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Meine Wohnung

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Informationen

 

Meine Wohnung liegt im ersten Stock eines Altbaus. Nachdem man die Haustür aufgeschlossen hat, muss man zwei Stufen hochsteigen, dann sieht man rechts die Briefkästen an der Wand. Das passt optimal; nach dem Aufschließen kann ich den Haustürschlüssel und den Wohnungsschlüssel am Schlüsselbund durch meine Finger gleiten lassen, sodass ich den Briefkastenschlüssel sofort parat habe, sobald ich vor meinem Briefkasten stehe. Es ist der vierte von links. Mein Nachname steht –natürlich– auf dem Schild.

Neben den Briefkästen befindet sich die Treppe. Es sind genau zwanzig Stufen nach oben. Ich weiß nicht, ob du jemals die Stufen mitgezählt hast. Vielleicht habe nur ich diesen Tick. Jedenfalls steht man dann direkt vor der Wohnung von Katja, meiner Nachbarin. Um aber zu meiner Wohnung zu kommen, muss man nun wieder drei Stufen hinabsteigen. Dann steht man vor meiner Wohnungstür.

Wir sind schon oft diese Treppe hochgelaufen; etliche Male, als du nach unten vor die Haustür zum Rauchen gegangen bist und ich dich begleitet habe. Immerhin habe ich diese Angewohnheit mir vor dreieinhalb Jahren abgewöhnt. Aber irgendwie mag ich den Geruch einer frischen Zigarette immer noch.

Sobald man also mit dem zweiten Schlüssel am Bund die Wohnungstür aufgeschlossen hat, steht man im Flur meiner Wohnung. Rechts befindet sich ein kleiner Durchgang; er ist gleichzeitig Windfang, Vorflur und Garderobe, denn die kleine, schmale Tür dort ist die Badezimmertür. Nachdem man also die Jacke an der Stange in der Garderobe aufgehangen und, wenn man es will, die Schuhe ausgezogen hat, kann man sich beispielsweise im Flur umgucken. An der Tür zum Bad hängt eine Farbkopie von Vincent van Goghs „Café Terrace at Night“, an der nächsten Tür rechts im Flur das berühmte Poster vom Kabarett „Le Chat Noir“ von Théophile-Alexandre Steinlen. Hinter dieser Tür verbirgt sich meine Küche.

Geradeaus durch den Flur springt dem Besucher ein Poster ins Auge, welches ich neulich in London gekauft habe. Auf einem großen „Union Jack“ prangen die Worte „Keep calm and carry on“ – „Ruhe bewahren und weitermachen“. Es war ursprünglich ein Aufruf an das englische Volk, im Angesicht des Zweiten Weltkriegs nicht in Panik zu verfallen. Vor ein paar Jahren wurde das Poster wiederentdeckt, um den Menschen während der Wirtschaftskrise Mut zu machen. Jetzt hängt eines davon an der Tür zu meinem Arbeitszimmer.

Wenn man vor dieser Tür steht und sich um 90 Grad nach links dreht, sieht man ein Poster von der Stadt Osnabrück. Dort habe ich studiert und mich pudelwohl gefühlt, und aus genau diesem Grund hängt das Poster nun an der Tür zu meinem Schlafzimmer – ein weiterer Ort, an dem ich mich pudelwohl fühle. Allerdings sieht es da drin meistens ziemlich unaufgeräumt aus, deswegen gehen wir schnell weiter zum großen „200 Jahre Louvre“-Poster. Weißt du noch? Du hast dir die einzelnen Bilder dieser Collage jedes Mal angeschaut, als du hier warst – Kunst ist eben dein Fachgebiet.

Weiter zur letzten Tür im Flur, der Tür zum Wohnzimmer. Dort hängt das Poster vom Eurovision Song Contest in Düsseldorf 2011. Es ist gleichzeitig eine Hommage an diesen großartigen Event und ein Hinweis darauf, dass sich hinter dieser Tür mein Wohnzimmer mit Fernseher, DVD-Player und Musikanlage befindet.

Wenn man diese Tür öffnet, sieht man rechts zunächst drei schwarze Benno-Regale von IKEA, die meine CD- und DVD-Sammlung beinhalten. Daneben der schwarze Hifi-Schrank und der weiße TV-Schrank mit besagtem Fernseher etc. Dem gegenüber an der Wand steht das blaue Sofa, davor ein kleiner, hellbrauner Tisch mit zwei Sesseln. Daneben stehen der wiederum schwarze Esstisch und die Stühlen mit den weißen Hussen. Wie du ja weißt, passt das alles farblich und stilistisch nicht so wirklich zueinander. Aber es sind eben die Möbel aus meiner Studentenbude, und ich finde, dass das ganze einen gewissen improvisierten Charme hat. Es ist nicht viel, aber es ist gemütlich und es ist meins.

