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So nah und doch so fern
Teil 3
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Informationen
- Story: So nah und doch so fern
- Autor: ReadmyLips
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Vorwort
Moin!
Es ist mal wieder soweit: „SNUDSF“ geht in die dritte Runde. Das ist zum einen meine Schuld, weil ich fasziniert beobachten darf, wie aus einer kleinen Idee vor etlichen Monaten inzwischen etwas so Umfangreiches geworden ist – und ein Ende ist noch nicht abzusehen…
Zum anderen (und größeren!) Teil ist es aber auch Eure „Schuld“, denn dank Eurer Rückmeldungen fällt es mir nicht schwer, die nötige Motivation aufzubringen, mal wieder ein paar Takte zu schreiben. :-)
Ich danke Euch von ganzem Herzen dafür!
Genug der Worte; spätestens Weihnachten kommt Teil 4. ;-)
Viel Vergnügen!
readmylips
„I wished I had all you ever wanted
I’d give it right to you
But I don’t have it
How could I ever find it
The strength to let you go?
‘cause I don’t have it
When will I have it?”
Wilson Philips: „You Won’t See Me Cry“
(geschrieben von C. Wilson, G. Ballard, C. Phillips, W. Wilson)
Samstagmorgen. The day after the night before.
Es ist jetzt Viertel nach zehn, und ich liege seit 07:43 Uhr wach in meinem Bett. Dauernd tauchen die Bilder des gestrigen Abends vor mir auf: Lukas, wie er mit Jannis unter dem Tisch Händchen hält; Lukas, wie er mit Jannis von der Party abhaut; Lukas, wie er mit Jannis küssend unter der Laterne steht; Lukas, Lukas, Lukas und immer wieder Lukas.
Gleichzeitig fahre ich das volle Kontrastprogramm zu dem, was ich noch vor knapp einer Woche fühlte: Damals („damals“? Als ob es schon Jahre her sei…!) war es noch schön, verliebt zu sein… Auch wenn ich bis Montag noch davon ausging, dass Lukas wahrscheinlich eher auf Mädchen stehen würde, so war doch immer noch ein kleines Fünkchen Hoffnung da. Und man konnte träumen. Jegliche Vernunft in den Wind schießen und einfach nur vor sich hin träumen.
Das geht jetzt irgendwie nicht mehr. Zu viel ist dafür in dieser Woche passiert. Und das Resultat des Ganzen? Lukas ist jetzt mit Jannis zusammen. OK, ich weiß es noch nicht offiziell. Aber ich gehe davon aus.
Und ich Hornochse helfe ihm dabei auch noch…!
Ich habe keinen Bock aufzustehen. Wozu auch? Mama und Papa sind auch noch nicht wach. Sie sind erst gegen halb vier von ihrem Valentinsball zurückgekehrt, und so wie es sich anhörte, waren sie auch nicht mehr ganz nüchtern. Sie versuchten zwar leise zu sein, aber das Kichern von Mama und das leise Lachen von Papa waren nicht zu überhören. Dann schäkerten sie noch eine Weile im Wohnzimmer rum, wo sie nochmal Musik auflegten und weiter tanzten.
Währenddessen lag ich in meinem Bett und heulte wieder, weil offensichtlich alle um mich herum mehr Glück und/oder Erfolg bei der Partnersuche hatten als ich. Wenn man gerade Liebeskummer hat, dann will man keine glücklichen Paare um sich haben.
Als sie dann um vier Uhr ins Bett gingen und noch kurz bei mir reinschauten, habe ich mich schlafend gestellt.
Appetit oder Hunger oder Lust auf Frühstück habe ich auch nicht. Denn ich habe das Gefühl, dass ich alles wieder auskotzen würde, wenn ich jetzt was essen würde. Und mir graut es davor, Mama und Papa gleich erzählen zu müssen, was denn nun alles auf Tines Party passiert ist…
In diesem Moment klingelt das Telefon. Ich bleibe seelenruhig im Bett liegen, denn ich habe ja einen Zettel draufgelegt, dass ich nicht da bin, falls es Lukas ist. Daher kann ich auch nicht rangehen.
Es klingelt ein viertes Mal, ein fünftes Mal. Schließlich höre ich, wie die Schlafzimmertür meiner Eltern geöffnet wird und jemand endlich abhebt.
„Schröder“, höre ich Mama im Flur verschlafen ins Telefon nuscheln. „…’nmorgen… ja, macht nix… Moment, ich schau mal nach, ob der schon wach ist…“
Sie meint doch wohl hoffentlich Papa?! Mama, ich bin nicht da!!!
In dem Moment klopft es an meiner Tür und Mama schiebt ihren Kopf rein. Ich schüttele energisch mit dem Kopf und versuche ihr klarzumachen, dass ich nicht telefonieren will, egal, wer es ist! Offensichtlich kapiert sie es aber nicht.
„Ja, der ist wach, Lukas… Moment, ich gebe ihn dir…“ Sie reicht mir das Telefon. „Lukas will dich sprechen. Warum gehst du denn nicht ans Telefon, wenn du schon wach bist?“ Sie schaut mich mit ihren Augenrändern leicht vorwurfsvoll an. Dafür erntet sie einen bösen Blick von mir. Dann geht sie wieder raus.
„Hallo?“, sage ich ins Telefon und versuche, so normal wie möglich zu klingen.
„Morgen, Timmi, habe ich dich geweckt?“ Ich merke an Lukas’ Stimme, dass er äußerst glücklich ist. Sie überschlägt sich fast.
„Nein, ich war schon wach.“
„Timmi, das war ein grooooßer Abend gestern!“
„Ja?“
„Jepp! Jannis und ich sind jetzt zusammen!“ Treffer, versenkt. Das ist genau der Satz, der mir jetzt noch gefehlt hat. Ich merke, dass sich mir wieder der Magen zusammenzieht.
„Das… freut mich für euch“, lüge ich matt ins Telefon.
„Ich bin so megafroh, dass das geklappt hat! Es ist einfach unbeschreiblich, dieses Gefühl!“
„Aha…“ Ich bekämpfe verzweifelt die Tränen, die sich auf einmal ihren Weg in meine Augen bahnen. Ich schaffe es nur unter größter Anstrengung.
„Und das verdanke ich nur dir!“ Lukas scheint gar nicht zu bemerken, dass ich etwas monoton bin. „Dass du angefangen hast, über die WM zu reden, war perfekt! Aber das Geilste war, dass du dich doof gestellt hast von wegen Neuville und dem Kameruner und so. Das war der Hammer!“, lacht er. „Ich musste Jannis später erstmal erklären, dass du dich nur verstellt hast, denn der hat echt geglaubt, dass…“
„Äh, Lukas?“, unterbreche ich ihn vorsichtig.
„Ja?“
„Ich habe mich nicht verstellt.“
Verdutztes Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Du verarscht mich doch jetzt, oder?“, fragt Lukas schließlich skeptisch.
„Nein, tue ich nicht. Ich habe wirklich nur diese eine Halbzeit gesehen und kenne nicht einen Namen der deutschen Spieler.“
„Ups… äh…“ Lukas ringt nach Worten. Dann führt er schnell seine Erzählung fort: „Egal. Jedenfalls sind wir dann ja noch zu ihm gegangen. Und auf dem Weg zu ihm haben wir dauernd nur rumgeknutscht! Der kann ja so gut küssen… Und diese Lippen… haaaaa“, seufzt er laut.
„So?“, meine ich nur knapp.
„Hihi, und dann hat uns irgendwer dabei gesehen!“, fährt er kichernd fort. „Haha! Irgendein Spießer stand auf einmal an der Ecke von der Straße und sah uns beim Küssen zu. Wir haben das erst nicht bemerkt, aber dann hat der sich geräuspert und wir haben nur noch zugesehen, dass wir da wegkommen. Hahaha!“
Lukas lacht sich scheckig dabei. Wenn du wüsstest, dass du gerade mit diesem „Spießer“ telefonierst!
Aber immerhin bedeutet es, dass sie mich wirklich nicht erkannt haben.
„Und dann?“, frage ich, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass mich das alles interessiert.
