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Ocean

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Noch 25 Meilen bis Hermosa Beach. Ich sah auf die Uhr. Viertel nach zwei. Ich lag gut in der Zeit.

Ich lehnte mich zurück, entspannte mich und drehte das Radio etwas lauter. Es lief »Be my baby« von den Ronettes. Das liebte ich so an Amerika ... man fand immer den passenden Sender, und ich mochte nun mal Oldies und Lovesongs ....

Es war völlig verrückt. Vorgestern hatte ich es erfahren. Ich war zunächst wie vor den Kopf gestoßen, als ich es gelesen hatte. Aber es stimmte. Gut, wenn man Beziehungen hatte ...

Das hört sich alles ziemlich verworren an, oder? Okay, gut, dann erzähl' ich der Reihe nach. Also, ich bin Phil. Okay, Dad, Phillip Johannes Lehmann der Zweite. Ich habe seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu meinem alten Herren, und trotzdem hat er noch Einfluss auf mich ....

Na ja, kommen wir zum Äußeren: ich bin 21 Jahre jung - fühlte mich zeitweise allerdings wesentlich älter und wurde auch so eingeschätzt. Ungefähr einen Meter 88 bin ich lang, habe dunkelblondes Haar und graublaue Augen. Eigentlich bin ich Brillenträger, aber seit einiger Zeit war ich auf Kontaktlinsen ausgewichen, weil ich mir mit Brille nicht gefiel. Lag es daran, dass ich schwul war, oder gibt es auch sonst eitle Männer? Wie auch immer.

Ich war in der Nähe von Berlin aufgewachsen, einem kleinen Vorort dieser dreckigen Großstadt, die im Wesentlichen von der Kriminalität beherrscht wurde. Die großen Gangster waren zwar schon lange tot, aber ihre Erben hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Ich hasste die Stadt.

Meine Eltern waren seit zehn Jahren geschieden, und das war auch besser so. Meine Mutter war immer diejenige, die arbeiten musste, während mein Vater das Geld, das sie mühsam verdiente, sofort wieder versoff. Schließlich hatte sie jedoch den Mut ihn zu verlassen ... und zu dieser Entscheidung kann ich ihr bis heute nur gratulieren.

Wer in Mathe ein wenig aufgepasst hat, dem wird aufgefallen sein, dass ich bei der Scheidung meiner Eltern knapp zwölf war, also noch elf, um genau zu sein. Ein schwieriges Alter .... glaubt mir, Leute, es wird bei euch nicht anders gewesen sein.

Tja ... wie auch immer, zwischen meiner Mutter und mir flogen in der Zeit ganz schön die Fetzen, und das Jugendamt, dass sich eingeschaltet hatte, bot uns eine »Internatsunterbringung« an. Schöne Bezeichnung. Und der Laden, den wir uns zusammen ansahen, wirkte zunächst auch ganz toll. Ob ich mein Fahrrad denn mitbringen dürfte, und meinen Computer (ich hatte damals gerade angefangen, mit einem C64 herumzuspielen)? Klar durfte ich ....

Da ich nie wirkliche Freunde gehabt hatte, gefiel mir der Gedanke, immer mit Jungs in meinem Alter zusammen sein zu können, ohne ständig Vorschriften ... dachte ich jedenfalls ... aber wie so vieles war auch dies ein Trugschluss. Es war nicht der erste Irrtum in meinem Leben gewesen, und es sollte auch nicht der letzte werden.

Ich kam also in dieses Heim. Okay, mit zwei von den Jungs dort kam ich von Anfang an recht gut klar. Mit Timo flogen zwar öfter mal die Fetzen, aber im Großen und Ganzen verstanden wir uns recht gut. Er war drei Monate älter als ich, aber wir beide waren mit Abstand die Jüngsten in unserer Gruppe. Also rauften wir uns zusammen.

Der andere war Olaf. Auch ein netter Typ, aber irgendwie ... hm, schwer zu beschreiben. Eigentlich mochte ich ihn, aber manchmal drehte er völlig ab. Er wurde regelrecht unzurechnungsfähig, schrie alles und jeden an, und ließ sich von absolut niemandem beruhigen. Wir verbrachten am Anfang recht viel Zeit zusammen. Nach drei Jahren ging er schließlich wieder zu seinen Eltern, nachdem er einige Einbrüche hinter sich gebracht hatte ...

Manchmal dachte ich auch heute noch an ihn. Was wohl aus ihm geworden war? Ich wusste es nicht. Wir hatten uns sofort aus den Augen verloren. Einerseits fand ich es schade, andererseits war es wohl besser so.

Timo und ich hatten eine gemeinsame Leidenschaft: Michael Parker. Dieser Michael Parker war Schauspieler, Amerikaner natürlich. In seiner ersten Rolle, die ihn hier in Europa bekannt gemacht hatte, spielte er einen Polizisten, der ein sprechendes Auto fuhr. Wahnsinn. Timo und ich waren fasziniert von diesem Typen. Wir himmelten ihn regelrecht an. Und als er dann auch noch seine ersten Platten machte und diese auch in Deutschland erfolgreich waren, versuchten wir natürlich, so schnell wie möglich alles über ihn zu erfahren und uns diese Platten zu besorgen ....

Während ich so darüber nachdachte, musste ich grinsen. Platten. Schallplatten aus Vinyl. Schwarz, groß und bei unserer Behandlung natürlich nicht besonders wohlklingend. Aber wir liebten Michael Parker. Und seine Platten.

Dann kam eine neue Serie. Die schwimmenden Retter aus Kalifornien. Eigentlich war diese Serie nicht so toll, und im Laufe der Zeit wich die Handlung einigen Frauen, die mehr durch äußerliche Schönheit glänzten denn durch brillante Dialoge oder was auch immer. Wenn man denn auf Frauen stand.

