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Little Lies
Teil 10
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Informationen
- Story: Little Lies
- Autor: Rick
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
»Hey, cool, Kleiner«, grinste Richie, als wir wieder am Set ankamen. So ganz wohl in meiner neuen Haut fühlte ich mich zwar immer noch nicht, aber ich verließ mich auf die anderen - und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es wohl keine gute Idee war, gleich an meinem ersten Tag allen möglichen Leuten zu widersprechen. Auch Paul und Eddie waren mittlerweile wieder dazugestoßen. Paul nickte anerkennend in Jennys Richtung. »Klasse, genauso hatte ich mir das vorgestellt. Also, äh ... wie heißt du noch mal?« »Johnny.«, antworteten Jenny und ich wie aus einem Mund. »Okay, Johnny, optisch passt das ganze schon mal perfekt. Jetzt müssen wir nur noch mal schauen, ob deine schauspielerischen Fähigkeiten so gut sind, wie Richie meint.« Wir gingen quer durch die Halle zu einem anderen Set. »Johnny?«, fragte Richie mich unterwegs leise. »Ja - so hat Jenny mich getauft, nachdem mit 'Janosch' wohl alle hier ein Problem haben.« Richie grinste. »Okay. Dann also Johnny.«
Paul drückte mir ein Skript in die Hand. »Okay, Johnny. Ganz ruhig, keine Panik - jeder von uns hat hier mal zum ersten Mal gestanden, und jeder von uns war genauso nervös, wie du es jetzt wahrscheinlich bist. Atme tief durch, entspann' dich, lies dir kurz das Skript durch - du kannst dich da drüben an den Tisch setzen - und gleich geht's los. Willst du vorher noch schnell was trinken?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht.« Paul lächelte. »Gut. Dann setz' dich hin, ich klär' mit Eddie und Jack den Rest. Jack hier ist unser Tontechniker.« Jack hob grüßend die Hand und ich winkte schüchtern zurück. Irgendwie war ich jetzt doch etwas erschlagen vom Set, von den ganzen Leuten - und von der Tatsache, dass ich gleich zum ersten Mal in meinem Leben freiwillig vor einer Kamera stehen würde.
Dieser Gedanke schoss mir ziemlich plötzlich durch den Kopf. Ich erinnerte mich daran, dass Dad früher auch öfter die Kamera hatte mitlaufen lassen, wenn ich ihm 'einen Gefallen tun' sollte, wie er sich immer ausgedrückt hatte. Aber irgendwie war dies hier doch etwas anderes. Hier waren genügend Leute dabei, und natürlich herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Energisch schob ich den Gedanken an Dad beiseite und konzentrierte mich auf mein Skript. Einige Passagen waren mit einem Textmarker angestrichen, das war offensichtlich mein Text - und die Kommentare dazwischen mussten dann wohl die Regieanweisungen sein. Okay, das sah gar nicht mal so schwer aus und war auch für mich verständlich, davon abgesehen, dass mir der Zusammenhang fehlte.
»Hi, bist du Johnny? Ich bin Steven, oder auch Fred.« Ich hob den Kopf. Vor mir stand ein Junge Mitte 20, ebenfalls schon in Maske und in ähnliche Klamotten gekleidet wie ich. »Hi.« Wir schüttelten uns die Hände. »Dein erster Tag hier?«, fragte Steven. Ich nickte. »Ja, allerdings - ich bin dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind.« Steven grinste. »Kein Problem - ging mir ähnlich. Schon Erfahrungen?« »Nein, noch gar keine.« Steven hob die Augenbrauen. »Was, noch nicht mal 'nen Werbespot abgedreht?« Irgendwie schien jeder Amerikaner seine Karriere mit Werbespots zu beginnen. »Nein, auch nicht. Ich bin erst vor ein paar Wochen aus Deutschland hergezogen.« Steven grinste. »Cool - woher kommst du da?« »Hamburg.« »Allright. Wir waren mal für zwei Wochen in Berlin, als es in der Schule um Nachkriegsgeschichte ging. War 'ne coole Zeit.« Ich lächelte. »Seltsam - ich war nie da.«
Bevor wir das Gespräch fortsetzen konnten, kam Paul zu uns. »Ah, ihr habt Euch schon kennengelernt.« Wir nickten. »Okay, dann können wir ja loslegen. Also, wir spielen jetzt auf dem Bildschirm da vorne die Sequenz aus 'nem Zeichentrickfilm ein. Johnny, du synchronisiert den Schäferhund namens Hasso, Stevie spricht den Collie namens Trish. Ihr braucht nicht hundertprozentig drauf achten, konzentriert euch lieber auf euren Text. Johnny - keine Aufregung, das wird schon schiefgehen, okay? Ihr legt los, wenn ich euch das Signal gebe. Achte ein bisschen auf Stevie, der ist schon ein paar Jahre dabei.« Paul verzog sich auf seinen Regiestuhl, wir setzten uns hin und setzten unsere Kopfhörer auf, und ehe ich mich versah, fiel auch schon die Klappe. Vor uns erschien eine Filmsequenz auf dem Bildschirm, und dann gab Paul mir ein Zeichen.
»Hey, Trish, Baby - hab' dich schon lange nicht mehr gesehen.« »Tut mir leid, Kumpel - viel zu tun.« »Ich hatte das Gefühl ... und dann fügen sie zwei Eier und etwas Mehl hinzu.« Ich zog meinen Kopfhörer ab und sagte in eine Ecke: »Leute, was ist das denn???« »Sorry, Jungs ... da habt ihr wohl wieder das falsche Skript bekommen.« Ich nickte. »Jaja, wieder und wieder. Ronny, das ist das vierte Mal diese Woche, und heute ist erst Dienstag!« Wir spielten die Szene zu Ende, und ich hatte ganz schnell vergessen, wo ich überhaupt war. Ich hatte bei uns in der Schule ein paar Mal in der Theatergruppe mitgespielt, und auch wenn man das nicht so ganz vergleichen konnte, ich fühlte mich gut bei der ganzen Sache.