„Na ja“, meint Lukas etwas verlegen, „dann waren wir halt bei ihm.“
„OK, dann denke ich mir jetzt einfach mal meinen Teil…“
„Ja, mach mal“, höre ich Lukas durch das Telefon grinsen, nur um danach wieder schnell das Thema zu wechseln. „Wie lange warst du denn noch da?“
„Auch nicht mehr lange. Ich bin kurz nach euch gegangen.“
„Ja, das sagte Tine auch. Ob die etwas ahnt? Die schaute uns so komisch an, als wir nach zwei Stunden wieder bei ihr auftauchten…“
„Nein, sie ahnt es nicht.“
„Puh…!“, atmet Lukas auf.
„Sie weiß es“, sage ich seelenruhig.
Ich höre, dass Lukas einen Schreck bekommt. „Waren wir so offensichtlich?“
„Nein, ich habe es ihr gesagt“, erwidere ich ebenso ruhig.
„DU HAST WAAAS?!“
„Ich habe ihr gesagt, dass ihr zwei jetzt zusammen seid und ihre Valentinsparty ein voller Erfolg war“, antworte ich, als wäre es das Normalste von der Welt.
„Und…? Wie hat sie reagiert?“, fragt Lukas ängstlich.
„Sie hat’s ganz gut verkraftet. Also, bei der brauchst du dir da echt keine Sorgen zu machen. Erstens ist sie da sehr tolerant, und zweitens kann sie ein Geheimnis für sich behalten.“
Ich weiß ja, wovon ich rede.
„Aha“, meint er, immer noch skeptisch. „Ich möchte dich aber dennoch bitten, dass nicht noch weiter raus zu posaunen, ja?“
„Okay.“
Wir schweigen kurz. Dann fragt er vorsichtig: „Hat sich denn bei dir noch was ergeben?“
„Pfff!“, mache ich säuerlich. „Nein, ich bin ja kurz nach euch gegangen. Nachdem ich dort meine Aufgabe als erfüllt angesehen habe, sah ich auch keinen Grund mehr, noch länger als notwendig auf der Party zu bleiben.“
„Mann, Timmi, so wird das nie was mit dir! Du musst mal ein bisschen aus dir herauskommen, wenn du ein Mädchen kennen lernen willst!“
Wenn du wüsstest!
„…oder einen Jungen!“ Lukas’ Grinsen bleibt mir dabei nicht verborgen.
„Ähm…“, stottere ich kurz, denn irgendwie spiele ich für einen halben Moment mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, dass mir das deutlich lieber wäre. Soll ich oder soll ich nicht?
Lukas jedenfalls interpretiert mein Stottern falsch und nimmt mir die Entscheidung ab. „Entschuldige, sollte ein Witz sein… war nicht böse gemeint…“
„Schon gut…“ Damit ist auch diese Gelegenheit, ihm mein kleines Geheimnis zu verraten, ungenutzt verstrichen.
„Was hast du denn noch vor heute? Jannis und ich wollen heute Abend ins Kino und danach ins Bizarre. Hast du vielleicht Lust, mitzukommen? Er möchte nämlich ganz gerne die Hupe besser kennen lernen, der wir unser Glück zu verdanken haben.“
Das glaube ich jetzt nicht. „Du fragst mich doch jetzt wohl nicht allen Ernstes, ob ich mit Euch in eine schwule Disko gehe, oder?“
„Doch, genau das tue ich“, kichert Lukas.
„Muss ich darauf wirklich antworten?“
„Mensch, das Bizarre ist keine Disko wie das Depot. Da gibt es auch keine Gorillas.“
„Das ist mir egal. Gorillas bleiben Gorillas, egal, ob sie schwul sind oder nicht. Also gehe ich nicht hin.“
„Schade“, schmollt Lukas gespielt. „Ich dachte, du möchtest deinem besten Freund zeigen, wie tolerant du bist.“
„Du meinst, noch mehr, als ich es eh schon getan habe, indem ich ihn mit seinem jetzigen Freund verkuppelt habe?“, frage ich trocken.
„Genau“, kichert er wieder.
„Vergiss es.“
„Aber wenigstens ins Kino kannst du doch mitkommen!“
„Was wollt ihr euch denn ansehen?“
„Das wissen wir noch nicht, das entscheiden wir spontan.“
„Egal, es läuft eh gerade nichts Interessantes. Ergo: ohne mich.“
„Och, Timmi…“
„Lukas: nein! Ihr zwei solltet euch jetzt erstmal allein besser kennen lernen – soweit da gestern Abend noch Fragen offen geblieben sind.“ Oha. Mein Zynismus geht wieder mit mir durch.
„Gnagnagna!“
Und mein Temperament geht auch mit mir durch. „Und falls du wieder auf den glorreichen Gedanken kommen solltest, hier heute Abend um Viertel vor acht aufzukreuzen, bevor du dich mit Jannis triffst, um mich zu zwingen, doch noch mitzukommen, vergiss es!“
Lukas ist einen Moment lang still. Dann fragt er vorsichtig: „Sag mal, bist du irgendwie sauer auf mich?“
„Nein. Ich hasse es bloß, wenn man mich zwingt, irgendwo hinzugehen, wo ich nicht hin will.“
„War dir die Party gestern denn wirklich so zuwider?“, fragt er fast mitleidig.
„In einem Wort: ja!“
„Aber wieso denn? Nur wegen Tine etwa?“
Das ist der Moment, in dem mir endgültig der Kragen platzt. „Ach, glaub doch, was du willst! Ich habe jedenfalls keinen Bock auf verliebte Pärchen im Moment, kapiert?“
„Bist du etwa eifersüchtig?!“, fragt er fassungslos.
„Ja, bin ich, denn alle Leute scheinen im Moment mehr Glück darin zu haben, einen Partner zu finden als ich! Meine Eltern sind glücklich, Tine ist glücklich, du bist glücklich…“
„Aber wenn du nie rausgehst, darfst du dich auch nicht wundern, dass du niemanden kennen lernst!“, unterbricht Lukas mich. „Meinst du, deine Traumfrau klingelt irgendwann bei euch und sagt: ‚Hallo, Tim, hier bin ich!’ Dafür muss man auch ein bisschen was riskieren! Glaubst du etwa, mir fiel das leicht gestern, Jannis’ Hand zu nehmen?! Bestimmt nicht! Aber ich habe es trotzdem riskiert, auch auf die Gefahr hin, dass er mir die Fresse poliert und allen erzählt, dass ich schwul bin!“ Jetzt scheint Lukas auch ein wenig pissig zu sein.
Wir erleben hier gerade unseren ersten Streit.
„Aha, und du glaubst allen Ernstes, dass es genügt, wenn ich mich in der Disko auf die Tanzfläche stelle, mich ungelenk, wie ich bin, zu irgendwelcher Musik bewege, die ich scheiße finde, und dabei Alkohol trinke, den ich weder sonderlich mag noch gut vertrage, damit ich endlich auch mal zum Zuge komme?“
„Erstens: niemand zwingt dich, Alkohol zu trinken. Zweitens: niemand zwingt dich, zu tanzen. Und drittens: das ist allemal besser als gefrustet auf der Fensterbank zu sitzen, Musik von toten Leuten zu hören und zu jammern, dass alle anderen Menschen verliebt sind!“
„So, findest du?!“, gifte ich.
„Ja, finde ich!“, giftet er zurück.
„Schön für dich. Ich fühle mich dabei jedenfalls wohler als bei irgendeiner Fleischbeschau in irgendeinem schummerigen Drecksladen. Und eines kannst du mir glauben: Ich werde auch heute Abend wieder gefrustet auf meiner Fensterbank sitzen, Musik von toten Leuten hören und jammern, dass alle anderen Menschen verliebt sind!“
„Dann wundere dich nicht, dass dabei nichts rumkommt!“
„Keine Angst, werde ich nicht. Du hast mich ja freundlicherweise über die Risiken und Nebenwirkungen informiert. Und nun wünsche ich dir viel Spaß im Kino und im Bizarre mit Jannis.“
„Timmi, ich will mich nicht mit dir streiten…“, setzt er an, kommt aber nicht weit.
„Und hör auf, mich ‚Timmi’ zu nennen, ich bin kein kleines Kind mehr!“, brülle ich ins Telefon. Und bevor ich mir meiner Handlung bewusst werde, drücke ich auf ‚Auflegen’.
