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Little Lies
Teil 5
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Informationen
- Story: Little Lies
- Autor: Rick
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Janosch: Montagmorgen, 09:30 Uhr
- Janosch: Dienstag Mittag, beim Essen
- Luke: Mittwoch Vormittag, 19.07.2000
- Janosch: Donnerstag Nachmittag, 20.07.2000
- Luke: Donnerstag Nachmittag, 16:50 Uhr
- Janosch: Donnerstagabend, 19:37 Uhr
- Janosch: Freitagmorgen, 21.07.2000
Janosch: Montagmorgen, 09:30 Uhr
Als ich aufwachte, waren Mum und Luke schon zur Wohnung gefahren. Luke hatte mir gestern Abend vor dem Einschlafen noch erzählt, dass sie heute mit dem Tapezieren beginnen wollte. Ich überlegte, wie ich den Vormittag verbringen konnte. David ... nein, der war bei Rip in Behandlung und anschließend würde er mit Sicherheit seine Ruhe haben wollen. Nick würde wahrscheinlich assistieren, die beiden verstanden sich ziemlich gut. Richie und Jason wollten auch irgendetwas unternehmen. Hm, es sah so aus, als wäre ich auf mich selbst gestellt. Also beschloss ich erst mal, anständig zu frühstücken.
Der Tisch war noch gedeckt. Ich schenkte mir Kaffee ein, schnitt mir ein Brötchen auf und entdeckte dann eine Nachricht, die Mum mir geschrieben hatte:
Hallo Janosch, Luke und ich fangen an, die Wohnung zu renovieren. Ich lasse dir den Schlüssel fürs Haus da, aber wenn du hinwillst, nimm bitte jemanden mit, okay? Wir werden zum Mittagessen wieder da sein. Liebe Grüße, Mum und Luke
Das war typisch Mum - bloß keinen Punkt vergessen. Ich widmete mich meinem Brötchen mit Marmelade und suchte nach der Zeitung. Sie lag auf Rips Platz, ordentlich zusammengefaltet mit dem Aschenbecher als Beschwerer obendrauf. Ich fand einen Artikel über den Beinahe-Absturz von Lukes Maschine - mittlerweile zerbrachen sich die Fachleute den Kopf darüber, wie es dazu kommen konnte, aber Luke hatte mir das Ganze schon erklärt: Wenn die Räder ausgeklappt waren, dann war der Luftwiderstand größer, und wenn die Maschine mit demselben Tempo fliegen sollte, wurde logischerweise mehr Kraftstoff gebraucht. Das klang ganz logisch, davon abgesehen war ich in Physik auch immer recht gut gewesen.
Es war komisch, aber plötzlich sehnte ich mich nach der Schule und meinen Freunden. Die letzten Tage waren für mich wirklich die Hölle gewesen, und so sehr ich die Schule auch hasste, aber irgendwie hatte sie etwas Normales an sich. Ich blätterte in der Zeitung weiter, bis ich schließlich bei den Familienanzeigen gelandet war. Dort blieb mir erst mal der Bissen im Halse stecken:
Das war also Dad gewesen. Ich war etwas überrascht, die Namen von meinen Verwandten auf der Anzeige zu finden - ich hatte gar nicht gewusst, dass Mum ihnen Bescheid gesagt hatte. Zu unseren Großeltern hatten wir sowieso nicht viel Kontakt, und Onkel Peter und Tante Ingrid waren seit zwei Wochen mit Anna-Lena und Pascal in Spanien. Wie hieß das im Recht so schön? Jetzt war ich Halbwaise. Ich hatte den Ausdruck irgendwo in der Schule mal aufgeschnappt, aber ich hatte mir immer vorgestellt, es müsste etwas besonders Schlimmes sein, wenn man Halbweise war. Ich empfand es nicht also schlimm, sondern ich war froh darüber.
»Du bist ja schlimmer als ich - kaum wach und der erste Griff geht zur Zeitung.« Rip war hereingekommen und holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, die er in einem Zug leerte. Er sah ziemlich fertig aus, war verschwitzt und hatte seine Praxiskleidung an. »Man muss sich ja weiterbilden, auch wenn das hier nicht viel mit Bildung zu tun hat.« Ich schob ihm die Zeitung hin. »Bist du mit David schon fertig?«, fragte ich dann. Er warf einen Blick auf die Zeitung, sah zu mir, wieder auf die Zeitung und sagte dann: »Ich mit ihm, oder er mit mir - das ist eine Frage des Standpunkts.«
»Wie geht es ihm?«, fragte ich. »Na ja, wie sagen wir Mediziner so schön: Den Umständen entsprechend gut. Aber ich habe ihm absolute Ruhe verordnet.« Ich grinste. »Na ja, ich war ja selbst schon bei dir in Behandlung.« Rip nickte. »Ach, gutes Stichwort: wie geht's deinem Gesicht eigentlich?« »Gut, ich hab' keine Probleme damit.« Rip nickte. »Wir müssen uns die Tage noch mal zusammensetzen, ich denke, wir können die feste Spange bald 'rausnehmen. Aber nur unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« »Du musst mir versprechen, die andere dann wirklich genau nach Vorschrift zu tragen, okay?«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt?« »In den Ferien rund um die Uhr, außer beim Essen, und wenn die Schule wieder anfängt nur nachmittags und nachts.« Ich protestierte. »Hey, und wenn ich mich mal mit Freunden treffen will?« Rip zog die Augenbrauen hoch. »Janosch, überleg' mal: Wie viele Jungs aus deiner Klasse laufen mit einer Zahnspange durch die Gegend?« »Nachmittags? Keiner«, antwortete ich - mir fiel wirklich keiner ein. Rip grinste noch breiter und klopfte mir dann freundschaftlich auf die Schulter. »Sieh's positiv - dann bist du der Erste. Aber darüber unterhalten wir uns später, ich muss wieder ins Büro zurück.« Sprachs und ging aus der Küche.
Mir fiel nichts mehr dazu ein. Lustlos blätterte ich weiter in der Zeitung, bis mir einfiel, dass Nick ja eigentlich auch fertig sein müsste, wenn Rip mit David fertig war. Ich suchte ihn und fand ihn in der Praxis, er war gerade dabei, aufzuräumen. Als ich hereinkam, blickte er auf. »Du solltest vielleicht lieber draußen warten, Janosch - das ist ein bisschen unappetitlich hier.« »Keine Sorge, ich habe gut gefrühstückt.« Nick lächelte. »Eben, deshalb ja.« Er sah sich kurz um. »Okay, das schlimmste ist eh' schon beseitigt. Wenn du willst, kannst du mir auch gern Gesellschaft leisten.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich. »Nein, danke - nimm's bitte nicht persönlich, aber bevor ich dir das alles erklärt habe, bin ich dreimal fertig.« »Okay.« Ich sah mich in der Praxis um - richtig wohl fühlte ich mich hier immer noch nicht, aber im Gegensatz zu früher konnte ich es mittlerweile hier aushalten. Mein Blick fiel auf einige blutgetränkte Tupfer, die noch auf der Arbeitsplatte lagen. »Wie ist es David ergangen?« Nick seufzte. »Das ganze hat ihn ziemlich mitgenommen - der Kleine hatte noch mehr Angst als du damals. Und dann gleich so ein Eingriff ...« Nick war deutlich anzusehen, dass er mit David fühlte.