»Schnitt!«, rief Paul schließlich. Er kam auf mich zu und nickte anerkennend. »Wow - für den ersten Versuch war das klasse. Jetzt müssen wir uns das Material nur mal anschauen, ob es brauchbar ist, dann können wir die Szene vielleicht sogar gleich verwenden. Eddie, was meinst du?« Eddie nickte ebenfalls. »Ich denke das war gut.« »Das denke ich auch. Okay, Jungs, holt euch was zu trinken, aber verärgert Jenny nicht. Und seid in einer halben Stunde wieder hier.« Steven winkte mir, mitzukommen. »Komm mit, ich zeig' dir wo's hier was gibt.« Ich folgte ihm einfach. »Was meinte Paul damit, dass wir Jenny nicht verärgern sollen?« Steve grinste. »Nichts auf die Klamotten schütten und das Makeup nicht verschmieren.«
Einige Gebäude weiter stand ein Catering-Wagen mit ein paar Tischen davor. Wir holten uns jeder etwas zu trinken und setzten uns dann hin. »Darf man hier rauchen?« »Hier draußen ja, nur in den Gebäuden nicht - die kalifornischen Gesetze sind da ziemlich streng.« »Ja, hab' ich schon gehört.« Ich suchte in meinen Taschen nach meinen Zigaretten, aber die steckten natürlich in meinen Klamotten und nicht in den Sachen, die ich jetzt anhatte. Steve hielt mir eine Schachtel Cools hin. Eine der klassischen Sorten, die ich bis dahin nur aus amerikanischen Büchern und Filmen kannte. »Danke.« »Wie bist du eigentlich hierhergekommen?«, fragte Steve, während ich den ersten Zug nahm. »Hier in die Studios oder in die Staaten?« Er grinste. »Beides.«
»Mein Stiefvater ist Amerikaner ... also noch nicht. Ich meine, noch ist er nicht mein Stiefvater, aber er und meine Mutter heiraten demnächst. Und hierher ... naja, das war Zufall. Fiona O'Hara hat mich gestern auf der Einzugsparty angesprochen, und irgendwie bin ich heute hier.« Mehr als ein schüchternes Grinsen konnte ich dem eigentlich nicht hinzufügen. Steve zwinkerte mir zu. »Siehst du, so schnell kann's gehen.« »Und wie bist du hierher gekommen?« Jetzt wollte ich natürlich auch etwas über meinen Gesprächspartner wissen. »Hm ... ich bin in Torrance geboren, ein bisschen südlich von L.A., und als ich vier oder fünf war meinten meine Eltern mich mal zu 'nem Casting mitschleppen zu müssen. Naja, seitdem ein paar Werbespots, Gastauftritte in Serien und ein paar Nebenrollen in Filmen, aber nichts Großes. Und mit dem Geld kann ich mir das College finanzieren.«
Ich grübelte etwas nach ... irgendwo hatte ich den Ort Torrance schon mal gehört. »Der Ort sagt mir was?«, fragte ich Steve. »Kann sein, steht in den meisten Reiseführern mit drin, auch wenn es da eigentlich nichts besonderes gibt. Ist halt 'ne normale Kleinstadt hier im L.A. County.« »Aber irgendwie klingelte es bei mir.« Steve sah mich fragend an. »Da ist echt nichts besonderes, nicht mal irgendwelche Promis kommen daher ... höchstens Brandon Call, der ist da geboren.« »Müsste ich den kennen?« Steve zuckte mit den Schultern. »Hat in den alten Folgen von dieser Rettungsschwimmer-Serie mitgespielt und später noch ein paar andere Sachen, gefolgt von irgendwelchen Drogenerfahrungen und seitdem hab' ich nichts mehr von ihm gehört.« In groben Zügen tauchte ein Bild vor mir auf, aber der Typ dazu war mindestens zehn Jahre älter als ich und irgendwie auch nicht so ganz mein Typ. Jedenfalls hatte ich mir das Gesicht nicht gemerkt, und ich dachte nicht weiter darüber nach.
Steve sah auf die Uhr. »Rauch' mal zu Ende - Paul hat's nicht gern, wenn wir zu spät kommen«, grinste er. Ich drückte meine Kippe aus und folgte Steve dann zurück ins Studio - wir brauchten doch ein paar Minuten, die Wege auf dem Gelände waren ziemlich lang. Aber daran würde ich mich wohl gewöhnen müssen ... Paul begrüßte uns nämlich freudestrahlend. »Johnny - wenn du willst, hast du die Rolle.« »Äh ... Moment, welche Rolle?« »Die Rolle von Kenny. Das wären erst mal nur ein paar Drehtage für dich.« Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Aber es kam noch besser. »Und wenn du willst, finden wir mit Sicherheit noch was für dich - die anderen sind begeistert von dir.« Ich fühlte mich etwas überrollt. »Langsam, Paul - eigentlich wollte ich nicht gleich bei euch einsteigen.« Paul sah mich etwas enttäuscht an. »Wie, gefällt's dir nicht? Oder ist dir die Bezahlung zu schlecht? Darüber ...« »Nein, das ist es nicht. Nur hab' ich gerade erst eine Szene hinter mir und bin seit zwei Stunden hier. Gib' mir bitte noch ein bisschen Zeit, okay?« Paul nickte. »Kein Problem. Aber können wir für das Projekt hier auf dich zählen?« Ich nickte. »Das auf jeden Fall. Ich denke zum 'reinschnuppern reicht das allemal.«
Für diesen Film hatte ich insgesamt vier Drehtage. Und nach diesen Tagen stand für mich eines fest: Die Arbeit machte mir zwar Spaß, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich ständig Lust dazu hätte. Ich sprach mit Fiona darauf an. »Das ist völlig okay, Janosch - das ist einfach nicht jedermanns Sache. Obwohl ich es in deinem Fall sehr schade finde, denn die Kollegen am Set waren ganz begeistert von dir und ich denke auch, dass du wirklich Talent hast.« Ich wurde schon wieder weich ... so etwas bekam man schließlich nicht jeden Tag zu hören, und Fiona war auch nicht irgend eine Wald- und Wiesenagentin, sondern bei diesem Filmstudio ausschließlich fürs Casting zuständig.
»Janosch, ich möchte dir ein Angebot machen, wenn du willst. Magst du dir das wenigstens mal anhören?« Schaden konnte es ja nicht. »Okay, dann schieß los.« »Also, wir haben hier ein Drehbuch für einen Film liegen, wenn du willst, gebe ich dir mal eine Kopie davon mit. Der Stoff ist gut, die Story ist spannend, und ich denke du hättest Spaß daran. Die Besetzung ist gemischt, es sind einige große Namen dabei und auch einige neue Gesichter. Ich hätte es gern, wenn du eines dieser jungen Gesichter wärst.« »Wer ist denn so dabei?« Fiona grinste. »Wir haben noch nicht alle Verträge in der Tasche, aber ich verrate dir soviel: Wir stehen in Verhandlungen mit Mel Gibson, Jody Foster und Edward Furlong.« Wow ... jetzt war ich platt. Natürlich kannte ich alle drei aus verschiedenen Filmen, und mir wurde ganz anders bei dem Gedanken, auch nur mit einem von den dreien vor der Kamera zu stehen.
Fiona zwinkerte mir zu. »Falls dich das noch nicht überzeugt, hätte ich noch ein weiteres Argument für dich.« »Welches denn?« »Scott Joshua Madison.« Plötzlich verblassten all die großen Namen, die Fiona mir gerade um die Ohren gehauen hatte. Scott Madison war ein junger Stern am großen Himmel Hollywoods, aber einer, der im Moment ziemlich hell leuchtete. Im April war sein erster Film in die deutschen Kinos gekommen und ich war hin und weg von ihm. Bis dahin hatte ich nie verstehen können, wenn die Mädchen aus meiner Klasse von irgendwelchen Schauspielern geschwärmt hatten, aber Scott war einfach anders als der Rest. Und jetzt sollte ich ihn nicht nur kennenlernen, sondern auch mit ihm zusammenarbeiten.
Irgendwann registrierte ich, dass Fiona mich immer noch anlächelte. »Ich denke ich habe dich überzeugt?« Ich nickte. »Ja, das hast du auf jeden Fall. Wer ist denn sonst noch mit von der Partie?« »Der Produzent des Films ist auch gleichzeitig der Autor des Buches - Stewart P. Colham nennt er sich, aber das ist, soweit ich weiß, nicht sein richtiger Name; den kennt auch keiner. Außer seiner Familie vielleicht. Richie wird wahrscheinlich die Regieassistenz übernehmen.« Ich freute mich darauf, wieder mit Richie zu tun zu haben. Am Anfang hatte ich ein bisschen Angst davor, weil wir uns privat schon sehr lange kannten, aber wir hatten uns gut verstanden und Richie hatte mir nie das Gefühl gegeben, dass ich im kommentarlos zu folgen hätte - auch wenn das faktisch so war, aber Richie zeigte es nicht.
