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Der Schrei der Möwen
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Informationen
- Story: Der Schrei der Möwen
- Autor: Robin
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Kurzgeschichte
»Mum, ich will nicht fahren, wenn Gregor nicht dabei ist.«
Ich war gerade damit beschäftigt, noch zwei Bücher in den Koffer zu quetschen. Der lag geöffnet auf meinem Bett und war eigentlich auch so schon ziemlich prall gefüllt. Naja, irgendwo an der Seite fand ich schließlich doch noch eine kleine Lücke. Meine Mutter stand in der Tür und sah mich verzweifelt an.
»Ach Sören«, sagte sie. »Da wird schon jemand dabei sein, mit dem du dich gut verstehst.«
»Ich will aber trotzdem lieber hier bleiben. Bitte Mum!«
Warum musste Gregor ausgerechnet jetzt krank werden? Vor ein paar Stunden hatte er bei uns angerufen und mir erzählt, dass er sich in der Nacht mehrmals hatte übergeben müssen und dass er jetzt mit Fieber im Bett lag. Wahrscheinlich hatte er sich irgendeinen Virus eingefangen. Jedenfalls hatte er sich am Telefon überhaupt nicht gut angehört. Dass er in seinem Zustand nicht mit nach England kommen konnte, stand außer Frage.
Ich ärgerte mich, dass ich meinen Eltern überhaupt dieses Faltblatt gezeigt hatte. Aber Gregor war ja sofort Feuer und Flamme gewesen, als unser Englischlehrer diese Zettel verteilt hatte. Eine Woche Aufenthalt in einer Sprachschule, irgendwo zwischen Brighton und Eastbourne, jedenfalls direkt an der Südküste. Und das in der ersten Woche der Osterferien. Was hatte er daran nur so toll gefunden? Von Anfang an hatte ich nicht so recht gewollt, aber was hätte ich machen sollen? Gregor war mein einziger Freund und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Er stand in Englisch auf einer Fünf. Etwas Nachhilfe hatte er also wirklich nötig.
Erst vor anderthalb Jahren war er zu uns in die Klasse gekommen. Vorher war ich dort der absolute Außenseiter gewesen. Schüchtern, schmächtig und mindestens einen halben Kopf kleiner als alle anderen Jungs. Die waren fast alle in irgendwelchen Fußballvereinen und schienen sich auch sonst für nichts anderes zu interessieren. Das war wohl irgendwie normal in dieser ländlichen Gegend, wo jedes kleine Kaff einen eigenen Fußballplatz mit Flutlichtanlage besaß. Ich dagegen hasste Fußball. Die Ergebnisse der Bundesliga fand ich in etwa so interessant wie das Telefonbuch einer Kleinstadt in Hinterindien. Nein, so ein Telefonbuch war sicher noch tausendmal interessanter. Auch sonst war ich eher unsportlich, doch das hatte ich zumindest mit Gregor gemeinsam. Im Gegensatz zu mir war er aber nicht klein und schwächlich sondern eher groß und ein bisschen dicklich. Er hatte jede Menge Pickel und trug eine Brille, die man nicht gerade als modisch bezeichnen konnte. Zu allem Überfluss musste er auch noch die alten Klamotten seines großen Bruders auftragen, und das waren noch nicht mal irgendwelche Markensachen. Das alles störte mich aber nicht, ich war wahnsinnig froh, ihn als Freund zu haben. Jetzt ohne ihn nach England fahren zu müssen, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Nur mit einem Ohr hörte ich meiner Mutter zu, wie sie auf mich einredete, um mir den Aufenthalt dort doch noch irgendwie schmackhaft zu machen. Innerlich hatte ich ohnehin schon resigniert. Ich war schließlich gerade sechzehn geworden. In diesem Alter sollte es einem nun wirklich nichts mehr ausmachen, eine Woche unter wildfremden Menschen in einem fremden Land zu verbringen. Gregor und ich waren nämlich die Einzigen aus unserer Klasse gewesen, die überhaupt Interesse an der Sprachschule gehabt hatten. So weit ich wusste, fuhren aus unserer gesamten Schule nur noch zwei oder drei Mädchen mit. Mädchen! Das war wohl das Einzige, wofür sich die anderen Jungs neben Fußball noch interessierten. Ich fragte mich, wann auch ich anfangen würde, pralle Brüste irgendwie aufregend zu finden. So langsam fand ich, war es dafür an der Zeit. Sogar Gregor schien sich schon seit einer ganzen Weile für das andere Geschlecht zu interessieren. Vor ein paar Wochen hatte er mal ein Pornoheft mit nackten Frauen in die Schule mitgebracht. Er hatte es kaum erwarten könnten, es mir zu zeigen.
