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The same procedure as every year

Weihnachtschallenge 2007

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Inhaltsverzeichnis

Beitrag zur Weihnachtschallenge 2007

 

Brrr. Kalt. Zitternd schloss ich die Wohnungstür. Winter... einfach nicht meine Jahreszeit. Überall dieser Schnee, die hektischen Menschen in der Stadt, die panisch versuchen, ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen... und habe ich den Schnee und die Kälte erwähnt? Es war der 23.12., also quasi fünf vor zwölf. Aber dieser Kelch ging an mir vorüber, denn ich brauchte zum Glück keine Geschenke zu kaufen, denn ich würde diese Weihnachten, ebenso wie die letzten Jahre, alleine verbringen.

Zum Glück. Haha.

Ich zog meine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Dann schlüpfte ich aus meinen nassen Schuhen, die noch Schneematsch unter den Sohlen hatten, und stellte sie auf den Abtreter. Anschließend holte ich meine dicken Wollsocken aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Ich laufe in meiner Wohnung halt lieber auf Socken, als in irgendwelchen Schlappen.

In der Küche setzte ich erstmal heißes Wasser auf. Mir war jetzt nach Tee. Dann ging ich ins Wohnzimmer, drehte die Heizung auf und machte das Radio an – großer Fehler, denn irgendeine Heulsuse von Sängerin trällerte „Have yourself a merry little Christmas“. Schnell legte ich eine CD von Jamie Cullum ein, um diesem triefenden Weihnachtsgesäusel ein jähes Ende zu bereiten.

Mann, das war ja dieses Jahr mal wieder nicht auszuhalten. Ich schüttelte mich.

Ich warf einen kurzen Blick aus meinem Wohnzimmerfenster im 5. Stock auf die verschneite Hannoveraner Innenstadt. Es war schon ziemlich dunkel und die Weihnachtsbeleuchtung versuchte, im Kampf gegen die fiesen Neonlichter der Straßenlaternen eine romantische Stimmung zu verbreiten. Ich schüttelte kurz den Kopf und seufzte.

Zurück in der Küche machte ich mich daran, meine Weihnachtseinkäufe auszupacken. Zum Glück hatte ich heute Frühschicht gehabt, so dass ich danach noch in den Supermarkt konnte. Morgen würde ich nicht arbeiten müssen, denn das Reisebüro, in dem ich vor einem halben Jahr meine Ausbildung beendet hatte und das mich glücklicherweise auch übernommen hat, würde an Heiligabend nicht mehr öffnen und bis zum 2. Januar geschlossen bleiben. Wir gingen nicht davon aus, dass in dieser Zeit viele Leute eine Reise buchen wollten. Die meisten kauften sich ihre Zug- und Flugtickets inzwischen eh über das Internet.

Ich musste an meinen letzten Verkauf denken, den ich gemacht hatte. Ich saß heute Vormittag an meinem Schreibtisch und bearbeitete eine Emailanfrage, als plötzlich diese zwei jungen Typen in meinem Alter, also schätzungsweise Anfang 20, das Reisebüro betraten. Ich setzte mein „Ich-verkaufe-euch-alles-was-ihr-wollt-und-noch-ein-wenig-mehr“-Lächeln auf und fragte: „Guten Tag, kann ich Ihnen weiterhelfen?“

Der Blonde von den beiden lächelte freundlich zurück. „Hallo, wir suchen eine Reise über Sylvester. Gibt es da noch was oder sind wir zu spät dran?“

„Kommt drauf an, wo es hingehen soll. Nehmen Sie doch erstmal Platz“, antwortete ich und deutete auf die beiden Stühle vor meinem Schreibtisch. Sie setzen sich.

„Wenn Sie zum Skifahren in die Berge wollen, wird das eng“, fuhr ich fort.

„Eigentlich wollten wir lieber in die Sonne“, meldete sich der Braunhaarige zum ersten Mal zu Wort.

„Dann wollen wir mal schauen, was sich da machen lässt. Wohin wollten Sie denn?“

Die beiden schauten sich verlegen an. Dann sagte der Blonde: „Wir hatten an Gran Canaria gedacht… oder, ähm… Mykonos…“

Aha. Daher wehte also der Wind. Zwei junge Typen, die gerne in ein schwules Reisemekka wollten. Das ließ nicht mehr viel der Interpretation übrig. Das und der Regenbogenanstecker, den ich eben am Revers der Winterjacke des Braunen entdeckt hatte.

Ich nickte und holte aus dem Regal hinter mir ein paar Prospekte. Dann zeigte ich ihnen ein paar Hotels, und letzten Endes entschieden sie sich für eine Woche Gran Canaria all inclusive in der Nähe der ganzen Discos und Bars der Playa del Inglés, in denen man wenig Frauen kennen lernt – weil einfach keine da sind.

„Wie sieht es denn bei Ihnen mit ein wenig Action aus?”, fragte ich, nachdem sie sich für das Hotel entschieden hatten.

„Äh, wie meinen Sie das?”, fragte der Blonde, dessen Gesichtsfarbe eine leicht rötliche Färbung annahm.

In diesem Moment merkte ich, dass man meine Frage auch hatte eindeutig zweideutig verstehen können – was ich natürlich nicht beabsichtigt hatte. Und was nun wiederum mir die Schamesröte ins Gesicht trieb.

„Wir haben hier Jeepsafaris im Angebot, die Sie buchen können. Sie werden morgens am Hotel abgeholt, bekommen einen Jeep, mit dem Sie das Hinterland von Gran Canaria erkunden können. Ein erfahrener Guide ist dabei, ein Mittagessen ist im Preis inbegriffen, und abends sind Sie wieder in Ihrem Hotel“, ratterte ich schnell das Angebot runter, um von meiner Verlegenheit abzulenken.

„Ja, geil!”, rief der Braune. „Was kostet das denn?“

„50 Euro pro Person, die Tour können Sie von hier aus direkt mitbuchen.“

„Hm, ich weiß ja nicht…“, brummte der Blonde.

Der Braune schaute seinen Begleiter an und warf ihm einen Dackelblick zu. „Büüüüüüütte, Schatz“, schnurrte er.

Aha. Mein Gaydar hatte also nicht versagt.

Der Blonde schaute mich verlegen an. Ich lächelte aufmunternd zurück, um zu zeigen, dass diese Erkenntnis kein Problem für mich darstellen würde. Wie auch. Ich hatte mein Gaydar ja nicht umsonst.

Blondie überlegte kurz. „Ok, wenn du unbedingt willst… aber du fährst!“

„Yes!”, triumphierte der Braune.

Ich begann, die Buchung in den Computer einzugeben. Dann fiel mir noch etwas ein. „Sind Sie denn über 21 und im Besitz eines gültigen Führerscheins? Ansonsten dürfen Sie nämlich nicht mitfahren.“

„Japp!”, freute sich der Braune offensichtlich.

Ich tippte also weiter, während die beiden noch von ihrem bevorstehenden Urlaub schwärmten. Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu, da ich mich nicht auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren kann.

„Zahlen Sie zusammen oder getrennt?”, fragte ich schließlich.

„Zusammen“, war die knappe Antwort des Blonden, der sein Portemonnaie aus der Hosentasche zog und mir eine Kreditkarte hinhielt.

Ich rechnete ab und zeigte ihnen zum Abschluss den Beleg und die Flugdaten.

„Sie fliegen am 28. Dezember ab Hannover ab, die Abflugzeit ist 7.05 Uhr. Bitte seien Sie mindestens zwei Stunden vorher am Check In. Hier sind Ihre Flugtickets, das ist der Hotelbeleg und das der Beleg über die Jeepsafari.“

Ich reichte ihnen die Dokumente. Der Braune nahm sie und steckte sie ein. Dann erhoben wir uns.

„Ich wünsche Ihnen eine schöne Reise und erholen Sie sich gut.“ Wir schüttelten die Hand zum Abschied.

Bevor sie aber gingen, fragte der Blonde: „Hätten Sie denn diese Reise auch gebucht?“

Das war jetzt irgendwie eine kalte Dusche für mich.

„Nein“, erwiderte ich trocken, eisern bis eisig lächelnd. „Da ich Single bin, hätte ich für mich wahrscheinlich eine Städtereise oder so gebucht.“

Der Blonde verstand. „Oh… na dann… trotzdem frohe Weihnachten!“

„Ihnen auch.“

Dann verließen sie das Reisebüro, nahmen sich draußen an der Hand und verschwanden aus meinem Blickfeld.

Ab diesem Moment war meine Stimmung im Keller. Ich war etwas überrascht, dass dieser Moment dieses Jahr erst so spät kam.

The same procedure as every year.

Aber immerhin hatte ich ihnen verkauft, was sie wollten. Und noch ein wenig mehr.


Das Teewasser kochte. Ich nahm eine Tasse und einen Beutel Rooibos-Vanille-Tee und verzog mich ins Wohnzimmer. Ich setzte mich auf mein Sofa, zog die Beine an und nippte vorsichtig an meinem Tee.

Ich musste immer wieder an die beiden Jungs denken, die heute die Reise gebucht hatten. Ich beneidete sie. Ich war mir sicher, dass sie einen schönen Urlaub haben würden; immerhin hatte ich ihnen ein Hotel rausgesucht, von dem ich wusste, dass es gut sein würde. Beschwerden hatten wir nie gehört über dieses Haus.

Aber das war nicht der Grund. Ich stellte mir vor, wie sie abends zusammen ins Bett gehen würden und ein wenig kuscheln. Sich küssen. Sich streicheln. Den Rest, den sie vielleicht noch machen würden, blendete ich jetzt allerdings aus.

Meine Gedanken schweiften ab, während Jamie Cullum im Hintergrund leise „Blame it on my youth“ sang.