»Möchtest du nicht noch etwas wissen?«, fragte Fiona. »Was meinst du denn?« Sie grinste. »Zum Beispiel, wie hoch dein Honorar ausfallen soll.« »Mich würde eher mal interessieren, welchen Part ich in dem Film übernehmen soll.« »Du bist eigentlich Schüler, aber im Film geht es überwiegend darum, dass du in einer schwulen Jugendgruppe dabei bist. Dort lernst du Jeremy - also Scott - kennen. Ihr kommt miteinander ins Gespräch und trefft euch später immer mal wieder. Das ist aber nur eine Nebenhandlung des Films.« Ich war ein wenig enttäuscht - nicht von der Rolle an sich, aber ich hatte gehofft, dass ich mehr mit Scott zu tun haben würde. »Keine Sorge, in dem Film habt ihr ungefähr 18 Minuten, in denen ihr zusammenspielt. Das heißt eine ganze Menge Drehtage.«
Als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Ist vorher noch irgendwas an Training nötig?« »Nicht besonders, du musst dich nur darauf einstellen, dass du im Film an einer Schlägerei beteiligt bist, da werden aber Stuntmen eingesetzt werden, ihr werdet euch also nicht selbst prügeln müssen.« Das war in der Tat beruhigend, denn bisher war ich Schlägereien immer aus dem Weg gegangen. Fiona drückte mir das Drehbuch in die Hand. »Deine Rolle ist angestrichen, ein paar Hinweise habe ich dir gleich mit dazugelegt. Der Vertrag ist hinten drin. Die Regie ist einverstanden, Produktion ebenfalls, wenn du willst, hast du die Rolle. Lass' dir ruhig ein paar Tage Zeit, ich brauche den unterschriebenen Vertrag bis Ende der Woche. Und wenn du Lust hast, kannst du in der Zwischenzeit gern mal 'reinschauen oder mich anrufen, wenn du Fragen hast. Wir sehen uns ja auch am Samstag.« »Samstag?« »Lieber Janosch, du hast doch wohl nicht etwa die Hochzeitsfeier vergessen?«
Doch, das hatte ich - und zwar völlig. »Okay ... ich bin dann weg, mach's gut und bis die Tage.« »Denk' in Ruhe drüber nach!«, rief sie mir noch hinterher, während ich schon auf dem Weg zum Parkplatz war. Ich hatte Rip versprochen, dass ich ihm trotz meines neuen Jobs auch weiterhin in der Praxis helfen würde, und war auch in die Vorbereitungen für die Feier mit involviert. Richie hatte mir einen Zettel hinter die Windschutzscheibe geklebt, dass es bei ihm später werden würde und in welchem Studio er zu erreichen war. Ich schrieb ihm darunter, dass ich mit dem Bus fahren würde, und las mir dann während der Fahrt das Drehbuch durch - es klang jedenfalls nicht schlecht.
Als ich zuhause ankam, waren Mum und Rip gerade dabei, das Essen vorzubereiten. Rip schälte Kartoffeln, während Mum sich um irgendwas in der Pfanne kümmerte - es roch jedenfalls gut. »Hi Janosch. Hast du Hunger?« Ich nickte. »Sofern das Zeug, das ihr da fabriziert, genießbar ist.« Rip grinste. »Du kannst gern übernehmen, wenn du willst.« Ich winkte ab. »Nee, danke, muss nicht sein - ich will erst mal duschen.« »Okay, in einer Viertelstunde ist das Essen fertig.« »Gut, dann bis gleich.« Ich schälte mich aus meinen Klamotten heraus und stellte mich dann unter die heiße Dusche. Während ich vor dem Spiegel stand, um mich abzutrocknen, musterte ich meinen Körper. Die Brandverletzungen, die mir mein Vater seinerzeit zugefügt hatte, sah man immer noch.
Aber ich hatte es noch relativ gut getroffen ... Nick hatte seit einem Unfall das Problem, dass sein halber Oberkörper versengt worden war. Auch das war im Laufe der Zeit zwar besser geworden, aber man sah es immer noch recht deutlich. Richie hatte mir mal erzählt, dass er in der ersten Zeit deswegen ziemlich am Boden gewesen war, aber mittlerweile störte ihn das nicht mehr - und Joshua noch weniger. Ich hatte mich mit Nick irgendwann mal darüber unterhalten, und er meinte, dass man schnell lernen würde, mit diesen Problemen umzugehen. Und wenn jemand wirklich verliebt war, störten solche Dinge sowieso nicht. Lars hatte sich seinerzeit jedenfalls nicht daran gestört, er hatte mich einfach so akzeptiert wie ich war, und das war mit Sicherheit nicht immer leicht gewesen. Ich hatte in den letzten Wochen ein paar Mal mit ihm telefoniert, und wir schrieben uns hin und wieder noch E-Mails, aber irgendwie war die Luft 'raus. Und die Entfernung half uns sicherlich auch nicht weiter.
Jemand klopfte an die Badezimmertür. »Janosch, kommst du? Das Essen ist fertig.« »Ich bin sofort da.« Ich zog mir ein bequemes Sweatshirt und eine Shorts über und ging dann nach unten. Meine Haare ließ ich, wie sie waren - endlich mal wieder ohne Gel. Mum und Rip saßen schon am Tisch und warteten auf mich. »Ihr hättet ruhig schon anfangen können«, grinste ich. »Wir wollten dir nicht alles wegessen«, antwortete Rip. »Ich hoffe es schmeckt dir«, fügte er dann hinzu. »Naja, du weißt doch - der Hunger treibt's 'rein ...« Mum hob abwehrend die Hände. »Okay, Janosch, wir kennen den Spruch.« »Sei froh, dass du nicht früher an der UCLA in der Kantine gegessen hast, das Essen war grausam - ist mittlerweile aber besser geworden, meint Richie jedenfalls.«
»Warum erzählst du eigentlich nie etwas aus deiner Zeit als Student?«, fragte ich Rip, während wir aßen. »Was willst du wissen?« »Naja, ich kann mir das irgendwie nicht so richtig vorstellen ... den ganzen Tag in der Uni 'rumhängen, und das auch noch in den frühen 70ern, da muss noch 'ne Menge mehr gewesen sein.« Rip grinste breit. »Klar - jeden Abend wilde Orgien, wir haben uns Drogen 'reingeschüttet bis zum geht-nicht-mehr und dazu Beatles und Rolling Stones gehört.« Das brachte ihm einen bösen Blick von Mum ein. »Jetzt setz' dem Jungen keine Flausen in den Kopf.« Rip zuckte mit den Schultern. »Lynn, ich denke wir haben alle unsere Erfahrungen gemacht, und wir werden Janosch kaum davon abhalten können, das auch zu tun. Außerdem halte ich nichts davon, meine Kinder anzulügen.« Mum nickte. »Ja, ich weiß - ich ja auch nicht.«
»Jetzt mal im Ernst, Janosch - ich hab' jeden Tag ein paar Stunden in der Uni 'rumgehangen, nebenbei noch gearbeitet, und viel gelernt.« »Wieso gearbeitet?«, fragte ich ihn verwundert - zumindest ein Teil des Geldes, das Rip besaß, stammte aus einer Erbschaft von seinen Eltern. »Ganz einfach«, erklärte Rip, »meine Eltern waren der Meinung, dass wir alle erst mal unser Studium selbst verdienen sollten, bevor wir etwas erben würden.« »Wie viele Geschwister hast du eigentlich noch?« »Zwei Schwestern und zwei Brüder - Chris kennst du ja schon, Jalonna und Pamela auch. Chris' Familie wirst du auf der Hochzeit kennenlernen.« »Und dann fehlt noch einer.« »Janosch, das muss jetzt nicht ...« Rip winkte ab. »Nein, Lynn, lass' ihn ruhig. Im Prinzip weiß Janosch sowieso viel zu wenig über seinen zukünftigen Stiefvater«, sagte er mit einem traurigen Lächeln.