Das brachte mich zu einer völlig anderen Frage: »Richie und Jason haben sich doch auch hier kennengelernt, oder?« »Ja, wieso?« »Na ja, ich kann mir das nicht vorstellen - da liegt man in diesem komischen Stuhl und verliebt sich in einen Menschen, der einem eigentlich Schmerzen zufügt.« »Tjaaaa ...«, antwortete Nick, »das ist alles eine Frage der Betrachtung. Jason hat doch erzählt, warum er damals hier war, oder? Im Prinzip war es ähnlich wie bei David, mit dem Unterschied, dass es Jason längst nicht so schlimm erwischt hatte. Na ja, jedenfalls war ihm ziemlich klar, dass Rip ihm helfen würde. Außerdem hat Richie sowieso nur assistiert, wie ich das ja auch mache. Die eigentliche Behandlung macht Rip. Richie war einfach im richtigen Moment da und hat Jasons Hand gehalten, und dann hat es gefunkt.«
»Sozusagen Liebe auf den ersten Biss?«, grinste ich. Nick lachte. »Ja, genau das.« »Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie das ist ... schwul zu sein, meine ich.« Nick zuckte mit den Schultern. »Ich hab' da zwar nicht besonders viele Vergleichsmöglichkeiten, aber ich denke, es ist nichts anderes als bei den Heteros auch. Man sieht den anderen, und dann verliebt man sich in ihn. So hat Rip meine Mum damals kennengelernt, so hat er die Mutter von Richie, Julian und Anne kennengelernt ...« »... und so haben sich meine Eltern kennengelernt, ich weiß. Man weiß eben doch nicht, was für ein Mensch es ist«, sagte ich mit leiser Verbitterung. Nick sah mich an. »Hm ... ich denke, du kannst deiner Mutter da nicht mal einen Vorwurf draus machen. Um ehrlich zu sein, bevor ich es von euch erfahren habe, hätte ich es bei eurem Vater ja selbst nicht geglaubt.«
Ich schluckte. »Ja, das hätte wohl keiner, wenn ich es nicht Luke erzählt hätte.« Ich spürte wie die Tränen in mir hochstiegen. »Ich mache einen Spaziergang«, verabschiedete ich mich knapp und verließ dann die Praxisräume. Nick kam mir hinterher. »Hey, wenn du mit jemandem reden willst, ich bin da, okay?« Ich nickte. »Danke.« »Und noch was - wann bist du wieder hier?«, fragte er. »Zum Mittagessen«, sagte ich knapp. Ich hatte nicht vor, schon wieder Reißaus zu nehmen. Dass mir das alles wieder hochgekommen war, dafür konnte Nick auch nichts - schließlich hatte ich ja all diese Fragen stellen müssen.
Ich schnappte mir Rinty, und nach einer Stunde an der frischen Luft ging es mir gleich viel besser. Ich beschloss, kurz bei Rips Nachbarin vorbeizuschauen, die ich am Freitag Nachmittag kennengelernt hatte. Frau von Bergheim begrüßte mich freudig, ich bleib noch einmal für eine Stunde bei ihr und unterhielt mich mit ihr. Sie erinnerte mich ein bisschen an eine englische Gräfin, mit ihrem hochgeschlossenen Kleid und vor allem ihrem Haus. Es war zwar nicht größer als das von Rip - also eine Größe, wie sie hier allgemein üblich war - aber schon viel älter, fast wie ein kleines Schloss. Ich fragte sie danach.
»Das Haus ist so ziemlich das Letzte, was von unserer Familie noch übrig geblieben ist. Ursprünglich kommen wir aus Württemberg, es gibt in der Nähe von Stuttgart auch noch einen kleinen Ort namens Berkheim - er wird zwar anders geschrieben, aber daher entstammt unsere Familie. Dieses Haus war früher die Sommerresidenz, als in unserer Familie einst einer meiner Vorfahren geheiratet hat. Mein Mann hätte dir dazu mehr erzählen können, aber er ist leider vor ein paar Jahren gestorben. Gott habe ihn selig.« Sie bekam feuchte Augen.
»Aber erzähl' doch mal ein bisschen was von dir und deiner Familie.«, bat sie mich dann. »Hm ... da gibt es eigentlich nur Mum und Luke, meinen Bruder.« »Kommt ihr aus Amerika? Du sagst immer Mum, wenn du von deiner Mutter sprichst.« »Nein, sie selbst kommt aus Irland, aber Luke und ich sind beide hier in Hamburg geboren.« Sie lächelte. »Also ein echter Hamburger Jung?« »Ja, genau.« »Ich liebe diese Stadt - ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, 74 Jahre, und ich könnte mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Auch wenn sich in Hamburg viel verändert hat.«
Langsam kam sie in Fahrt und sie erzählte viele Geschichten aus ihrer eigenen Jugendzeit - Hamburg in der Zeit zwischen zwei Kriegen und auch danach. »Wir alle hatten es nicht leicht. Mein Mann war damals in Gefangenschaft und meine beiden Schwestern und ich hatten hier in Hamburg als Krankenschwestern gearbeitet, um all die zivilen Opfer zu versorgen, die durch die Bombenangriffe verletzt wurden. Es war eine schlimme Zeit damals. Aber das, was vor dem Krieg und währenddessen passiert ist, lässt sich durch nichts entschuldigen.«
Sie schluckte. »Einige unserer besten Freunde waren jüdischen Glaubens, gute Bürger, und nur weil ihre Religion eine andere war, wurden sie einfach so umgebracht. Oder aus anderen Gründen. Sieh' dir zum Beispiel den jüngsten Sohn von Dr. Masters an - er und sein Freund, zwei so nette junge Männer. Und damals ... umgebracht hätte man sie, einfach so.« Sie sah mich einen Moment lang an. »Janosch, du scheinst mir ein vernünftiger Junge zu sein. Deine Generation hat es jetzt in der Hand - bitte sorgt dafür, dass so etwas in diesem Land nie wieder passiert. Das ist nicht mehr als die Bitte einer alten Frau an euch.«
»Ich weiß ... wir haben das Thema in der Schule schon besprochen, und ich bin sehr froh, dass ich es nicht miterlebt habe. Wir haben einmal einen Schulausflug nach Bergen-Belsen zur Gedenkstätte gemacht. Einigen Klassenkameraden von mir ist schlecht geworden bei den Bildern dort.« Sie nickte. »Ja, das kann ich verstehen. Warte mal, ich möchte dir noch etwas zeigen.« Sie ging ins Haus und kam zwei Minuten später mit einem Foto in der Hand zurück. »Hier, weißt du, wer das da in der Mitte ist?« Ich betrachtete das Bild - ich hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Er trug eine dunkle Uniform, hatte recht scharfe Gesichtszüge und trug - wie beim Militär üblich - eine Reihe von Orden auf der Brust. »Hm, gesehen habe ich ihn schon mal, aber ich kann keinen Namen damit verbinden«, sagte ich.