Na super. Das habe ich ja toll hingekriegt. Damit habe ich wahrscheinlich gerade den einzigen Freund verloren.
Das ist der Beweis: Liebe zerstört Freundschaften.
Wieder wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Vielleicht ist es ja auch besser so. Die zwei haben sich jetzt gefunden, und so laufe ich nicht Gefahr, mir andauernd ihr Rumgeturtel antun zu müssen. Solche Dreiergespanne können einfach nicht funktionieren. Außerdem habe ich keine Lust, immer nur das fünfte Rad am Wagen zu sein.
Das Leben wird schon weiter gehen… irgendwie. Leider habe ich aber nicht die leiseste Ahnung, wie, besonders, da ich die zwei an fünf Tagen in der Woche in der Schule sehe. Das wird es nicht einfacher machen. Erst recht nicht nach meiner Aktion von eben.
Ich nehme das Telefon und bringe es zurück auf den Flur, wo die Ladestation steht. Neben dem Telefontisch liegt mein Zettel auf dem Boden, natürlich mit der Schrift nach unten. Deswegen hat Mama mir also das Telefon ins Zimmer gebracht. Ich hebe ihn auf und zerknülle ihn. Er hat versagt.
Ich gehe zurück in mein Zimmer und heule mich zum hoffentlich letzten Mal wegen Lukas aus.
„Meinst du, dass das schlau war?“, fragt Tine entgeistert.
Ich zucke teilnahmslos mit den Schultern und rühre meinen Tee um. Tine ist um halb drei hier aufgetaucht. Natürlich unangemeldet.
„Ich muss zugeben, dass ich das genauso wenig verstehe wie Lukas“, fährt sie vorwurfsvoll fort. „OK, du bist eifersüchtig oder traurig, dass er jetzt mit Jannis zusammen ist. Das kann ich ja noch einsehen. Aber ihn so am Telefon zusammenzufalten, das war nicht nötig.“
Dummerweise hat sie irgendwie ja Recht. Aber trotzdem. Punkt. „Hat er dir wirklich alles erzählt?“
„Ja, das ganze Gespräch hat er mir wiedergegeben. Er klang ziemlich traurig am Telefon, auch wenn er das nie zugegeben hätte. Du hast ihm ganz schön wehgetan, weißt du?“
„Er hat mir auch wehgetan“, erwidere ich trotzig.
„Indem er dir einen guten Rat gegeben hat? Indem er dir helfen wollte? Indem er dir die Wahrheit gesagt hat?! Ich bitte dich! Oder weil er sich erdreistet hat, nicht in dich verliebt zu sein, sondern in Jannis?! Herrgott, der weiß doch noch nicht mal, dass du schwul bist! Er hält dich bloß für einen schüchternen – nein, streich das – für einen verklemmten kleinen Jungen, der keine Diskos mag, gegenüber einer Frau das Maul nicht aufkriegt und traurig auf seiner Fensterbank sitzt und sich die Stadt anschaut!“
Ich sitze traurig auf meiner Fensterbank und schaue mir die Stadt an. „Vielleicht liegt er damit ja gar nicht mal so falsch? Abgesehen von einem klitzekleinen Detail…“
Tines Augen verengen sich auf einmal zu Schlitzen. „A propos Detail: Wie kommt er eigentlich darauf, dass du in mich verliebt wärst?“
Ach ja. Da war ja noch was. „Das hat er also auch erzählt?“
„Mehr oder weniger, er hat sich verplappert. Also? Ich warte!“
Ich habe das Gefühl, dass ich heute anscheinend alle Menschen verprelle, die mir was bedeuten. Ich seufze.
„Eigentlich wollte ich nicht zu deiner Party kommen. Weil ich ahnte, dass genau das passieren würde, also dass Lukas und Jannis zusammenkommen. Und das wollte ich mir nicht antun – oder ansehen. Dummerweise nur tauchte Lukas hier unangemeldet auf, um mich abzuholen. Als ich ihm dann zu erklären versuchte, warum ich nicht mitkommen wollte, vermutete er, dass ich in dich verliebt sei. Na ja, und da habe ich ihm halt nicht widersprochen…“
„Hättest du aber tun sollen!“
„Warum? Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich in ihn verliebt bin … war… ach, was weiß denn ich? Meinst du, das hätte irgendwas geändert?“
„Nein, aber zumindest wäre es ehrlich gewesen! Und ihr würdet noch miteinander reden.“
Ich schweige, denn ich weiß eh nicht, was ich noch sagen soll. Ich zucke mit den Schultern. „Das sagst du so einfach. Die ganze Woche lang redete er nur von Jannis… Wahrscheinlich, weil ich der Einzige war, dem er davon erzählen konnte…“ Ich seufze. „Glaub mir, das war ganz schön happig.“
Tines Gesichtszüge und Stimme sind wieder weicher geworden. „Ich kann es mir denken… Aber wie soll es nun deiner Meinung nach weitergehen?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Seit gestern Abend ist mein Kopf einfach leer. Ich sehe dauernd nur diese Bilder vor meinen Augen, immer nur Lukas und Jannis, Lukas und Jannis… Und ich kriege die einfach nicht weg! Ich kann mich nicht ablenken, immer wieder kreisen meine Gedanken um Lukas und…“, ich muss schlucken, „…und seinen Freund…“
Tine seufzt, ob genervt oder nicht kann ich nicht sagen. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich kann auch verstehen, dass es dir heute dreckig geht. So scheiße sich das auch anhören mag, aber du solltest dich an den Gedanken gewöhnen, dass die beiden jetzt zusammen sind.“
Damit spricht sie ein großes Wort gelassen aus.
„Und ich finde, dass du heute Abend mitkommen solltest. Andi und ich gehen auch hin.“
„Ins Bizarre etwa?“
„Ganz genau.”
„Und was soll ich da? Besonders nach dieser Telefonaktion?“
Sie schaut mich etwas genervt an. „Zumindest könntest du dich entschuldigen. Und mal ein paar Stunden unter Gleichgesinnten verbringen. Das würde dir vielleicht mal ganz gut tun.“
„Ach, ich weiß nicht…“
Auf einmal steht sie direkt neben mir an der Fensterbank, fast genauso wie Lukas neulich. Allerdings nicht mit einem Dackelblick, sondern eher mit dem Blick eines scharfen Rottweilers.
„Jetzt hör mir mal gut zu, Freundchen. Du bewegst heute Abend deinen kleinen schwulen Hintern ins Bizarre und entschuldigst dich bei Lukas und verbringst ein wenig Zeit mit deinen Freunden. Ist das klar? Und wage es ja nicht, den Schwanz einzuziehen und nicht aufzutauchen. Denn sonst werde ich Dir dermaßen den Arsch aufreißen, dass du bei deinem ‚Jugend musiziert’-Konzert in vier Wochen nur im Stehen Klavier spielen kannst. Haben wir uns verstanden?“
Ich starre sie mit großen Augen an. Ich habe sogar ein wenig Angst vor ihr – so habe ich sie noch nie erlebt.
„D-das Konzert ist aber schon in drei Wochen…“, stammele ich nervös.
„Dann werden deine Wunden eben noch frischer sein. Kapiert?“ knurrt sie mich an.
Ich nicke hastig. „Ja…“
Sofort ändert sich wieder ihr Gesichtsausdruck. Sie lächelt zufrieden. „Sehr gut. Wir treffen uns um halb elf vor dem Eingang.“ Dann werden ihre Stimme und ihre Augen wieder kalt: „Und nicht eine Sekunde später.“
Wieder nicke ich nur eingeschüchtert.
„Sehr schön. Bis nachher!“ flötet sie und geht.
Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde, oder?
Ich kenne Tine seit der 5. Klasse. Wir kamen zusammen in die 5b in unserem Gymnasium und hatten die meiste Zeit nicht viel miteinander zu tun. Sie hatte halt ihre Freundinnen und ich stand die meiste Zeit mit den Jungs aus der Klasse rum.
Erst zwei, drei Jahre später änderte sich das. Die 8. Klasse war einerseits die Zeit, wo auch beim Letzten von uns die Pubertät einsetzte und das jeweils andere Geschlecht immer interessanter wurde. Die Mädchen standen jetzt nicht mehr kichernd in einer Ecke des Schulhofes und redeten über Gott weiß was für unwichtiges Zeug („Hast du die neue Frisur von XY schon gesehen?“), sondern standen kichernd in einer Ecke des Schulhofes und warfen uns, den Jungs, verschwörerische Blicke zu.