»Schau dir mal die Möpse an«, hatte er gesagt.
Ich hatte das Heft dann auch kurz durchgeblättert und so getan, als ob ich das alles ganz aufregend fand, aber eigentlich hatte ich mich nur gewundert, was daran so erregend sein sollte. Naja, irgendwie war ich wohl ein Spätentwickler. Ja, genauso nannte man Typen wie mich wohl.
Ich stellte mein Gepäck in einiger Entfernung zu den Mädchen ab, die wohl schon eine Weile vor der Schule gewartet hatten, bevor ich gekommen war. Ich kannte die drei nur vom Sehen. Sie unterhielten sich angeregt und schenkten mir keine Beachtung. Naja, es wäre auch das erste Mal gewesen, dass sich Mädchen für mich interessiert hätten. Ich hatte mich nicht direkt neben sie gestellt, um nicht mit anhören zu müssen, falls sie zufällig irgendwelche abfälligen Bemerkungen über mich machten. Vielleicht fürchtete ich mich aber auch nur davor, doch noch von ihnen angesprochen zu werden. Nachdem ich in meine warme Jacke geschlüpft war, setzte ich mich lässig auf meinen Koffer. Ich hoffte, dadurch etwas cooler zu wirken. In Wirklichkeit kam ich mir einfach nur jämmerlich vor.
Das änderte sich auch nicht, als nach einer Weile unser Bus auftauchte, ein großer Doppeldecker. Herr Busch, der Organisator der Fahrt stieg aus und begrüßte uns freundlich. Er war Englischlehrer an irgendeinem anderen Gymnasium im Landkreis, noch relativ jung und wahrscheinlich dementsprechend engagiert. Ich hatte ihn vorher zwar noch nie gesehen, fühlte mich in seiner Gegenwart aber zumindest ein klein wenig besser.
Nachdem der Busfahrer unser Gepäck verstaut hatte, konnten wir schließlich einsteigen. Der Bus hatte wohl schon einige andere Schulen in der Umgebung angefahren, jedenfalls waren unten kaum noch Plätze frei. Also erklomm ich die Stufen hinauf ins Oberdeck. Hier waren die begehrten Sitze zwar auch schon vergeben, aber in der Mitte befanden sich dann doch noch einige leere Reihen. Möglichst weit entfernt von allen anderen setzte ich mich still auf einen Fensterplatz.
Bevor die Fahrt richtig losging, klapperten wir erst noch fünf weitere Schulen ab. Überall stiegen eine Handvoll Schüler zu, die sich zumindest untereinander bereits bestens zu kennen schienen. Ich fragte mich, wie ich hier jemals Anschluss finden sollte. Glücklicherweise blieben am Ende wenigstens ein paar Plätze im Bus frei, so dass ich den Doppelsitz für mich alleine behielt. Niemand schien mir auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Ich hatte fast das Gefühl, als wäre ich unsichtbar. Deswegen war ich richtig froh, dass es draußen schon bald dunkel wurde. Nach ein paar Stunden wurde es dann auch im Bus immer ruhiger. Eine Weile beobachtete ich noch die Autos, die uns auf der anderen Fahrspur überholten oder uns mit leuchtenden Scheinwerfern auf der Gegenfahrbahn entgegenkamen. Dann war auch ich irgendwann eingeschlafen.