»Dieser Mann ist in meinen Augen der einzige deutsche Held aus den letzten Kriegsjahren - Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er hat ...« »... im Juli 1944 versucht, Hitler umzubringen. Das Attentat ging schief und einen Tag später wurde er selbst erschossen.« Sie nickte traurig. »Ja, leider. Er und mein Mann kannten sich, sie waren gute Freunde. Mein Mann war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg nach Frankreich, er wurde zurückgeholt und drei Tage lang verhört, weil man vermutete, dass er vielleicht etwas gewusst haben könnte. Zum Glück für ihn war das nicht der Fall. Aber selbst in den letzten Jahren seines Lebens, als es ihm schon sehr schlecht ging, fuhren wir jedes Jahr zum Grab von Claus. Und auch ich tue dies jetzt noch in jedem Jahr.«
»Was war Stauffenberg für ein Mensch?«, fragte ich. »Ich meine, ein Mann, der sich auf so ein Risiko einlässt ... ohne Frage hat er richtig gehandelt, aber war er sich dessen bewusst?« »Ja, auf jeden Fall«, sagte sie mit kräftiger Stimme. »Weißt du, Janosch, wir wussten nicht, was er und seine Leute geplant hatten, aber Claus war immer ein Mann gewesen, dem es um das Wohl anderer ging, das war ihm wichtiger als alles andere. Ich kenne nur einen Menschen in der Gegenwart, der vielleicht genauso handeln würde, und das ist Dr. Masters.« Ich lächelte. »Ja, Rip sind andere auch wichtiger als er selbst.«
Wir unterhielten uns noch ein bisschen, und dann musste ich langsam wieder 'rüber zu Rip, bevor ich dort wirklich noch vermisst wurde. Ich habe Frau von Bergheim seitdem nie wiedergetroffen, aber dieses Gespräch blieb mir immer in Erinnerung.
Als ich wieder bei Rip zuhause war, machte der sich gerade auf die Suche nach David. So wie Rinty nach draußen gefegt war, vermutete ich, dass er auf der Terrasse war, und mit dieser Vermutung lag ich völlig richtig. Er lag in einem Gartenstuhl und schlief tief und fest. Rip sah ihn einen Moment an, dann hob er ihn vorsichtig hoch und legte ihn oben in Lukes Bett. Ich stand die ganze Zeit daneben und beobachtete die Beiden. Als wir wieder nach unten gingen, fragte ich: »Das hast du auch nicht zum ersten Mal gemacht, oder?« Er lächelte. »Nein, vergiss' nicht, dass Julian, Richie und Anne auch mal jung waren.«
»Wo sind Julian und Anne überhaupt, ich habe beide schon lange nicht mehr gesehen?«, fragte ich. »Anne ist mit ihrem Freund für ein paar Wochen zu seinen Eltern geflogen, und Julian wohnt seit dem letzten Jahr mit Natalie zusammen.« Natalie war schon seit einiger Zeit Julians Freundin, ich hatte sie schon kennengelernt. »Sie wollen übrigens demnächst heiraten«, fügte Rip hinzu. »Hm ... sind sie dafür nicht noch ein bisschen jung?«, äußerte ich meine Bedenken. Rip lachte. »Hey, ich war selbst erst 22, als ich geheiratet habe, Julian ist schon ein Jahr älter. Richie und Jason dürfen noch nicht, und irgendjemand muss ja wohl damit anfangen.«
22 ... das wären bei mir noch acht Jahre. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, irgendwann mal zu heiraten, und das sagte ich Rip auch. Er verwuschelte mir die Haare, wie so oft. »Keine Sorge, Janosch, du hast noch ein paar Jahre Zeit damit. Du weißt doch: Es prüfe, wer sich ewig bindet ...« »... ob sich nicht doch was bess'res findet, schon klar«, ergänzte ich lachend.
Mittlerweile waren wir wieder in der Küche, auch Mum und Luke waren da. »Na, wie kommt Ihr voran?« »Gut bisher. Die Tapeten im Wohnzimmer müssen erst mal trocknen, darum geht's heute Nachmittag mit Packen weiter. Und dann ... na ja, mal schauen.« »Dann bin ich aber wieder dabei, okay?«, fragte ich. Mum nickte. »Klar, deine Sachen musst du sowieso selbst packen, die fassen wir nicht an.«
Also fuhren wir nach dem Essen wieder zum alten Haus. Mum hatte schon einen Teil der Vorhänge abgenommen, wir hatten gestern einige Möbel zusammengerückt, und das Haus kam mir völlig fremd vor. Die Tür zu Dads Arbeitszimmer blieb verschlossen ... kein Problem. Am Abend waren Luke und ich mit unseren Zimmern fertig, alles bis auf ein paar Kleidungsstücke war in den Kartons verschwunden. Richie und Jason waren später noch dazugekommen und hatten uns geholfen, die Möbel auseinanderzunehmen. Als wir das Haus an diesem Abend verließen, waren einige Zimmer schon völlig leergeräumt. Und je weniger Möbel dort noch aufgebaut waren, desto besser fühlte ich mich. An diesem Abend fielen wir jedenfalls todmüde in unsere Betten.
Janosch: Dienstag Mittag, beim Essen
Wir hatten den Vormittag in unserer neuen Wohnung verbracht, und zum Essen waren wir rechtzeitig wieder bei Rip. Heute hatte er sich sogar mal selbst in die Küche gestellt, und zu unserer allgemeinen Überraschung und Freude tauchte auch David zum ersten Mal in unserer Runde auf. »Hi David, geht's wieder besser?«, fragte ich ihn. »Hallo Leute, ja, ist wieder alles klar. Äh, Luke, danke ... dass du auf dem Sofa geschlafen hast.« Er grinste. »Kein Problem, abgesehen davon hat Janosch erzählt, dass du ...« Den Rest des Gespräches gebe ich hier jetzt nicht wieder, das wäre zu peinlich.
Jedenfalls stieß Rinty irgendwann dazu und Rip gab damit das Stichwort, das Thema zu wechseln. »Ich würde es eigentlich vorziehen, wenn wir ohne den Hund essen würden«, bemerkte er, als Rinty an den Tisch kam. »Aber wo soll er denn hin, schließlich hat er keine eigene Küche«, mischte ich mich ein. »Die braucht er nun auch nicht unbedingt!« »Ja, aber irgendwas, wo er sich auch mal hinsetzen kann? Du hast das ganze Haus und Rinty hat gar nichts.« Die anderen verfolgten die Diskussion grinsend, selbst ich konnte mir ein Lächeln kaum verkneifen.
Rip wand sich ein wenig. »Da ist was dran, aber ich kann ihm ja schlecht die halbe Küche abgeben.« »Nein«, schoss ich zurück, jetzt in Fahrt, »aber ich könnte ihm eine Hundehütte bauen.« Rip war zunächst nicht besonders angetan von der Idee, aber Luke ergriff - mehr oder weniger - für mich Partei. »Rip, ich finde die Idee nicht schlecht - das sind zwei Fliegen mit einer Klappe. Du hast einen Platz für Rinty, und bei der Wohnung kann Janosch momentan eh' nicht helfen. Sein Zimmer ist ausgeräumt, den Rest müssen Mum und ich machen.«
Rip gab sich geschlagen. »Okay, warum nicht. Überleg' dir, was du brauchst, und einer der Jungs fährt dann mit dir zum Baumarkt, und morgen kannst du loslegen.« Mit der Antwort hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, ich hatte eigentlich eher um der Diskussion willen mit dieser Diskussion angefangen. Aber Rip grinste nur freundlich in meine Richtung, und auch von den anderen war keine Hilfe zu erwarten ... bis David sich zu Wort meldete. »Ist 'ne gute Idee, hast du was dagegen, wenn ich 'n bisschen mitmache?« Genau darauf hatte ich gehofft. »Toll! Das wird bestimmt lustig.«
Also fuhr Luke noch schnell mit uns beim Baumarkt vorbei, damit wir alles besorgen konnten, und kaum eine Stunde später lagen die Bretter und das ganze Zeug im Garten und wir standen davor. »Dann lass' uns anfangen.« David spuckte in die Hände und griff zum Pinsel, um die Lasur auf das erste Brett aufzutragen. Wir arbeiteten bis zum Abendessen durch und setzten uns dann ziemlich fertig an den Küchentisch.