Auch bei der Jungsfraktion hatte sich ein wenig geändert: Anstatt über Fernsehen, Filme und Fußball zu reden, redeten sie nun über Fernsehen, Filme, Fußball und Frauen – also Themen, die mich bis heute nicht sonderlich interessieren. Jörg war, damals wie heute, der Lauteste in der Gruppe, und ich war, damals wie heute, sein Gegenteil: der Leiseste.
Meine Stille hatte verschiedene Gründe: Einerseits war es schon immer meine Art gewesen, andererseits merkte ich, dass weder Jörgs Prahlereien noch die Mädchen mich in irgendeiner Form interessierten – wobei mir mein mangelndes Interesse an Jörgs Gesabbel deutlich weniger Sorgen bereitete.
Da war einfach kein Kribbeln, kein Interesse, kein Nichts. Stattdessen stellten sich die ersten Schwärmereien für den einen oder anderen Jungen aus meiner Klasse oder Parallelklasse ein, welche ich erst nicht beachtete, dann nicht verstand, und schließlich bewusst zu ignorieren versuchte.
Was alles nicht wirklich von Erfolg gekrönt war. Und so dämmerte mir irgendwann, dass ich eventuell… vielleicht… na ja… halt schwul sein könnte.
In die letzte Phase dieser Entwicklung flatterte nun eines Donnerstags in der 9. Klasse in einer kleinen Pause ein kleines, zusammengefaltetes Zettelchen in mein Mathebuch. Es war Sommer und die Schule hatte gerade wieder angefangen. Ich blickte überrascht auf und sah Tine kichernd an mir vorbei und rüber zu ihren Freundinnen laufen.
Verwundert nahm ich den Zettel an mich und fühlte mich dabei ziemlich beobachtet. Von der Ecke, in der Tine saß, starrte sie mit ihren Freundinnen rüber, und in meiner Ecke verstummten die Gespräche der Jungs, deren Gesichtsausdrücke verrieten, dass sie nur darauf brannten zu erfahren, was auf diesem Zettel stand.
Vorsichtig faltete ich ihn auseinander. „Ich will mit dir ins Kino gehen. Hast du morgen Nachmittag Zeit?“, stand dort in dieser typischen runden Mädchenschrift.
Ich starrte auf diese zwei harmlosen Zeilen und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Zum Glück kam in diesem Moment unsere Mathelehrerin in die Klasse und gab mir so 45 Minuten Zeit zu überlegen, was ich tun könnte.
Noch nie hatte mich ein Mädchen gefragt, ob ich was mit ihr machen wollte. Und ich war innerlich auch ziemlich unschlüssig. Einerseits wollte ich schon, immerhin wäre das mein erstes Date. Andererseits wusste ich nicht, ob das eine gute Idee sein würde, denn schließlich schien sich Tine in irgendeiner Form für mich zu interessieren, und mir war klar, dass ich das, was sie eventuell von mir wollte, ihr nicht würde geben können.
Aber irgendwie imponierte mir der Ton, der in diesen Zeilen steckte. Sie fragte nicht, ob ich vielleicht Lust hätte. Sie sagte auch nicht, dass sie gerne mit mir ins Kino gehen wollte. Nein, sie sagte, „ich will“.
Dementsprechend nickte ich auch schüchtern, als sie mich in der nächsten Pause direkt darauf ansprach.
„Schön“, flötete sie. „Dann morgen um drei vorm Cinemaxx.“
Ich nickte abermals und schlich zu den anderen Jungs rüber.
„Na, watt willse?“, röhrte Jörg.
„Ins Kino”, antwortete ich knapp.
„Na klasse! Pass auf, wennde die klaamachen willst, machste das folgendermaßen: …“ Da ich nicht zuhörte, was Jörg und die anderen Jungs mir für Tipps gaben, kann ich das Gespräch heute auch nicht mehr wiedergeben.
Am nächsten Tag stand ich wie verabredet pünktlich um drei vor dem Kino. Als Tine auftauchte, begrüßte sich mich zum ersten Mal mit einer Umarmung. Etwas steif und unbeholfen erwiderte ich diese Umarmung.
Tines Wahl fiel auf „Unser (T)Raumschiff“, oder wie dieser Film hieß. Da mich alle Filme nicht sonderlich interessierten, zuckte ich nur mit den Schultern, nickte und folgte ihr artig ins Foyer. Nachdem wir die Karten und etwas Popcorn gekauft hatten, setzten wir uns auf unsere Plätze. Tine schnatterte dabei munter über die Schule und so weiter vor sich hin, während ich versuchte, einen interessierten Gesichtsausdruck zu machen.
Das Kino war fast ausverkauft. In der Reihe vor uns waren bis kurz vor Anfang noch ein paar Plätze frei, als auf einmal drei Jungs in unserem Alter rein kamen und direkt vor uns Platz nahmen. Als ich den mittleren der Drei sah, schlug bei mir der Blitz ein. Er war einfach nur… wow!
Während ich dahin schmolz, schnatterte Tine munter weiter. Das war mir auch ganz recht, denn es bedeutete, dass sie wahrscheinlich nichts bemerkt hatte.
Doch der Höhepunkt kam, als das Licht ausging. Der Junge, den ich heimlich anschmachtete, blinzelte den Jungen links von ihm, der vor mir saß, an und drückte ihm auf einmal einen schnellen Kuss auf die Wange.
Ich spürte einen Kloß in meinem Hals, meine Stimmung war im Eimer, und ich fühlte mich noch mehr fehl am Platze, als ich es vorher eh schon tat: Ich saß in einem Film, der mich nicht sonderlich interessierte, mit einem Mädchen, das wer weiß was von mir wollte und sah einem unglaublich tollen Jungen dabei zu, wie er mit seinem Freund Händchen hielt.
In diesem Moment warf ich sämtliche Restzweifel, die ich noch hatte, über Bord. Ich beneidete die beiden, denn mir war klar geworden, dass sie genau das hatten, wonach ich mich in meinem tiefsten Inneren auch sehnte: nämlich einen Freund.
Von dem Film bekam ich nicht mehr viel mit. Ich starrte die meiste Zeit nur auf den Jungen im Sitz vor Tine.
Irgendwann war der Film vorbei, und alle strömten nach draußen, Tine und ich direkt hinter diesem Jungen. Draußen vor dem Kino verlor ich sie aus den Augen.
Ratlos stand ich neben Tine. Erwartete sie jetzt noch irgendwas Bestimmtes von mir?
„Na, wie hat er dir gefallen?“, riss sie mich aus meinen Gedanken.
„Joah, war nicht schlecht, der Film“, antwortete ich ausweichend.
„Ich meinte nicht den Film, sondern den Jungen vor uns“, erwiderte Tine mit einem leichten Lächeln.
Mit schreckensweiten Augen starrte ich sie an. Scheiße, sie hatte es doch bemerkt!
„Jetzt schau nicht so erschrocken. Es ist alles ok!“, versuchte sie mich zu beruhigen und nickte mir aufmunternd zu. „Ich werde es niemandem erzählen oder dich damit erpressen, kapiert?“
Ich nickte vorsichtig, denn trotzdem hatte ich irgendwie doch noch Angst.
„Lust auf ’nen Burger?“, fragte sie, hakte mich unter und begann, mich in Richtung Burger King zu lenken. Ich war zu durcheinander, um in irgendeiner Form zu reagieren. Schweigend liefen wir nebeneinander her.
„Bist du dir denn sicher, dass du schwul bist?“, fragte sie nach ein paar Metern leise.
Wiederum schaffte ich es nur zu nicken.
„Schon lange?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte ich zaghaft. „Den letzten Zweifel habe ich eben im Kino über Bord geworfen…“
„Wegen dieses Jungen?“
Ich nickte.
Sie seufzte. „Schade, dass du nicht in meiner Liga spielst… aber was will man machen?“
Ich lächelte vorsichtig. „Danke.”
„Aber ein wenig neugierig bin ich schon. Du musst mir gleich alles beim King erzählen, okay?“
Ich nickte. Wir suchten uns eine ruhige Ecke, mümmelten unsere Fritten und schlürften unsere Cola, während Tine mich ausfragte.