Ich vermisste meine Eltern. Seit sie bei diesem Autounfall kurz nach meinem Abitur umgekommen waren, war ich im Prinzip auf mich allein gestellt. Unsere Familie schien irgendwie ein „Einzelkind-Gen“ zu besitzen: Meine Eltern waren Einzelkinder, meine Großeltern zwar nicht, aber nur jeweils ein Kind hatte den Krieg überlebt. Insofern grenzte es an ein Wunder, dass meine Einzelkindeltern überhaupt ein einzelnes Kind bekommen haben: nämlich mich, Jan. Dementsprechend war ich der letzte aus meiner Familie – und so würde meine Dynastie der „Schneiders“ mit mir irgendwann aussterben, denn ich ging nicht davon aus, dass ich mich irgendwann fortpflanzen würde. Gut, dass es noch genug andere „Schneiders“ gab. Daran herrschte in diesem Land nun wirklich kein Mangel.

Daher feierte ich jedenfalls Weihnachten alleine.

Und Silvester.

Und meinen Geburtstag.

Und so weiter.

Und so fort.

The same procedure as every year.

Gut, klar, ein paar Freunde hatte ich noch. Ein paar von ihnen waren aus meinem Abijahrgang, ein paar hatte ich in der Berufsschule kennen gelernt. Hin und wieder trafen wir uns irgendwo in einer Kneipe und unterhielten uns. Aber eine richtige Freundschaft ist daraus nicht entstanden, da wir alle ziemlich beschäftigt oder aus Hannover weggezogen waren, oder uns einfach aus den Augen verloren haben. Vielleicht bestand auch nicht wirklich ein Interesse daran, in irgendeiner Form mit den anderen anzubändeln.

Und da mein Abi auch schon über vier Jahre zurücklag und meine Schulfreunde inzwischen in der ganzen Republik verteilt waren, war der Kontakt zu ihnen auch recht spärlich geworden.

Ich hatte auch hin und wieder mal versucht, hier in der Szene Fuß zu fassen, was aber daran scheiterte, dass ich mich da nicht sonderlich wohl fühlte. Ich glaubte, dass das weniger ein Problem der Hannoveraner Szene als ein Problem der Szene generell war – egal ob hier, in Hamburg oder in Honolulu. Ich empfand das alles als sehr oberflächlich. Es schien nur um zwei Fragen zu gehen: „Sehe ich geil aus?“ und „Wen schleppe ich denn diesmal ab?“

The same procedure as every year.

Danke, aber ohne mich.

Nach einer Weile und ein paar Tassen Tee hatte ich es geschafft, die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Stattdessen machte sich ein Hungergefühl in meinem Magen breit. Ich verzog mich also in die Küche und machte mich daran, mein Abendessen zu kochen. Na ja, was heißt „kochen“… Ich befreite eine Tiefkühlpizza aus ihrer Plastikfolie und schob sie in den Ofen. Zu etwas Aufwendigerem hatte ich heute keinen Bock mehr.

Dann öffnete ich eine Flasche Rotwein. Auch nix teures, der Rioja von Aldi war schon ganz lecker. Als die Pizza fertig war, verzog ich mich vor den Fernseher und zappte mich durch die Programme. Aber überall das Gleiche: Weihnachtsschmalz auf allen Kanälen. Sogar MTV, die sonst nur irgendwelche dämliche Handyklingeltonwerbung brachten, hatte nur dämliche Weihnachtshandyklingeltonwerbung.

Irgendwann würde ich diesen Scheißfrosch umbringen.

Nachdem ich endlich meine Pizza aufgegessen und mich viermal durch alle Sender geklickt hatte, schmiss ich meinen Computer an. Immerhin war heute Abend Weihnachtsradio auf nickstories.de, und ich wollte wissen, wer die Weihnachtschallenge gewonnen hat.

Ich loggte mich in den Chat ein und hörte der Sendung zu. Auch hier überall Weihnachtsstimmung und der ganze Kitsch. Hier und da chattete ich kurz mit ein paar Leuten, die ich vom „Lesen“ her kannte, aber um neun Uhr wurde es mir zu bunt. Der Gewinner war zwar noch nicht bekannt gegeben worden, aber als sie „Last Christmas“ von Wham! spielten, war bei mir der Ofen aus. Ich verabschiedete mich, fuhr den Rechner runter und ging ins Bett.

Nicht um zu schlafen, sondern um zu lesen. Und während ich mich Seite für Seite durch Kazuo Ishiguros „The Remains Of The Day“ arbeitete, fehlte mir etwas.

„Wozu hast du ein 1,60 Meter breites Bett, wenn du eh nur alleine darin schläfst?”, seufzte ich. Und ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn dort jemand ganz Besonderes neben mir liegen würde, ich würde einfach nur seine Nähe spüren und irgendwann in seinen Armen einschlafen.

Mir fiel ein Lied ein, welches wie jedes Jahr übermäßig gespielt wurde: „All I Want For Christmas Is You“ von Mariah Carey. Eigentlich mochte ich die Olle ja überhaupt nicht. Aber der Text sprach mir irgendwie aus der Seele: „I don’t want a lot for Christmas / There is just one thing I need / I don’t care about the presents / Underneath the Christmas tree / I just want you for my own / More than you could ever know / Make my wish come true / All I want for Christmas is you…” (Copyrights by Mariah Carey).

Ich schüttelte kurz den Kopf, legte das Buch auf den Nachttisch und knipste die Lampe aus.

The same procedure as every year.

24. Dezember

Eigentlich hatte ich ja nicht die geringste Motivation, mich aus dem warmen Bett rauszuquälen. Wozu auch? Ich hatte genug zu essen eingekauft, und einen Weihnachtsbaum brauchte ich auch nicht aufzustellen. Und meine Geschenke (haha) hatte ich auch schon alle besorgt.

Wozu also raus aus den Federn?

Irgendwann musste ich aber raus – der Hunger und mein Verlangen nach Kaffee trieben mich zu diesem Schritt. In der Küche stellte ich mit einem Blick nach draußen fest, dass es in der Nacht wieder ordentlich geschneit hatte. Zehn Zentimeter Neuschnee lagen auf den Dächern, den Straßen, den Autos. Es war ein wunderbarer Anblick.

In dem Augenblick kam mir eine Idee. Heute Abend, wenn es dunkel sein würde, wollte ich nach draußen und mein Weihnachtsgeschenk einweihen, dass ich mir selbst geschenkt habe: meine neue Digicam. Na gut, der Ausdruck „Digicam“ ist eher ein Understatement; es war eine digitale Spiegelreflexkamera. Mein Hobby, die Fotografie, hatte damit eine neue Dimension erreicht.

Und die Stadt würde hoffentlich voll von Motiven sein, und die meisten Menschen würden ja wahrscheinlich drinnen ihre Bescherung feiern. Das bedeutete, dass mir keine Trottel vor das Objektiv laufen und mir das Foto versauen würden.

In gespannter Erwartung des Abends brachte ich den Tag hinter mich. Um 17 Uhr stiefelte ich los. Es war wunderschön draußen: Ein sternenklarer Himmel strahlte mit den Weihnachtsbeleuchtungen um die Wette, der Schnee war zum Glück noch nicht weggeschmolzen und die Straßen waren wie erwartet fast menschenleer.

Ich zog meine Handschuhe an, griff mir mein Stativ und stapfte los. Es war unheimlich still in Hannover an diesem Heiligabend. Mit jedem Schritt hörte ich den Schnee unter meinen Sohlen. Ich marschierte von meiner Wohnung in der Lister Meile los in Richtung Altstadt.

Ich fand tatsächlich jede Menge Motive. Die Weihnachtsbeleuchtung mit dem Schnee war wunderschön, dazu die Fachwerkhäuser. Die Szene hätte aus einem Film sein können. Ich knipste und zoomte aus allen erdenklichen Blickwinkeln, Hochformat, Querformat, mit Blitz und ohne, mit langen und kurzen Belichtungszeiten und bemerkte so nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich war eine Stunde vorbei, ich fing an zu frieren, und meine Speicherkarte war fast voll.

Ich beschloss, mich langsam auf den Heimweg zu machen, als ich auf einmal vor der Marktkirche stand. Sie war von innen beleuchtet, die großen Flügeltüren geöffnet, und ein paar Leute gingen auf sie zu.

„Der 18-Uhr-Gottesdienst“, schoss es mir durch den Kopf.

Das Motiv wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich suchte mir einen schönen Blickwinkel auf die Kirche, baute mein Stativ auf und schraubte die Kamera darauf fest. Auf dem LCD-Bildschirm erschien mein Bildausschnitt: die Marktkirche mit den geöffneten Türen, die Wärme und Heimeligkeit versprachen und ein paar Menschen, die direkt darauf zu liefen. Es war fast ein religiöses Motiv.

Und auch mein letztes. Die Speicheranzeige verriet mir, dass ich noch genau ein Bild würde machen können. Also wählte ich die Kameraeinstellungen besonders sorgfältig aus. Ich schaltete den Blitz ab, denn der Bereich direkt vor dem Objektiv wurde von einer Weihnachtskette erleuchtet. Und um sicher zu gehen, dass die Aufnahme nicht verwackeln würde, schaltete ich auf Selbstauslöser.

Ein letzter, prüfender Blick, dann drückte ich auf den Auslöser. In 10 Sekunden würde die Speicherkarte voll sein…

Auf einmal hörte ich Stimmen direkt hinter mir. Ich drehte mich um und sah eine Gruppe von fünf Leuten. Sie unterhielten sich angeregt und liefen an mir vorbei, ohne mich und meine Kamera zu beachten.

Dann liefen sie direkt durch das Blickfeld der Kamera, die eigentlich jeden Moment auslösen müsste. Mist!

„Entschuldigung, könnten Sie…”, rief ich der Gruppe zu.

Sie drehten sich um, und in genau diesem Augenblick machte es einmal „Klick“. Dann piepte die Kamera kurz, und die Speicherkarte war voll.

„Oh, Verzeihung, ich habe nicht gesehen, dass Sie am Fotografieren waren“, stand auf einmal der Typ, der jetzt Teil meiner Speicherkarte war, neben mir und entschuldigte sich. Ich schaute hoch.