Wenn ich es so richtig bedenke, muss das eigentlich die Zeit gewesen sein, wo mir klar wurde, dass ich schwul bin. Michael Parker spielte den Boss dieses Teams, und neben seinem Job wurde natürlich auch etwas von seinem Privatleben gezeigt. Klar, dass Michael glücklich verheiratet gewesen war und auch Kinder hatte, genauer gesagt: einen Sohn. Zumindest in der Serie.

Dieser Sohn wurde von Brendan Ringer gespielt. Dreizehn war er damals, als die ersten Folgen gedreht worden waren, nur ein wenig älter als ich, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Was allerdings daran lag, dass die ersten Folgen der Serie erst anderthalb Jahre nach Drehbeginn hier in Deutschland ausgestrahlt wurden.

Brendan faszinierte mich wirklich. Trotz Timo und Olaf war ich manchmal ziemlich einsam, und so fing ich an, zu sammeln. Ich sammelte über Brendan alles, was ich finden konnte. Nicht nur über Brendan - es gab auch noch ein paar andere, die mich interessierten, zum Beispiel den Boy, der damals eine der Hauptrollen im Zweiten Teil von »Die Killermaschine« mitgespielt hatte - Walt Fairlane hieß er.

Aber immer wieder war Brendan derjenige, der seine Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Auch in Zeiten, in denen es mir richtig schlecht ging. Ich hatte zwar nie etwas mit Drogen zu tun gehabt - abgesehen davon, dass ich mit siebzehn das Rauchen angefangen hatte - aber trotzdem gab es ein paar Mal ziemliche Tiefpunkte.

Ich hatte an Selbstmord gedacht. Oft. Und zwei oder drei Male war ich nur ganz knapp davor gewesen. Ich erinnere mich noch genau: einmal stand ich abends an der Bundesstraße, die durch unseren Ort führte. Ich sah einen großen LKW kommen. Nur zwei Schritte ... einfach auf die Straße gehen, und in wenigen Sekunden wäre alles vorbei. Ich würde davon wahrscheinlich nicht mehr viel mitbekommen. Und wenn ich den richtigen Moment abgepasst hätte, dann hätte der Fahrer wahrscheinlich nicht mal mehr den Fuß vom Gas nehmen können, bevor er mich erwischt hätte.

Ich spannte meine Muskeln an, wollte mich auf die Straße bewegen, als ich plötzlich Brendans Gesicht vor mir sah. Sein strahlendes Lächeln, seine Augen. Ein Foto aus einem Zeitungsartikel, der in meinem Zimmer sorgfältig ausgeschnitten und abgeheftet in einer Mappe lag. Mit diesen Mappen war ich pedantischer, als ich es je mit meinen Schulaufgaben oder sonst etwas gewesen war.

Wie auch immer. Mir schoss plötzlich nur ein Gedanke durch den Kopf. In diese Sachen hatte ich verdammt viel Arbeit 'reingesteckt, und das jetzt alles aufgeben? Nein. Nein, so schlecht konnte es mir gar nicht gehen. Ich trat einige Schritte zurück. Erst jetzt viel mir auf, dass der LKW schon etwas abgebremst hatte, als wenn der Fahrer meine Gedanken gelesen hätte. Er sah mich kurz an, bevor er Gas gab und weiterfuhr.

An diesem Abend ging ich nach Hause, und ich hatte mich ein bisschen verändert. Nicht viel, aber es war so. Das ganze hört sich vielleicht verdammt kitschig an, aber glaubt mir: es war wirklich so.

Brendan war in dem Moment aufgetaucht, wo ich ihn brauchte - wenn auch nur in meinem Kopf - und ich hatte das Gefühl, als schuldete ich ihm etwas.

Ungefähr zwei Jahre später bekam ich zum ersten Mal Kontakt mit dem Internet. Ich war völlig fasziniert, vor allem, als ich feststellte, auf was für Informationen ich nun Zugriff hatte. Es war die größte Datenbank der Welt. Und natürlich suchte ich als erstes nach Informationen über Brendan.

Aus der Serie mit Michael Parker war er nach der ersten Staffel ausgestiegen, oder besser gesagt: ausgestiegen worden. Daraufhin hatte er in einer Comedy-Serie mitgespielt, die zwar am Anfang ganz witzig war, aber zusehends an Niveau verlor - soweit amerikanische Comedy-Serien überhaupt ein Niveau hatte, außer M*A*S*H viel mir da eigentlich keine ein, und die kannte ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht.

Und eines Tages stieß ich schließlich auf das, was ich schon fast befürchtet hatte: Brendan war in einer Reha-Klinik. Drogenmissbrauch. Als ich das las, spürte ich einen Stich. Es tat mir einfach weh, das zu erfahren.

Ich dachte darüber nach, wie verdammt einsam dieser Junge doch sein musste. Mittlerweile war er zweiundzwanzig, hatte seine prominenteste Phase wahrscheinlich schon hinter sich, wahrscheinlich war auch nicht mehr allzu viel von dem Geld, dass er verdient hatte, übrig - schließlich wurden die Kids, wenn sie nicht gerade Kevin hießen und allein zuhause waren, nicht so gut bezahlt - und wahrscheinlich keine richtigen Freunde. Ich hatte auch noch nie gehört, dass er eine feste Freundin gehabt hätte.

Ich war mittlerweile in der Phase, wo ich gutaussehende Jungs, die langfristig nicht in festen Händen waren, immer als gutes Zeichen wertete. Schließlich konnte das ein ziemlich gutes Indiz dafür sein, dass sie auch schwul waren. Und selbst wenn nicht ... ein bisschen träumen war doch wohl erlaubt?

Wie auch immer ... Brendan musste verdammt einsam sein, dass er so tief gesunken war. Einsam und verzweifelt. In dem Jungen steckte Talent, das war immer zu sehen gewesen, und jetzt wurde er für eine drittklassige Comedy-Show verheizt. Ich fand es unfair - schließlich hatte er mir viele schöne Stunden bereitet, einfach dadurch, dass er so prominent war, dass über ihn berichtet wurde und dass man sich dadurch ein bisschen in die Welt von Glanz und Glamour hineinversetzen konnte. Und ich stand nach wie vor auf dem Standpunkt, dass er mich vor einer verdammt dämlichen Entscheidung bewahrt hatte.