Das ist, mehr oder weniger akkurat beschrieben, meine Wohnung. Aber das erste Mal, als sie sich nicht nur wie eine Wohnung, sondern wie ein Heim anfühlte, war der DVD-Abend mit dir und S. S saß auf dem Sessel und wusste, was ich für dich empfand, während du dich auf die Kissen in der Sofaecke gefläzt hast und ich, natürlich nervös und angespannt und den üblichen, gesellschaftlich vorgeschriebenen Abstand wahrend, daneben saß.

Mein Sofa sah eindeutig besser aus, als du darauf gesessen hast.

Ich habe dir angemerkt, dass du dich in meiner Wohnung wohlgefühlt hast. Wenn wir einen Film geguckt haben, hast du es dir bequem gemacht, dir die Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Sessel gelegt.

Wenn wir... naja… wenn ich gekocht habe, hast du meine Gitarre genommen und ein wenig geklampft, bis das Essen fertig war. Oder du hast meine Bücherregale durchstöbert auf der Suche nach etwas Lesbarem. Manchmal hast du auch beim Kochen geholfen, was ich am Schönsten fand, weil man so eben zusammen in der Küche stand.

Einmal, als ich eine Präsentation vorbereitet habe, hast du überall im Wohnzimmer deine Unterlagen verteilt und sortiert.

Oder als wir im Prüfungsstress waren, hast du manchmal gefragt, ob du bei mir im Wohnzimmer lernen dürftest, weil dir bei dir zuhause die Decke auf den Kopf fiel.

Ich fand es auch irgendwie witzig, als wir mit den anderen bei mir Fußball geschaut haben und du mit S meine DVDs durchgeschaut und ihm erzählt hast, welche Filme wir schon alles gesehen haben und wie sie dir gefallen hatten.

In diesen Zeiten war meine Wohnung auch mein Heim. Es war, als hätten die Wohnung und die Möbel nur darauf gewartet, dass man sie zu zweit nutzt. Wozu sonst braucht man als Alleinstehender auch vier Stühle am Esstisch, zwei Sessel plus ein Sofa sowie ein 1,60m breites Bett (in welchem du allerdings nie gelegen hast)?

Für ein paar Monate konnte ich mir ausmalen, wie es wäre, wenn man jeden Tag zusammen verbringen würde. Es war alles, was ich mir immer gewünscht habe – allerdings nur rein oberflächlich. Denn ich wusste, dass das alles reines Wunschdenken meinerseits war, denn wir zwei unterscheiden uns in einem wichtigen Punkt. Und das war uns beiden klar.

Für dich waren wir als zwei Kumpel, die zusammen die Zeit totschlugen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Für mich war es… tja… was war es? Es war mehr, viel mehr.

Nun, der Himmel auf Erden war es nicht, denn ich durfte nicht beim Kochen meine Arme um dich schlingen, um deinen Körper zu spüren, während du die Soße umrührtest. Ich durfte nicht beim Fernsehgucken mit deinen Fingern spielen, um deine weiche Haut zu fühlen. Ich durfte nicht irgendwelche Schmeicheleien in dein Ohr flüstern, um dir zu zeigen, was du mir bedeutest. Ich durfte nicht einfach meine Hand nach dir ausstrecken, um den Kragen deines Hemdes in Ordnung zu bringen oder einen Fussel zu entfernen und dabei gleichzeitig ein paar Streicheleinheiten einbauen, einfach nur um mich zu vergewissern, dass du wirklich da bist.

All das hättest du nicht gewollt, was ich – aus deiner Position betrachtet – durchaus nachvollziehen kann.

Aber wenn all das nicht der Himmel auf Erden für mich war, war es dann vielleicht die Hölle? Nein, das war es auch nicht. Ich glaube, es lag irgendwo dazwischen und gleichzeitig so nah an Himmel und Hölle, wie es nur geht.

Aber das ist ja nun vorbei. Ich möchte dir für viele bittersüße Momente danken. Bald werden wir wieder weit weg voneinander wohnen und nicht mehr direkt um die Ecke. Mein Heim ist jetzt wieder meine Wohnung. Ich fühle mich hier immer noch wohl, weil alles um mich herum so vertraut und eben … meins ist.

Aber etwas Wichtiges fehlt. Du fehlst.

Wenn ich nachmittags zurückkomme, ist alles so, wie ich es morgens beim Rausgehen zurückgelassen habe: die Schuhe stehen am selben Fleck. Die Jacken hängen genauso an der Garderobe. Nicht die geringste Veränderung hat stattgefunden. Es ist nichts bewegt worden. Nichts deutet darauf hin, dass hier noch eine andere Menschenseele lebt. Es wartet nicht die geringste Überraschung auf den Heimkehrenden, und wenn es auch nur ein fremdes Portemonnaie ist, welches auf der Schuhkommode liegt, oder die Post, die jemand schon mit hochgebracht hat.

Ich höre die Stille in meiner Wohnung. Bestenfalls das Surren des Kühlschranks deutet an, dass hier tatsächlich jemand wohnt.

Es freut sich niemand, wenn ich nach Hause komme.

Es ist kalt, dunkel, still. Irgendwie leblos.

Vielleicht sollte ich mir eine Katze zulegen.

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