Ein Blitz durchfuhr mich, denn zwei wunderschöne Augen blickten mich an. Ich vergaß alles um mich herum und versank in einem Blau, dass ich noch nie in einem Paar Augen gesehen habe. Der Typ war der absolute Traum: Schwarze, mittellange Haare in einer topschicken Frisur; schmale, rote Lippen; gerötete Wangen und ich schätzte ihn auf Anfang zwanzig… Zeit und Raum um mich herum verblassten.

Ich war nicht dazu in der Lage zu reagieren.

Irgendwann umspielte ein Lächeln die Augen und den Mund. „Ist das denn eine Digitalkamera?“

Ich erwachte aus meiner Trance. „J-ja.“

„Na, dann können Sie das Foto ja einfach löschen und es noch mal versuchen, wenn wir weg sind“, grinste er.

Das würde ich bestimmt nicht tun.

„Nun ja, die Karte ist jetzt eh voll, und mit einem Bild komme ich nicht weit… Ich werde wohl morgen Abend wieder kommen müssen…“

„Phiiiliiipp, nun komm endlich!”, rief auf einmal eine Stimme. Der Typ, offenbar der Gerufene, drehte sich zu der Stimme um. Die anderen aus seiner Gruppe (seine Familie, wie ich vermutete) waren bereits an der Marktkirche angekommen, und eine junge Frau winkte rüber.

Seine Freundin?! Na super…

„Ich komme!”, rief dieser Philipp zurück. Dann wandte er sich wieder mir zu. „Ich muss dann wohl los. Tut mir leid wegen des Bildes…“

„Nicht so schlimm“, nuschelte ich.

Er stapfte los. Dann blieb er kurz stehen, zögerte und drehte sich um. „Wenn du morgen Abend wieder hier bist, bringe ich auch meine Digicam mit. Vielleicht kannst du mir ja ein paar Tricks zeigen?”, fragte er und lächelte etwas verlegen.

Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Dann schlug es umso heftiger weiter.

„Klar… äh… warum nicht?“

Mein Hirn war nicht dazu in der Lage, mehr zu formulieren.

Aber dafür leuchtete sein Gesicht auf. „Sagen wir um sechs Uhr hier?“

Ich nickte.

„Perfekt! Dann bis morgen, und fröhliche Weihnachten noch!“

Dann lief er zu seiner Familie. Ich schaute ihm nach, bis die junge Frau vor der Kirchentür sich bei ihm unterhakte. Kurz bevor sie zusammen rein gingen, schaute er noch mal in meine Richtung. Dann verschluckte ihn die Helligkeit der Marktkirche.

Ich stand noch immer wie angewurzelt neben meiner Kamera und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Einerseits hatte ich eben die Inkarnation meiner fleischgewordenen Träume und Sehnsüchte getroffen. Andererseits war da seine Freundin…

Ein Surren meiner Kamera holte mich aus meinen Grübeleien. Sie hatte sich selbst abgeschaltet, um Energie zu sparen. Ich schraubte sie vom Stativ ab und packte sie in meine Kameratasche.

Dann machte ich mich auf den Heimweg.

The same procedure as last year?


Völlig in Gedanken versunken betrat ich wieder meine Wohnung. Auf dem Heimweg hatte ich versucht, meine Begegnung mit diesem Philipp irgendwie zu verarbeiten.

Er wollte mich wieder sehen. Er hatte darum gebeten. Wollte er vielleicht wirklich nur ein paar Tipps zum Fotografieren haben?

Oder könnte es sein, dass er vielleicht tatsächlich an mir interessiert war? Das wäre ja mal ganz was Neues gewesen...

Außerdem war er plötzlich vom „Sie“ zum „du“ gewechselt. So was deutet doch auf eine gewisse Nähe hin, oder?

Aber wer war dieses Mädchen, das nach ihm gerufen hatte?

Fragen über Fragen…

Ich schmiss meinen Computer an und nahm die Speicherkarte aus der Kamera. Es dauerte eine Weile, bis alle Fotos auf meiner Festplatte waren. Aber das letzte Bild schaute ich mir als erstes an.

Dieser Philipp war wirklich genau in dem Moment vor die Linse gelaufen, als die Kamera auslöste. Er verdeckte im Prinzip die ganze Kirche und schaute direkt in die Kamera. Und da waren sie wieder, die Augen, die mich schon vorhin in ihren Bann gezogen hatten.

Ich stierte wie zu Stein erstarrt auf meinen Bildschirm, während ein angenehmes Kribbeln durch meinen Körper lief…

Wie würde es sich wohl anfühlen, diese Lippen zu küssen?

Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Wunsch- oder Wahnvorstellungen abzuwerfen. Dann druckte ich das Foto aus und befestigte es mit einer Stecknadel an der Pinnwand direkt neben meiner Wohnungstür.

Egal, was aus dem Treffen morgen werden würde, dieses Foto würde mich ab sofort jeden Tag begrüßen, wenn ich nach Hause kam.

25. Dezember

Je dringender man auf etwas wartet, desto länger dauert es, bis man es bekommt.

Mir kam es so vor, als sei 18 Uhr eine Ewigkeit weit weg. Ich verbrachte den Tag damit, die Bedienungsanleitung meiner Kamera genauestens zu studieren, damit ich alle Fragen, die dieser Philipp haben könnte, auch ordentlich beantworten könnte.

Ab 4 Uhr saß ich auf heißen Kohlen. Wann sollte ich am besten an der Marktkirche sein? Fünf Minuten vor sechs? Um zu zeigen, dass mir das Treffen wichtig war? Oder vielleicht lieber fünf Minuten nach sechs, um ihn vielleicht etwas zappeln zu lassen?

Es war zum Verrücktwerden. Und ich hatte das Gefühl, dass auch genau das langsam eintrat.

Um halb sechs hielt ich es nicht mehr aus und trabte mit meiner Kameraausrüstung los. Das Wetter war wie am Tage zuvor bilderbuchmäßig. Es hatte wieder ein wenig geschneit, was mich sehr freute. Ich ertappte mich dabei, wie ich „I´m Dreaming Of A White Christmas“ vor mich hinsummte, während ich zu unserem Treffpunkt lief.

Um zehn vor sechs traf ich an der Marktkirche ein und beschloss, aus der Not eine Tugend zu machen und schon ein paar Fotos zu machen. Ich probierte verschiedene Blickwinkel und Brennweiten aus, während ich alle 30 Sekunden auf meine Uhr schielte.

Ich kniete gerade im Schnee, um aus einem Blickwinkel von Bodennähe zum Turm der Marktkirche hochzuknipsen, als ich auf einmal Schritte hinter mir hörte.

Es war Philipp.

„Hi!”, lächelten mich zwei strahlende Augen an.

Ich schluckte meine Nervosität runter, erhob mich aus dem Schnee und grüßte zurück: „Hi!“

„Schön, dass du gekommen bist“, fuhr er fort.

„Ja… ich freue mich auch, dass es geklappt hat…“

Wir schwiegen wieder einen Moment. Dann räusperte er sich kurz und sagte: „Das sieht sehr professionell aus, wie du dich hier für ein Foto ins Zeug legst.“

„Na ja“, erwiderte ich, „es gibt nicht viel, was ich nicht für ein gutes Bild tun würde…“

„Ich heiße übrigens Philipp“, stellte er sich vor und reichte mir die Hand.

„Ich weiß“, antwortete ich und schüttelte seine Hand.

Er schaute mich verwundert an.

„Deine Freundin rief dich gestern Abend beim Namen, als ihr in die Kirche gegangen seid.“ Innerlich war ich gespannt, was er antworten würde. Gut, die Frage war ein bisschen durch die Blume gestellt. Aber das war der (erste) Moment der Wahrheit.

Er schaute mich noch verwunderter an. „Meine wer?“

„Äh, die junge Dame, die dich gestern rief, als wir uns hier für heute verabredet haben…“

Er lachte kurz auf. „Diese ‚junge Dame’, wie du sie nennst, ist meine Schwester!“

Strike!

„Oh, Verzeihung“, nuschelte ich etwas verlegen zurück, obwohl ich mich innerlich seeeehr über diese Information freute.

„Macht ja nix. Und du heißt…?“

„Ja, ich heiße. Äh… Jan heiße ich.“

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Jan.“

„Ich freue mich auch, Philipp.“

Wieder schwiegen wir einen Moment. Irgendwie war es ein peinliches Schweigen, bei dem keiner von uns beiden so richtig zu wissen schien, wie man es beenden könnte.

„Und, äh… hast du deine Kamera dabei?”, fragte ich schließlich.

Er griff in seine Jackentasche und förderte eine digitale Kompaktkamera zu Tage.

„Das ist das gute Stück. Seit gestern offiziell meins!”, sagte er nicht ohne Stolz.

Ich nahm sie entgegen. Das war wirklich ein gutes Stück; eine neue Digicam mit 7 Megapixelauflösung und gutem Zoom.

„Und das ist dein Baby hier?”, fragte er und schaute auf meine Kamera herab, die noch immer 15 Zentimeter über dem Boden auf ihrem Stativ ausharrte.

„Genau“, erwiderte ich schnell, löste sie aus der Halterung und gab sie ihm.

„Nicht schlecht, Herr Specht“, sagte er anerkennend und schaute prüfend durch den Sucher und auf das Farbdisplay. „Auch ein Weihnachtsgeschenk?“

„Sozusagen. Von mir für mich“, meinte ich verlegen.

„Oha. Teuer?“

„Knapp 600 Euro.“

„Hossa…“, murmelte er. Dann gab er mir die Kamera zurück und sagte: „Hier, dann nimm du die mal lieber wieder, bevor ich noch was kaputt mache…“

Ich nahm meine Kamera wieder und befestigte sie wieder am Objektiv.

„Warum knipst du eigentlich von da unten?”, fragte Philipp.

„Um den optischen Effekt zu verstärken. Im Prinzip ist es so, als wenn man an einem hohen Gebäude hochschauen würde. Wenn du dann mit der Kamera so nah an das Objekt rangehst wie möglich und so tief wie möglich, dann wirkt der Kirchturm nachher auf dem Foto riesig. Das Problem dabei ist nur, dass du ein gutes Weitwinkelobjektiv brauchst. Hier, schau’s dir mal auf dem Display an.“

Er kniete sich neben mich in den Schnee und schaute auf das LCD-Display.