Rip fing sich einen bösen Blick ein für das Essen, was er David vorgesetzt hatte - das Zeug hatte die Konsistenz von Haferschleim und sah auch so aus - aber plötzlich hörten wir alle eine Meldung im Radio, die uns schlagartig verstummen ließ: »Und hier ... nein ... oder ... Entschuldigung, hier eine aktuelle Suchmeldung der Polizei: vermisst wird der 15jährige David Ellert aus Bochum. David ist einen Meter 74 groß, wiegt 59 Kilo, hat lange blonde Haare und braune Augen. Ihm fehlen zwei Vorderzähne ... wer David gesehen hat, wende sich bitte an die Polizei in Bochum oder jede andere Polizeidienststelle.« Alle Blicke gingen zu David.
»Hey, keine Panik!«, protestierte der. »Ich hab' mir die Haare gefärbt und wenn ich nicht rede, merkt das mit den Zähnen keiner!« Rip lächelte schwach. »Vielleicht solltest du doch gelegentlich mal in den Spiegel schauen, du bist eindeutig blond, die Farbe ist schon wieder 'raus. Es wundert mich allerdings, dass deine Suchmeldung hier in Hamburg läuft, da scheint sich jemand sehr zu engagieren, und ich frage mich gerade, wer das ist. Bleib' in den nächsten Tagen hier auf dem Grundstück, ich werde mir etwas ...« - an dieser Stelle wurde Rip vom Telefon unterbrochen - »... einfallen lassen. Ich bin gleich wieder da.«
Ein paar Minuten später setzte Rip sich wieder zu uns. »Das war Roland, ein guter Freund, der auch zur Gruppe gehört. Er hat mich auch noch mal gebeten, dir auszurichten, auf keinen Fall das Grundstück zu verlassen. Die Gartenzäune sind hoch genug, im Garten brauchst du dir also keine Sorgen zu machen. Roland kümmert sich darum.« David bedankte sich bei Rip, und dann machten wir noch mit einigen Brettern weiter. Gegen elf Uhr abends fielen wir todmüde ins Bett, das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass David mir sanft seine Hand auf die Brust legte. Im ersten Moment zuckte ich zusammen, aber mittlerweile vertraute ich David.
Luke: Mittwoch Vormittag, 19.07.2000
»Luke, Kaffeepause!«, rief Mum aus der Küche. Es war gerade halb zehn, und die Pause kam mir sehr gelegen. Ich stieg von der Leiter - da Mum ein bisschen mit Höhenangst zu kämpfen hatte, durfte ich die Lampen befestigen - und ging dann zu ihr in die Küche. Meine Kaffeetasse stand schon griffbereit. »Und, wie kommst du voran?« »Hervorragend, oben sind die Lampen alle montiert, es fehlen nur noch das Wohnzimmer und dein Arbeitszimmer.« Mum lächelte müde. »Super. Morgen werden die Teppichböden verlegt, dann hast du den Nachmittag über frei. Aber wir haben heute Nachmittag noch einen Termin.« Ich sah sie fragend an. »Dad wird heute Nachmittag beigesetzt. Um alles andere habe ich mich schon gekümmert.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wird das eine offizielle Feier?« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Ach Luke ... einerseits habe ich absolut keine Lust, darum so ein großes Aufhebens zu machen, andererseits weiß aus dem Bekanntenkreis und von Dads Kollegen natürlich niemand, was los ist.« Ich nickte. »Und du möchtest zusätzliches Gerede vermeiden?« Sie nickte. »Ja, genau. Wenn Janosch nicht da ist, kann ich das immer noch damit erklären, dass er krank ist, aber wenn ihr beide fehlt, das würde auffallen.« »Und weiter?« Sie seufzte noch einmal. »Ich weiß, dass es nicht leicht wird, aber ich appelliere an dein schauspielerisches Talent. Oma und Opa erkläre ich die Situation etwas später, Peter und Ingrid sind gestern aus Spanien zurückgekommen und werden auch da sein. Bitte, Luke, ich möchte nicht, dass es noch Streit gibt - also lass' dir nichts anmerken.«
»Hattest du nicht in die Anzeige geschrieben, dass die Beisetzung im engsten Familienkreis stattfinden soll?« Mum nickte. »Ja, aber ein paar Kollegen werden auf jeden Fall da sein, und auch unsere engsten Freunde - alles andere würde auffallen. Rip und Roland wollen auch versuchen zu kommen.« Ich nickte. »Okay, ich tue was ich kann.« »Und falls dich jemand anspricht, lass' dir bitte nichts anmerken, okay?« »Ich versuche mein bestes, Mum, aber ich kann dir nichts versprechen.« Mum lächelte. »Versprechen kann ich dir auch nichts.«
»Wie ist der Ablauf geplant?« Ich wunderte mich selbst ein bisschen über den verhältnismäßig kühlen und sachlichen Ton - andererseits berührte mich Dads Tod nicht wirklich. Immer noch überwog der Hass auf ihn und das, was er Janosch angetan hatte. »Um 14:00 Uhr gibt es eine kurze Andacht in der Kapelle - wenn ich darauf verzichtet hätte, dann würden mir meine Schwiegereltern ungeachtet des Anlasses wahrscheinlich an den Hals springen. Anschließend findet die eigentliche Beisetzung statt, gefolgt von einer kleinen Teetafel. Ich hoffe, dass wir bis um halb fünf alles überstanden haben.« »Gab es eigentlich vorher einen Termin für die Aufbahrung?«, fragte ich. »Nein. Du hast ihn selbst gesehen, ich denke, da konnte auch der Bestattungsunternehmer nicht mehr viel retten. Und den Anblick wollte ich der Umwelt dann doch ersparen.« Am Nachmittag war es dann so weit. Ich hatte meinen schwarzen Anzug aus den Kartons gekramt und sogar noch eine passende Krawatte gefunden. Mum trug ein schlichtes schwarzes Kostüm und einen Hut mit einem schwarzen Schleier. Die Fahrt zum Friedhof verlief größtenteils schweigend. »Ach ja - bevor du dich wunderst, der Pfarrer kennt in groben Zügen die Hintergründe, darum wird er sich mit solchen Sätzen wie 'Ein Mensch, den wir ewig lieben werden' und so weiter zurückhalten«, erklärte Mum, als wir aus dem Wagen stiegen.
Um kurz nach halb zwei betraten wir die Kapelle. Der Pfarrer war gerade dabei einige Kerzen anzuzünden. Ich hatte einen älteren, grauhaarigen Mann erwartet, vielleicht schon etwas gebrechlicher, aber der Mann, der mir gegenübertrat, war alles andere als gebrechlich. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig, er hatte breite Schultern und strahlte unheimlich viel Sympathie aus - das fiel selbst mir auf, obwohl ich normalerweise mit Kirchen und all dem Drumherum nicht viel im Sinn hatte. »Hallo Mrs. Reilly. Du bist Luke?« Er hatte einen kräftigen Händedruck. Dann senkte er die Stimme. »Mrs. Reilly, ich habe für die Predigt eine Bibelstelle herausgesucht, die sich mit versteckten Sünden befasst. Ich denke, damit können wir recht gut leben und den anderen Trauergästen wird nicht auffallen, was es damit auf sich hat.« Mum nickte.