Die Sprachschule von Mr. Watson befand sich in Seaford, einer kleinen Stadt an der Südküste Englands. Als Schuldirektor konnte man ihn aber kaum bezeichnen, denn er führte das Institut mit seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter alleine. Auch das Gebäude, in dem der Unterricht stattfand, war nicht besonders groß. Es gab wohl nur drei oder vier Klassenräume.
Bei unserer Ankunft standen auf einem Tisch im Gang schon belegte Sandwiches für uns bereit, aber irgendwie hatte ich kaum Hunger. Naja, die anderen hatten sich sofort wie wild auf die Brote gestürzt und als ich dann endlich an den Tisch herangekommen war, fand ich nichts mehr, was besonders appetitlich aussah.
Nach und nach versammelten wir uns schließlich in einem der Zimmer. Es wurde ganz schön eng dort. Mr. Watson begrüßte uns und erklärte uns dann, was hier in den kommenden Tagen so alles ablaufen würde. Natürlich sprach er Englisch, was um mich herum ab und zu Stirnrunzeln und fragende Gesichter auslöste. Ich dagegen hatte keine Probleme ihm zu folgen, schließlich stand ich in Englisch auf einer glatten Eins. Naja, bis auf Sport war ich auch in allen anderen Fächern nicht viel schlechter.
Am Ende wurden wir dann jeweils zu zweit einer Gastfamilie zugeteilt. Da durch den Ausfall von Gregor ein Platz frei geworden war, hoffte ich darauf, alleine bei einer Familie untergebracht zu werden. Der Gedanke daran, vielleicht mit einem völlig Fremden zusammen in einem Zimmer schlafen zu müssen, ängstigte mich. Meine Hoffnung wurde aber schon bald enttäuscht. Eine Gastfamilie hatte kurzfristig abgesagt, so dass es sogar eine Dreiergruppe geben würde. Mr. Watson erklärte uns, dass es eben sehr schwer sei, genügend Familien zu finden, die bereit waren, Sprachstudenten aufzunehmen. Direkt in Seaford würden ohnehin nur zwei Drittel von uns unterkommen, der Rest würde außerhalb wohnen und jeden Tag mit dem Linienbus zur Schule und wieder zurück fahren müssen. Das bedeutete auch, dass diese Schüler nicht an allen Gruppenaktivitäten würden teilnehmen können, die nach der Schule oder abends stattfanden, es sei denn, die Gasteltern erklärten sich bereit, die Schüler in die Stadt zu fahren und wieder abzuholen. Diese Neuigkeiten sorgten bei den meisten anscheinend nicht gerade für Freude. Um mich herum wurde einiges Murren laut. Naja, ich zumindest hatte nicht unbedingt etwas dagegen, in einem der umliegenden Orte untergebracht zu werden. Je weniger Zeit ich mit den anderen verbringen musste, desto besser.
Die eigentliche Aufteilung lief dann so ab, dass Mr. Watson der Reihe nach unsere Namen aufrief. Wer bereits wusste, mit wem er zusammenwohnen wollte, nannte einfach dessen Namen. Naja, ich bekam schnell den Eindruck, dass außer mir alle schon einen Partner hatten. Da die meisten Gasteltern inzwischen ebenfalls eingetroffen waren und vor der Türe warteten, durfte man direkt nach der Zuteilung zu ihnen hinüber gehen und sich ins neue Heim chauffieren lassen.
Mr. Watsons Liste war alphabetisch nach Nachnamen sortiert. Deshalb hörte ich schon bald, wie er mich aufrief.
»Soren Dorner? Did I pronounce that correctly?«
Dummerweise stand ich direkt hinter einem Jungen, der einen Kopf größer war als ich, und um mich herum drängten sich alle immer noch dicht an dicht. Daher musste ich erst die Hand heben und mich auf die Zehenspitzen stellen, um auf mich aufmerksam zu machen.
»Sören Dörner«, rief ich leise über die Schulter meines Vordermannes zurück.
Um mich herum hörte ich verhaltenes Kichern. Ich verfluchte denjenigen, der für die beiden Umlaute in meinem Namen verantwortlich war, nur um gleich darauf erschrocken festzustellen, dass das zumindest bei meinem Vornamen nur meine Eltern sein konnten. Ich würde mit ihnen wohl mal ein ernstes Wörtchen reden müssen.