„Stimmt… da muss man erstmal drauf kommen.“

„Dann musst du den Blitz ausschalten, denn auf diese Entfernung würde das Licht das Objekt gar nicht erreichen.“ Ich schaltete den Blitz aus. „Und damit das Bild nicht verwackelt, wenn Du auf den Auslöser drückst, machst du das Bild mit dem Selbstauslöser.“

Er grinste. „Und wenn du Pech hast, laufen dir irgendwelche Deppen vor die Kamera…“

„Genau“, kicherte ich.

Dann machte ich das Foto. Danach schraubte Philipp seine Kamera auf das Stativ und machte auch dieses Foto. Dabei löcherte er mich mit Fragen, und ich versuchte ihm alles zu erklären.

Wir liefen weiter durch die Altstadt und fotografierten alles Mögliche. Schließlich landeten wir am Leineufer, wo noch ein Rest der alten Stadtmauer erhalten war.

„Hier, was hältst du von diesem Motiv?”, fragte er, legte seine Hand auf meinen Arm und deutete mit der anderen auf den Fluss, der träge an uns vorbeizog, während sich unter dem klaren Sternenhimmel ein paar Lichterketten in ihm spiegelten.

Ich spürte die Wärme, die von dieser Berührung ausging.

„Wunderschön“, murmelte ich und sog die romantische Stimmung in mich ein.

Wir bauten das Stativ aus, probierten verschiedene Blickwinkel aus und ballerten unsere Speicherkarten voll.

Auf einmal waren fast zwei Stunden um. Philipp schaute auf seine Uhr und meinte: „Mist, so spät schon. Ich muss gleich los, denn zum Abendessen muss ich gleich wieder zurück sein, bei meiner Familie.“ Er sah nicht gerade glücklich aus.

„Oh… na, dann will ich dich nicht länger aufhalten…“ Ich war auch nicht gerade glücklich darüber.

Er steckte seine Kamera wieder in seine Jackentasche und wir liefen zurück in Richtung Innenstadt.

„Vielleicht können wir uns morgen wieder treffen und meinen ‚Fotokurs’ fortsetzen?”, fragte er, und seine blauen Augen schauten mich erwartungsvoll an.

„Klar!”, erwiderte ich.

„Klasse! Wann und wo?“

Ich überlegte kurz. „Wie wäre es mit der Aegidienkirche morgen Nachmittag? Da könnte man noch ein paar Einstellungen ausprobieren und dann vielleicht Schwarzweißbilder am Computer daraus machen.“

„Gute Idee! Sagen wir um drei?“

„Perfekt. Morgen um drei an der Aegidienkirche.“

Er lächelte mich wieder an. „Ok. Dann einen schönen Abend noch… und bis morgen!“

„Bis morgen!“

Dann drehte er sich langsam um und ging los. Kurz bevor er um eine Straßenecke bog, schaute er noch mal kurz zurück, winkte und war aus meinem Blickfeld verschwunden.

Ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Und das mitten im Winter.

Als ich zuhause ankam, hatte mich zum ersten Mal seit Jahren die Weihnachtsstimmung gepackt. Ich machte das Radio an, lauschte den Weihnachtsliedern und summte mit, träumte vor mich hin.

Spätestens seit diesem Abend war ich ihm völlig verfallen. Und er wollte mich wieder sehen!

Ich überlegte mir eine Taktik für den morgigen Tag. Wir würden uns an der zerbombten Aegidienkirche treffen, dem Mahnmal aus dem 2. Weltkrieg, unsere Fotos machen, dann würde ich ihm vorschlagen, dass wir bei mir am Rechner mal die Fotos anschauen und ein wenig nachbearbeiten könnten…

Und falls er abends Zeit hätte, könnte ich mit ihm in meinen Lieblingsitaliener unten um die Ecke gehen und dann mal schauen, wie sich der Abend entwickelt…

Ich verbrachte den Rest des Abends träumend und in Vorfreude. Was ich nachts in meinen Träumen sah, kann man sich sicherlich denken.

26. Dezember

Es lag noch immer Schnee draußen, Tauwetter hatte anscheinend noch nicht eingesetzt. Ich verließ gegen zwanzig vor drei meine Wohnung und marschierte los. Natürlich hatte ich wieder meine Kamera und mein Stativ dabei.

Ich war bester Laune. Gleich würde ich wieder Philipp sehen.

Als ich um eine Häuserecke bog, passierte es. Auf einem Stück harten und gefrorenen Schnee verlor ich plötzlich den Halt unter den Füßen und rutschte aus. Ich ließ das Stativ los und versuchte das Gleichgewicht zu halten. Auf einmal spürte ich einen beißenden Schmerz in meinem linken Knöchel, dann machte ich Bekanntschaft mit dem Boden. Mit meiner linken Schulter knallte ich auf den Bordstein.

Ich schrie auf vor Schmerz.

„Mein Gott, junger Mann, haben Sie sich wehgetan?!”, rief auf einmal eine Stimme hinter mir. Ich versuchte aufzustehen.

Ein älterer Herr tauchte neben mir auf und versuchte, mir aufzuhelfen. Dabei versuchte ich, mich auf mein linkes Bein aufzustützen, während er sich unter meinen linken Arm unterhakte.

Ein glühend heißer Schmerz fuhr durch meinen Körper. Ich schrie wieder auf und landete wieder auf dem Boden.

„Mein Gott, Sie müssen in ein Krankenhaus!”, rief der Mann wieder.

„Nein, das geht nicht…“, versuchte ich einzuwenden.

„Keine Widerrede, Sie sind verletzt! Haben Sie in der rechten Schulter auch Schmerzen?“

Ich schüttelte den Kopf. Er baute sich rechts neben mir auf und half mir hoch, diesmal vorsichtiger.

Wackelig stand ich auf beiden Füßen, wobei der linke fürchterlich wehtat, sobald ich versuchte, ihn zu belasten.

Ich prüfte meine Kamera in der Tasche, aber die hatte wohl nichts abbekommen von dem Sturz.

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte ich zu dem Herrn, der noch immer mit sorgenvollem Blick neben mir stand. Er hatte inzwischen mein Stativ aufgehoben.

Vorsichtig versuchte ich zu gehen. Beim ersten Schritt mit meinem lädierten linken Knöchel durchzog mich wieder der Schmerz.

„Kommen Sie, ich bringe Sie ins Krankenhaus“, sagte der Mann wieder und deutete auf ein Auto, das mit laufendem Motor am Straßenrand stand.

„Aber ich habe doch…“, warf ich ein.

„Hören Sie, Ihr linker Fuß und ihre Schulter sind offensichtlich verletzt. Sie gehören in eine Notaufnahme.“ Er half mir, in sein Auto zu steigen.

Philipp…!

Während wir zum Henriettenstift fuhren, hatte ich Tränen in den Augen. Der Mann dachte sicherlich, dass es wegen der Schmerzen war. Aber der eigentliche Grund war Philipp.

So eine Scheiße!!! Warum ausgerechnet heute?! Ich hatte doch noch nicht einmal eine Telefonnummer von ihm! Was, wenn ich ihn nie wieder sehen würde?! Er würde gleich an der Aegidienkirche stehen und warten.

Scheiße. Und ich sitze in der Notaufnahme des Krankenhauses.

Warum nur?! Womit hatte ich das verdient? Ein wunderbarer Lichtblick, und nun so was…


„Tja, Herr Schneider, Sie haben eine Bänderdehnung im linken Knöchel und eine leichte Prellung in der linken Schulter.“ Man konnte dem Arzt seine Begeisterung förmlich ansehen, dass er Weihnachten Notdienst schieben musste.

„Den Knöchel bandagieren wir Ihnen und ich gebe Ihnen ein Rezept für eine Salbe. Die tragen Sie morgens und abends einmal auf und machen den Verband neu. Für Ihre Schulter verschreibe ich Ihnen Massagen. Drei Termine dürften dafür reichen. Wenn’s danach nicht besser wird, wenden Sie sich an Ihren Hausarzt.“

Ich humpelte zur Apotheke im Krankenhaus und holte meine Rezepte ab. Dann ging ich raus und nahm ein Taxi.

„Wohin?”, fragte der Taxifahrer mürrisch.

„Erstmal zur Aegidienkirche bitte“, antwortete ich niedergeschlagen. Es war inzwischen nach vier Uhr geworden. Ich hatte eigentlich keinerlei Hoffnung mehr, dass Philipp dort noch warten würde.

Aber ich wollte es wenigstens versuchen.

Schweigend fuhren wir durch Hannover. Als wir an der Kirche ankamen, bat ich ihn, kurz zu warten. Ich stieg aus und humpelte zur Kirche rüber.

Weit und breit war niemand zu sehen.

Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Er war weg, wahrscheinlich bitter enttäuscht, und ich würde ihn wohl nie wieder sehen.

Ich schlich zurück zum Taxi und nannte dem Fahrer meine Adresse.

Er schaute mich von der Seite an. „Rendezvous verpasst?“

Ich nickte nur traurig.

Schließlich setzte er mich zu Hause ab und ich zahlte. Dann humpelte ich hoch in meine Wohnung, verstaute Kamera und Stativ im Schrank und legte mich aufs Bett und ließen meinen Gefühlen freien Lauf.

27. Dezember

Meine Stimmung war exorbitant dreckig. Ich hatte die Nacht mehr schlecht als recht überstanden. Dauernd kreisten meine Gedanken um Philipp. Und um die Erkenntnis, dass diese Geschichte vorbei war.

Gut, was war denn vorbei? Wir hatten uns einmal zum Fotografieren getroffen und uns für ein zweites Treffen verabredet. Vielleicht wollte er ja wirklich nur was lernen?

Meine Innereien schrieen auf bei diesem Gedanken. Tief in mir drin spürte ich, dass da mehr war, mehr hätte sein können – wenn ich Trottel nicht auf die Schnauze gefallen wäre.