Rip und Roland hatten es irgendwie geschafft, sich von ihren geschäftlichen Terminen loszueisen und waren tatsächlich die Ersten, die nach uns die Kapelle betraten. Rip umarmte Mum kurz zur Begrüßung. »Geht's euch gut?« »Eigentlich viel zu gut.« Dann machte sie die Anwesenden miteinander bekannt. »Herr Wagner, das hier sind Dr. Ripley Masters und Dr. Roland Westermann. Dr. Masters ist ein guter Freund unserer Familie und derjenige, der uns in den letzten Tagen sehr unterstützt hat. Dr. Westermann ist unser Rechtsanwalt.« Hände wurden geschüttelt. »Es geht doch nichts über gute Freunde, die in schweren Zeiten füreinander da sind - egal wodurch die schweren Zeiten bedingt sind.« Rip nickte. »Ehrensache. Sie sind über die Hintergründe informiert?« Pastor Wagner nickte. »Ja, Mrs. Reilly hat angedeutet, was vorgefallen ist.«
Dads Eltern betraten die Kapelle, gefolgt von Onkel Peter und Tante Ingrid mitsamt ihren beiden Kindern. Oma eilte so schnell es an diesem Ort angebracht war auf Mum zu. »Lynn, mein Kind! Hoffentlich geht es euch gut!« Mum erwiderte die Umarmung vorsichtig. »Den Umständen entsprechend.« Sie und Oma tauschten ein paar Floskeln aus, wie es sich zu einem solchen Anlass gehörte. Dann kam Oma auf mich zu. »Luke, mein Junge! Es tut mir ja so leid.« Und schon hatte sie mich ihn ihrem Klammergriff umfasst. »Ja, es hat keiner damit gerechnet, dass Dad so plötzlich aus dem Leben gerissen werden würde. Mein aufrichtiges Beileid natürlich auch an euch.« Ich versuchte, möglichst betroffen auszusehen.
Mein Großvater richtete an Mum und mich nur jeweils ein paar knappe Worte - er war nie der Mensch gewesen, der viel gesagt hatte, gerade in solchen Situationen. Aber im Gegensatz zum Oma fragte er wenigstens: »Wo ist Janosch eigentlich?« »Der hat einen Schock bekommen, als er davon erfahren hat. Die Ärzte haben ihm absolute Ruhe verordnet, einige Freunde kümmern sich um ihn.« Es tat mir leid, Opa anlügen zu müssen - auch wenn wir recht wenig Kontakt gehabt hatten, er hatte sich mit uns beiden immer gut verstanden, und dass der Kontakt so knapp ausfiel, lag eher an Oma. Dad hatte sie im Bezug auf Janosch ziemlich beeinflusst, bei Opa hatte er das jedoch nicht geschafft.
Opa nahm mich ein bisschen beiseite. »Wenn es euch recht ist, besuche ich euch in den nächsten Tagen mal - Oma fährt mit ihrem Kneipp-Verein weg, aber ich habe nicht gerade Sehnsucht danach, zwei Wochen nur schnatternde Damen um mich herum zu haben.« Er grinste ein bisschen. Ich nickte. »Janosch würde sich bestimmt freuen, und wir natürlich auch.« Opa klopfte mir auf die Schulter. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier noch mehr dahinter steckt - Lucas, du kannst mir erzählen was du willst, aber ich glaube dir nicht, dass du wirklich traurig bist. Lass' uns später darüber reden, ja?« »In Ordnung, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.«
Einige Arbeitskollegen von Dad kamen auf mich zu, schüttelten mir die Hand und sprachen mir ein paar tröstende Worte zu - wie sehr sie ihn doch geschätzt hatten, was er für ein toller Kollege gewesen wäre, und wie sehr sie ihn vermissen würden. Dads Vorgesetzter überreichte Mum sogar einige Trauerkarten, die von Dads Kunden abgegeben worden waren. Für einige Sekunden stellte ich mir vor, wie all diese Menschen reagieren würden, wenn plötzlich die Wahrheit ans Tageslicht käme - aber ich verwarf den Gedanken wieder. Das wollte ich weder Janosch noch einem von uns antun. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Opa mit Rip unterhielt. Die beiden hatten sich vor einiger Zeit mal bei uns kennengelernt und waren sich schon damals auf den ersten Blick sympathisch gewesen.
Schlag 14:00 Uhr bat Pastor Wagner die Anwesenden, Platz zu nehmen. Er hielt eine kurze Andacht, und der von ihm gewählte Text hatte in der Tat einen etwas bissigen Hintergrund - außer Mum, Roland, Rip und mir schien das jedoch niemandem aufzufallen, nur bei Opa war ich mir nicht ganz sicher. Nach der Predigt wurde der Sarg in den Leichenwagen verladen, und die Trauergäste gingen gemessenen Schrittes zur Grabstelle. Opa, Onkel Peter und vier Kollegen von Dad trugen den Sarg das letzte Stück, dann wurde er in die Grube hinabgelassen. Pastor Wagner sprach noch einige Worte, und dann war der offizielle Teil beendet.
Die Teetafel fand in einem kleinen Gasthaus unweit des Friedhofs statt. Da Mum sowieso weitestgehend von Dads Kollegen in Beschlag genommen wurde, kümmerte ich mich ein bisschen um Anna-Lena und Pascal. Die beiden waren die Kinder von Dads Bruder Peter und seiner Frau Ingrid, also meinem Onkel und meiner Tante. Es war schon länger her, dass ich die beiden zuletzt gesehen hatte. Anna-Lena war mittlerweile 17 und auf dem besten Wege, eine wirklich gut aussehende junge Frau zu werden ... ich musste an Jessica denken. Sie hatte mich doch mehr erwischt, als ich zugeben wollte. Doch bevor ich darüber nachdenken konnte, holte mich mein 14jähriger Cousin wieder zurück in die Realität.
»Was macht ihr denn jetzt ohne euren Vater?«, fragte Pascal. Ich zuckte mit den Schultern. »Weiterleben. Irgendwie muss es ja weitergehen.« Anna-Lena stieß in leicht an. »Hey, nerv' Luke nicht mit solchen Fragen, der hat gerade genügend anderes im Kopf.« Das hatte ich in der Tat - wenn auch nicht das was Anna-Lena wahrscheinlich meinte. »Wo ist Janosch eigentlich?«, fragte Pascal. Janosch war nur ein wenig älter als er, und die zwei hatten immer ihren Spaß zusammen gehabt. »Der ist krank und liegt zuhause im Bett.« »Vielleicht können wir ihn ja mal besuchen«, schlug Pascal vor. Kinder ... es war ja mit Sicherheit lieb gemeint von ihm, aber er wusste nicht, was bei uns momentan für ein Chaos herrschte.
Noch bevor ich etwas dazu sagen konnte, kam Tante Ingrid dazu. »Lucas, mein aufrichtiges Beileid.« Sie nahm mich kurz in den Arm und musterte mich dann. »Junge, du bist aber groß geworden.« »Ja, aber mehr wachsen werde ich wohl nicht mehr - sehr zur Freude von Mum.« Manchmal hasste ich solche Standardfloskeln, und ich wusste nicht, wie oft ich den Satz »du bist aber groß geworden.« heute schon zu hören bekommen hatte. Auch wir wechselten noch ein paar Worte miteinander, und dann setzte ich mich in Mums Richtung ab - langsam aber sicher war ich von dieser ganzen Schauspielerei nur noch angenervt.