Seit dem Tage weiß sie es also und ist eigentlich immer auf dem Laufenden, was mein Gefühlsleben betrifft. Ich habe es lange aufgegeben, meine Gefühle vor ihr zu verheimlichen. Irgendwie merkte sie es immer, wenn ich mal wieder jemanden (erfolglos) anschmachtete.
Und nun, knapp zweieinhalb Jahre nach unserem Kinobesuch, zwingt sie mich, zum ersten Mal in meinem Leben ins Bizarre zu gehen.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht.
„You won’t see me cry
You know I decided
That I’m gonna pull myself together
And find a way to fight it
I’m gonna have to hide it
You won’t see me cry…”
Wilson Philips: „You Won’t See Me Cry“
(geschrieben von C. Wilson, G. Ballard, C. Phillips, W. Wilson)
22:27 Uhr. Seit ziemlich genau vier Minuten stehe ich vor dem Eingang vom Bizarre und warte auf Tine und Andi. Dabei laufe ich im Kreis, und das aus zwei Gründen: Erstens ist es schweinekalt, und zweitens bin ich ein wenig nervös – um es mal vorsichtig auszudrücken. Immerhin ist es mein erster Abend in einem solchen „Etablissement“.
Mama und Papa scheinen sich mit Tine gegen mich verschworen zu haben. Sie konnten auch nicht verstehen, warum ich Lukas am Telefon so abgefertigt habe, und waren ebenfalls der Meinung, dass ich heute Abend mit ins Bizarre gehen sollte.
Warum glauben alle Leute besser zu wissen als ich, was ich möchte und was für mich gut ist?!
22:30:01 Uhr. Nur zur Info: Ich war pünktlich!
Während ich mir hier draußen meine primären Geschlechtsmerkmale abfriere, kommen ein paar Leute vor der Tür vom Bizarre an und beäugen mich interessiert. Zumindest bilde ich mir das ein… Das heißt, dass die Fleischbeschau schon hier draußen beginnt. Dann kann es drinnen ja nur noch schlimmer werden. Ich frage mich langsam, worauf ich mich hier eingelassen habe.
Wo zum Henker bleiben eigentlich Tine und Andreas?!
Endlich sehe ich die zwei um die Ecke biegen und gemächlich auf mich zukommen. Tine grinst, als sie mich sieht, und André sieht so aus, wie ich mich fühle: Sein Blick verrät mir, dass er auch nicht sonderlich scharf auf diesen Laden ist.
„Hi! Wartest du schon lange?“ fragt Tine, während sie mich zur Begrüßung umarmt.
„Lange genug um zu wissen, dass ihr zu spät seid“, erwidere ich unwirsch.
Andi gibt mir die Hand. „Dich hat sie also auch gezwungen mitzukommen, was?“
„Sozusagen.“
„Wieso eigentlich?“ fragt er weiter. „Gehörst du etwa auch zu dem Verein?“
Nette Umschreibung für „bist du auch schwul“, nicht wahr?
„Sozusagen“, wiederhole ich trocken.
Andi stiert mich mit großen Augen an. „Noch einer?! Drei Outings in zwei Tagen! Ich fasse es nicht. Tine, ich werde mir da drinnen so was von die Kante geben.“
„Du wirst dich hüten, Schatz“, erwidert sie grinsend. „Sonst rette ich dich nicht, wenn du angebaggert wirst.“
Andi und ich sehen beide etwas niedergeschlagen aus, während Tine uns durch die Tür ins Bizarre führt.
Denn mal los…
Nachdem wir unsere Jacken abgegeben haben und durch das Foyer gelaufen sind, schlagen mir der übliche Diskogeruch, eine Mischung aus Zigarettenqualm und warmer, verbrauchter Luft, und das etwas zu basslastige Wummern von Technomusik entgegen. Und obwohl ich gerade vier Euro Eintritt gezahlt habe, meldet sich in meinem Bauch ein Fluchtreflex. Offensichtlich spricht mein Gesichtsausdruck Bände, denn Tine hat mich und Andi erstaunlich fest am Handgelenk gepackt und zerrt uns in den Innenraum.
Vor mir öffnet sich eine typische Großraumdisko. In der Mitte eine riesige Tanzfläche, auf der sich einige Leute tummeln. Drumherum stehen auf zwei Etagen einige Tische, an der etliche andere Leute stehen, mal paar- oder gruppenweise, mal einzeln, und sich unterhalten, trinken, gaffen. Andreas, der sich aus Tines Klammergriff befreit hat, deutet auf die nächste der drei Bars und ruft, um den infernalischen Lärm (andere nennen es „Musik“) zu übertönen: „Ich gehe Getränke holen! Was wollt ihr? Bier?“
Tine nickt. Ich schüttele mit dem Kopf. „Sprite!“, rufe ich zurück.
„Was?“, fragt er brüllend nach.
„’NE SPRITE!“
Dann zieht er los. Er sieht dabei aus, als versuche er krampfhaft, nicht nach links oder rechts zu sehen. Wenn mir diese ganze Situation nicht so unangenehm wäre, würde ich sie brüllend komisch finden. Aber unter den gegebenen Umständen ist mir nicht nach Lachen zumute.
„Hast du Lukas und Jannis schon gesehen?“ brülle ich in Tines Ohr, die sich angestrengt umsieht.
„Nein. Vielleicht hat der Film etwas länger gedauert. Aber keine Angst, die kommen schon noch!“
Wir laufen ein wenig durch die Disko und finden einen freien Stehtisch, wo es nicht ganz so laut ist, und warten auf Andi mit den Getränken und auf unser neues Traumpaar. Das gibt mir die Gelegenheit, mich ein wenig umzuschauen.
Am Nachbartisch stehen zwei Jungs, die etwas älter als ich zu sein scheinen, und damit beschäftigt sind, sich gegenseitig ihre Zunge in den Hals zu schieben. Mein Gott, sieht das… geil aus! Dabei wandern ihre Hände an ihren Körpern auf und ab und erkunden dabei Regionen, die…
„Na, gefällts dir?“, sagt irgendwo irgendjemand plötzlich.
Ruckartig hebe ich meinen Blick zurück in ihre Gesichter. Sie grinsen mich an, und der eine, der mich wohl angesprochen hat, zwinkert mir zu.
Wie peinlich!
Ich drehe mich schnell weg und schaue angestrengt in eine andere Richtung. Zum Glück ist es recht schummrig hier drin, denn sonst könnte man sehen, dass meine Gesichtsfarbe jetzt der einer Tomate gleicht.
Tine steht neben mir und brüllt vor Lachen. Na super.
Nachdem sie sich wieder halbwegs beruhigt hat, sagt sie mir ins Ohr: „An den Anblick könnte man sich gewöhnen, oder?“
Ich zucke mit den Schultern. Irgendwie schon… aber immer nur zusehen ist auf Dauer wahrscheinlich auch öde.
In dem Moment kommt Andi zurück, beladen mit drei Bieren. Aber ich wollte doch…
„Hier, dein Radler.“ Er stellt ein Glas vor mir ab.
„Wieso Radler? Ich wollte doch Sprite!“
Andi guckt etwas dümmlich. „Sorry, ich habe ‚mit Sprite’ verstanden…“
„Na toll. Und wie bekomme ich jetzt das Bier aus meiner Sprite raus?“, knurre ich.
„Trink es einfach. Den Rest erledigt dein Verdauungstrakt“, zickt Andi zurück.
Tine hebt ihr Glas und stößt mit uns an. Ich nippe vorsichtig am dem Radler, und während ich mich frage, warum das Zeug so heißt und mir unterernährte Typen in hautengen Gummianzügen vorstelle, die wie die Bescheuerten auf einem Fahrrad durch ganz Frankreich fahren, stelle ich fest, dass das gar nicht mal sooo schlecht schmeckt; die Sprite übertüncht den bitteren Biergeschmack.
Auf einmal stehen Lukas und Jannis neben uns. Ich hatte sie gar nicht kommen gesehen.
„Heeeeey!“ Tine begrüßt sie mit ihrer üblichen Umarmung, während Andi ihnen etwas steif die Hand gibt. Da hat wohl einer noch ein paar Berührungsängste.