Was immer es war, ich befürchtete nein, ich ahnte, dass es aus war.

Nachmittags schleppte ich mich zur Massage. Ich hatte im Telefonbuch eine physiotherapeutische Praxis in meiner Nähe gefunden und für 16 Uhr einen Termin bekommen.

Dort saß ich im Wartezimmer. Auf dem Tisch, neben den Zeitungen, stand ein Weihnachtsteller mit Nüssen und etwas Schokolade. Missmutig griff ich nach einer Walnuss und dem Nussknacker und versuchte, sie zu knacken. Meine schmerzende Schulter erinnerte mich an meine ganze Misere. Nach zwei Versuchen gab ich es auf. Als Linkshänder kann ich mit rechts nicht arbeiten, und mit der linken kaputten Schulter ging eh nichts.

„Herr Schneider bitte!“

Eine kräftig gebaute Dame stand in der Tür zum Wartezimmer. Ich erhob mich vorsichtig.

„Gehen Sie schon mal in die 2, ich komme sofort.“

Ich humpelte in das Zimmer. Es war klein, in der Mitte stand eine Liege mit einem kreisrunden Loch am einen Ende. Ich setzte mich.

Nach ein paar Minuten war die Frau wieder da. Sie legte ein Handtuch unterhalb des Lochs auf die Liege. „Machen Sie bitte Ihren Oberkörper frei und legen Sie sich bitte mit dem Gesicht ins Loch hin“, kommandierte sie. Ich hielt es für besser, ihren Anweisungen zu folgen.

Dann nahm sie eine Tube Salbe und drückte eine kleine Menge davon auf meine nackte Schulter. Die Salbe war eiskalt, sodass ich die Luft durch die Zähne einzog.

„Kalt, wa?”, hörte ich sie grinsen. Ich nickte nur.

Sie begann ihre Massage. Die kalte Salbe wurde irgendwann angenehm warm. Ich spürte, wie jeder schmerzende Muskel in meiner Schulter von ihr durchgewalkt wurde. Einige Male stöhnte ich vor Schmerz auf.

Konnte die nicht sanfter sein?!

Nach 20 Minuten war sie fertig mit mir. Nachdem ich mich wieder angezogen hatte, holte ich mir am Empfang die restlichen zwei Termine und trollte mich nach Hause.

28. Dezember

Inzwischen hatte Tauwetter eingesetzt. Die Straßen waren mit einem widerlichen grauen Schneematsch bedeckt. Ähnlich farblich getüncht war auch meine Stimmung. Ich hatte wieder nur schlecht geschlafen und schleppte mich zu meinem zweiten Massagetermin, der diesmal vormittags war.

Dabei fiel mir ein, dass die zwei Jungs, die am Tag vor Weihnachten bei im Reisebüro gewesen sind, etwa genau jetzt auf Gran Canaria landeten. Ich beneidete sie – in mehr als nur einer Hinsicht…

Ich saß wieder im Wartezimmer, als die Dame vom Empfang aufrief.

„Gehen Sie bitte wieder in die 2, es kommt dann gleich jemand zu Ihnen.“

Den Weg kannte ich ja schon, also humpelte ich los und setzte mich schließlich wieder mit dem Rücken zur Tür auf die Liege, auf der ich schon gestern durchgeknetet worden war, und zog meinen Pulli und mein T-Shirt aus.

„Jan?!“

Diese Stimme – Philipp?! Ich fuhr schnell herum – und stöhnte laut auf, denn meine kaputte Schulter fand diese Bewegung gar nicht witzig.

Ich hörte, wie er die Tür schloss und neben mir auftauchte. Er trug eine typische weiße Arzthose und ein blaues Polohemd mit dem Logo der Praxis. Ich rieb mir mit der rechten Hand die schmerzende Schulter, bis er sie vorsichtig da weg schob.

„Lass mal, das mache ich gleich…“, grinste er. „Aber was ist denn passiert?“

Ich verlor mich in seinen Augen und hätte vor Freude fast losgeheult.

„Ich bin ausgerutscht, als ich zu unserem Treffen an der Aegidienkirche wollte…“

„Deswegen warst du also nicht da… Und ich hatte befürchtet, dass du die Schnauze voll von mir hättest.“ Sein Grinsen verkrampfte sich für einen kurzen Moment.

„Niemals!”, rief ich fast. „Ich wäre ja auch so gekommen, aber da war so ein Mann, der mir hoch geholfen hat, und der wollte mich unbedingt ins Krankenhaus bringen.“

„Das war wohl auch ganz gut so. Ich meine, Du hast einen riesigen Bluterguss hinten auf dem Schulterblatt.“ Er fuhr ganz sanft mit seinen zarten Fingern über meine Schulter.

Stromstöße am ganzen Körper. Ich schluckte.

„Hast du denn noch andere Verletzungen?“

Ich nickte. „Eine Bänderdehnung im linken Knöchel.“

„Mann, du musst dich echt fies hingelegt haben.“

„Ich hätte auch gerne darauf verzichtet“, erwiderte ich kühl.

„Na gut, dann leg dich mal hin.“ Er gab mir einen kurzen Klaps auf den Oberschenkel. „Wollen wir doch mal sehen, ob wir dich nicht wieder hin bekommen.“

Philipp legte ein Handtuch auf die Liege und half mir dabei, mich hinzulegen. Ich steckte mein Gesicht wieder durch die Öffnung in der Liege.

„Vorsicht, gleich wird’s etwas kalt“, hörte ich seine Warnung.

„Ich weiß, das ‚Vergnügen’ hatte ich gestern schon.“

„Dein wievielter Termin ist das denn heute?”, Dann spürte ich die kalte Salbe auf meiner Schulter. Wieder zog ich die schnell die Luft ein.

„Der zweite von dreien“, stöhnte ich.

Philipps Hände glitten ganz sanft über meine Schulter. Kein Vergleich zu der Walküre von gestern! Vorsichtig rieb er das Gel in meine schmerzenden Bereiche ein.

„Sag Bescheid, wenn’s wehtut“, raunte er mir zu.

„Ok“, flüsterte ich.

Ich schmolz dahin unter seinen Berührungen und bekam eine Gänsehaut. Ob er die sehen konnte?

Um mich abzulenken, sprach ich ihn auf seine Fotos an.

„Wie sind denn -ooh- deine Fotos vom 1. Weihnachtstag geworden?“

„Die sind super geworden! Besonders das erste, das wir von der Marktkirche gemacht haben. Deine Tipps waren echt geil!“

„Geil“ fand ich gerade etwas anderes…

„Tut mir -aah- leid, dass du in der Kälte warten musstest, vorgestern“, sagte ich vorsichtig.

„Macht nichts. Ich weiß ja jetzt, dass du mich nicht absichtlich versetzt hast“, antwortete er sanft und fuhr sanft mit seinen Fingernägeln über mein Schulterblatt.

„Die musst du mir irgendwann -huffff- mal zeigen.“ Jedes Mal, wenn er die schmerzenden Muskeln meiner Schulter massierte, kamen diese Stöhnlaute über die Lippen.

„Gerne. Wenn du mir auch deine zeigst?“

„Sicher!“

Er kicherte. „Dann sollten wir aber vorher noch unsere Telefonnummern austauschen, damit du mir Bescheid sagen kannst, falls du dich wieder mal auf die Schnauze legst.“

„Grrrr“, knurrte ich nur.

Dann schwiegen wir eine Weile. Nach eine Weile sagte ich: „Das issssssst echt ein Zufall, dass du ausgerechnet -ooh- hier arbeitest.“

„Ja, ein schöner Zufall…“

Er massierte mich weiter, und ich genoss jede seiner Berührungen.

„Wie verdienst du eigentlich deinen Unterhalt?”, fragte er nach einem Moment.

„Ich arbeite in einem Reisebüro.“

„Cool, dann weiß ich ja jetzt, wo ich ab sofort meine Winterurlaube buchen kann, wenn ich mal wieder Snowboardfahren will!” Ich hörte sein Grinsen, auch wenn ich es nicht sehen konnte. „Kannst du auch Snowboard fahren?“

„Sehe ich gerade so aus, als ob ich ein Wintersportfan bin?”, grummelte ich durch das Loch in der Liege.

„Nein“, lachte er, „nicht wirklich!“

Dann strich er mir einmal vorsichtig über den Rücken. „So, fertig, der Herr!“

Ich hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit unter seinen göttlichen Fingern vergangen war.

Philipp ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. „Äh, du kannst jetzt aufstehen.“

Verdammt! Ich hatte mich noch keinen Millimeter bewegt, denn zu meinem Überdruss war zu der Bänderdehnung im Knöchel und zur Prellung in der Schulter noch eine Schwellung hinzugekommen.

Im Schritt.

„Ich äh… würde gerne noch ein wenig liegen bleiben…“

„Wieso? Hast du Schmerzen?”, fragte er besorgt.

„Ähm nee… aber ich… äh… das ist mir jetzt echt peinlich…“ Ich biss mir auf die Lippe.

Philipp kicherte.

„Sorry, aber der Raum wird gleich wieder benötigt. Und mach dir keine Sorgen… du ahnst ja nicht, wie oft das hier passiert.“

Ich seufzte und erhob mich langsam. Er half mir dabei hoch, und sein Blick wanderte an mir herab.

Dann pfiff er leise durch die Zähne. „Das ist aber eine ganz schön große Schwellung. Bist du sicher, dass sich das nicht mal ein Arzt anschauen sollte?“ Seine Augen blitzten vor Vergnügen.

Ich wurde knallrot und griff schnell nach meinem T-Shirt. „Keine Angst, da ist alles in bester Ordnung.“

Er nahm einen Zettel von einem der Schränke und kritzelte etwas darauf. Nachdem ich meinen Pulli wieder angezogen hatte, reichte er ihn mir.

„Hier, meine Adresse und meine Nummer. Meld dich mal heute Nachmittag, ok? Ich habe um drei Uhr Feierabend.“

„Mach ich!“ Ich nahm den Zettel und steckte ihn ein. Meine „Schwellung“ war inzwischen auf wundersame Weise abgeklungen.