»Rip, du musst nicht drüber reden.« »Ich sagte doch schon, es ist okay. Pete und der Rest der Familie haben sich vor einigen Jahren zerstritten, er ist über Nacht von Zuhause ausgezogen und wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. Also keine große Sache.« Keine große Sache??? »Habt ihr nie versucht ihn zu finden?« Rip zuckte mit den Schultern. »Wir haben sogar Privatdetektive beauftragt - keine Chance.« »Wie alt war er damals?« »17 Jahre - er ist drei Jahre jünger als ich.« Rip war im Sommer 51 geworden, also war Pete jetzt 47 oder 48. »Wir hatten gehofft, dass er sich nach dem Tode unserer Eltern bei uns melden würde, aber das hat er auch nie getan.« »Du hast zu ihnen auch nicht viel Kontakt gehabt, oder? Du hast jedenfalls noch nie von ihnen erzählt.«
»Tja ... das sind die dunklen Kapitel in der Familiengeschichte. Mum und Dad haben mir die Schuld an Petes Verschwinden gegeben, sie meinten, ich hätte ihn auf den falschen Weg gebracht und so weiter. Er hat angefangen zu klauen, war öfter in Schlägereien verwickelt, und während wir anderen versucht haben, ihn da 'rauszuziehen haben meine Eltern die Moralapostel gespielt. Einmal ist er erwischt worden und in den Knast gekommen, und da hat mein Vater sich schlichtweg geweigert, die Kaution für ihn zu zahlen - lächerliche 500 Dollar, und das auch nur, weil der Richter meine Eltern kannte und sie einen guten Ruf hatten. Chris und ich haben dann unsere Ersparnisse zusammengekratzt und die Kaution gestellt. Pete ist für einige Tage bei uns eingezogen, weil mein Vater getobt hat - er hat uns auf einen Schlag alle drei enterbt. Chris und ich hatten am Anfang des Studiums eine gemeinsame Wohnung.«
Die beiden waren Zwillingsbrüder, hatte Rip mir irgendwann mal erzählt. Allerdings hatten sie äußerlich nicht sonderlich viel gemeinsam. Chris war Rechtsanwalt, er hatte eine recht große Kanzlei hier in Los Angeles. »Und wie ging's dann weiter?« »Pete ist vor Gericht erschienen, ein Freund von Chris, der sein Studium gerade hinter sich hatte, hat ihn vertreten, und er hat eine Bewährungsstrafe bekommen. Das Geld hat er uns bis auf den letzten Cent zurückgezahlt. Ein paar Tage später hat er seine Sachen gepackt und war verschwunden.«
»Und dann habt ihr nie wieder etwas von ihm gehört?«, fragte ich. »Einmal haben wir ihn fast gefunden, aber in letzter Minute ist er uns wieder entwischt. Daraufhin haben wir es aufgegeben, weil wir ...« In diesem Moment klingelte das Telefon. Mum stand auf, und Rip beendete den Satz. »Weil wir dachten, dass er sowieso nichts mehr mit uns zu tun haben will.« Mum hielt mir den Telefonhörer hin. »Janosch, für dich - Fiona.«
»Janosch Reilly.« »Janosch, hier ist Fiona. Du, sorry, wenn ich dich jetzt so überfalle, aber wir brauchen möglichst noch heute 'ne Entscheidung von dir, Drehbeginn wäre dann übernächsten Montag.« »Hm ... bis wann braucht ihr die genau? Ich hab' noch nicht mit Mum und Rip darüber gesprochen.« »Jetzt ist es kurz nach sieben ... kannst du mich bis um neun zurückrufen?« »Ja, das schaffe ich.« »Super, danke Janosch. Hey, und noch was ... wenn du keine Lust hast, ist das okay, ich brauche nur von dir ein definitives ja oder nein, okay?« »Okay. Warum muss es auf einmal eigentlich so schnell gehen?« »Weil der Rest der Besetzung steht, vorhin kamen die Faxe von den Agenturen 'rein. Wenn auch nicht ganz so wie heute Nachmittag besprochen, aber für dich wichtig: Scott Madison ist auf jeden Fall dabei.« Ich konnte das Grinsen fast hören. »Okay, ich melde mich später, mach's gut.« »Bis nachher.«
Ich setzte mich wieder zu Mum und Rip an den Tisch. Mum hatte Rip in der Zwischenzeit in den Arm genommen und sich leise mit ihm unterhalten, und er hatte sich langsam wieder gefangen. »Und, was wollte Fiona?«, fragte er. »Kann ich euch mal was fragen, Leute?« »Klar, schieß' los.« »Fiona hat mir heute einen neuen Vertrag angeboten, es geht um 'ne Nebenrolle in einem Film. Es sind ein paar ganz interessante Leute dabei, das Geld stimmt auch, ich bin mir nur nicht so richtig sicher, ob ich das machen will.« »Bisher hat es dir doch auch Spaß gemacht, oder?«, fragte Mum. »Ja, aber dauerhaft möchte ich das nicht machen - jedenfalls im Moment nicht.« »Weißt du denn schon was du machen willst?«, fragte Rip. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab' noch keine Idee.«
»Janosch, mir ist klar, dass du da 'rangekommen bist wie die Jungfrau zum Kinde ... aber solange du noch nichts anderes hast?« »Naja, ich hab' noch den Job bei dir in der Praxis.« »Das geht sowieso erst in ein paar Wochen richtig los. Momentan ist die Praxis einmal in der Woche auf, und dafür hab' ich momentan eine Assistentin aus einer anderen Praxis. Davon abgesehen willst du das auch nicht ewig machen, oder?«, fragte Rip lächelnd. Ich lächelte auch. »Das vielleicht nicht, aber wenn mal Not am Mann ist spring' ich gern mit ein.« Rip nickte. »Das weiß ich. Janosch, zurück zum Thema. Ich denke, du hast jetzt noch 'ne Chance, die ganze Branche etwas besser kennenzulernen. Aussteigen kannst du da jederzeit, andererseits kann es für dich auch 'ne Menge bedeuten.«
»Das heißt?«, fragte ich. »Ich würde sagen, wenn du Lust dazu hast, nimm' diese Chance noch mit und überleg' dir später 'ne Alternative, wenn es dir wirklich keinen Spaß mehr macht. Um mit dem Studium anzufangen, ist es jetzt eh' zu spät, das Semester hat schon begonnen.« »Mum, was meinst du?« »Ich denke, Rip hat Recht mit dem was er sagt - vorausgesetzt eben, dass du Lust dazu hast das zu machen.« »Okay ... ich denk' noch mal darüber nach und ruf' dann Fiona an.« Ich legte mich oben aufs Bett und dachte eine halbe Stunde über mein »Problem« nach. Irgendwann wurde mir schließlich klar, dass andere Leute mit meinem »Problem« froh wären und wahrscheinlich nicht eine Minute zögern würden. Und neben vielen anderen Dingen war für mich schließlich Scott Madison der ausschlaggebende Punkt. Ich rief Fiona an und sagte zu.