Dann steht Lukas vor mir. Er sieht heute besonders toll aus: Er hat seine Haare gestylt, und sein enges dunkelblaues Shirt passt wunderbar zu seinen Haaren und zu seiner Jeans.
„Hey…“, meint er zögernd. Dabei schaut er drein, als ob er befürchten würde, dass ich ihm gleich wieder ins Gesicht springe.
„Hey…“, erwidere ich kleinlaut und betrachte eingehend meine Schuhe.
„Schön, dich zu sehen. Ehrlich gesagt hätte ich nicht mit dir hier gerechnet“, sagt er trocken nach einem kurzen Moment des Schweigens. Jannis steht zwischen Tine und Andi, und zu dritt beobachten sie uns.
Das macht es mir natürlich nicht leichter.
„Du, Lukas, wegen heute Morgen…“ Ich zögere. Ich habe mir zwar tausend verschiedene Szenarien ausgemalt, wie ich mich jetzt bei ihm entschuldigen könnte, aber sie scheinen alle aus meinem Kopf verschwunden zu sein.
Ich atme tief durch, nehme das letzte bisschen Mut zusammen, das ich noch habe, und schaue ihm direkt ins Gesicht.
„Es tut mir leid, die Sache am Telefon heute Morgen. Ich hätte dich nicht so anschnauzen sollen. Ich freue mich für dich und hoffe, dass ihr noch lange glücklich zusammen seid. Und das meine ich auch ehrlich so.“ Schnell schaue ich wieder auf meine Schuhe.
Ich weiß nicht, ob man mir ansieht, wie viel Aufwand mich diese 38 einfachen Worte in vier einfachen Sätzen gekostet haben. Obwohl ich es ja eigentlich auch ehrlich so meine. Trotzdem hat sich der Sachverhalt nicht geändert: Mein Objekt der Begierde steht vor mir, während sein Freund ein paar Schritte hinter ihm steht.
„Das ist dir gerade ganz schön schwer gefallen, oder?“, fragt Lukas nach ein paar Sekunden. „Was war denn bloß los mit dir?“
Mit der Frage habe ich gerechnet. Ich zucke mit den Schultern und starre wieder auf meine Füße. „Du bist halt mein einziger richtiger Freund, und ich hatte halt Angst, dass ich jetzt nicht mehr interessant bin für dich…“
Noch so eine Notlüge. Ich zähle sie inzwischen nicht mehr mit.
Lukas legt seinen Finger unter mein Kinn und hebt mein Gesicht an, sodass ich direkt in seine blauen Augen schaue. Es ist das erste Mal, dass er mich im Gesicht berührt, und es kribbelt am ganzen Körper. Ich ertrinke in der Karibik seiner Augen.
„Denk das nie wieder, ok?“ Er blickt mich ernst an.
Ich deute ein kurzes Nicken an.
Dann grinst er. „Komm her!“, sagt er versöhnlich und umarmt mich fest. „Wir werden immer Freunde sein, hörst du?“
Mit meinem Kopf an seiner Schulter deute ich ein Nicken an. Mir steigen kurz die Tränen in die Augen, die ich aber tapfer bekämpfe, denn in diesem Moment wünsche ich mir, dass er mich ewig so halten würde.
Auf einmal fragt jemand neben uns: „Na, alles geklärt zwischen euch?“
Jannis. Wer auch sonst sollte meinen schönsten, intimsten, ersten und letzten Augenblick mit Lukas stören?
„Jau!“, strahlt Lukas und lässt mich los.
„Schön. Dann auch nochmal von mir ein herzliches Dankeschön für gestern Abend“, grinst Jannis mich an und reicht mir die Hand. „Du Fußball-As! Jetzt mal im Ernst. Hast du dich nun verstellt oder nicht? Denn irgendwie kann ich nicht glauben, dass das alles echt war, was du da gestern von dir gegeben hast.“
Ich kratze mich verlegen am Kopf. „Glaub’s ruhig…“
„Siehst du?! Sag ich doch!“, lacht Lukas. „Aber, hey, noch ist nicht alles verloren, denn wie ich sehe, trinkst du sogar Bier!“
„Radler“, korrigiert ihn Andi trocken.
„Na ja. Immerhin ein Anfang“, grinst Lukas.
Der DJ scheint jetzt von Techno auf Rock umgestiegen zu sein, denn in dem Moment dröhnen die ersten Takte von Kim Wildes Neuversion von „You Came“ von der Tanzfläche rüber.
„Hey, das Lied ist geil!“, ruft Jannis und greift nach Lukas’ Hand. Zusammen verschwinden sie im Gewühl der tanzenden Körper.
„Kommst du auch tanzen?“, fragt mich Tine, die wieder ihren Freund im Schlepptau hat. Andi sieht etwas unsicher aus, scheint sich aber nicht dazu durchringen zu können, gegen seine Freundin aufzubegehren.
„Nein. Dazu fehlen noch ein paar Radler…“
Bevor sie auch in Richtung Tanzfläche abrücken, flüstert sie mir ins Ohr: „Gut gemacht. Bin stolz auf dich!“
Ich bleibe alleine an unserem Tisch zurück und beobachte das bunte Treiben um mich herum… na gut, eigentlich beobachte ich nur Lukas – und gezwungenermaßen auch Jannis.
„You came and changed the way I feel
No one could love you more because
You came and turned my life around
No one could take your place…”
(Kim Wilde, „You Came“
Geschrieben von Ricki Wilde und Kim Wilde)
Ironischerweise passt dieses Lied sowohl auf Jannis als auch auf mich, denn Lukas hat unser beider Leben verändert: Jannis’ zum Besseren und meins zum… na ja. Allerdings scheint sie diese zweite Variante herzlich wenig zu stören, denn sie haben nur Augen für sich und turteln und knutschen und tanzen.
Während ich sie beobachte, wird mir wieder mal bewusst, was genau mir fehlt. Es geht mir nicht um Sex! Nein, es ist das Gefühl, zu lieben und geliebt zu werden, mit Haut und Haaren, die Romantik, das Vertrauen; das ist es, was mir fehlt – oder wonach ich mich sehne. Das Vertrauen, dass man in seinen Partner hat. Zu wissen, dass der, den man liebt, einen auch liebt. Zu wissen, dass dieser Mensch für einen da ist, genau so, wie man für ihn da ist. Zu wissen, dass man ihn küssen, halten und anfassen darf, genauso, wie er das auch darf, und auch genau dort, wo er das auch darf. Es sind dieses blinde, gegenseitige Vertrauen und diese Nähe, die ich Lukas entgegengebracht hätte, und es sind genau dieses blinde, gegenseitige Vertrauen und diese Nähe, welche er nun Jannis schenkt – und umgekehrt…
Plötzlich ist mein Radler alle, und ich beschließe, dass ich definitiv noch eins brauche. Mindestens.
So zieht sich der Abend in die Länge. Langsam gewöhne ich mich an diese Umgebung, und eigentlich entwickelt sich alles wider Erwarten ganz nett – soweit das die Umstände zulassen. Ich trinke meine Radler, was von den anderen mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge um meine körperliche Verfassung beobachtet wird, und lausche der Unterhaltung von Lukas, Jannis, Tine und Andi. Hin und wieder trage ich auch ein kurzes Wort dazu bei. Auch wenn es mir wehtut, Lukas und Jannis bei ihrem Händchengehalte und Rumgeknutsche zu sehen, stelle ich fest, dass Jannis eigentlich ein ganz umgänglicher Mensch ist, auch wenn wir keinerlei gemeinsame Interessen haben. Aber das ist egal, denn mit Lukas verbinden mich ja auch keine. Sie interessieren sich für Sport, ich für Musik. Eigentlich passen sie super zusammen – was mir einen weiteren Stich durch mein Herz bereitet.
Hin und wieder verschwinden alle auf der Tanzfläche. Ich nicht, denn dazu reichen die drei Radler nicht, die ich inzwischen getrunken habe. Oder waren es vier?
Ich bleibe an unserem Tisch und schaue ihnen dabei zu, wie sie sich auf der Tanzfläche amüsieren. Das sind die Momente, in denen ich mir am Sehnlichsten wünsche, mit Jannis tauschen zu können.