„Wann hast du denn deinen letzten Termin?“

„Morgen um vier.“

„Schade. Ich habe morgen Dienst bis um drei“, grinste Philipp mich an.

„Verstehe“, grinste ich zurück.

Wir standen noch einen kurzen Moment da und grinsten uns an. Dann sagte er: „So, ich muss weiter. Der Nächste wartet bestimmt schon.“

„Ok“, seufzte ich.

„Wir hören uns?“

„Wir hören uns!“

„Ok, ciao!“

„Ciao…“

Dann öffnete er die Tür und ging zum Empfang, ich folgte ihm. Die Sprechstundenhilfe reichte ihm einen Schrieb: „Hier, deine nächste Patientin wartet in der 3 auf dich.“

„Alles klar.“ Er zwinkerte mir noch mal kurz zu und verschwand.

Ich wendete mich an die Sprechstundenhilfe. „Mir ist morgen Nachmittag um vier was dazwischen gekommen. Wäre es vielleicht möglich, den Termin etwas früher zu legen?“

Sie schaute in ihr Buch. „Nur noch um halb drei. Passt Ihnen das?“

Es passte mir.


Ich rief Philipp gegen halb vier an, und wir verabredeten uns für halb fünf in einem Café bei mir um die Ecke. Ich wäre ja lieber in die Innenstadt gegangen, aber einen längeren Weg wollte er mir nicht zumuten.

Ich war so froh, dass ich ihm in der Praxis doch noch begegnet war und dass er mir seine Telefonnummer gegeben hat. Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir beide… na ja, sagen wir mal, „aneinander nicht ganz uninteressiert“ waren.

Pünktlich um halb fünf betrat er das Café, wo ich ihn bereits erwartete. Wahrscheinlich strahlten wir um die Wette, als wir uns sahen. Diese Augen von Philipp waren echt der Hammer.

„Normalerweise treffe ich mich ja nicht mit Patienten“, sagte er schelmisch, nachdem wir uns begrüßt hatten, und setzte sich.

Ich grinste zurück. „Ich treffe mich normalerweise auch nicht mit meinen Ärzten.“

„Ich bin kein Arzt, sondern Physiotherapeut.“

„Aber so gut wie sich meine Schulter jetzt anfühlt, wärst du bestimmt auch ein guter Onkel Doktor.“

„Als Arzt wäre es aber meine Aufgabe, Schwellungen zu heilen, anstatt sie zu verursachen“, meinte er spitz.

Mir stieg wieder all mein Blut zu Kopfe.

„Du bist niedlich, wenn du rot wirst“, raunte er mir daraufhin zu.

Ich nahm demonstrativ die Getränkekarte und vertiefte mich in die Suche nach einem Kaffee. Den hatte ich mir zwar schon längst ausgesucht, aber es war eine gute Ablenkung.

„Hör mal“, sagte er leise, aber mit ernsterer Miene, „das, was dir da vorhin passiert ist, war wirklich nicht das erste Mal, dass ich oder meine Kollegen eine solche Reaktion hervorgerufen haben. Da gibt es unangenehmere Fälle als dich. Glaub mir. Ich fand das wirklich nicht schlimm.“ Er räusperte sich kurz. „Im Gegenteil.“

Hm. Eigentlich wäre damit ja wohl alles gesagt, oder?

In diesem Moment kam die Kellnerin und nahm unsere Bestellung auf. Nachdem sie wieder verschwunden war, meinte ich nur vorsichtig: „Ich freue mich, dass du das so siehst. Aber lass uns das bitte nicht hier ausdiskutieren, ok?“ Ich deutete mit einer knappen Kopfbewegung an den Nachbartisch, wo zwei Damen fortgeschrittenen Alters sich gerade Sahnetorte reinstopften, ihre Ohren aber offensichtlich an unserem Tisch hatten.

Er nickte. Dann sagte er: „Erzähl mal was von dir! Wie ist deine Familie denn so?“

Ich zuckte mit der rechten Schulter. „Da gibt’s nicht viel zu erzählen.“

„Na komm, mal im Ernst. Hast du Geschwister?“

„Nein.“

„Na gut. Nächste Frage: Was machen deine Eltern?“

Volltreffer.

„Nun, das letzte Mal, als ich nach ihnen gesehen habe, lagen sie noch tot auf dem Friedhof. Ich gehe davon aus, dass sie das immer noch tun.“

Philipps Augen wurden größer.

„Das war jetzt ein Witz, oder?“

„Nein, das wäre zu geschmacklos“, antwortete ich knapp. „Meine Eltern kamen vor viereinhalb Jahren bei einem Autounfall ums Leben.“

Er machte einen zerknirschten Eindruck. „Verdammt. Entschuldige bitte. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen.“

„Schon gut.“

Er schien nachzudenken. „Aber wie hast du denn dann Weihnachten verbracht? Darf ich denn nach Großeltern oder so fragen?“

„Frag lieber nicht. Wenn ich sage, dass ich nicht viel über meine Familie erzählen kann, dann meine ich das auch so. Ich bin wirklich der letzte aus unserer Linie.“

Er starrte mich mit großen Augen an. „Dann hast du Weihnachten wirklich ganz allein verbracht?“

Ich deutete ein Nicken an. „Mit Ausnahme unserer zwei Treffen und meines Aufenthaltes in der Notaufnahme vom Henriettenstift.“

„Aber warum hast du denn nichts gesagt? Du hättest doch mit zu uns kommen können…“

„Was hätte ich denn sagen sollen? Nimm mich bitte mit, ich bin alleine!? Außerdem kenne ich deine Familie doch gar nicht. So als Wildfremder Heiligabend bei einer wildfremden Familie zu verbringen, dazu hatte ich auch keine Lust.“

Philipp grübelte kurz. Dann fragte er vorsichtig: „Und was machst du Silvester?“

Ich grinste. „Nimm mich bitte mit, ich bin alleine!“

Er lachte. „Alles klar, dann feiern wir bei mir in meiner Wohnung.“

Mein Grinsen erfror. „Nein, mal im Ernst. Feierst du nicht mit deiner Familie?“

„Nein, das habe ich zuletzt vor 3 Jahren oder so gemacht.“

„Und deine Freunde?”, bohrte ich weiter.

„Die kommen auch mal ohne mich zurecht.“

Letzter Versuch: „Freund?“

„Bin solo.“

„Hm.“ Ich dachte über diesen Vorschlag nach.

Er beugte sich wieder rüber und meinte: „Ich würde mich wirklich freuen, wenn du Silvester bei mir feiern würdest.“ Dabei schaute er mir tief in die Augen.

Wie hätte ich diesem Blick widerstehen können?

„Ok, dann also Silvester bei dir.“

Er lächelte breit. Wir redeten dann noch über ein paar Belanglosigkeiten, bevor wir uns um sechs Uhr trennten.

Ich war so glücklich wie schon sehr lange nicht mehr.

29. Dezember

So gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen, und das trotz meiner Verletzungen. Meiner Schulter ging es zwar deutlich besser, aber wenn ich mal eine falsche Bewegung machte, wurde ich noch auf unsanfte Weise an meinen Sturz vor drei Tagen erinnert.

Ich verbrachte den Vormittag damit, meine Wohnung auf Vordermann zu bringen, denn das war mal wieder fällig. Außerdem hatte ich vor, Philipp für morgen einzuladen, damit ich ihm meine Fotos zeigen konnte.

Endlich kam der Nachmittag und ich trabte zu meinem letzten Massagetermin. Ich saß wieder in der 2, als Philipp reinkam.

„Na endlich! Und ich dachte schon, du kommst heute gar nicht mehr!”, begrüßte er mich.

„Bedank dich bei der Dame vorne, die hat den Termin vorziehen können.“

„Mach ich. Und du kannst dich schon mal freimachen…obenrum.“ Er grinste mich wieder neckisch an.

Ich entledigte mich meines Pullis und meines T-Shirts und legte mich wie üblich auf die Liege. Dann spürte ich seine göttlichen Finger auf meiner Haut.

Dann sagte Philipp mit ernster Stimme: „Ich habe nachgedacht.“

Oh-oh. Das hörte sich gar nicht gut an.

„Worüber denn?“

„Über Silvester.“

Ich schluckte. „Und?“

„Nun“, fing er etwas zögerlich an, „ich finde nicht, dass wir uns Silvester abends bei mir treffen sollten…“

Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Warum das denn nun so plötzlich?

„Was? Warum nicht?“ Ich stützte mich auf meinen rechten Arm und schaute ihn erschrocken an.

„Weil ich finde, dass du schon morgens kommen solltest. Dann haben wir noch mehr Zeit für uns.“ Er zwinkerte mir belustigt zu.

Ich atmete laut aus und sank zurück auf die Liege. „Manno… lass diese Witze in Zukunft, ja?!“

„Och, das musst du abkönnen.“ Dabei tätschelte er mir leicht die Schulter. „Also, was meinst du? So um zehn?“

„Klar, warum nicht?“

„Sehr schön“, freute er sich. „Dann machen wir ein richtig großes, leckeres Brunch mit Sekt und allem!“

„Mach dir bloß nicht zuviel Aufwand…“, versuchte ich einzuwenden.

Er beugte sich runter zu mir und hauchte in mein Ohr: „Keine Sorge. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das wert bist.“ Dann fuhr er einmal kurz mit seiner Nasenspitze an meinem Ohr entlang.

Mann, war das erotisch. Ich bekam wieder ein Gänsehaut – und eine „Schwellung“.

„Danke, Philipp. Das ist lieb von dir.“

Wir schwiegen wieder eine Weile, während ich seine Massage und die damit einhergehenden Berührungen genoss.