Ich suchte weiter, und es dauerte eine Weile, bis ich eine weitere Information bekam, die mich allerdings nicht besonders aufbaute: es hieß, dass Brendan kurz vorher an einer Überdosis Heroin gestorben war.

Warum hatte es so enden müssen? Ich war an diesem Abend wie betäubt und zündete sogar eine Kerze an. Ich dachte den ganzen Abend nur an ihn. Warum ausgerechnet er? Er hatte es einfach nicht verdient ...

Nach einigen Tagen war ich darüber hinweg - schließlich kannte ich ihn im Endeffekt doch nicht persönlich, und die Distanz war natürlich viel zu groß. Ich hätte sowieso nichts für ihn tun können. Gar nichts? Wie gesagt, in den letzten Jahren war sein Prominenz-Faktor doch ein wenig gesunken, und ich dachte, mittlerweile könnte man ihn durchaus wieder auf der Straße treffen - besser gesagt: hätte ihn treffen können. Schließlich war da nur noch das traurige Gefühl, wenn ich irgendwo seinen Namen hörte oder las.

Und dann, eines Tages, traf mich fast der Schlag: »Entgegen der Darstellung der Zeitung XYZ ist Brendan Ringer nicht am 31. Oktober 1998 verstorben.« Er lebte? Und warum hatte man dann nichts mehr von ihm gehört? Seltsam ....

So sehr ich mich auch über diese Nachricht freute, ganz glauben konnte ich es immer noch nicht. Also was konnte ich tun? Ich hing meinen Gedanken nach, als es an der Tür klingelte .... das Ganze war knapp sechs Wochen her. Unsere Postbotin. Etwas verschlafen - ich hatte noch im Bett gelegen - öffnete ich die Tür. »Ein Einschreiben für sie.«, sagte sie und drückte mir einen Block und einen Kugelschreiber in die Hand. Ich unterschrieb und nahm den Brief entgegen.

Und dieser Brief vereinfachte meine Überlegungen schlagartig. Ich hatte vor einiger Zeit bei einem Preisausschreiben mitgebracht, das eine große Computerfirma ausgeschrieben hatte, um ihr neues Produkt zu vermarkten. Eigentlich war ich scharf auf einen neuen Rechner - mein alter PC war schon fast museumsreif - aber ich hatte den Hauptpreis gewonnen: eine glatte Million!!! Donnerwetter. Ich war platt. Das würde für mehr reichen als nur einen neuen Rechner.

Ich sprach mit meinem Chef, und der genehmigte mir drei Monate unbezahlten Urlaub. Vier Wochen hatte ich für dieses Jahr sowieso noch - die waren zudem auch noch bezahlt - und die hängte ich gleich dran. Perfekt.

Als ich schließlich zum Reisebüro ging und die Tickets buchte, zitterten mir schon ein wenig die Hände. Ich hatte noch einmal lange über Brendan nachgedacht und über das, was ich für ihn empfand. Und ich war zu dem Schluss gekommen, dass aus dieser Vergötterung, die ich einst für ihn empfand, mittlerweile so etwas wie Liebe geworden war - auch auf die Gefahr hin, dass ich ihn nicht mal zu Gesicht bekommen würde.

Und jetzt saß ich hier in einem gemieteten Ford, fuhr über die Highways von Kalifornien und würde in nicht mal einer halben Stunde bei ihm sein. Zumindest bei seinem Haus. Ob er da war? Ob er aufmachen würde? Und dann? Tja, und dann ...

Der Moderator im Radio erzählte etwas über den nächsten Song, und ich hörte eigentlich erst richtig hin, als er das Wort 'Chess' erwähnte. Chess war eines meiner Lieblingsmusicals, und neben »I know him so well« und »One Night in Bangkok«, die es damals beide hoch in die Charts geschafft hatten, gab es noch einige andere gute Songs in der Show.

Der nächste Song war jedenfalls »Nobody's on nobodys side« ... wie überaus passend. Wahrscheinlich war dem DJ gar nicht bewusst, welche Ironie er an den Tag legte ... wie denn auch? Es konnte ja gar keiner wissen.

Ich erreichte Hermosa Beach, einen Vorort von Los Angeles, und war einen Blick auf meinen Stadtplan, wo ich mir den Weg rot angestrichen hatte. Noch drei Blocks geradeaus, dann links, noch zwei Blocks, und einmal nach rechts. Dann Nummer 472.

In der Einfahrt stand ein dunkelblauer Honda. Ich hatte irgendwann mal gelesen, dass Brendan so einen Wagen fuhr, hatte allerdings damit gerechnet, dass er ihn schon lange wieder verkauft hatte.

Ich parkte den Wagen am Straßenrand, blieb einen Moment sitzen und stieg dann aus. Langsam wurde ich nervös. So nervös, dass mir der Schlüsselbund aus der Hand fiel ... zum Glück landete er nicht im Rinnstein, sondern direkt auf dem Asphalt.

Schließlich ging ich die Stufen zur Haustür hoch. Der Vorgarten war gut gepflegt und auch das Haus war hervorragend in Schuss. Und bestimmt nicht billig. Klar, wer in dieser Ecke von Hermosa Beach wohnte, brauchte zu Fuß keine fünf Minuten zum Strand des Pazifiks. Und außerdem war das Haus ziemlich groß.

Gerade als ich klingeln wollte, sprach mich von hinten jemand an. »Kann ich Ihnen helfen?« Ich drehte mich um. Vor mir stand ein junges Mädchen, ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Brendan - also musste sie wohl seine Schwester sein.