»Okay ... Söööören. Please tell me, with whom do you want to stay?«
»Oh, äh, I don't know.«
Wieder vernahm ich leises Gelächter.
»Okay Sören, just wait a while. We will find someone for you, too.«
Oh Mann, am liebsten wäre ich jetzt im Boden versunken. Eine Weile schienen alle Blicke auf mich gerichtet zu sein. Zum Glück machte sich der Sprachlehrer sofort wieder daran, die verbleibenden Namen vorzulesen, so dass sich die Aufmerksamkeit der anderen schnell wieder darauf konzentrierte.
Am Ende standen außer mir nur noch vier andere Jungs im Raum. Es war nicht zu übersehen, dass die vier die dicksten Freunde waren. Nicht nur jetzt standen sie dicht nebeneinander, auch im Bus hatten sie schon im Unterdeck zusammen an einem der beiden Tische gesessen. Die vier sahen verdammt cool aus. Naja, ihrem Benehmen nach zu urteilen hielten sie sich wohl auch selbst für ziemlich cool. Einer von ihnen fiel mir besonders ins Auge. Der steckte von Kopf bis Fuß in Hip-Hop-Klamotten, auf denen groß die diversen Markennamen prangten. Ich stand wie angewurzelt da. Würde ich wirklich ausgerechnet mit einem von denen zusammenwohnen müssen? Oder sogar mit zweien von ihnen in einer Dreiergruppe? Das durfte doch nicht wahr sein!
Die vier schienen aber ein besonderes Anliegen zu haben.
»We ... äh ... we four ... we want to stay ... äh ... in one ... äh ... in one house ... äh ... together«, sagte schließlich einer von ihnen. Englisch war wohl nicht gerade seine Stärke.
Sofort keimte in mir wieder Hoffnung auf. Anscheinend rechneten sich die vier aus, dass sie zusammenbleiben konnten. Naja, ob jetzt drei von ihnen zusammen in eine Familie kamen oder eben gleich alle vier, das machte schließlich keinen großen Unterschied mehr. Ich jedenfalls hätte keine Einwände dagegen gehabt.
»I'm sorry, but that's not possible«, erwiderte Mr. Watson zu meiner großen Enttäuschung.
»Ach bitte!«, flehte der in der Southpole-Daunenjacke. »Please, Mr. Watson!«
Mein Herz fühlte sich an, als säße es in einer Achterbahn. Gerade vorhin war es noch durchgesackt, jetzt krabbelte es wieder vorsichtig nach oben. Vielleicht konnten die vier Herrn Watson ja doch noch überzeugen?
»No, I'm sorry, that's simply not possible.«
In meiner Brust purzelte ein gewisses Organ wieder mehrere Zentimeter nach unten. Die Stimme des Schulleiters hörte sich sehr entschlossen an.
»I cannot put more than three of you together in one family«, erklärte er. »One of you will have to go to another family together with ... Sören.«
Er musste kurz auf seine Liste blicken, um sich meinen Vornamen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die vier Jungs verzogen ihre Gesichter.
»Mit dem bleib ich ganz bestimmt nicht alleine«, hörte ich einen von ihnen sagen.
»Hey, what's wrong with him? He's such a nice little boy«, setzte Mr. Watson seine Überzeugungsarbeit fort.
Ich war in seinen Augen also ein lieber kleiner Junge. Oh Mann! Hoffentlich war das alles nur ein Albtraum. Vielleicht wachte ich ja gleich auf?
»Ach Mann, Scheiße«, hörte ich einen der Jungs sagen, während ich mir vorsichtig in den Arm kniff, um meine Traumtheorie zu überprüfen. Au, das tat weh!
Die vier sahen wohl ein, dass sie keine Chance hatten. Ich beobachtete beschämt, wie sie untereinander ausknobelten, wer mit mir zusammenwohnen musste.
»Mann, Kacke!« hörte ich schließlich den Hip-Hop-Typ ausrufen.