„Bin ich denn dein letzter Patient heute?”, fragte ich schließlich.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich kommt noch jemand nach dir, bevor ich Feierabend machen kann.“

„Und hast du schon was vor morgen?“

„Na ja… wieso?“

„Wenn du willst, kannst du ja zu mir kommen, dann könnte ich dir die Fotos zeigen, etwas kochen, und wenn du Lust hast, könnten wir hinterher einen Film sehen oder so…“

Er zögerte. „Eigentlich würde ich ja sehr gerne, aber ich bin morgen bei meiner Familie. Die haben darauf bestanden, dass ich noch mal einen Tag dieses Jahr mit ihnen verbringe…“ Er hörte sich nicht allzu glücklich an.

Das war auch für mich ein Dämpfer.

„Schade. Aber ich sehe das ein…“

Wieder schwiegen wir einen Moment.

„Weiß es deine Familie eigentlich?”, fragte ich nach einer Weile.

„Was? Dass ich schwul bin?“

Ich deutete ein Nicken an.

„Ja, da ist alles geklärt. War auch kein großes Problem für sie.“ Er zögerte wieder einen Moment. „Und wussten es deine Eltern, bevor sie den Unfall hatten?“

Ich seufzte. „Nein. Ich hatte nie die Gelegenheit, es ihnen zu sagen, als sie noch lebten.“

„Oh… das tut mir Leid…“

„Tja… was will man machen…“

Er massierte mich eine Weile weiter. Dann sagte er: „So, fertig.“

Er ging wieder zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Ich erhob mich von der Liege und zog meine Klamotten wieder an.

„Nanu, gar keine Schwellung heute?”, fragte er leicht amüsiert.

„Doch. Nur diesmal habe ich nicht so weite Hosen an, dass man sie sehen kann. Weihnachten ist schließlich vorbei“, grinste ich ihn an.

„Schade…“, grinste er zurück.

Wir standen uns einen Moment schweigend gegenüber. Dann sagte er: „Dann bis übermorgen!“ und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

Wieder schmolz ich dahin. Nach einer Weile merkte ich, dass er schon seit einigen Sekunden aus dem Zimmer gegangen war.

Mann, mich hatte es voll erwischt.

31. Dezember

Morgens um neun Uhr ging ich zum Friedhof. In der Regel war ich einmal im Monat da, um nach dem Rechten zu schauen und frische Blumen auf das Grab zu legen. Und diesmal hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich mit meinen Eltern reden wollte, denn es hatte sich ja einiges getan in den letzten Tagen.

Zielstrebig ging ich zu ihrem Grab und verharrte dort einen Moment.

In der Ferne verballerten ein paar Kiddies ihr Taschengeld, ein paar Krähen krähten vereinzelt in kahlen Bäumen. Ansonsten war es buchstäblich totenstill. Über dieser Stille thronte der graue Himmel.

„Hallo Mama, hallo Papa“, flüsterte ich schließlich.

Ich holte eine Vase hinter dem Grabstein hervor, steckte sie in der Mitte des Grabes in die Erde und stellte die Blumen rein. Dann stellte ich mich wieder vor das Grab.

Ich wusste nicht, wo oder wie ich anfangen sollte.

„Ihr fehlt mir…“ Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. „Ich weiß, ich rede nicht viel… wenn ich hier bin… es gab ja auch nicht viel zu erzählen… Weihnachten war nicht so toll… wie jedes Jahr… ich war ja wieder alleine…“

Ich schniefte.

„Aber trotzdem… dieses Jahr war es was ganz Besonderes… ich habe jemanden kennen gelernt… wir liefen uns Heiligabend über den Weg… direkt an der Marktkirche…“

Ich schniefte wieder kurz und wischte eine einzelne Träne von meiner Wange. Stockend kamen mir die Worte über die Lippen.

„Er heißt… Philipp…“

Jetzt weinte ich.

„Ja, es ist ein Junge… genau wie ich… er ist furchtbar nett und lieb und… und er hat wunderschöne blaue Augen… und seine Hände…“

Ich schluchzte.

„Ich hätte euch gerne schon früher erzählt… dass ich… schwul… bin… aber leider… wurdet ihr zu früh… aus meinem Leben gerissen… viel zu plötzlich…“

Wieder wischte ich die Tränen aus meinem Gesicht.

„Ich glaube… dass ihr ihn mögen würdet… er ist wirklich ein… toller Mann… und ich bin so glücklich… wenn ich in seiner Nähe bin… so glücklich wie schon lange nicht mehr… das letzte Mal… als ich so glücklich war… das war der Tag… als ich meine Abifeier in der Schule hatte… mit euch… ich war damals so euphorisch… und so gespannt auf meine Zukunft… und als wir abends essen waren… wollte ich es euch sagen… aber dann…“

Ich holte ein Taschentuch aus meiner Jackentasche und wischte mir die Tränen weg.

„Aber dann… ich hatte auf einmal so eine Angst… ich dachte… dass in einem Restaurant… dass… dass das vielleicht keine gute Idee ist… aber ich hatte es mir fest vorgenommen… ich wollte es euch bald sagen… und dann… drei Tage später… wart ihr tot…“

Ich hielt mir das Taschentuch vor das Gesicht und heulte auf.

„Oh Gott… warum nur… WARUM?!“ schrie ich in mein Taschentuch. Weinkrämpfe schüttelten mich.

Aber dann dachte ich an Philipp und beruhigte mich langsam.

„Entschuldigt bitte… ich glaube… das letzte Mal habe ich bei eurer… Beerdigung so die Fassung verloren…“

Ich musste widerwillig lächeln.

„Jedenfalls… ich wollte nur Bescheid sagen… dass es mir ansonsten ganz gut geht… dass ich ganz optimistisch bin… und dass ich euch vermisse…“

Ich schniefte noch mal.

„…ganz doll vermisse… und immer noch sehr lieb habe…“

Ich wischte die letzten Tränen weg.

„Und wenn ihr möchtet… ich frag’ ihn mal… dann stelle ich ihn euch nächstes Mal vor… wenn ich wieder hier bin… ich geh’ jetzt zu ihm… er hat mich zum Brunch eingeladen… und dann wollen wir ins neue Jahr reinfeiern… zusammen…“

Ich betrachtete ihr Grab. In diesem Moment brach die Wolkendecke auf, und ein einzelner Sonnenstrahl fiel genau auf uns drei.

Ich lächelte, schniefte ein letztes Mal und flüsterte: „Danke… ich hab euch lieb… und… Frohes Neues Jahr…“

Ich schaute noch einmal auf den Grabstein. Dann drehte ich mich um und ging.


Um zehn klingelte ich an seiner Tür. Philipp öffnete mir und strahlte mich an.

„Hi! Komm rein!”, begrüßte er mich.

„Hi!“ Ich betrat den Flur und nahm meine Jacke ab. Wir schauten uns an.

„Ähm… willst du mich nicht so begrüßen, wie du mich gestern verabschiedet hast?”, fragte ich etwas schüchtern und höchstwahrscheinlich mit einem Anflug von Röte im Gesicht.

Er lächelte nur, legte seine Arme um meine Hüfte und zog mich an ihn ran.

„Hallo“, raunte er und schaute mir dabei tief in die Augen. Dann kam sein Gesicht meinem immer näher und ich schloss die Augen. In dem Moment, als ich seine Lippen auf meinem Mund spürte, explodierte ein Feuerwerk.

Wahnsinn! Gott, wie hatte ich so was vermisst.

Keine Ahnung, wie lange dieser erste richtige Kuss dauerte. Jedenfalls schauten wir uns hinterher verliebt in die Augen.

Ja, „verliebt“ war der richtige Ausdruck.

„Was ist los?”, fragte er auf einmal besorgt. „Du hast ganz rote Augen…?“

Ich senkte meinen Blick. „Ich… war noch auf dem Friedhof eben… und habe mit meinen Eltern gesprochen… ich habe ihnen von dir erzählt…“

„Oh…“ Dann trat er wieder ganz nah an mich ran. „Komm mal her.“

Dann nahm er mich ganz fest in seine Arme. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Es fühlte sich sooooo gut an. Und in diesem Moment merkte ich, dass ich genau hierhin gehörte.

Ich seufzte. „Danke. Das ist lieb von dir.“

„Na, dann komm mal mit“, meinte er schließlich, ließ mich los und führte mich in seine Wohnung.

Als wir in die Küche kamen, traute ich meinen Augen kaum. Der Tisch bog sich förmlich unter dem ganzen Essen, welches Philipp aufgefahren hatte: Da gab es frischen Mozzarella mit Tomaten, Brötchen, jede Menge Käse und Aufschnitt, Obst, Brötchen, Croissants, Marmelade und einen Sektkühler, halbvoll mit Eiswürfeln, aus dem eine Flasche Veuve Cliquot rausragte. Der Duft von frischem Kaffee lag in der Luft und auf dem Herd brutzelte Rührei vor sich hin.

Mir stockte der Atem. „Wow…! Aber… ich habe dir doch gesagt, dass du dir nicht zu viel Aufwand machen sollst…“

„Und ich habe dir doch gesagt, dass du es mir wert bist.“

„Aber der Champagner…“

„…ist lecker!“ Er deutete auf einen der beiden Stühle. „Setz dich. Kaffee?“

„Ja, gerne.“

Er schenkte mir und ihm eine Tasse ein. „Milch und Zucker stehen hier auch irgendwo.“ Seine Augen wanderten suchend über den Tisch.

„Danke, ich nehm’ nur etwas Kuh bitte“, sagte ich und griff nach der Milch.

Er grinste. Dann ging er an den Herd und kümmerte sich um das Rührei.

„Kann ich dir denn noch bei irgendetwas helfen?“

„Nein. Bleib einfach sitzen und schone deinen Fuß und genieß die Bewirtung. Etwas Rührei?“

Er kam mit der Pfanne an den Tisch und verteilte das Rührei. Nachdem er sie wieder weggebracht hatte, nahm er die Flasche Champagner, zog den Korken raus und schenkte uns ein. Schließlich zündete er die Kerze an, die noch auf dem Tisch stand.

„So, nu kann’s losgehen!“ Dann setzte er sich mir gegenüber, nahm sein Glas und sagte: „Auf dich!“

„Nein. Auf uns – und auf das neue Jahr.“ Wir schauten uns in die Augen, während die Gläser klimperten.