« Ich ... äh .... ich wollte ... könnte ich vielleicht mit Brendan sprechen?«, fragte ich dann. Sie musterte mich von oben bis unten. »Darf ich fragen, wer sie sind?«, fragte sie dann - nicht übertrieben freundlich, aber auch nicht unfreundlich. »Mein Name ist Phil Lehmann.«

Sie nickte. »Anne Ringer. Ich bin Brendans Schwester. Was wollen Sie von meinem Bruder?« Ich suchte krampfhaft nach einer Antwort. »Ich ... ich würde gerne mit ihm reden. Ich bin ... ein ziemlich treuer Fan von ihm.« Sie verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen. »Ah ja ... von mir aus.«

Wir beide schwiegen einen Moment, bis ich schließlich fragte: »Ist er zuhause?« Sie nickte. »Ja. Und mit etwas Glück ist er sogar schon auf. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel von ihm ... er hat sehr abgebaut in letzter Zeit.«, sagte sie.

Sie ging an mir vorbei ins Haus und bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mitkommen sollte. Ich folgte ihr. Auch von innen war das Haus sehr ordentlich. Eine Stimme rief aus einem anderen Zimmer herüber. »Anne, wen hast Du da mitgebracht?« Sie lächelte. »Einen Moment bitte ... sie sollten sich vielleicht kurz bei Mom vorstellen, bevor sie wieder wer weiß was denkt.«

Ich folgte Anne in die Küche, und dort stand - ich erkannte sie auf den ersten Blick - Brendans Mutter. Ich hatte sie auf verschiedenen Fotos gesehen, aber die Bilder waren alle schon ein paar Jahre alt. Ich überschlug das Ganze im Kopf. Brendans älteste Schwester musste jetzt Anfang dreißig sein, dass hieß also, dass seine Mutter Anfang, Mitte fünfzig sein musste. Aber sie sah älter aus.

« Mom, der junge Mann hier möchte zu Brendan. Ist er schon auf?« Sie sah mich argwöhnisch an, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und kam dann auf mich zu. »Was wollen Sie von meinem Sohn?«, fragte sie - es klang fast, als ob sie mich für einen Kriminellen hielt.

« Mrs. Ringer, ich bin ein großer Fan von Brendan, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, und ich würde einfach gerne mal mit ihm reden.«, sagte ich langsam. Sie nickte. »Tja ... das passiert ihm nicht mehr oft ...«, sagte sie, fast mehr zu sich selbst als zu mir.

Dann wurde sie sich meiner Anwesenheit wieder bewusst. »Okay, von mir aus gehen sie zu ihm.« Ich lächelte sie dankbar an. So sehr hatte ich mich nach diesem Moment gesehnt ... jetzt war eigentlich nur noch die Frage, ob er überhaupt mit mir sprechen wollte. Daran hatte ich, um ehrlich zu sein, immer noch so meine Zweifel. Ich wusste nicht einmal genau, warum, sie waren einfach da.

Anne bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. »Okay, er hat sein Zimmer unten. Geh' einfach 'runter, die erste Tür rechts.« sagte sie. »Einfach so?« Sie lächelte. »Hey, du hast hier auch einfach so auf der Matte gestanden, also brauchst du dich jetzt wohl nicht zu genieren, oder?«, fragte sie mich. Nein, das brauchte ich wohl nicht.

Ich ging nach unten, holte tief Luft und klopfte dann an seiner Zimmertür. Ein verschlafenes Grummeln klang mir entgegen. »Mum, lass' mich noch 'ne Stunde schlafen, okay?« In diesem Moment rief seine Mutter von oben: »Wenn er noch schläft, wecken sie ihn ruhig. Es wird sowieso Zeit, dass er aufsteht. Oder ... kommen sie einfach noch mal kurz hoch.« Na, das konnte ja heiter werden.

Ich ging wieder in die Küche, wo seine Mutter mit einem Tablett und einige Bechern hantierte. »Trinken sie Kaffee?« fragte sie. Ich war etwas erstaunt über die Frage und sagte deshalb einfach nur: »Ja.« »Gut.« Sie goss zwei Becher voll und drückte sie mir in die Hand. »Zucker, Milch?«, fragte sie. »Äh ... Zucker ja, Milch nein.«, sagte ich, immer noch verblüfft.

»Wie Brendan.« sagte sie, dann steckte sie mir einige Tütchen Zucker in die Hemdtasche und stellte zwei Löffel in die Kaffeebecher. »Okay, wenn er noch nicht ganz wach ist, stell' einfach die Kaffeetasse auf seinen Nachttisch, dann wird er schon wieder wach.« Ich konnte nicht anders, aber seine Mutter hatte, wenn man sie kannte, eine sehr sympathische Art an sich.

« Und so wecken sie ihn morgens auch immer?« fragte ich sie. Sie lächelte. »Nein, ich geb' ihm meistens noch einen Kuss dazu. Aber ich denke nicht, dass du das auch ausprobieren willst.« sagte sie. Das Eis war gebrochen - wir mussten beide lachen. Andererseits wusste sie nicht, wie gern ich das ausprobieren würde ...

Ich nahm die Kaffeebecher und ging wieder nach unten, wo ich noch einmal an die Tür klopfte. Wieder nur ein verschlafenes Brummeln. »Mum, ich will noch nicht aufstehen.« Ich beschloss, einfach 'reinzugehen.

Sein Zimmer war dunkel. Ich stellte seinen Kaffeebecher auf den Nachttisch, meinen auf den Schreibtisch und öffnete die Vorhänge. Dann nahm ich die Zuckertüten aus der Hemdtasche. »Einen Beutel oder zwei, wie trinkst du den Kaffee?«, fragte ich ihn.

Er hob den Kopf und blinzelte mich verschlafen an. »Wer bist du denn?« fragte er dann gähnend? »Ich bin Phil. Komm, steh' wenigstens auf. Schließlich bin ich extra aus Berlin hergekommen.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Aus Berlin? Aus Deutschland?«, fragte er dann.