Ich zuckte zusammen und starrte entsetzt Mr. Watson an. Der bemerkte wohl irgendwie meine Bestürzung und kam zu mir herüber.
»Hey, chin up!« versuchte er mich aufzumuntern. »You will stay with Mr. and Mrs. Davis. They are a very friendly couple and have a nice little house near Friston. That's about five miles in the east of Seaford. It's such a beautiful place, I'm sure you will like it.«
Er winkte zur Tür hinüber. Eine Frau trat herein. Ich schätzte sie auf ungefähr 60. Jedenfalls hatte sie schon graue Haare.
»Hello, I'm Mrs. Davis«, stellte sie sich vor und reichte mir die Hand. »You can call me Dotty.«
Naja, sie hatte wirklich ein freundliches Lächeln, aber im Moment fühlte ich mich dadurch auch nicht wohler.
»And your name is?« fuhr sie fort, als ich eine Weile nicht reagierte.
»Oh, ach so«, stammelte ich. »My name is Sören. Sören Dörner.«
Inzwischen war auch der Typ in den Markenklamotten zu uns herübergekommen und ließ sich ebenfalls die Hand schütteln.
»I'm Milan Zinnacker«, sagte er. Mich würdigte er keines Blickes.
Ich stellte mich lieber wieder etwas abseits in den Hintergrund. Oh Mann, dieser Milan sah schon verdammt gut aus. Ich kam mir richtig mickrig, unscheinbar und langweilig vor, als ich so schräg hinter ihm stand. Seine Haare hatte er wohl blondiert, jedenfalls trat am Haaransatz ein eher dunkelbrauner oder schwarzer Farbton hervor.
Seine Freunde klopften ihm mitleidig auf die Schulter.
»Hoffentlich wohnst du wenigstens in unserer Nähe«, hörte ich einen von ihnen sagen.
Das führte dann auch gleich zu Diskussionen mit Mrs. Davis und einer anderen Frau, die inzwischen ebenfalls hereingekommen war und wohl die anderen drei Jungs beherbergen sollte.
»Mann, das gibt's ja wohl nicht!«, rief Milan nach einer Weile aus.
»So eine verdammte Scheiße!«, fügte einer der anderen hinzu.
Soweit ich das mitbekommen hatte, würden die anderen in South Heighton wohnen, was ein paar Kilometer im Nordwesten lag, also mehr oder weniger in der komplett anderen Richtung. Sofort wurde auch Mr. Watson wieder in die Debatte mit einbezogen, der konnte aber nur hilflos die Hände heben.
»I'm sorry, but now it's too late to make any changes. All the others are already gone.«
Er erklärte noch, dass es diese Diskussion beinahe jedes Mal gab, wenn eine so große Gruppe ankam. Alle wollten immer am liebsten nahe beieinander direkt in der Stadt wohnen, aber das sei nun mal nicht möglich. Wir sollten uns einfach damit abfinden und das Beste daraus machen.
Die ganze Streiterei schüchterte mich nur noch mehr ein. Hoffentlich kam Milan nicht auf die Idee, seinen Frust irgendwann an mir auszulassen.
Schier endlos erscheinende grünen Wiesen und Felder zogen an uns vorbei. Nur ein paar einsam in der Landschaft stehende Häuser sorgten dafür, dass die Gegend nicht völlig menschenleer wirkte. Ich saß neben Mrs. Davis auf der Beifahrerseite. Milan hatte sich auf den Rücksitz gelümmelt. Desinteressiert kaute er auf einem Kaugummi herum. Man konnte ihm deutlich anmerken, dass es ihm nicht sonderlich passte, wie die Dinge sich entwickelt hatten.
Irgendwann verlangsamte Mrs. Davis dann die Geschwindigkeit.
»Do you see that sign?«, fragte sie uns und deutete dabei mit dem Finger auf ein Schild am Straßenrand.
»That's the bus stop«, fuhr sie sogleich erklärend fort, ohne vorher eine Reaktion von uns abzuwarten.