Zwei Stunden später waren wir endlich wieder zuhause. »Und, war's schlimm?«, fragte Mum. »Na ja, es ging, aber viel länger hätte ich das nicht mehr durchgehalten, um ehrlich zu sein. Übrigens, ich glaube, Opa hat etwas gemerkt.« Mum sah mich fragend an. »Wie kommst du darauf?« »Er hat vorhin so eine Andeutung gemacht und will uns nächste Woche mal besuchen, wenn Oma mit ihrem Kegelclub oder was weiß ich unterwegs ist. Ich war so perplex, dass ich erst mal gar nichts gesagt habe.« Mum seufzte. »Na, irgendwann hätten wir es ihnen sowieso sagen müssen. Hoffen wir mal, dass alles glattgeht.« Wir tranken noch schnell eine Tasse Kaffee und widmeten uns dann wieder der Wohnung, bis wir abends todmüde in unsere Betten fielen.
Janosch: Donnerstag Nachmittag, 20.07.2000
Am Mittwoch waren wir hervorragend vorangekommen, am Abend waren wir mit der Hütte fertig geworden und Rip hatte zur Feier von Rintys Einzug eine Flasche Sekt spendiert. Da sich ein Teil des Inhalts über die Hütte ergoss, konnten wir gleich unter Beweis stellen, wie gut das Holz imprägniert und lasiert war - kurz gesagt, David und ich platzen fast vor Stolz. Wir beide nutzten den Donnerstag Vormittag zum Faulenzen, und nachmittags saßen wir im Garten bei einer Runde Trivial Pursuit. Luke war auch dabei, die Handwerker wollten die Teppiche verlegen und da musste nur Mum dabei sein. Nick, Jason und Rip spielten ebenfalls mit.
Ich hatte gerade mein drittes Steinchen gewonnen, als Richie grinsend auf die Terrasse trat. »Ratet mal, wer gerade gekommen ist - Julian ...« Noch bevor er den Satz vollenden konnte, war David aufgesprungen und ins Haus gerast. »... und Natalie.« vollendete Richie kopfschüttelnd den Satz, während er Davids Stuhl wieder hinstellte. Rip ging ebenfalls ins Haus, um die beiden zu begrüßen, gefolgt von Luke, der Julian auch schon lange nicht mehr gesehen hatte. David kam wenig später wieder nach draußen, er wirkte etwas zerknirscht.
»Was war denn mit dir los? Kennst du Julian?«, fragte ich ihn etwas überrascht. »Nee, den nicht. Aber ich hab' dir doch erzählt, wie ich abgehauen bin, und da war ich auch mal kurz bei einer Familie in Münster. Da gab es einen Julian. Er war ...« - er schluckte - »na ja, ich glaub, er war der erste Junge, in den ich mich verliebt habe und er war auch der erste, der mich geküsst hat, ...«
In diesem Moment hakte bei mir was aus. Noch war ich mir nicht sicher, ob ich da nicht einfach etwas falsch verstanden hatte, darum fragte ich noch mal nach: »Du bist ... du bist schwul?« »Ja, sicher. Jedenfalls hat ...« Peng. Schluss. Aus. Vorbei. Wie in einem Film mit Zeitraffer sah ich einige Bilder vor mir aufblitzen ... ich mit David in einem Bett ... David, der mir den Arm um die Schultern gelegt hatte ... David, der mir über die Brust streichelte ... das Bild von David wurde schwächer, und wie in einem Film sah ich plötzlich Dad vor mir ... Dad, der mir über die Brust streichelte, Dad, der mir langsam die Hose auszog ... Dad ... Bei mir knallte eine Sicherung 'raus, anders kann ich das nicht beschreiben. Ich fing an zu schreien, das weiß ich noch, und dann rannte ich ins Haus.
Luke: Donnerstag Nachmittag, 16:50 Uhr
Ich hatte mich gerade ein bisschen mit Julian unterhalten, als ich hörte, wie Janosch anfing zu schreien. Ich wurde blass und sprang auf. Janosch kam mir schon auf dem Flur entgegen, das Gesicht tränenüberströmt, nicht mehr fähig, nur ein klares Wort zu sprechen. Ich nahm ihn mit nach oben, wir gingen in unser Zimmer und setzten uns aufs Bett. Er brauchte eine Weile, bis er wenigstens aufhörte, zu weinen. Aber auch dann war er noch nicht fertig, einen zusammenhängenden Satz von sich zu geben. Das Einzige, was ich verstand, war »David«.
Ich wusste zwar nicht, was da los gewesen war, aber eines wusste ich: Mit David würde ich nachher mal ein ernstes Wörtchen reden. Innerlich kochte ich vor Wut, aber jetzt musste ich mich erst mal um Janosch kümmern. Es dauerte noch eine Weile, dann schlief er in meinen Armen ein. Ich hielt ihn noch ein bisschen im Arm und legte ihn schließlich aufs Bett, damit er in Ruhe schlafen konnte. In der Zwischenzeit würde ich mich um David kümmern. Zumindest würde ich ihn zur Rede stellen.
Bevor ich mich auf die Suche machen konnte, lief ich Rip in die Arme. »Luke, stopp mal - ich muss mit dir reden.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Rip - später. Ich muss erst mal was mit David klären.« Rip hielt mich an der Schulter fest. »Genau darum geht es. Ich kann verstehen, dass du sauer bist, aber jetzt schalt' erst mal einen Gang 'runter und dann reden wir erst mal miteinander. Was hat Janosch dir erzählt?«, fragte er, während wir zum Büro gingen.
»Gar nichts. Er hat nur ein paar Mal Davids Namen erwähnt.« Rip nickte. »Das dachte ich mir. Also, pass auf: Als Natalie und Julian vorhin angekommen sind, ist David ja sofort ins Haus gerannt - er hatte gedacht, dass Richie seinen Freund Julian meinte, aus Münster, wo er eine Zeit lang gewohnt hat. Der war es aber natürlich nicht. Janosch hat ihn dann gefragt, warum er so ins Haus gefegt ist, und dabei hat David erwähnt, dass er schwul ist und sein Julian der erste Junge war, den er geküsst hat.« »Ja, und weiter? Richie und Jason sind auch schwul, damit hat Janosch doch auch kein Problem.« Ich wusste nicht, worauf Rip hinauswollte.
»Jetzt denk' doch mal nach«, sagte er, während er sich eine Zigarette anzündete. »Du weißt selbst, was Janosch durchgemacht hat. Er hat David vertraut, du hast doch gesehen, dass die beiden Arm in Arm eingeschlafen sind. Bis Janosch momentan einem Menschen so weit vertrauen kann, bedeutet das unheimlich viel. Und dann erfährt er, dass David schwul ist - kannst du dir da nicht vorstellen, was sein erster Gedanke ist? Richie und Jason und Nick kennt er schon viel länger, bei denen weiß er, dass sie ihm nie etwas tun würden, aber David hat er vertraut und dann das.«
Ich seufzte. »Also war das gar nicht Davids Schuld?« Rip schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wirklich - er konnte nicht wissen, was er damit in Janosch auslösen würde, daraus kannst du ihm keinen Vorwurf machen. Es wird dringend Zeit, dass Janosch mit seiner Therapie anfängt.« Ich nickte. »Ja, auf jeden Fall ... weiß David schon Bescheid?« Rip nickte. »Ja, Nick hat ihm das ganze erklärt, ich denke, er wird ihm dasselbe gesagt haben wie ich dir gerade eben.«
Janosch: Donnerstagabend, 19:37 Uhr
Ich saß in meinem Zimmer ... David war nicht beim Essen gewesen, und ich befürchtete, dass er wieder abgehauen war, seine Sachen waren jedoch noch da. Luke hatte noch mal mit mir gesprochen, auch Rip und die anderen. Rip hatte mir erzählt, wie schlecht es David anschließend gegangen war, und im Prinzip war alles meine Schuld. Nein, gar nicht war - Dad war schuld daran, er und kein anderer. Ich spürte in mir einerseits Hass und andererseits Wut, dass ich ihm das nicht alles ins Gesicht schleudern konnte. Na ja ... das eine Mal, wo ich es versucht hatte, hatte in einer Schlägerei geendet.