Ich nickte. »Ja, genau. Also, wie willst Du Deinen Kaffee.« »Äh ... schwarz, danke.« Er nahm die Tasse und trank den halben Becher in einem Zug aus. »Komisch, Deine Mutter meinte gerade, dass Du ihn mit Zucker trinkst.« Er nickte. »Ja, tu' ich normalerweise auch. Aber nicht die erste Tasse.«

Ich setzte mich hin. Brendan sah sich suchend um. »Ah, da.« Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch - nur mit einer Boxershorts bekleidet. Zum ersten Mal sah ich ihn in seiner vollen Schönheit - seine Beine. Seine Lenden - soweit ich sie sah, die Hose war ziemlich weit. Sein Bauch, seine Brust. Seine Bauchmuskeln waren recht gut ausgebildet, aber er hatte abgenommen. Man konnte seine Rippen deutlich sehen.

Dann sah ich in sein Gesicht - und bekam einen gehörigen Schreck. Er war blass, hatte eingefallene Wangen, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Von dieser äußeren Schönheit, die mich damals so fasziniert hatte, war im Moment nicht viel übrig.

Aber seine Ausstrahlung war immer noch da. Als er an mir vorbeiging, konnte ich seine Wärme auf die knappe Entfernung spüren. Es waren nur ein paar Zentimeter, die uns trennten. Hatte ich ihn zu auffällig gemustert? Jedenfalls drehte er sich zu mir um und sah mich einen Moment lang an, blickte mir tief in die Augen.

Dann ging er weiter zum Schreibtisch und nahm den Aschenbecher, der darauf stand. Er setzte sich mit überkreuzten Beinen aufs Bett und griff nach einer Zigarettenschachtel. Meine Chance. »Darf ich dir mal 'ne europäische anbieten?« fragte ich und hielt ihm meine Gauloises-Schachtel unter die Nase.

»Welche sind das denn?«, fragte er und nahm mir die Schachtel aus der Hand. »Gauloises. Ich mag's gern französisch.« sagte ich ... und dann wurde mir klar, dass ich mir mal wieder einen klassischen Freud'schen Versprecher geleistet hatte. Ich hatte gesagt, was ich dachte, aber eigentlich nicht aussprechen wollte. Na ja, jetzt war es sowieso zu spät.

Brendan grinste. »Aha. Na ja ... wenn ich darf.« »Bitte ... sonst hätte ich sie dir wohl kaum angeboten.« Er nahm sich eine und zündete sie an. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, bekam er einen Hustenanfall - Gauloises waren eben nicht jedermanns Sache ...

Langsam, aber sicher kamen wir miteinander ins Gespräch. Wir plauderten über die unterschiedlichsten Dinge, bis ich das Gespräch langsam, aber sicher auf ihn brachte.

»Man hat in letzter Zeit ziemlich viel über Dich gelesen.« »Ach, ja?«, sagte er, leicht verbittert. »Was denn so?« fragte er dann, während er eine Rauchwolke ausblies.

»Von Drogengeschichten bis einschließlich deiner Todesanzeige so ziemlich alles, außer Hochzeitsgerüchten.« Wir schwiegen beide einen Moment, bis ich schließlich nachhakte. »Brendan, ich bin nicht von der Presse, und nichts davon wird durch mich an die Öffentlichkeit kommen. Ich möchte nur wissen, was davon wahr ist und was nicht.«

Er atmete ruhig, zog noch einmal an seiner Zigarette. Dann drückte er die Kippe im Aschenbecher aus, legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Warum willst du das wissen? Was hast du davon?« fragte er dann.

Ich erzählte ihm alles, was ich hier auch schon eingangs erwähnt hatte - wirklich alles, ich ließ nichts aus. Bis auf eine klitzekleine Tatsache, nämlich die, dass ich in ihn verliebt war. Allerdings war ich mir gar nicht so sicher, ob ich ihm das momentan überhaupt erzählen wollte.

Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis er überhaupt etwas sagte. Seine Schultern zitterten ein wenig. »Das klingt ja fast, als ob ich wenigstens einmal im Leben zu etwas zu Nutze gewesen wäre.«, sagte er dann, und diesmal klang es ziemlich bitter.

Ich war entsetzt. Mit der Reaktion hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet. Ich wusste einen Moment lang nicht, was ich dazu sagen sollte. Wie denn auch? Ich überlegte fieberhaft. Doch dann fing er an, zu erzählen.

» Ich denke mal, Du weißt über mein Leben vor der Kamera recht gut Bescheid, wenigstens nach dem, was du so erzählt hast. Also fange ich einfach mal bei den Lifeguards an. Im Frühjahr 1989 begannen die Dreharbeiten dazu, und Michael Parker spielte meinen Vater. Ich war völlig stolz darauf, mit ihm zusammen spielen zu dürfen. Wir verstanden uns total gut.

Dann kam das Jahr 1991. Ich bekam gleichzeitig zwei Rollen angeboten: eine in einem Film mit der Sängerin - du weißt schon - und die Rolle in dieser Comedyserie. Kenneth Fudd kannte ich schon aus einigen anderen Filmen, und Carrie Winters war damals ein heiß begehrtes Model. Sie hatte sich ja auch noch recht gut gehalten.

Mit dem Film gab es keine Probleme, aber was die Serie anbetraf, stellte Michael - der ja mittlerweile auch Produzent von 'Lifeguards' war, vor die Wahl: entweder 'Lifeguards' oder 'Collective Chaos'. Tja. Und ich hab' wohl die falsche Entscheidung getroffen. 'Lifeguards' war damals nicht besonders erfolgreich, das hat sich ja mittlerweile geändert. Aber 'Collective Chaos' sollte ganz groß herauskommen.

Am Set verstanden wir uns prima, das gab nie Schwierigkeiten. Aber die Rolle war es, die mich störte. Am Anfang war die Figur T.J. noch halbwegs witzig, aber später wurde aus ihm nur noch der Vollidiot. Die Leute fingen an, mich mit T.J. zu identifizieren.