Auf einmal höre ich eine dunkle Stimme hinter mir: „Willkommen, Bruder, wir haben schon auf dich gewartet!“
Erschrocken wirbele ich herum und bekomme prompt den nächsten Schock: Vor mir steht Kevin aus der Musikschule. Wir sind uns dort ein paar Mal begegnet, denn schließlich nehmen wir beide am „Jugend musiziert“-Wettbewerb teil, haben beide die Regionalauswahl geschafft und treten beim Landeswettbewerb in drei Wochen in Essen an. Aber sonst hatten wir nie wirklich miteinander zu tun, denn er geht nicht auf meine Schule. Ich weiß nur, dass er auch 17 und eigentlich auch recht nett anzusehen ist …
Er schaut mich grinsend mit seinen großen braunen Augen an. „Keine Panik, ich bin’s nur!“
„Äh, hi“, stottere ich mir einen zurecht.
„Mit dir hätte ich hier ja gar nicht gerechnet“, lächelt er verführerisch und stellt sein Glas, das eine undefinierbare Flüssigkeit enthält und mit einem Strohhalm garniert ist, auf den Tisch.
„Was machst du denn hier?“, bringe ich schließlich mühsam hervor.
Er grinst. „Willst du eine ehrliche Antwort oder lieber eine diplomatische?“
„Äh, erstmal die diplomatische, bitte.“
„Ich suche hier den Mann fürs Leben.“
Aha, er „gehört also auch zu dem Verein“, um es mal in Andis Worten auszudrücken.
„Und was wäre die ehrliche Antwort gewesen?“
Sein Grinsen wird irgendwie dreckiger. „Ich suche irgendwas Leckeres für heute Nacht.“
„Oh...“ Zum zweiten Mal an diesem Abend werde ich puterrot. Hätte ich bloß nicht gefragt.
Er greift nach seinem Glas, und seine Zunge spielt kurz lasziv mit dem Strohhalm, bevor er einen Schluck trinkt.
„Und was treibt dich ins Bizarre?“, fragt er, nachdem er sein Glas wieder abgestellt hat.
„Ich, äh, begleite einen schwulen Freund…“ versuche ich mich ein wenig lahm aus der Affäre zu ziehen.
„Verstehe. Du bist also aus purer Nächstenliebe hier.“
„Äh, genau…“
„Und deshalb schaust du auch die ganze Zeit neidisch dieser blonden Sahneschnitte dahinten hinterher?“ Er nickt in Lukas’ Richtung, der noch immer mit Jannis tanzt.
Ich erröte. Heftigst. Zum dritten Mal.
„Äh, genau… das ist mein, äh… Freund…“ Ich bemerke, dass geistreiche Konversation mit mir zurzeit nicht möglich zu sein scheint.
Kevin legt wieder sein verführerisches Lächeln auf und den Kopf schief. „Aber nicht dein ‚Freund’ im Sinne von Lover, oder? Denn sonst dürfte dieses andere Schnuckelchen ihn wohl nicht dermaßen auf der Tanzfläche abschlecken, oder?“
Ich folge Kevins Blick auf die Tanzfläche, wo genau das gerade passiert: Lukas und Jannis küssen sich, als würde morgen die Welt untergehen.
„Nein…“, sage ich matt und konzentriere mich wieder auf mein Bierglas.
Kevin schaut weiter den beiden zu. „Hm“, meint er schließlich, „du hast Geschmack!“
„Danke…“
„Warte mal kurz, mir kommt da eine Idee.“
Er stellt sein Glas ab und verschwindet. Ich schaue ihm nach, wie er sich über die Tanzfläche zu Lukas und Jannis durchwuselt. Als er die beiden erreicht, tippt er Lukas auf die Schulter. Die beiden unterbrechen etwas überrascht ihre „Mund-zu-Mund-Beatmung“. Dann redet Kevin mit ihnen, und plötzlich ändert sich Lukas’ Gesichtsausdruck. Er scheint fast wütend zu sein, während Jannis nur verwundert die Augenbrauen hochzieht. Dann schütteln beide mit dem Kopf, und Kevin lässt die beiden wieder in Ruhe. Er wuselt sich zurück in meine Richtung, während Jannis und Lukas ihm fassungslos hinterher blicken. Zum Glück sehen sie nicht, dass sich Kevin wieder neben mich stellt, denn ihre Zungen haben wieder zueinander gefunden.
„Schade“, meint Kevin, nachdem er wieder einen Schluck getrunken hat.
„Was wolltest du denn von ihnen?“, frage ich und trinke einen Schluck Radler.
„Och, nix Wildes. Ich habe nur gefragt, ob sie nicht Lust auf einen Dreier bei mir hätten.“
Ich spucke mein Radler quer über den Tisch.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, frage ich fassungslos, während mir Tropfen meines Bier-Sprite-Gemisches am Kinn hinunterlaufen.
„Sehe ich so aus, als würde ich Scherze machen?“ Seine Zunge spielt wieder mit dem Strohhalm. Ich stelle fest, dass mich das irgendwie scharf macht.
„N-nein…“, stottere ich.
„Du hast da Bier im Gesicht“, grinst Kevin. Seine Finger nähern sich meinem Gesicht. Plötzlich spüre ich sie auf meiner Haut und wie sie langsam, zärtlich an meinem Kiefer entlang fahren, bis sie die Biertropfen von meinem Kinn aufnehmen. Mein Puls rast und mir wird gleichzeitig heiß und kalt, als ich merke, wie er mit seinen Fingerspitzen über meine Lippen fährt, als wolle er das Bier dahin zurückträufeln, wie es hingehört. Automatisch öffne ich ein wenig den Mund. Ich merke, wie sehr ich in dieser Berührung versinke – und mir gleichzeitig wie ein sabberndes Baby vorkomme.
Nachdem Kevin sein Glas wieder abgestellt hat, grinst er mich konspirativ an. „Weißt du“, setzt er an, „ich habe dich öfters in der Musikschule spielen gehört. Mir gefällt dein Stil. Du scheinst sehr sanft und gefühlvoll in den Fingerspitzen zu sein.“ Er schaut mich etwas hinterhältig an. „Ist das beim Sex auch so?“
Zum x-ten Male werde ich knallrot. Der Typ ist wohl kein Freund von diplomatischen Worten. Er schaut mich erwartungsvoll an. Nicht mal ein Hauch von Schüchternheit ist in seinem Gesicht zu entdecken.
„Nun, äh…“, stottere ich weiter, denn just in diesem Moment bin ich hoffnungslos überfordert. „Ich weiß nicht…“
Er schaut mich überrascht, wenn auch grinsend an. „Du willst doch wohl nicht allen Ernstes behaupten, dass du noch Jungfrau bist?“
Scheißescheißescheiße!!!
„Ähm… eigentlich… na ja…“ Panisch suche ich nach einer Möglichkeit, aus dieser Situation herauszukommen. Schreiend wegrennen, fällt mir spontan ein.
Stattdessen schaue ich betreten auf meine Füße.
„Wie süß!“, ruft Kevin fast und legt seinen Arm um meine Schultern. „Hast du denn wenigstens schon mal geküsst?“
Ich schüttele nur leicht mit dem Kopf. Ich will hier weg… glaube ich…
„Das lässt sich ändern“, raunt er mir zu, nimmt meinen Kopf zwischen seine Hände, und bevor mein Gehirn überhaupt verarbeiten kann, was da gerade passiert, presst er seine Lippen gegen meine. Auf einmal spüre ich seine Zunge.
Und was mache ich Trottel?!
Natürlich. Ich mache mit. Reflexartig.
Und wie!
Unsere Zungen erkunden unsere Mundhöhlen um die Wette. Ich spüre eine Ekstase, wie ich sie noch nie erlebt habe. Meine Hände finden seine Hüften und krallen sich fast in sein Hemd, während ich mich diesem faszinierenden Gefühl hingebe. Es kribbelt im Bauch, in den Zehen, in den Ohrläppchen – einfach überall.
Er kann nicht nur gut Klavier spielen. Er kann auch verdammt gut küssen.
Ich habe keine Ahnung, wie lange mein erster Kuss dauert. Ich merke nur, dass Kevin auf einmal aufhört.
Nein, bitte nicht aufhören! Mit noch geschlossenen Augen schiebe ich meinen Kopf ein wenig nach vorne in der Hoffnung, dass er weiter macht.