Mann, war das ein Brunch. Wir schlugen uns im wahrsten Sinne des Wortes den Wanst voll. Wir müssen so etwa zwei Stunden allein mit Fressen und Reden verbracht haben.

Ich spürte wieder dieses Glücksgefühl in mir. Wir lachten und redeten und schauten uns in die Augen und unter dem Tisch berührte mein Knie die ganze Zeit seins. Er zog es nicht weg.

Irgendwann waren wir einfach pappensatt und Philipp begann, den Tisch abzuräumen. Ich griff mir die Teller und wollte gerade abräumen, als er mich von hinten wieder sanft auf den Stuhl drückte und mir ins Ohr hauchte: „Denk an deinen Fuß!“ Er fing an, mich zu massieren.

Ich schnurrte. „Na gut, Herr Doktor.“

„Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich kein Arzt bin.“

„Schade, dass mir der Arzt nur drei Massagen verschrieben hat…“ Ich bekam wieder eine Gänsehaut, während seine Daumen meinen Nacken bearbeiteten.

„Willst du etwa noch eine?”, fragte er, und ich hörte, wie er dabei grinste.

„Och, da würde ich nicht nein sagen…“

„Na, dann komm doch einfach mal mit.“

Er führte er mich durch den Flur, am Wohnzimmer vorbei auf eine weitere geschlossene Tür zu.

„Willkommen in meiner Privatpraxis.“

Er öffnete die Tür und sein Schlafzimmer kam zum Vorschein. Ein großes Bett stand in der Mitte.

„Machen Sie sich bitte obenrum frei und legen Sie sich auf den Bauch“, kommandierte er.

Ich schaute ihn fragend an. War das jetzt sein Ernst?

Er hielt mir eine Flasche Massageöl unter die Nase. „Riech mal“, flüsterte er.

Mmh… Lavendel…

Ich zögerte noch immer.

„Diese Massage ist nicht verschrieben, nicht notwendig und absolut nicht geplant…“ Seine blauen Augen funkelten mich an.

„Na denn…”, sagte ich und begann, meinen Pulli auszuziehen. Philipp zündete in der Zeit ein paar Duftkerzen an und legte eine CD mit ruhiger Musik auf.

Ich hatte in der Zwischenzeit auch mein T-Shirt ausgezogen und mich auf das Bett gesetzt, von wo aus ich ihn beobachtete.

„So, leg dich hin“, sagte er sanft, als Kerzen und Musik an waren.

Ich tat, wie mir geheißen.

„In die Mitte bitte.“

Ich rutschte rüber in die Mitte. Dann spürte ich, wie er auf das Bett kletterte und sich neben mir positionierte.

„Sooo, Achtung“, warnte er, dann spürte ich das Massageöl auf meinem Rücken. Es war – natürlich – kalt.

Sanft glitten seine Finger über meine Schultern… dann den Nacken… meinen Rücken hinab und jagten mir Stromstöße durch den Körper, Gänsehaut inklusive. Dezent stieg mir der Duft von Lavendel in die Nase.

„Sag mal“, meinte Philipp plötzlich, „würde es dir was ausmachen, wenn ich mich anders hinsetze? Also… ähm… komplett anders?“

„Wie, anders?“

„Na ja, sagen wir ‚rittlings’? Das geht nämlich ein bisschen auf den Rücken so in dieser Haltung…“

„Öhm… na gut…“ Was zum Kuckuck heißt denn bitte „rittlings“???

Oh. Ok. Ich erfuhr es, als er sich quasi auf meinen Allerwertesten setzte, ein Knie auf jeder Seite meines Körpers, und mit der Massage fortfuhr.

Langsam, zärtlich glitten seine Finger über meine Schultern, wieder an der Wirbelsäule entlang bis zum Hosenbund.

Und an der Seite wieder hoch…

Bis in den Nacken…

Über die Schultern…

Wieder nach unten…

Ich schmolz wieder unter seinen Berührungen dahin.

Nacken…

Schultern…

Schließlich fuhren seine Hände wieder nach unten, bis sie wieder meine Hose erreichten. Vorsichtig glitten seine Finger am Saum meiner Boxershorts entlang, als würden sie um Einlass bitten.

„Warte mal“, stöhnte ich und begann mich umzudrehen. Philipp erhob sich, damit ich mich zwischen seinen Beinen drehen konnte.

Als ich auf dem Rücken lag, setzte er sich wieder. Ich schaute direkt in seine eisblauen Augen, die einen neuen Glanz bekommen hatten. Seine Finger strichen sanft über meine Brustwarzen und verharrten schließlich auf Höhe meines Bauchnabels.

Er lächelte. „Offensichtlich hast du wieder eine Schwellung.“

Ein kurzer Blick bestätigte mir, was ich gehofft oder geahnt hatte.

„Und offensichtlich ist sie ansteckend“, raunte ich, griff nach dem Halsausschnitt seines Pullovers und zog ihn zu mir runter.

Es war der unbeschreiblichste Kuss meines Lebens.

Und obwohl wir beide gerade erst mehr als ausgiebig gefrühstückt hatten, verspürte ich auf einmal einen Heißhunger in mir. Einen Heißhunger nach Nähe, Liebe, Geborgenheit – und nach Philipp…


Wir verbrachten buchstäblich Stunden im Bett. Nach dem großen Fressen namens Brunch und dem „Nachtisch“ namens Massage, lagen Philipp und ich einfach da, hörten der leisen Musik zu, streichelten uns, unterhielten uns, küssten uns, erforschten uns, genossen uns. Irgendwann schliefen wir in unseren Armen ein.

Ich wurde zuerst wach, denn unten auf der Straße explodierten wieder ein paar Böller. Ich lag auf dem Rücken, Philipp halb auf dem Bauch und sein Arm lag auf meiner Brust. Er sah so friedlich aus mit seinem halb geöffneten Mund. Ich fing an, seinen Arm zu streicheln.

Er atmete tief durch, drehte sich ganz auf die Seite, seine Lippen formten sich zu einem Lächeln, und sein Arm zog mich noch ein Stückchen näher an ihn ran.

„Nur noch ein paar Minuten…“, nuschelte er.

Ich drehte mich auch auf die Seite und legte ebenfalls meinen Arm um ihn. Auf seinem Rücken begann ich, mit meinen Fingern kleine Kreise zu zeichnen.

Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so geborgen und so glücklich. Ich genoss jede Sekunde.

Nach ein paar Minuten öffnete er langsam seine Augen und grinste mich an.

„Gut geschlafen?”, fragte ich leise.

„So gut wie schon lange nicht mehr.“

Auf einmal umfasste er mich und zog mich auf ihn rauf.

„Na du?”, fragte er grinsend.

Ich küsste seine Nasenspitze.

„Selber na“, raunte ich zurück.

„Mmh. Daran könnte ich mich gewöhnen.“

„Woran?“

„An deinen Anblick beim Aufwachen.“

Ich lächelte. „Da hätte ich nichts gegen einzuwenden.“

Ich legte meinen Kopf auf seine Brust. So verbrachten wir wieder einige Zeit, während seine Hände meinen Rücken kraulten.

Nach einer Weile sagte er: „Wollen wir mal duschen gehen?“

„Unbedingt. Ich fühle mich etwas… schmutzig.“

„Sex ist immer schmutzig, wenn er richtig gemacht wird“, grinste er.

„Dann sehe ich schwarz für deine Wasserrechnung.“

„Och, solange die das einzige Problem ist…“

Wir pellten uns aus der Bettdecke. Ich setzte mich an den Rand des Bettes und nahm den Verband um meinen Fuß ab. Dabei fiel mir auf, dass aus dem Schlafzimmer ein Schlachtfeld geworden war. Überall lagen unsere Klamotten verteilt.

„Dann lass uns mal ins Bad gehen“, meinte Philipp und hielt mir seine Hand hin.

„Gleichzeitig?“

Er schaute mich wieder verführerisch an. „Ich habe eine echt große Dusche…“

„Das artet doch nur wieder aus…“

„Ich weiß“, grinste er.

Ich nahm seine Hand und folgte ihm.


Eine Stunde später waren wir wieder sauber, bekleidet und hatten das Schlafzimmer aufgeräumt. Danach fingen wir an, das Abendessen vorzubereiten. Ich schnippelte die Zutaten klein, während Philipp sich um den Abwasch kümmerte, der seit dem Frühstück unbeachtet in der Spüle stand.

Er war ein echt guter Koch; eine Fähigkeit, die ich leider gar nicht besaß. Es wurde ein wunderbares Candlelightdinner, welches er zauberte.

Ich merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Abends schließlich, sahen wir uns „Dinner for one“ und „Ein Herz und eine Seele“ an, dann legte er einen Film ein. Dabei saßen wir auf seiner Couch, kuschelten, tranken Rotwein und schauten Amélie dabei zu, wie sie ihre fabelhafte Welt verzauberte.

Und schließlich, endlich, irgendwann war es kurz vor Mitternacht. Wir zogen unsere Jacken über und gingen auf den Balkon, wo Philipp eine zweite Flasche Champagner öffnete. Im Fernseher hinter uns zeigten sie das Brandenburger Tor und blendeten die Uhr ein, die letzten Sekunden des Jahres anzeigten. Irgendwo auf einem anderen Balkon zählten irgendwelche Leute lauthals mit.

„10!… 9!… 8!… 7!… 6!… 5!… 4!… 3!… 2!… 1!… Nuuuuuuuuuuuuuulllll!!! Prost Neujahr!!!“

Philipp nahm mich ganz fest in die Arme und flüstere: „Frohes Neues Jahr, Jan!“

„Frohes Neues Jahr, Philipp“, erwiderte ich ebenso leise. „Ich hab’ dich lieb!“

„Ich hab’ dich auch ganz dolle lieb.“

Wir schlossen unsere Augen, und unsere Lippen kamen sich immer näher. Und während über dem mitternächtlichen Hannover die Raketen den Himmel beleuchteten, wurde auch in meinem Innersten ein Feuerwerk entfacht.

The same procedure as last year?

Diesmal nicht.

Ende

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