Tja, und irgendwann kam ich dann zum ersten Mal an Stoff. Ich fing an mit Koks. Das Zeug war gar nicht mal schlecht, und es gab mir das Gefühl, nicht völlig wertlos zu sein. Ich lebte wieder auf - zunächst. Ich hatte die Wirkung und vor allem die Sucht ziemlich unterschätzt. Nachdem mir Koks nichts mehr brachte, stieg ich dann auf Heroin um. Ich versuchte, das vor meinen Eltern zu verbergen, hatte aber immer etwas davon im Haus.

Eines Abends ging es mir völlig dreckig - ich hatte selbst versucht, davon wegzukommen, aber der kalte Entzug klappte einfach nicht - und ich wollte nicht erst zum Strand, um mir das Zeug zu spritzen. Tja, und in meiner Panik habe ich es dann wohl etwas überdosiert. Zum Glück keine tödliche Überdosis. Obwohl ich manchmal denke, dass es vielleicht besser gewesen wäre.

Jedenfalls fand mich meine Mutter, und meine Eltern brachten mich sofort ins Krankenhaus. Tja, und dann haben meine Eltern mich vor die Wahl gestellt: entweder mache ich einen Entzug mit, oder ich suche mir eine andere Wohnung.

Meine Schwester war die einzige, die überhaupt bedingungslos zu mir gehalten hat. Sie hat mir auch den Mut gegeben, den Entzug durchzustehen. Und es war verdammt hart. Ich habe nächtelang schreiend in meinem Zimmer gelegen, weil ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in dieser Zeit sterben wollte.

Irgendwann, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, sagte mir der Arzt, dass das schlimmste überstanden wäre und ich jetzt anfangen könnte, mich wieder an ein normales Leben zu gewöhnen. Ich bekam wieder normales Essen, fing an, Sport zu machen, und langsam ging es wieder bergauf.

Tja, und seit zwei Monaten bin ich wieder zuhause.«

Er hatte das ganze kühl und unbeteiligt erzählt, fast als wenn er nur ein außenstehender Beobachter gewesen wäre. Trotzdem war ich entsetzt. Ich hatte so etwas in der Art ja schon befürchtet, aber das es so schlimm war?

Wir beide hingen unseren Gedanken nach. »Siehst Du, Brendan,«, sagte ich dann, »das ist es, was mir so leid tut. Mir hast du damals geholfen, ohne es zu wissen, und für dich war niemand da.«

»Ich weiß.«, sagte er leise. Seine Augen waren feucht. Ich zögerte einen Moment, dann stand ich auf, ging zu ihm und setzte mich zu ihm aufs Bett. Er sah an mir vorbei ins Leere, bemühte sich, seine Gefühle nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Doch in ihm kochte es, das konnte jeder spüren, der auch nur einen Ansatz von Menschenkenntnis hatte.

Ich legte ihm meinen Arm um die Schulter und zog ihn an mich heran. Ich wollte ihn einfach nur trösten, ihm zeigen, dass es jemanden gab, der für ihn da war, der ihn so mochte, wie er war - ohne jegliches sexuelles Interesse, bevor die geneigten Leser sich wieder die Mäuler zerreißen.

Er ließ sich fallen, ließ sich völlig gehen, und alles brach aus ihm hervor. Ich spürte das Zittern seiner Schultern unter meinen Händen, hörte sein Schluchzen, und ich spürte, dass er mich fest an sich heranzog.

So saßen wir eine ganze Weile einfach nur da, er weinte sich aus, ich hielt ihn fest. Keiner von uns sprach in dieser Zeit auch nur ein Wort. Schließlich schob er mich sanft weg, stand auf und sagte: »Sorry, Phil ... äh ... ich ... ich gehe mal schnell duschen.« Offensichtlich war ihm die ganze Situation sehr peinlich. Ich versuchte, das ganze etwas herunterzuspielen und zu überbrücken, in dem ich auf ein anderes Thema auswich. »Soll ich deine Mutter fragen, ob sie noch einen Kaffee für uns hat?«, fragte ich ihn.

Er lächelte. »Okay, mach' das. Ich bin gleich wieder da.« Er nahm sich ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und verschwand dann aus dem Zimmer. In der Tür drehte er sich noch einmal um, als ob er noch etwas sagen wollte, aber dann ließ er es doch.

Ich nahm die leeren Kaffeebecher und ging nach oben in die Küche, wo Brendans Mutter dabei war, einen Salat zuzubereiten. Sie sah auf, als ich hereinkam. »Nanu?«, fragte sie. »Brendan wollte schnell duschen, und da wollte ich ihn nicht stören.« Sie lächelte. »Ist er also endlich aufgestanden?« »Ja, ist er.« »Wollt ihr noch einen Kaffee?« fragte sie. Ich nickte. »Gern, danke.« »Keine Ursache. Du hast die Tassen ja schon mitgebracht.« ,stellte sie fest, aber sie wirkte keineswegs verärgert oder beleidigt.

Sie setzte sich auf einen der Barhocker, die vor dem Küchentresen standen, und zündete sich eine Zigarette an. Dann sah sie mich an. »Ich will dich ja nicht ausquetschen ... aber du scheinst ein ziemlich großer Fan von Brendan zu sein.«, sagte sie. Mit einer Handbewegung bedeutete sie mir, mich neben sie zu setzen.

