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24.12.

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Ja, er wusste es definitiv. Er, Stefan Kramer, 16 Jahre alt, wohnhaft in X. war schwul. Und er war allein. Niemand auf dieser Welt konnte ihn verstehen, niemand auf dieser Welt fühlte so wie er.

Obwohl es erst 16 Uhr war, war es bereits wieder dunkel und einzelne Schneeflocken schwebten herab. Es war ein kalter Tag gewesen.

Unter ihm, unter der Brücke plätscherte leise der Fluss, der zu dieser Jahreszeit wenig Wasser führte. Aber das war jetzt auch egal, das Wasser wäre ohnehin zu kalt, und es würde viel zu lange dauern. Aber hier unter der Brücke war das Ufer ziemlich steinig und die Höhe musste eigentlich auch ausreichen.

In der Ferne sah er einige Häuser mit warm erleuchteten Fenstern. Hinter diesen Fenstern saßen jetzt wahrscheinlich glückliche Menschen mit glücklichen Partnern und feierten glückliche Weihnachten.

Er lehnte sich ans Geländer und schaute in die Tiefe. Wie lange es wohl dauern würde? 2 Sekunden, 3, vielleicht sogar 4? Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass man den Aufprall gar nicht mehr spürt. Dass man vorher schon bewusstlos wird. War das hier überhaupt hoch genug? Na ja, für so einen wie ihn wird's schon reichen, dachte er.

Still und finster lag der Weg hinter ihm, hier würde um diese Zeit auch niemand vorbeikommen und ihn finden. Und bis seine Eltern draufkommen würden, dass er nicht da ist, würden wohl auch noch ein paar Stunden vergehen.

Wahrscheinlich waren sie ohnehin gerade wieder am Streiten. Wie schon so oft in letzter Zeit. Eigentlich war es nur mehr eine Frage der Zeit, bis sie sich trennen würden. Sie hatten sich auseinander gelebt. Einfach so. Punkt. Aus.

Gerade als er dabei war, aufs Geländer zu steigen, näherte sich leise von hinten eine Gestalt.

»Stefan, bitte tu's nicht.«

Erschrocken wandte er sich um.

Da stand ein ungefähr gleichaltriger Junge, der ihm auf den ersten Blick gefiel.

»Wieso sollte ich es nicht tun? Mir kann eh keiner helfen.«

»Nein, das darfst du nicht denken. Glaub mir, das ist es nicht wert. Es gibt so viele Menschen, die so fühlen wie du. Die glücklich sind und den Menschen ihres Herzens gefunden haben. Wirf diese Chance nicht weg.«

»Was? Woher weißt du? Woher kennst du überhaupt meinen Namen?«

»Lass es mich so formulieren: Ich habe ein Gespür dafür. Und ich habe dich schon länger beobachtet. Es ist nichts falsch daran, wie du fühlst. Glaub mir.«

»Aber...«

»Ich weiß, was du sagen willst. Aber du bist nicht alleine mit deinen Gefühlen. Das kommt dir nur so vor. In Wirklichkeit gibt es viele von uns. Menschen in jedem Alter, jedem Beruf, jeder Hautfarbe, und so weiter. Mit der Zeit wirst du einen Blick dafür bekommen. Aber du musst dir einfach Zeit geben.«

Inzwischen war er vom Geländer heruntergestiegen und sie gingen langsam zurück in Richtung der Häuser.

Irgendwie erschien es ihm, als ob von dem unbekannten Jungen eine Art Leuchten ausging. Aber er konnte es nicht richtig sehen. Es war da, aber auch wieder nicht. Aber er sah blass aus, obwohl eine starke Energie von ihm ausging.

»Aber es ist ja nicht nur das. Gerade heute – alle machen auf glückliche Familie. Heile Welt überall. Und bei uns tobt der Rosenkrieg. Ich hab's echt so satt.«

»Manchmal ist es besser, die Menschen gehen auseinander, statt sich das Leben zur Hölle zu machen. Es ist zwar nicht leicht, neu anzufangen, aber immer noch besser als die Hölle auf Erden. Aber warum auch immer es geht, vergiss eines nicht: Du bist nicht schuld!«

Er fühlte eine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit für den namenlosen Jungen.

»Danke. Ich glaube, du hast recht. Du hast mich vor einer riesen Dummheit bewahrt. Wie heißt du eigentlich?«

»Manuel Steiner.«

»Danke Manuel.«

Inzwischen waren sie wieder an den Rand der Siedlung gekommen.

»Ich muss jetzt wieder los, Stefan. Machs gut.«

»Danke noch mal.«

Sie schauten sich in die Augen und standen sich gegenüber. Nur eine handbreit war Abstand zwischen ihnen.

Dann nahm er all seinen Mut zusammen und küsste Manuel. Zuerst zart und zaghaft, dann leidenschaftlicher. Und es war wie ein Blitzschlag, diese Energie, die von Manuel auszugehen schien, durchfuhr ihn und erfüllte ihn mit neuer Kraft und neuem Lebensmut.

»Ich muss jetzt wirklich gehen.«

»Wo finde ich dich?«

»Folgen einfach deinem Herzen und du wirst mich finden. Machs gut.«

Langsam verschwand Manuel im inzwischen eingesetzten Schneetreiben.

Lange schaute er noch in die Richtung, in der Manuel verschwunden war, bevor er sich schließlich auf den Heimweg machte.

Ein tiefes Gefühl von Frieden und Ruhe durchströmte ihn. Er konnte sich sogar an den hell erleuchteten Fenstern freuen, hinter denen er strahlende Christbäume sah. Ja, es würde alles gut werden.

Epilog:

Am nächsten Morgen machte er sich auf, um Spazieren zu gehen. Irgendetwas trieb ihn hinaus. Ohne Ziel wanderte er in der Stadt umher, um schließlich vor dem alten Friedhof zu stehen. Eine Windbö strich um die Ecke, und das schmiedeeiserne Tor schwang ächzend auf.

Ziellos streifte er durch die Reihen, ohne die Inschriften näher wahrzunehmen.

Doch plötzlich blieb er vor einem Grab stehen.

Unserem geliebten Sohn
Manuel Steiner
(* 14. Mai 1977  † 24. Dezember 1993)
den wir so tragisch verloren haben
Ruhe in Frieden

Er war seinem Herzen gefolgt und hatte Manuel gefunden. Manuel, der sich damals genau an derselben Brücke in den Tod gestürzt hatte, weil er schwul war.

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