Doch bevor es zu den Dreharbeiten kam, stand zunächst noch eine Familienfeier ins Haus, nämlich die Hochzeit von Mum und Rip. Als Termin hatten sich die beiden auf den 3. September 2004 geeinigt. Für mich hieß das vor allen Dingen, dass ich mir einen Anzug zulegen musste, auf der Abschlussfeier in der Schule hatten wir das nicht ganz so eng gesehen. Luke und Jessica kamen zusammen mit Julian, Natalie und Danny schon am Mittwoch hier an, und während der Tage unmittelbar vor der Hochzeit herrschte im Haus ein Leben und ein Tatendrang, den ich nicht mal beim Umzug erlebt hatte.
Die Vorbereitungen waren schon einige Wochen vorher angelaufen, die Feier sollte in etwas größerem Rahmen stattfinden. Neben Mum und Rip nebst Kindern und Enkelsohn waren Mums Eltern, Rips Geschwister mit ihren Familien sowie eine ganze Reihe von Freunden da. Keiner von uns hatte die vollständige Gästeliste zu sehen bekommen, und insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass Rip vielleicht auch David und seine neue Familie eingeladen hatte. Irgendwann fragte ich ihn schließlich danach, aber leider waren die Andersons schon zu einer anderen Feier eingeladen und konnten nicht kommen. »Ich soll dir von David einen lieben Gruß bestellen, und er hätte sich wahnsinnig gefreut dich mal wiederzusehen, aber für Kit ist auch ein ganz besonderer Anlass, und er will seine Familie auch nicht hängen lassen.« Das war verständlich - schließlich war er bei den Andersons zuhause. Trotzdem war ich ein wenig enttäuscht.
Bei der Hochzeit wurden eine ganze Menge Traditionen zusammengemischt. Sowohl Mum als auch Rip hatten lange genug in Deutschland gelebt, und waren auf genügend Hochzeiten dabei gewesen, um die besten Bräuche zu kennen, und so begannen die Feierlichkeiten schon am Donnerstagabend, zunächst mit einem Polterabend. Viele unserer Nachbarn in Sherman Oaks kannten diesen Brauch gar nicht, waren aber gern bereit sich zu beteiligen. Nach ein paar Stunden löste sich der große Kreis auf, und übrig blieben zwei Gruppen: Julian, Richie, Jason, Nick, Josh, Elijah, Luke, einige weitere Freunde und ich selbst um Rip herum, während Mum sich mit Natalie, Jessica und einigen anderen Freundinnen zurückzog. Abgesehen vom Alkohol war es zumindest bei uns eine klassische Junggesellenrunde. Was bei den Mädels lief, weiß bis heute keiner.
Freitag, 3. September 2004, morgens
Das Erste, was mir von diesem Tag noch in Erinnerung geblieben ist, war die Tatsache, dass ich nach langer Zeit mal wieder von Luke geweckt wurde. Nach wie vor getrennt gab es ein gemütliches Frühstück, und wir sprachen die letzten Details des Tages durch. Ich hatte Rip noch nie so aufgeregt erlebt - und dabei war er zuvor schon einmal verheiratet gewesen. Die ganze Zeit rannte er im Haus herum, suchte dieses, fragte nach jedem, kurzum: wie ein aufgescheuchtes Huhn. Selbst Julian, Richie und Nick konnten sich ein Dauergrinsen nicht verkneifen. »Hat jemand meine Manschettenknöpfe gesehen?«, fragte Rip. »Ja, Dad - in deinen Manschetten, wo sie hingehören.« »Ah! Und meine Krawattennadel?« »Liegt auf dem Küchentisch«, antwortete Julian. »Und das wichtigste ... wo sind die Ringe?«
Richie klopfte auf die Tasche seines Sakkos. »Sicher verwahrt, habe ich gerade eben extra noch einmal überprüft. Dad ... setz' dich hin, trink' noch einen Schluck Kaffee und beruhige dich. Stell' dir vor, es kommt der entscheidende Moment, und dann bist du so nervös, dass dir die Ringe herunterfallen, wenn du Lynn ihren anstecken willst.« Rip sah Richie verzweifelt an. »Ist das etwa schon mal passiert???« Jason grinste in Rips Richtung. »Ja, deinem eigenen Sohn sogar.« Rip stöhnte entsetzt auf. Julian schob ihn energisch in Richtung Küchentisch und drückte ihn auf den Stuhl. »Dad, hinsetzen. Hier ist Kaffee, und zumindest ein halbes Brötchen musst du essen. Du hast schon ganz andere Dinge miterlebt, da wird dich so 'ne kleine Hochzeit doch wohl nicht aus der Fassung bringen, oder?«
Rip strafte seinen ältesten Sohn mit einem Blick in Richtung »Als wenn du da mitreden, könntest.« und biss dann schweigend in sein Brötchen. Ich mühte mich währenddessen mit der Krawatte ab. »Kann mir vielleicht mal einer von euch zur Hand gehen?« Jason kam zu mir herüber. »Also, Kleiner, langsam musst du das aber wirklich mal selbst lernen.« »Du weißt doch, dass ich nur dann Krawatten trage, wenn es absolut notwendig ist. Sag mal, was bist du eigentlich ab heute Mittag für mich? Mein Schwager?« Richie mischte sich ein. »Gute Frage, Dad - wie wollt ihr das überhaupt machen?« Rip trank einen Schluck Kaffee. »Die Frage stellt sich eigentlich gar nicht, weil ihr alle schon volljährig seid. Aber Lynn und ich hoffen, dass Ihr uns beide als Elternpaar akzeptieren werdet.«
Ich lächelte. »Also was mich betrifft, braucht Ihr euch da keine Sorgen machen.« »Das dachte ich mir, Janosch. Und bei den anderen sollte es da auch keine Probleme geben, oder?« »Nein, bestimmt nicht. Ich mag Lynn jedenfalls«, antwortete Richie, und die anderen drei nickten zustimmend. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Rip. »Kurz vor zehn, und bevor du fragst: Deine Armbanduhr liegt im Flur auf der Garderobe«, grinste Nick. Bevor Rip dazu kam, zu antworten, fiel mir plötzlich etwas völlig anderes ein: »Sag mal, wer sind eigentlich eure Trauzeugen?« »Das werdet ihr nachher sehen - eine kleine Überraschung muss ja auch für euch noch bleiben. Lynn und ich haben uns das Ganze reiflich überlegt, und wir haben uns schließlich entschieden, dass es nur zwei Leute gibt, die dafür in Frage kommen. Aber wartet ab.«
Langsam brachen wir auf. Zwar waren weder Mum noch Rip besonders religiöse Menschen, aber dennoch hatten sie sich für eine klassische kirchliche Trauung entschieden. Als wir vor der Kirche ankamen, standen dort schon eine ganze Menge Gäste versammelt. Alle waren festlich gekleidet, die Männer mit Anzügen - einige wie auch Rip mit Smoking und Fliege - die Frauen alle in Kleidern oder Kostümen. Wir hatten Mum bisher noch nicht gesehen, schließlich sollte es ja Unglück bringen, wenn der Bräutigam die Braut vor der eigentlichen Zeremonie sah.