Ich setzte mich hin. »Hm ... doch, ich denke schon, ja.« »Wo kommst du eigentlich her?« fragte sie. »Aus einem Dorf nahe Berlin.« Sie sah mich überrascht an. »Berlin in Deutschland?« Ich nickte. »Genau das Berlin.«

Sie zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Eine ziemlich weite Reise, nur für einen Fanbesuch, oder findest du nicht?« »Stimmt. Aber ich habe in letzter Zeit so viele schlechte Nachrichten über Brendan gehört, dass ich mich persönlich davon überzeugen wollte, was nun mit ihm los ist und wie es ihm geht.«

»Respekt. Weißt du, die Zeit, in der Brendan viel Fanpost bekommen hat, ist lange vorbei. Und es stehen auch kaum noch mal überraschend Leute vor der Tür, um ein Autogramm zu bekommen. Aber du machst nicht den Eindruck, als ob du nur deswegen hier wärst?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht der Grund. Ich wollte einfach mal mit ihm reden, meinem Idol mal gegenüberstehen.«

»Er wird sich freuen, das zu hören.« Ich lächelte. »Ja, das Gefühl hatte ich auch. Er ist ein unheimlich netter Typ, nicht so abgehoben wie viele andere.« Ihr Gesicht wurde etwas traurig. »Tja ... ich denke, dass er mittlerweile wieder ein ganz normaler Junge ist ... na ja, wenn man in dem Alter noch von einem Jungen sprechen kann. Mal unter uns: ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr erschrocken, als du ihn gesehen hast? Er hat sehr abgebaut in letzter Zeit.«

»Das hat er, aber alles andere wäre auch sehr verwunderlich gewesen. Mrs. Ringer, es ging mir weniger ums Aussehen, sondern um Brendan als Mensch. Ich kenne Einsamkeit verdammt gut, und ich konnte mir vorstellen, wie ihm zumute war. Er hat sich ja nicht gerade den einfachsten Job seines Lebens ausgesucht.« Sie schnaubte fast verächtlich. »Nein, das hat er nicht. Er war auf dem besten Weg, seine Karriere zu machen, und dann wurde er einfach vergessen.« In ihrer Stimme schwang Verbitterung mit.

»Das passiert leider viel zu oft ... und die Idioten, die keine Ahnung von diesem Job haben, die dürfen ihn dann machen.«, fügte ich nachdenklich hinzu.

Ich weiß nicht, wie das Gespräch weiter verlaufen wäre, wenn nicht in diesem Moment Brendan hereingekommen wäre. Er trug eine Jogginghose, ein paar Sportsocken und trocknete sich gerade die Haare ab. Sein Anblick raubte mir förmlich den Atem.

»Gehen wir wieder 'runter zu mir?« fragte er mich. Ich nickte nur. »Okay.« Ich nahm die Kaffeetassen, die seine Mutter zwischenzeitlich wieder gefüllt hatte, und folgte ihm.

In seinem Zimmer räumte er erst einmal ein paar Klamotten von seinem Sofa. »Sorry, aber ich hatte einfach nicht mit Besuch gerechnet, erst recht nicht von so weit her.« sagte er dann grinsend. Er leerte den Aschenbecher und setzte sich dann zu mir aufs Sofa. Dann sah er mich an.

« ÄÄh ... Phil, ich hoffe, ich bin dir vorhin nicht zu nahe getreten?«, fragte er, fast entschuldigend. »Wann, wieso?«, fragte ich zurück. »Als du mich ... na ja ... weißt du, du warst einfach da, und ich brauchte mal wieder jemanden, der ... der mich einfach mal in den Arm nimmt.«, sagte er.

Ich wartete, ob er noch mehr sagen würde. Das tat er nicht. »Wann hattest du eigentlich zuletzt eine Freundin?«, fragte ich ihn ganz unvermittelt. Er sah mich an und schnaubte. »Eine Freundin? Sorry, aber das ...« Ihm wurde wohl schlagartig klar, was er gerade sagte, und er brach den Satz ab. Stattdessen nahm sein Gesicht eine recht gesunde Farbe an.

Aha. Interessant. Das war für mich schon recht eindeutig. Jetzt stellte sich mir nur die Frage, wie ich ihn dazu bringen konnte, mehr zu sagen - und ihn davon zu überzeugen, dass ich damit kein Problem hatte. Aber so weit kam ich gar nicht.

Er rückte ein Stück ab und sagte dann: »Ich glaube ... du solltest jetzt besser gehen.« Was war das denn jetzt? Gerade, wo es interessant wurde, warf er mich 'raus. Toll. Ich war mir nicht bewusst, irgendeinen Fehler gemacht zu haben. »Brendan, ich ...«, fing ich an, aber er unterbrach mich. »Sorry, Phil, es ist nicht persönlich gemeint. Ich bin nur ziemlich mies drauf, und dann geh' ich meiner Umgebung ziemlich schnell auf die Nerven.«, sagte er.

« Bitte ...« fügte er einen Moment später noch hinzu. Okay, das war eindeutig. Ich stand auf und verließ den Raum. Bevor ich hinausging, sagte ich noch: »Schade ... vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder.«

Ich ging durchs Haus und den Vorgarten zu meinem Wagen, setzte mich auf die Motorhaube und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.

Ich hatte ungefähr zehn Minuten so dagesessen, als ich beschloss, zurück zum Hotel zu fahren. Dieser Einsatz war wohl ein Schuss in den Ofen gewesen. Was sollte es. Hatte ich mir ehrlich vorgemacht, eine Chance bei ihm zu haben? Ja ... das hatte ich.

Trotzdem würde ich ihn nie vergessen können, auch wenn unser einziges Treffen so gescheitert war. Vielleicht liefen wir uns ja wirklich noch einmal irgendwann über den Weg. Und wenn? Wie würde es dann aussehen?

Ich griff automatisch in die Jackentasche und wollte den Autoschlüssel herausholen, als mir auffiel, dass ich meine Jacke gar nicht anhatte. Klar - jetzt fiel es mir wieder ein. Ich hatte sie ausgezogen und auf die Couch gelegt, als ich hereingekommen war, und Brendan musste sie vorhin (das war ja erst ein paar Minuten her, fiel mir ein) mit seinen Sachen beiseite geräumt haben.