Macht er aber nicht. Stattdessen kichert er: „Ich glaube, wir sollten damit erstmal aufhören.“
Langsam öffne ich die Augen. Zwei Meter vor mir stehen Lukas, Jannis, Andi und Tine und starren mich fassungslos an. Vier offene Münder, acht aufgerissene Augen.
Oh nein. Nicht auch das noch…
Kevin grinst alle einmal kurz an und holt einen Zettel aus seiner Hosentasche. „War jedenfalls nett, dich und deinen Knackarsch hier zu sehen. Meld dich mal!“ Dabei drückt er ihn mit zwei Fingern auf meine Brust und fährt dann aufreizend langsam damit in Richtung „Zentralmassiv“ hinab. An meinem Gürtel angekommen, ändert er dich Richtung und steckt ihn in meine Hosentasche.
Dann gibt er mir einen letzten Kuss auf die Wange und verschwindet.
Vor mir stehen immer noch vier Personen, die nach ihrer Fassung zu ringen scheinen. Nach ein paar Sekunden scheint Jannis seine als Erster zurückerlangt zu haben. Er schaut einmal zwischen Lukas und mir hin und her und räuspert sich. Dann sagt er: „Ich glaube, ich gehe mal Getränke holen.“ Damit verschwindet er.
„Wir auch!“ sagt Tine bestimmt, greift Andi am T-Shirt und will ihn wegzerren.
„Aber mein Bier ist doch noch fast voll…“, versucht Andi etwas dümmlich ihr zu widersprechen.
„Dann gehst du eben pissen!“ faucht Tine ihn an. In diesem Moment kapiert auch er, dass Lukas und ich wohl mal einen Moment alleine sein sollen.
Nachdem auch die beiden verschwunden sind, bleibt nur noch Lukas übrig. Er steht immer noch zwei Meter vor mir. Sein Blick ist unmöglich zu deuten; er scheint gleichzeitig zu grübeln, zu verstehen, überrascht, traurig und verletzt zu sein.
„Es… ist… nicht… so, … wie… du… jetzt… vielleicht… denken… magst…“, setze ich zu einem letzten verzweifelten Ausweichmanöver an.
Er winkt ab. „Spar dir die Ausflüchte“, erwidert er in einem leicht ärgerlichen Tonfall.
„Er hat mich geküsst, nicht ich ihn!“, versuche ich mich zu verteidigen.
„Aber wirklich dagegen gewehrt hast du dich auch nicht!“
Ich öffne meinen Mund, um etwas zu antworten, aber dummerweise fällt mir nichts ein. Weil er recht hat. Also klappe ich meinen Mund wieder zu.
Lukas tritt an den Stehtisch heran und starrt auf die leeren Gläser, die sich dort angesammelt haben.
Dann fragt er leise nach ein paar Sekunden: „Du also auch?“
Ich seufze und nicke stumm.
„Aber warum hast du nie was gesagt?“ Er klingt fast verzweifelt.
Ich muss schlucken, um nicht loszuheulen. „Ich wollte es dir ja sagen. Ehrlich! Am Montag, als wir die Vokabeln abgeschrieben haben. Doch leider bist du mir zuvorgekommen. Und nachdem du dich bei mir ausgeheult hattest, wollte ich nicht auch noch…“ Ich breche kurz ab.
„Ich wollte es nicht noch komplizierter machen, als es eh schon war…“, fahre ich leise fort.
Es herrscht kurzes Schweigen.
Lukas starrt weiterhin auf die Gläser. Dann atmet er einmal tief durch.
„Du warst nie in Tine verliebt, oder?“
Ich schüttele nur niedergeschlagen mit dem Kopf.
Plötzlich schaut er mich direkt an.
„Und in Jannis auch nicht, nehme ich mal an.“ Das war weniger eine Frage als eine Feststellung.
Wieder schüttele ich nur matt den Kopf.
Und bevor er noch irgendetwas sagen kann, drehe ich mich um und gehe zur Garderobe, hole meine Jacke ab und mache mich auf den Heimweg.
Niemand hält mich auf.
„I’ve got no choice but to face it
I have to let you know
That I don’t like it
My love is good for someone
And it may take some time
But I will find him
Why should I waste it?”
Wilson Philips: „You Won’t See Me Cry“
(geschrieben von C. Wilson, G. Ballard, C. Phillips, W. Wilson)
Ich hasse solche Sonntage.
Das Wetter ist grau und die dichten Regenwolken hängen tief über der Stadt, ohne jegliche Aussicht auf Besserung. Der Regen trommelt schon den ganzen Tag monoton gegen meine Fensterscheibe. Ich sitze auf der Fensterbank und betrachte die graue, nasse, klebrige Eintönigkeit.
Der Tee, den ich in meiner Hand halte, wärmt mich gegen die Kälte, die durch das Fenster dringt. Mein Atem schlägt sich auf der Scheibe nieder, ein grauer, milchiger, feuchter Nebel verdeckt teilweise die Sicht auf das Trauerspiel der Natur draußen.
Es ist jetzt… ich weiß nicht, wie spät es ist. Ich schätze, dass es gegen vier Uhr ist. Oder ist es schon halb fünf? Ich fühle mich, als wäre ich in einer Blase eingeschlossen. In einer Blase, die mich von äußeren Einflüssen, Emotionen und allem anderen abschottet. Ich habe zum Glück schon meine Hausaufgaben am Freitag erledigt, in meinem jetzigen Zustand könnte ich nicht mal eins und eins richtig zusammenzählen.
Meine Klamotten von gestern Abend, die fürchterlich nach Rauch stanken, sind in der Waschmaschine, welche ein monotones Surren von sich gibt. Ich kann es hören, denn ich habe heute zum ersten Mal seit langer, langer Zeit keine Musik in meinem Zimmer an.
Den ganzen Tag schon denke ich darüber nach, was gestern im Bizarre passiert ist. Am Anfang war es ja ganz nett, wie ich wider Willen zugeben muss. Dieses küssende Pärchen, die Versöhnung mit Lukas… und dann das Ende des Abends. Kevins Kuss. Und dann das kurze Gespräch mit Lukas.
Er weiß jetzt, warum ich mich in den letzten Tagen so komisch verhalten habe. Die Frage ist jetzt, wie er damit umgehen wird. Wird er nun weniger mit mir zu tun haben wollen oder gar den Kontakt ganz abbrechen? OK, das wird sicherlich nicht gehen, denn schließlich sehen wir uns noch in der Schule.
Noch immer spüre ich seine Umarmung gestern, als wir uns vertrugen und er sagte, dass wir immer Freunde sein würden… Allerdings haben sich die Dinge danach grundlegend verändert.
Ich werde ja sehen, wie er jetzt reagieren wird. Morgen. In der Schule.
Das Telefon schweigt schon den ganzen Tag. Weder er noch Tine haben sich gemeldet. Das ist mir auch ganz recht so – ich wüsste eh nicht, was ich ihnen sagen sollte. Oder was ich ihnen erklären sollte. Wozu auch? Ich denke, die Bilder des gestrigen Abends sprechen für sich, oder?
Vor mir auf der Fensterbank liegt der Zettel mit Kevins Telefonnummer. Irgendwie werde ich etwas nervös bei dem Gedanken, ihn anzurufen… aber andererseits spüre ich immer noch seine Lippen auf meinen.
Ich betrachte noch ein paar Minuten die Regentropfen, die außen gegen die Fensterscheibe prasseln, um dann in kleinen Rinnsalen an ihr hinab zu laufen.
Langsam wird es mir zu still.
Mit einem Ruck stehe ich von der Fensterbank auf, gehe in den Flur, nehme das Telefon aus der Ladestation und kehre zurück in mein Zimmer.
Nachdenklich schaue ich zwischen dem Zettel in meiner linken Hand und dem Telefon in meiner rechten hin und her.
Letzte Chance: Soll ich oder soll ich nicht?
„I finally decided
And I found the way to fight it
So you won’t see my cry
You won’t see me cry…”
Wilson Philips: „You Won’t See Me Cry“
(geschrieben von C. Wilson, G. Ballard, C. Phillips, W. Wilson)
Ende 3. Teil. Fortsetzung folgt!
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