Wir standen noch mit Rip vor der Kirche, der vollkommen nervös ein Pfefferminzbonbon nach dem anderen lutschte. »Wo bleiben denn nur die Trauzeugen?« Julian zupfte seinem Vater eine Fluse von der Schulter und antwortete: »Was fragst du uns, wir wissen ja noch nicht mal, wer das sein wird.« In diesem Moment fuhr ein weiteres Auto vor ... und niemand anders als Roland und Barbara Westermann stiegen aus. »Da sind sie ja.« Die beiden kamen auf uns zu und begrüßten uns, Roland nahm Rip zur Begrüßung sogar in den Arm. »Hey, das wurde auch Zeit, dass du wieder unter die Haube kommst, alter Freund.« Rip strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Schön, dass ihr es geschafft habt.«
Richie übergab die Ringe an Roland und verabschiedete sich dann mit Julian zusammen in Richtung Kirche, weil die beiden mit Anne, Nick und den dazugehören Männern und Frauen zusammen noch etwas vorbereiten wollten. Wir anderen begrüßten Roland und Barbara. »Markus kommt etwas später, der muss noch etwas erledigen.« Einige weitere Gäste kamen an ... viele Leute kannte ich nicht, das Einzige, was mir auffiel, war ein Ehepaar in Ripleys Alter, welches von Nick überschwänglich begrüßt wurde.
Langsam kam Bewegung in die Menschentraube, und alle betraten die Kirche. Nur Rip und Roland warteten draußen auf den Beginn der Zeremonie. Als sich alle gesetzt hatten, ging der Pastor nach draußen und holte Rip und Roland herein. Rip war sichtlich nervös, zerrte ständig an seiner Krawatte herum, rückte das Sakko zurecht, strich sich über seine Haare und schaute sich nervös um. Der Organist begann zu spielen, es wurde ruhig, und schließlich trat Mum zusammen mit unserem Großvater, der Brautführer war, in den Mittelgang und schritt zum Altar. Ein begeistertes Raunen ging durch die Kirche, als Mum endlich in voller Schönheit zu sehen war. Sie trug ein klassisches weißes Brautkleid mit einer ziemlich langen Schleppe und einen Schleier dazu. Als sie und Rip nebeneinander vor dem Altar standen, war in ihren Augen das reine Glück zu sehen.
Der Pastor hielt eine Andacht, es wurden einige Kirchenlieder gesungen, und schließlich ging es zum wirklich feierlichen Teil. »Wir haben uns heute hier versammelt, um eine Ehe zu beschließen und Gott dazu als Zeugen anzurufen. Ripley Andrew Michael Masters, willst du die hier anwesende Lynn Reilly zu deiner Ehefrau nehmen, an ihrer Seite stehen, sie lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis das der Tod euch scheidet?« Rip räusperte sich und antwortete dann klar und deutlich mit »Ja, ich will.« »Lynn Reilly, willst du den hier anwesenden Ripley Andrew Michael Masters zu deinem Ehemann nehmen, an seiner Seite stehen, ihn lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis das der Tod euch scheidet?« »Ja, ich will«, antwortete auch Mum.
Der Pastor wandte sich an die anderen anwesenden. »Falls jemand von euch einen guten Grund gegen diese Ehe vorbringen kann, so möge er es jetzt tun, oder für immer schweigen.« Keiner sagte einen Mucks. Der Pastor sagte: »So tauscht jetzt die Ringe.« Roland trat vor und reichte Rip ein silbernes Tablett mit den beiden Eheringen. Rip nahm den etwas kleineren, steckte ihn Mum an den rechten Ringfinger und sagte: »Nimm diesen Ring und trage ihn als Zeichen meiner ewigen Treue und Liebe.« Diese Prozedur wiederholte sich noch einmal umgekehrt, und schließlich beschloss der Pastor die Feier mit den Worten: »Kraft des mir verliehenen Amtes erklären ich euch hiermit zu Mann und Frau. Du darfst die Braut jetzt küssen.« Das ließen sich die frisch getrauten Brautleute natürlich nicht zweimal sagen ...
Die Anwesenden blieben sitzen, allerdings wurde der Mittelgang der Kirche mit Rosenblüten bestreut. Mum und Rip schritten zum Ausgang der Kirche, gefolgt von Mums Eltern und allen anderen. Noch einmal ertönte die Kirchenorgel ... und dann war ich überrascht: Ich hatte einen Hochzeitsmarsch oder etwas in der Richtung erwartet, statt dessen sang plötzlich ein Chor »Who'll come with me, don't be afraid, I know the way ...« Obwohl es ein warmer Tag war, lief es mir plötzlich eiskalt den Rücken herunter. Das Stück hieß »Davids Song«, und wie Julian mir später verriet hatte er es ausgesucht, um damit noch einmal die Symbolik der Trauung zu unterstreichen ... wie kitschig.
Das war schön und gut, und Julians Idee in Ehren, aber trotzdem erinnerte es mich wieder daran, dass ich diesen Tag ohne den Menschen verbringen musste, der trotzdem wir uns nur wenige Tage gesehen hatten, zu einem meiner engsten Freunde geworden war - und zweifellos zu einem der wichtigsten Menschen für mich, David eben. Wir hatten zwar in den letzten Wochen nicht so viel voneinander gehört, ich wusste nur, dass er in Michigan ziemlich viel um die Ohren hatte, aber einer echten Freundschaft wie unserer würde das keinen Abbruch tun.
Mittlerweile waren wir vor der Kirche angekommen, und ich versuchte, mich zusammenzureißen. Das hier war die Hochzeit von meiner Mutter und dem Mann, der mir in wenigen Wochen ein besserer Vater geworden war als mein leiblicher Erzeuger in über vierzehn Jahren. Und ich glaube, ich habe mir diesen Tag genauso sehr gewünscht wie Mum und Rip selbst. Endlich hatte ich wieder einen Vater. Und auch meine - jetzt doch recht zahlreichen - Geschwister schienen alles andere als unglücklich zu sein. Anne lächelte mich an. »Weißt du, Janosch, schon allein aus einem Grund freut mich das ganze.« Das typische Masters-Grinsen dazu in ihrem Gesicht verhieß nichts gutes. »Na, und was?«, fragte ich. »Ist doch klar: sie ist jetzt nicht mehr die kleinste in der Familie.«, sagte Elijah, noch bevor Anne zu Wort kam. Ich schüttelte den Kopf. »Naja, und ich werde wohl bald wissen, ob Schwestern wirklich so kratzbürstig sind wie immer behauptet wird«, erwiderte ich.
Jemand schlug mir von hinten auf die Schulter. »Na, kleiner Bruder, bei dem Thema kannst du aber ganz gut mitreden.« Richie - wer auch sonst? »Ich meinte jetzt Schwestern im Sinne von richtigen Damen, und nicht so etwas dahergelaufenes wie dich, mein Lieber.« Okay, keine wirklich gute Antwort ... aber so spontan fiel mir nichts besseres ein. Richie stemmte einen Arm in die Hüfte und winkelte die Hand ab. »Schätzchen, das klären wir noch mal in Ruhe.« Wir brachen in Gelächter aus. »Sorry, Bruderherz, aber die Rolle steht dir nicht.«, sagte ich prustend.