Also musste ich noch mal 'reingehen. Große Lust hatte ich nicht, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Ich klopfte an der Vordertür, und Brendans Mutter öffnete mir. »Was war denn los?« Ich schüttelte den Kopf. »Nichts wichtiges ... ich muss nur langsam wieder los, ich muss heute Abend wieder in Los Angeles sein.« »Und warum bist du dann noch mal hier?«, fragte sie. »Ich hab' meine Jacke in Brendans Zimmer liegengelassen.« Sie lachte. »Und ich dachte schon, Vergesslichkeit setzt erst in meinem Alter ein.«

Normalerweise hätte ich mit gelacht, aber im Moment war mir absolut nicht danach zumute. Ich war ziemlich niedergeschlagen. Sie schien es zu merken. »Brendan ist bei seiner Schwester, durch den Flur die dritte Tür links. Sag' ihm bitte Bescheid, bevor Du in sein Zimmer gehst, ja?« Ich nickte.

Noch einmal fiel mir auf, wie schön das Haus auch von innen war. Ich fand das angegebene Zimmer und wollte gerade anklopfen, als ich Brendans Stimme hörte. Es klang fast, als würde er weinen. »Verdammt, Anne, vor mir steht mein Traumboy, und ich habe nichts besseres zu tun, als in 'rauszuschmeißen.«, sagte er.

Ich fing an zu zittern. Was hatte ich da eben gehört? Aber es ging schon weiter. Seine Schwester redete beruhigend auf ihn ein. »Hast du seine Nummer? Oder seine Adresse?« Brendan schniefte. »Ich konnte mir ja nicht mal seinen ganzen Namen merken.«

Ich stieß die Tür auf. »Phillip Johannes Lehmann, nur so als Erinnerung. Sorry, ich wollte nicht lauschen.« Sowohl Brendan als auch Anne klappte die Kinnlade herunter. Er stotterte. »Was ... was ... was machst du denn noch hier.« »Ich hatte meine Jacke vergessen und wollte sie mir abholen.«

Er stand auf und kam auf mich zu, blieb aber einige Schritte vor mir stehen. »Phil, ich ... es tut mir leid.«, sagte er. Schön gesagt. Ich wurde schon fast wieder schwach, aber entschied mich nach außen für die harte Tour. »Aha. Tja, Brendan, der Satz vorhin sollte wohl heißen: 'Eine Freundin? Danke, dass muss ich nicht haben' oder so in der Art. Wie auch immer. Das ist völlig okay. Nur ... wenn man schwul ist, sollte man dazu stehen. Es ist nicht leicht, aber es geht. Wenn man wirklich will.«

Und nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu: »Glaub' mir, ich spreche aus Erfahrung.« Er sah mich überrascht an. »Du bist auch ...« »Ja, ich bin schwul. Und ich war in dich verliebt. Seit Jahren. Und du warst immer so weit weg ...«, antwortete ich ruhig.

»Und jetzt?«, fragte er. Ich zuckte die Schultern. »Tja, das hat sich ja wohl erledigt. Wäre sowieso zu schön gewesen, wenn ich bei dir eine Chance gehabt hätte.« Er schwieg. Dann ging er an mir vorbei und sagte: »Komm' bitte mit, ja?« Ich folgte ihm in sein Zimmer.

Er zog meine Jacke aus dem Stapel Klamotten, den er vom Sofa genommen hatte, und gab sie mir. Dann holte er seine eigene aus dem Schrank. »Hast du vielleicht noch Lust, einen kleinen Spaziergang am Strand zu machen?«, fragte er dann. Warum eigentlich nicht? Viel mehr konnte ja nicht kaputtgehen. »Okay, von mir aus.«

Wir gingen gemeinsam über die Straße zum Strand. Es war wirklich nicht weit, und nach ein paar Minuten wehte uns ein angenehmer Lufthauch um die Nase. Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her. Die Sonne stand direkt über dem Horizont, es war ein phantastischer Anblick.

Schließlich drehte er sich um und nahm meine Hand. »Hey ... sorry nochmal wegen vorhin, aber ich hatte Panik, weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest.«, sagte er dann. Dabei sah er mir tief in die Augen. »Wenn Du mich nicht 'rausgeworfen hättest, dann hättest du es kurze Zeit später erfahren.« antwortete ich.

»Und wie hätte das ausgesehen?«, wollte er wissen. »Na ja ... ich wäre etwas näher an dich 'rangerückt, hätte Dich vielleicht hin und wieder mal ganz zufällig berührt, und dann mal abgewartet, was passiert wäre. Oder wir hätten einfach drüber gesprochen.«, sagte ich.

Brendan sah sich um. Wir waren völlig allein, kein Mensch störte uns - zum Glück war Hermosa Beach nicht von Touristen bevölkert. Er ließ seine Hand über meinen Arm gleiten, bis sie meine Schulter erreicht hatte. Dann zog er mich langsam zu sich heran. Wir waren uns ganz nahe. Wieder spürte ich die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Ich roch sein Duschgel und sein Deo. Und dann kam der Moment, von dem ich seit Jahren geträumt hatte: er umarmte mich sanft, umschlang mich mit seinen Armen und küsste mich zärtlich auf den Mund.

Ich schloss die Augen und erwiderte den Kuss. Seine Hände streichelten sanft über meinen Rücken, meinen bahnten sich ihren Weg unter seine Jacke.

Ich weiß nicht, wie lange wir so dagestanden hatten, aber als ich die Augen wieder öffnete, war die Sonne schon ein ganzes Stück im Ozean versunken. »Komm,«, sagte ich, »das sehen wir uns gemeinsam an.« Ich ließ ihn für einen Moment los und setzte mich in den Sand, der noch warm war. Aber seine Hand hielt ich die ganze Zeit über fest.

Er setzte sich direkt neben mich - zwischen uns hätte kein Geldschein mehr Platz gehabt - und legte mir seinen Arm um die Schultern. Meine Hand strich über seinen Oberschenkel. Als ich an seinem Knie angelangt war, ließ ich sie liegen. Jeder von uns genoss die Nähe des andere, und so saßen wir da bis zum Einbruch der Dunkelheit.

»You sail across the ocean
Your dreams have all come true
A golden world is waiting, I'll pray for you «
Klaus Doldinger, »Ocean«


The End

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