Hier würden wir also am nächsten Morgen in den Bus steigen müssen. Ich wunderte mich ein wenig, da wir uns immer noch auf freier Flur befanden. Lediglich ein schmaler Weg zweigte neben der Haltestelle von der Hauptstraße ab und führte zu einem kleinen, altertümlich wirkenden Haus, das ein paar hundert Meter weiter auf der linken Seite der Straße stand. Das konnte aber nicht das Haus sein, in dem wir wohnen würden, denn die Abzweigung hatten wir inzwischen schon längst hinter uns gelassen.
Nach weiteren hundert Metern tauchte dann aber auf der rechten Seite ein noch schmalerer Feldweg auf, in den wir einbogen. 'Private Drive! No Trespassing!' stand auf einem verwitterten Schild. Mrs. Davis trat das Gaspedal durch, so dass die Hinterräder Staub aufwirbelten. Irgendwie schien ihr das wohl zu gefallen. Naja, wahrscheinlich galt hier auf ihrem Privatweg auch keine Geschwindigkeitsbeschränkung. Nach einem knappen halben Kilometer erreichten wir schließlich ein einsam in der Landschaft stehendes, weiß gestrichenes Häuschen. Meine Hoffnung, vielleicht ein eigenes Zimmer zu bekommen, schwand sofort dahin, als ich sah, wie klein es war.
Wir holten noch schnell unser Gepäck aus dem Kofferraum, dann traten wir ein. Über eine steile Holztreppe führte uns Dotty nach oben ins Dachgeschoss, wo unser Zimmer lag. Durch die schrägen Wände war es nicht besonders geräumig. Wenigstens standen die beiden Betten recht weit auseinander. Mrs. Davis ließ uns nur schnell die Koffer abstellen und führte uns dann wieder nach unten. Sie zeigte uns noch kurz das Bad und die Toilette, danach schob sie uns vor sich her ins Wohnzimmer. Dort war der Fernseher auf volle Lautstärke gedreht. Ich sah, wie auf dem Bildschirm ein paar Männer in kurzen Hosen einem Ball hinterherliefen. Mr. Davis schien ein begeisterter Fußballfan zu sein. Jedenfalls deutete er mit einer Handbewegung an, dass wir ihn im Moment besser nicht stören sollten.
»Aaaaah, shit!« fluchte er, als auf der Mattscheibe ein Spieler den Ball weit am Tor vorbei schoss.
Dann stand er doch noch auf, um uns zu begrüßen.
»Hello boys«, sagte er, während er uns mit einem gutmütigen Blick musterte. »I'm Stanley.«
Eine riesige Pranke umschloss meine Hand und schüttelte sie eine Weile kräftig durch. Ich traute mich kaum, meinen Namen zu nennen und meinem Gegenüber dabei auch noch ins Gesicht zu blicken. Der Kerl schien fast zwei Meter groß zu sein. Naja, eigentlich schien er trotzdem ganz nett zu sein. Jedenfalls tätschelte er mir die Schulter und lächelte mich freundlich an.
Als er auch Milan abgefertigt hatte und danach enttäuscht feststellte, dass im Fernsehen gerade Werbung lief, nahm er sich noch die Zeit, um uns zu erzählen, wo wir hier eigentlich gelandet waren. Nur ein paar hundert Meter hinter dem Haus lagen die berühmten weißen Kalksteinklippen, die unter dem Namen 'Seven Sisters' bekannt waren. Das war eine gigantische Felsformation, die auf einer Breite von mehreren Kilometern steil aus dem Meer aufragte. Jedenfalls sollten wir es uns auf keinen Fall entgehen lassen, mal oben am Rand dieser Felsen entlangzulaufen, denn auf denen stand offenbar auch dieses Haus. Das bemerkte man nur eben nicht, wenn man noch ein Stück von der Küstenlinie entfernt war. Naja, Mr. Davis meinte, dass jedes Jahr ein knapper Meter von den Felsen abbröckelte, so dass das Meer langsam näher ans Haus heranrückte. In ein paar Jahrhunderten würde man wohl direkt vom Dach des Hauses die gut hundert Meter hinunter ins Meer springen können, wenn man denn wollte und nicht mehr sonderlich an seinem Leben hing. Kurz danach würde das Haus dann hinterher stürzen.