Luke war wieder nach unten gegangen, zu den anderen. Ich wollte noch ein bisschen nachdenken und dafür brauchte ich Ruhe. Andererseits brauchte ich Ablenkung. Ich suchte ein bisschen auf dem Bücherregal herum und stieß auf ein Lexikon mit Zitaten. Na ja, vielleicht würde mich das etwas ablenken. Ich setzte mich wieder aufs Bett und schlug die Abteilung mit den lateinischen Sprichwörtern auf - da fand sich eigentlich immer etwas passendes. Ich schlug wahllos eine Seite im Kapitel auf, und stieß auf einen Spruch, der mir regelrecht ins Auge sprang, vielleicht weil ich ihn auch schon einmal in der Schule gehört hatte: »Amicus certus in re incerta cernitur.« oder zu Deutsch: »Der wahre Freund wird in einer unsicheren Lage erkannt.« Und David war ein paar Mal für mich da gewesen, als es mir nicht gut ging ... und er hatte mir auch geholfen, als meine liebe Familie und die anderen mich hatten hängen lassen, als es um den Bau der Hütte für Rinty ging. Schon wieder war ich mit meinen Gedanken bei David ...
In diesem Moment kam David leise herein, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich verspürte den Impuls, aufzuspringen und mich für mein Verhalten zu entschuldigen. Doch bevor ich etwas sagen konnte, setzte er zum Sprechen an. »Hi, ich bin gleich wieder weg, aber Rip hat gesagt, dass ich kurz mit dir reden soll. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mein Zeug zusammenpacke und nach Münster fahre ... ich mein', dann hast du hier Ruhe und kannst besser auf die Reihe kriegen ... was so passiert ist und ...«
Ich spürte heiße Tränen in mir aufsteigen, und jetzt sprang ich wirklich auf und fiel ihm um den Hals - so heftig, dass wir beide zu Boden fielen. »David, bitte, geh' nicht!« Ich weiß nicht, wie oft ich den Satz wiederholte, bis ich zu mehr fähig war: »Bitte, geh' nicht. Nicht wegen mir. Dad ist doch schon ... gegangen ... wegen mir. Nicht du auch noch. Bitte!« Ich musste wohl ziemlich geschrien haben, zumindest am Anfang, jedenfalls war David völlig überrascht. Statt einer Antwort umarmte er mich. Schließlich sagte er: »Gern, wenn du mich haben willst. Ich dachte nur ... ist auch egal. Komm, wir gehen zu Rip.«
Wir rafften uns auf und ordneten erst mal unsere Klamotten ein wenig, David hielt sich seine Schulter, auf der er unsanft gelandet war. Ich berührte in vorsichtig. »Ich hoffe, ich habe dir nicht wehgetan?«, fragte ich. Offensichtlich wusste er nicht genau, was ich meinte. »Naja, mit der Schulter hätt' ich aufpassen können, war wohl eher 'n bescheuerter Zufall.« »David, es war meine Schuld. Ich ...« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nee, lass mal, wenn überhaupt, dann hab ich Mist gemacht. Nick hat mir das erklärt ... weißt du, wir sind irgendwie so schnell Freunde geworden ... vielleicht auch, weil ich immer an Benni denken musste ...« Ich schluckte. »David, du bist für mich wie ein Bruder.«
Er sah mich erleichtert an. Ich fügte hinzu: »Und ich habe auch kein Problem damit, dass du schwul bist.« Noch einmal nahm er mich in den Arm, und diese Antwort reichte mir. »Janosch, du bist was ganz besonderes und ich würd' dir nie weh tun, echt nicht.« Statt überhaupt noch etwas zu sagen, küsste er mich sanft auf die Wange. Und diesmal war es für mich okay, ich freute mich sogar darüber.
Etwas später standen wir in Rips Büro, es war völlig verqualmt. David legte Rip ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Danke, die brauch' ich nicht«, sagte er. Ich sah fragend von David zu Rip, aber Rip ging gar nicht darauf ein. »Ich hatte wirklich gehofft, dass du genau das sagen würdest ... aber ich hätte jede Entscheidung respektiert.« Er drückte seine Zigarette aus. »Eure Aussprache war ja etwas, äh, lebhafter ... ich schlage vor, ihr zeigt euch jetzt dem gemeinen Volk.«
David schüttelte verständnislos den Kopf. »Äh, was?« Rip grinste breit. »Ihr wart bis auf die Terrasse zu hören, und ich glaube, jeder hat sich gefragt, ob ihr euch umbringt oder versöhnt. Es wäre gut, wenn ihr zu den anderen geht, die würden sich sicher freuen, euch zu sehen. Ach, und ... David, du kannst nicht immer weglaufen, du musst auch ankommen.« Ich hatte zwar keinen blassen Schimmer, wovon die beiden sprachen, aber mein Gefühl sagte mir, dass es besser war, nicht zu fragen.
Wir gingen also 'raus auf die Terrasse und wurden mit einer Mischung aus besorgten und belustigten Blicken empfangen. Doch bevor jemand nachfragen konnte, schlug Luke vor: »Wir wollten gerade eine neue Runde Trivial Pursuit anfangen, leistet ihr zwei uns Gesellschaft?« Ich bildete ein Team mit Luke, und David schloss sich mit Nick zusammen. Ich weiß nicht genau, was die älteren mit den Blicken meinten, die sie sich gegenseitig zuwarfen, aber es fragte keiner danach, was nun los gewesen war ... ich hätte es auch nicht erklären können.
David und ich verbrachten eine weitere Nacht zusammen, und er passte sehr auf, wo er mich anfasste und wo nicht. Zwischen uns war eigentlich wieder alles wie vorher, mittlerweile konnte ich auch fast nicht mehr verstehen, warum ich so ausgerastet war. Rip hatte mich später am Abend noch mal beiseite genommen und mich auf die Szene vom Nachmittag angesprochen - sein Rat war, so schnell wie möglich mit der Therapie anzufangen. Und nach diesem Vorfall war ich soweit, dass ich das auch wollte - schließlich hätte ich es mir fast mit meinem besten Freund verdorben.
