Das war ja mal eine aufregende Vorweihnachtszeit“, sinnierte ich vor mich hin.

Matthias nickte.

„Die Bibel ist wieder in der Wartburg, wo sie hingehört; Bernd ist, wo er hingehört; Eier-Meier auch…“

„…und du auch“, beendete Matthias meinen Satz.

Ich schaute ihn verständnislos an.

„Einerseits bist du hier, an meiner Seite, wo du hingehörst, und andererseits…“

Er deutete an mir vorbei auf ein Haus. Ich drehte mich um und erkannte, dass wir in der Straße waren, in der ich bis vor sechseinhalb Jahren gewohnt hatte. In dem Haus vor mir brannte im Flur eine einzelne traurige Kerze im Fenster und in dem Wohnzimmer, in das man durch ein großes Fenster direkt hineinschauen konnte, saß an einem kleinen Weihnachtsbaum ein trauriges, einsames Pärchen.

Meine Eltern.

Ich nahm Matthias’ Hand.

„Einmal mehr hat Martin Luther einen Menschen reformiert“, flüsterte ich und zog ihn durch unsere alte Gartenpforte in unseren alten Vorgarten. Hand in Hand gingen wir den Weg bis zu der Haustür, die ich zuletzt vor sechseinhalb Jahren hinter mir zugezogen hatte.

Ich schaute Matthias an. Er nickte mir aufmunternd zu und küsste mich.

Ich atmete einmal tief ein und aus und klingelte.

ENDE

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