Ich lag im Bett und bemühte mich einzuschlafen, solange ich noch alleine war, doch irgendwie wollte mir das nicht gelingen. Mrs. Davis hatte Milan für den Abend zurück nach Seaford gefahren. Dort fand so eine Veranstaltung statt, die wohl dem gegenseitigen Kennen lernen dienen sollte. Ich hatte vorgegeben, durch die lange Reise viel zu erschöpft für so etwas zu sein. In Wirklichkeit hatte ich einfach Angst davor gehabt, dort auch nur wieder still in irgendeiner Ecke zu sitzen und dabei zusehen zu müssen, wie alle anderen sich amüsierten. Ein paar Stunden ganz alleine verbringen zu können, war mir als viel angenehmer erschienen. In dem dunklen Zimmer war ich dann aber nur ins Grübeln gekommen. Ich ertrug den Gedanken kaum, dass alle anderen jetzt neue Freundschaften schlossen, während ich selbst meine Außenseiterrolle durch mein Verhalten nur noch mehr festigte. Von unten drangen die ganze Zeit über dumpf die Stimmen aus dem Fernseher nach oben. Mr. Davis machte sich wohl einen gemütlichen Fernsehabend, während seine Frau in Seaford geblieben war. Naja, sie hatte dort wohl eine Freundin, mit der sie auch sonst öfters mal ins Kino ging. Dadurch musste sie jedenfalls nicht noch ein weiteres Mal hin und zurück fahren.
Es war kurz nach elf, als ich Motorengeräusche näher kommen hörte. Milan und Mrs. Davis kamen also schon zurück und ich lag immer noch wach. Obwohl mein Herz vor Aufregung nun wie wild pochte, drehte ich mich zur Wand und versuchte den Eindruck zu erwecken, als ob ich schon schlafen würde. Milan sollte nicht merken, dass ich noch hellwach war. Ich wollte ihm keine Gelegenheit bieten, irgendwelche spöttischen Bemerkungen abzusondern. Bald hörte ich seine Schritte auf der Treppe, dann wurde auch schon die Tür geöffnet und das Licht angeknipst. Der Fußboden knarrte, als Milan zu seinem Bett hinüber lief. Eine Weile hörte ich es rascheln, dann verließ er noch einmal den Raum. Naja, wahrscheinlich ging er noch ins Bad. Meine Vermutung bestätigte sich, als nach ein paar Minuten die Klospülung betätigt wurde. Kurz darauf war Milan dann auch wieder zurück im Zimmer. Ich war dankbar, dass er gleich das Licht ausschaltete und sich ins Bett kuschelte.
Die Minuten vergingen. Ich war immer noch hellwach und musste mich dazu zwingen, still liegen zu bleiben und möglichst gleichmäßig zu atmen. Anhand der Geräusche, die von Milans Bett zu mir herüber drangen, versuchte ich festzustellen, ob wenigstens er inzwischen eingeschlafen war. Als er sich nach einer Weile der Stille ganz plötzlich im Bett herumwälzte, erschrak ich richtig.
»Schläfst du?«, hörte ich ihn im nächsten Moment flüstern.
Mein Herz pochte bis zum Hals.
»Hey, schläfst du?«, fragte er noch einmal, diesmal etwas lauter.
Ich gab nicht den geringsten Laut von mir und hoffte darauf, dass er nicht doch irgendwie gemerkt hatte, dass ich noch wach lag. Als eine weitere Minute vergangen war und er die Frage nicht noch ein drittes Mal gestellt hatte, normalisierte sich mein Puls langsam wieder. Doch dann hörte ich aus seiner Ecke plötzlich ein leises, länger anhaltendes Rascheln. Irgendetwas schien sich rhythmisch unter seiner Bettdecke hin und her zu bewegen. Erst als er heftiger zu atmen begann, wusste ich, was da vor sich ging. Die Bewegungen wurden immer schneller. Irgendwann stöhnte er leise, dann wurde es wieder ruhig.