Janosch: Freitagmorgen, 21.07.2000
Als Luke und ich in unserer neuen Wohnung eintrafen, wurden wir von den Möbelpackern empfangen. Wir hatten uns nicht viel Zeit zum Frühstücken genommen, nur eine Tasse Kaffee im Stehen, weil wir beide völlig verschlafen hatten. Jedenfalls standen schon die ersten Kisten oben, und Mum war fleißig dabei, Regieanweisungen zu geben. Ich war völlig überrascht, wie sich die Wohnung verändert hatte. Mum und Luke hatten in der letzten Woche renoviert, neue Teppichböden verlegen lassen und außerdem noch die beiden Badezimmer und die Küche gestrichen. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Morgen, Jungs. Gut geschlafen?«, fragte Mum. Wir nickten. »Ja, ziemlich, und du?« Mum hatte die Nacht schon in der Wohnung verbracht, auf dem Gästebett. »Geht schon. Bevor ihr euch über die Kartons hermacht, könntet ihr kurz zum Bäcker fahren und ein paar Brötchen holen? Schließlich brauchen die Jungs gleich mal eine Pause.« Luke nickte. »Kein Problem. Wann habt ihr denn angefangen?« Mum grinste. »Um kurz nach sieben im alten Haus. Das ist komplett leergeräumt.« Luke und mir fielen die Kinnladen herunter - Luke schaute noch einmal auf die Uhr, es war kurz nach elf.
»Komm, Janosch, wir stehen hier eh' nur im Weg - Mum, bis gleich.« Wir fuhren zum nächsten Supermarkt, besorgten Brötchen, Butter und etwas Aufschnitt und waren eine halbe Stunde später wieder in der Wohnung. Mum und Luke kümmerten sich ums Frühstück, während ich schon mal anfangen durfte, meine Kartons auszupacken. Auf dem Weg nach oben warf ich noch schnell einen Blick in die anderen Räume - das Wohnzimmer war schon fertig, zumindest standen die Möbel alle dort, wo sie hinsollten. Die Wohnung gefiel mir jetzt schon.
Im oberen Stockwerk hingen Zettel an den Türen, wer welches Zimmer hatte. Als ich meins betrat, dachte ich erst mal, dass Mum die Zettel vertauscht haben müsste, denn von den Möbelstücken kannte ich kein einziges. Ich schaute in das nächste Zimmer, hier sah es ähnlich aus - an der Tür stand Lukes Name. Also ging ich wieder nach unten. »Mum, was ist denn mit den Möbeln passiert?« »Hm ... ich wusste doch, dass ich irgend etwas vergessen hatte. Ich habe für die Schlafzimmer neue Möbel gekauft, wir hatten ja schon mal darüber gesprochen und jetzt erschien mir der richtige Zeitpunkt dazu. Eure alten Möbel stehen im Keller, wenn ihr etwas davon behalten wollt, sagt Bescheid - ansonsten kommt das Zeug in zwei Wochen weg.«
Okay ... das war Mum. Was sollte ich dem noch entgegensetzen? Mir fiel jedenfalls nichts ein. Ich ging nach oben und fing jetzt endlich an, meine Sachen auszupacken ... es war seltsam, viele Dinge hatte ich erst bei diesem Umzug wieder in der Hand gehabt, vorher hatten sie jahrelang in den Regalen und Schränken gelegen und waren eingestaubt. Ich fand viele Bücher, die ich schon lange nicht mehr gelesen hatte, wieder. Meine alten Stofftiere ... sie waren irgendwann alle im Schrank gelandet, weil ich mich zu alt dafür fühlte - bis auf zwei Teddies. Ich legte mir die zwei und ein paar andere auf mein neues Bett, irgendwie hatte ich das Gefühl, ich würde sie brauchen.
Gegen zwölf Uhr wurde mein Zimmer langsam wohnlich. Ich hatte mir einige Poster wieder aufgehängt - nur meine Lieblingsposter, die ich mal von Luke oder Mum bekommen hatte. Auch die Bücher, in die Dad mir eine Widmung geschrieben hatte, landeten ganz schnell wieder in den Kartons. Ich konnte das Zeug einfach nicht mehr sehen. Schließlich fiel mir ein Fotoalbum in die Hände ... ich beschloss, eine kurze Pause zu machen, legte mich aufs Bett und fing an, die Seiten durchzublättern.
Viele Fotos, als Luke und ich noch kleiner waren. Dad, auf einigen Bildern sogar mal mit Bart. Ein paar Fotos von der Hochzeit meiner Eltern, mit Luke im Arm. Wieder Luke und ich, im Garten ... ich erinnerte mich noch dunkel an diese Sommertage. Ich musste so vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, und damals war es auch mit Dad noch richtig schön. Er war für uns da, hatte sich Zeit genommen ... ich versank in einem Tagtraum und schlief schließlich mitten in diesem Chaos, das mein Zimmer werden sollte, ein.
Als ich wieder aufwachte, spürte ich eine Hand auf meinem Rücken. Mein Kopfkissen war nass, Luke hielt meine Hand und streichelte mich sanft. »Was ... was ist los?«, fragte ich ihn. »Du bist eingeschlafen - wahrscheinlich als du dir die Fotos angesehen hast«, erwiderte Luke. Ich setzte mich hin und kuschelte mich dann an meinen Bruder. »Luke, es war doch so schön früher ... hier, schau' mal.« Ich nahm eines der Alben und blätterte ein paar Seiten zurück. »Weißt du noch? Da waren wir mit Mum und Dad in Frankreich.« Luke nickte. »Ja, ich erinnere mich daran - an einem Abend waren Mum und Dad nicht da und wir wollten unbedingt etwas von dem Wein probieren.« Ich lachte. »Ja, genau - du wolltest nicht, dass ich auch etwas davon trinke, und am nächsten Morgen war dir kotzübel.«
Luke wurde ein wenig rot. »Ja ... stimmt. Hast du Mum und Dad eigentlich gesagt, was damals passiert ist?« »Nein, das hatte ich dir ja versprochen.« Luke streichelte mir über die Haare. »Eben typisch mein kleiner Bruder.« Luke blätterte ein bisschen weiter. »Hier, schau' mal - unser erstes gemeinsames Bild mit Jason und Richie.« Das Bild war 1997 im Herbst aufgenommen worden, kurz vor Lukes 17. Geburtstag, als wir die Jungs kennengelernt hatte. Mum hatte die Aufnahme gemacht, nachdem Jason und ich zusammengestoßen waren. »Komisch, ich hätte nie gedacht, dass so ein kleiner Zusammenstoß so schöne Folge haben kann wie diese Freundschaft«, sagte ich.
Luke lächelte. »Tja, so kann es gehen - aber um ehrlich zu sein, ich auch nicht.« Wir blätterten weiter, bis zur letzten Seite - Luke und Dad bei Lukes Abschlussfeier. »Vielleicht hat Dads Zusammenstoß mit dem Baum ja auch was für sich.« Luke nickte. »Bestimmt - ich bin nicht böse, es tut mir nur um den Baum und das Auto leid.« Er legte das Fotoalbum aus der Hand und wandte sich dann ganz mir zu. »Kleiner, für uns ist es die Chance für einen Neuanfang - nur wir beide und Mum. Und ich verspreche dir, wir werden etwas daraus machen.«
»Woraus werden wir etwas machen?« Mum stand in der Tür. »Komm' rein,«, sagte Luke, »wir haben uns gerade ein paar Fotos angeschaut und ein bisschen über das Leben philosophiert, und ich habe zu Janosch gesagt, dass dieser Neuanfang wohl für uns alle das Beste ist.« Mum nickte, dann kniete sie sich vor uns hin und nahm von jedem von uns eine Hand. »Da bin ich mir auch sicher. Und ich denke, die Wohnung ist schon mal ein guter Schritt, oder?«, fragte sie lächelnd. Wir nickten beide, dann nahm ich sie beide in die Arme, ohne noch etwas zu sagen.
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