Langsam brachen wir auf ... alle fuhren zu uns nach Hause, wo in der Zwischenzeit das Essen vorbereitet worden war. Chris, mein neuer Onkel, und seine Frau hatten für Mum und Rip einen weißen Rolls-Royce organisiert, der die Kolonne anführte. Es war schon ein seltsamer Anblick, so einen Wagen mit einem »Just Married«-Schild auf der hinteren Stoßstange zu sehen ... aber es passte auch irgendwie. Ich fuhr mit Jessica, Luke und einem Jungen mit, den ich nicht kannte. »Ihr drei seid die Kids von Lynn, oder?« Luke lachte. »Fast ... ich bin Luke, das ist meine Freundin Jessica, und der schüchterne da hinten ist Janosch, mein kleiner Bruder.« Ich grinste. »Und du?« »Robin Masters, ich bin Rips Neffe, der Sohn von Chris.«
Robin und ich verstanden uns auf Anhieb, und als Erstes tauschten wir uns mal aus. Er erzählte mir eine ganze Menge über die Familie. Sein Vater Christopher Thomas Masters war Seniorpartner in der Anwaltskanzlei Jordan, Masters, Langdon and Associates, er hatte sich auf Schadenersatzklagen spezialisiert. Seine Mutter Caroline war Lehrerin an einer High School in Van Nuys. »Und hast du noch Geschwister?« »Nur 'ne kleine Schwester, Sally ... aber die ist ziemlich doof. Naja, 'ne kleine Schwester halt.« Jessica grinste. »Und wie alt seit ihr beide?« »Ich bin 15, Sally ist 11.« Luke bog in eine andere Straße ein. »Also, als ich 15 war, war Janosch auch manchmal ziemlich nervig.« Ich schlug ihm von hinten auf die Schulter. »Hey, du warst auch nicht gerade 'n Engel.«
»Aber ich war nicht so schlimm wie du«, verteidigte sich Luke. »So, warst du nicht?« Ich entschloss mich, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. »Und was war zum Beispiel zu Ostern, wo du mir immer wieder die Schokoeier weggegessen hast?« Luke errötete ein wenig. »Oder als Du mit 13 Mums Make-Up ausprobiert hast, weil Petra aus deiner Klasse sich über deine Pickel lustig gemacht hat?« Luke wurde knallrot. »Janosch, okay ... hör' auf, ich sag' ja nichts mehr.« Jessica grinste über beide Ohren. »Janosch, ich glaube wir müssen uns dringend noch mal unterhalten.« Luke hielt vor einer Ampel und drehte sich dann zu mir um.
»Mein lieber kleiner Bruder, so ganz unter uns würde ich dir raten, weder Jessica noch sonst irgend jemandem etwas davon zu erzählen. Oder willst du allen Ernstes, dass ich die Geschichte mit dem kleinen Fahrradcrash erzähle?« Jetzt war ich derjenige, der rot wurde ... aber zum Glück schaltete die Ampel in dem Moment auf Grün und Luke fuhr weiter. »Okay, behalten wir die alten Familiengeschichten für uns.« Robin schüttelte den Kopf. »Cool, ihr seid genauso abgedreht wie der Masters-Clan, glaub' ich. Darf ich euch mal was fragen?« Ich nickte, froh über den Themenwechsel. »Klar, schieß' los.«
»Was ist mit eurem Dad? Ich mein, da gab's doch bestimmt mal einen, oder?« Luke warf mir über den Rückspiegel einen fragenden Blick zu. »Du oder ich?«, fragte er. »Ich erzähl' schon, keine Sorge. Unser Erzeuger ist tot, hatte einen Autounfall.« Robin wurde verlegen. »Tut mir leid, ich wollte nicht ...« Ich winkte ab. »Keine Sorge, es ist ganz gut so.« »Ich frag' lieber nicht weiter nach«, sagte Robin leise. »Lass' mich nur soviel dazu sagen: Wenn dein Onkel Rip damals nicht gewesen wäre, würden wir jetzt hier wohl nicht miteinander reden.«
Robin hielt sein Versprechen und fragte nicht weiter nach. »Ich erzähl' dir das irgendwann mal in Ruhe«, sagte ich zu ihm. »Aber heute ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt dazu.« Robin nickte. »Okay.« Er klopfte mir auf die Schulter - eine unbeholfene Geste, aber irgendwie liebenswert. Wenn der Rest des Masters-Clans auch so nett war, machte ich mir keine Sorgen darum, dass wir uns gut verstehen würden. Und kennenlernen würde ich wohl noch genug ... bis auf Rips verschollenen Bruder Peter waren alle Familienmitglieder anwesend.
Von unserer Seite waren nicht viele Leute da - außer Mums Eltern, die sich die Hochzeit selbstverständlich nicht entgehen lassen wollten, war nur noch Robert Hellmann aufgetaucht, Dads Vater und mein Großvater. Er hatte über all die Jahre zu uns gehalten, während Oma - seine Frau - Mum die Schuld an allem gegeben hatte. Der Streit war schließlich eskaliert, als uns die beiden im letzten Jahr bei Rip besuchten. Oma hatte meiner Mutter vorgeworfen, es wäre nie so weit gekommen, wenn Mum ihren ehelichen Pflichten besser nachgekommen wäre. Ich erinnerte mich noch gut an den Tag - Mum war ausgerastet, Nick hatte mich aus dem Schussfeld geholt und Rip hatte Oma ohne zu Zögern vor die Tür gesetzt. Im gleichen Atemzug hatte er betont, dass Opa nach wie vor herzlich willkommen wäre, und die beiden verstanden sich gut.
Um es kurz zu machen: Der ganze Tag wurde ein voller Erfolg. Ich konnte mich nicht erinnern, schon einmal so viele neue Leute auf einmal kennengelernt zu haben, wir verstanden uns alle super miteinander und der ganze Tag würde uns allen wohl lange in Erinnerung bleiben. Ich genoss es vor allem, endlich mal wieder mit Leuten zu reden, die ich seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte. Dazu zählten nicht nur Luke und Jessica, sondern auch Roland, Barbara und Markus Westermann. Markus und ich hatten uns immer mal wieder getroffen und gequatscht, nachdem sich bei uns zuhause damals der erste Trubel gelegt hatte. Vielleicht auch dadurch, dass es ihm ähnlich gegangen war wie mir, war uns nie der Gesprächsstoff ausgegangen. Aber wir sprachen nicht nur über Missbrauch, sondern auch über alle möglichen anderen Dinge.
Später am Abend setzte ich mich mit Robin, meinem neuen Cousin zusammen. Er hatte eine ganze Menge Fragen und erzählte auch eine Menge von sich selbst. Ihm war anzumerken, dass er mich gern noch andere Dinge gefragt hätte, aber er hielt sich merklich zurück. Schließlich erzählte ich ihm alles, und der Kleine erwies sich als guter Zuhörer. Ich ließ nur die Tatsache aus, dass ich schwul war. Robin war erst 15, und ich wollte nicht, dass er irgendetwas in den falschen Hals bekam. Auch wenn er nach meiner Erzählung schon ziemlich viel über mich wusste, wollte ich abwarten, bis er mich etwas besser kannte. Ich machte mir nicht so richtig Sorgen darüber, aber irgendwie passte es für mich nicht, das Thema auch noch anzuschneiden.
Als ich an diesem Abend - oder besser in der Nacht, die letzten Gäste gingen um vier Uhr morgens - im Bett lag, wurde mir eines klar: das Kapitel »Dad« war jetzt endgültig abgeschlossen. Jetzt hatte ich einen Vater, vor dem ich keine Angst haben musste, und alles erschien mir endlich so, wie es sein sollte. Dieser Gedanke kam mir ziemlich plötzlich, und irgendwie sah ich wie in einem Film noch einmal die Bilder vor mir ablaufen. Und diesmal stieg nicht wieder diese Panik in mir hoch ... ich hatte das Gefühl als wäre ich ein Außenstehender, der das Ganze nur beobachtete.
Montag, 20. September ... Beginn der Dreharbeiten
Nach und nach trafen alle Beteiligten im Studio ein. Ich war nervös wie schon lange nicht mehr ... okay, genau genommen bei der Hochzeit ... und trank eine Tasse Kaffee nach der anderen. Die Angewohnheit hatte ich von Richie übernommen, der mir jetzt mit einem coolen Lächeln gegenüberstand. »Trink' nicht so viel von der Brühe, sonst rennst du nachher ständig aufs Klo.« »Das muss ich eh' schon ... wie immer wenn ich nervös bin«, gab ich ein bisschen gereizt zurück. Der Grund meiner Aufregung war klar: Scott Madison, der die Hauptrolle in dem Film übernehmen sollte.
Ich hatte mittlerweile das Drehbuch zum Film gelesen und konnte mich ein bisschen auf meine Rolle vorbereiten. Der Film spielte an einem Internat in Nordkalifornien, und an diesem Internat verschwanden einige Schüler unter seltsamen Umständen. Jeremy, einer der Schüler, versuchte diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen - er wurde natürlich von Scott gespielt. Dieser Jeremy war zwar eigentlich ein netter Typ, aber Kapitän der Footballmannschaft und er hatte den Ruf weg, dass er nicht viel in der Birne hatte. Mit seiner Detektivarbeit wollte er das Gegenteil beweisen. Ich hatte eher eine Nebenrolle - in der Schule war meine Figur eine Jahrgangsstufe unter Jeremy, und nebenbei war ich in der schwulen Jugendgruppe der Schule aktiv. Da einer der verschwundenen Jungs regelmäßig bei unseren Treffen gewesen war, hatten Jeremy und ich ein paar Mal miteinander zu tun.
Das war ja alles ganz okay, mich störte nur eines: Für den Film musste ich mir die Haare blondieren. Als Fiona mir das erzählt hatte, wäre ich ihr im ersten Moment fast an den Hals gesprungen - aber bestimmt nicht vor Begeisterung. Ich mochte meine Haarfarbe und blond würde bestimmt künstlich aussehen. Gerade jetzt im Spätsommer störte mich das ... ich hatte viel Zeit draußen verbracht und die Sonne hatte meine Haare ein bisschen gebleicht, was ich ziemlich gut fand. Aber in diesem Punkt ließ Fiona nicht mit sich reden. Passenderweise wurde ich im Film von allen nur mit »Blondie« angesprochen. Als ich die Stelle zum ersten Mal las, musste ich natürlich gleich wieder an David denken, der denselben Spitznamen hatte. Überhaupt erinnerte mich die ganze Figur so ein bisschen an David, aber der Drehbuchschreiber konnte ihn wohl kaum kennen.
Das Buch, auf dem der Film basierte, war ein Jahr zuvor erschienen. Ein gewisser Stewart P. Colham hatte es geschrieben - irgendwie war es typisch für die Amis, dass sie immer einen zweiten Vornamen hatten und den auch noch abkürzten. Selbst Rip hatte auf seinem neuen Praxisschild »Ripley A. M. Masters« stehen - Andrew und Michael waren seine weiteren Vornamen. Und wo wir schon beim Thema »Namen« waren: Ich hatte noch recht gut in Erinnerung, was für Probleme die anderen beim letzten Mal mit meinem Namen gehabt hatten, und darum hatte ich mich entschlossen, mich ab sofort »Jonathan Reilly« zu nennen. Das war für mich okay - der Nachname blieb, die meisten wussten, wer gemeint war und der Name führte zu viel weniger Problemen als der eigentlich ungarische »Janosch«. Was allerdings nichts daran änderte, dass ich meinen Namen immer noch mochte.
Colhams Buch war jedenfalls ein voller Erfolg gewesen - die Kritiker hatten sich regelrecht überschlagen mit Lobeshymnen, und binnen kürzester Zeit war das Ding ziemlich hoch in die Bestsellerlisten geschossen. Steward P. Colham selbst war jedoch die ganze Zeit im Hintergrund geblieben. Er hatte nur wenige Interviews gegeben, und im Gegensatz zu anderen aktuellen Autoren war er in keiner einzigen Talkshow zu Gast gewesen. Die ersten Gerüchte über eine Verfilmung waren schon seit einiger Zeit im Umlauf gewesen, aber jetzt bestätigte sich das Ganze - und ich war live mit dabei. Allein dieser Gedanke war schon aufregend. Und der Hauptdarsteller genauso ...
»Ist der Kaffee hier genießbar?«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. »Im Zweifelsfalle beschwer' dich bei dem Typen mit dem Grinsen da drüben, der Produktionsassistent hat das Ding verbrochen.« Richie - der sich zu recht angesprochen fühlte - grinste und gab mir dann ein Zeichen, mich mal umzudrehen. Das tat ich, und mir fiel fast der Kaffeebecher aus der Hand. Natürlich hatte ich die Stimme nicht erkannt, weil ich vorher nur die deutsche Synchro gehört hatte ... aber dieses charmante Lächeln war einmalig. »Äh ... hi, Jeremy ... äh, ich meine natürlich, Scott.« Er grinste. »Kein Problem, such' dir was aus. Und du bist?« »Jonathan ... äh, Janosch, ... Blondie im Film. Ach, nenn mich einfach Johnny, das tun eh alle hier.«
Er sah mich etwas verwirrt an. »Moment mal, wie denn jetzt?« Richie kam zu uns. »Also, ganz einfach: Eigentlich heißt er Janosch, aber das kann keiner hier aussprechen und darum sagen alle nur Johnny zu ihm. Darum hat er sich jetzt seinen Jonathan als Künstlernamen zugelegt, und Blondie ist er im Film. Alles klar?« Scott nickte. »Logisch. Aber was bitteschön ist an 'Janosch' so schwer?« Er sprach den Namen ohne Probleme aus, und ich konnte mich nicht erinnern wann mein Vorname - den ich ja nun seit immerhin 18 Jahren kannte - so gut geklungen hatte. »Frag' deine Landsleute«, antworte ich, während ich dahinschmolz.
»Du bist kein Amerikaner?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Deutscher.« »Cool, woher?«, fragte er interessiert. »Hamburg.« Ich wartete auf einen Spruch in Richtung »Kenn' ich.« oder »War ich schon mal.«, aber nichts dergleichen. »Soll nett sein, ich war noch nie da.« Hm ... das Angebot ihm mal die Stadt zu zeigen, könnte er wohl falsch verstehen. Statt dessen nickte ich nur. »Die Stadt ist toll ... ganz anders als L.A.« Scott winkte ab. »L.A. ist viel zu groß. Hier kann man sich ja schon beim Einkaufen verlaufen. Was anderes ... bist du wirklich schwul oder spielst du das nur?« Wenn er mich nicht schon durch seine bloße Anwesenheit völlig aus dem Konzept gebracht hätte, dann wäre es spätestens jetzt soweit gewesen.
»Wie kommst du denn da drauf?«, fragte ich entsprechend überrascht. Er zuckte mit den Schultern. »Nur so, interessiert mich halt, mit wem ich es so zu tun hab'.« »Ja, ich bin schwul. Und wenn du 'n Problem damit hast sag's gleich, ja?« Er grinste. »Hey, keine Sorge - ich hab' nichts gegen Schwule, ein paar von meinen ...« Ich unterbrach ihn. »... von deinen besten Freunden sind auch schwul, stimmt's?« Langsam hing mir der Spruch zum Hals 'raus, ich wusste nicht wie oft ich ihn schon gehört hatte. Wieder grinste er. »Jo. Du scheinst ja über mich Bescheid zu wissen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nö, aber ihr Heteros seid manchmal echt berechenbar.« Scott zwinkerte mir zu. »Wer sagt denn, dass ich hetero bin?« Mir fiel die Kinnlade herunter, und Scott drehte sich um und ließ mich stehen ...
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