Ich lag still im Bett und zitterte. Nicht vor Kälte, sondern weil ich nun völlig am Ende war. Was würde Milan wohl mit mir anstellen, falls er merkte, dass ich eben alles mitbekommen hatte? Ich fragte mich, wie ich eine ganze Woche mit ihm zusammen in einem Zimmer nur aushalten sollte. Irgendwann, als ich mir sicher war, dass Milan eingeschlafen war, fing ich leise an zu weinen. Ich konnte einfach nicht mehr anders und ließ zumindest den Tränen freien Lauf. Das Schluchzen versuchte ich zu unterdrücken. Als mir auch das irgendwann nicht mehr gelingen wollte, betete und flehte ich innerlich, dass Milan nicht doch noch wach lag und mich hörte.
»Mann, schau mal raus wie das pisst!«
Milan stand nur mit Boxershorts bekleidet vor dem kleinen Giebelfenster und sah nach draußen. Ich lag noch im Bett und hörte auch so, wie der Regen auf das Dach niederprasselte. Es war zehn Minuten vor acht. In vierzig Minuten würden wir am Bus sein müssen. Hoffentlich hatte sich das Wetter bis dahin wieder beruhigt. Wie um alles in der Welt sollten wir sonst zur Haltestelle gelangen ohne unterwegs völlig durchnässt zu werden? Bis dorthin war es schließlich mindestens ein halber Kilometer.
Milan drehte sich zu mir um.
»Hast du 'nen Schirm dabei?« wollte er wissen.
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Kacke!«, fluchte er und lief zurück zu seinem Bett.
Ich bewunderte seinen nackten Oberkörper, besonders seinen Waschbrettbauch. Wie gerne hätte ich auch so gut ausgesehen wie er. Außerdem hatte er richtig breite Schultern. Als ich daran dachte, wie schlaff meine eigenen Arme immer an den Seiten herabhingen, traute ich mich kaum noch unter meiner Decke hervor. Naja, mir bleib wohl trotzdem nichts anderes übrig. Hastig zog ich den Schlafanzug aus und schlüpfte in meine Klamotten. Wenigstens sah Milan währenddessen nicht zu mir herüber. Als er dann auch selbst in seine coolen Baggies und sein weites Sweatshirt schlüpfte, beobachtete ich ihn vorsichtig aus den Augenwinkeln heraus.
Nach ein paar Minuten trottete ich dann hinter ihm die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Dotty und Stanley waren schon längst zur Arbeit gefahren, so dass wir beide ganz alleine im Haus waren. Dafür war in der Küche aber auch schon der Tisch für uns gedeckt. Wir brauchten nur noch den Toaster und die Kaffeemaschine einzuschalten und unser Frühstück war fertig. Naja, statt Kaffee trank ich lieber Orangensaft. Zum Glück stand davon eine ganze Flasche bereit, denn Milan schien dieses Getränk ebenfalls der heißen braunen Brühe vorzuziehen.
»Mann, beeil dich«, drängelte er schon bald. »Ich will nicht den Bus verpassen und den ganzen Tag hier draußen in dieser Einöde verbringen.«
Er hatte wohl Recht, die Zeit wurde wirklich langsam knapp.
»Ja, ich bin ja gleich soweit«, erwiderte ich schüchtern.
»Okay. Ich schau mal, ob ich irgendwo 'nen Schirm finde.«
Ich trank noch schnell ein paar Schlucke und stopfte mir die letzte Ecke meines Toastbrotes in den Mund.
»Hast du einen gefunden?«, fragte ich vorsichtig, als mir Milan draußen im Gang entgegengerumpelt kam.
»Nein. Geht auch ohne. Bist du jetzt endlich fertig?«
Wir schlüpften in unsere Jacken, die an der Garderobe neben der Haustür hingen. Aus einer der Taschen seiner Daunenjacke kramte Milan eine schwarze Wollmütze hervor und stülpte sie sich über den Kopf. Das war wohl auch irgend so ein Hip-Hop-Teil, jedenfalls hatte sie so ein fettes Emblem an der Seite.
»Hast du auch 'ne Mütze dabei?«, wollte er wissen.
»Nein.«
»Dann haste eben Pech gehabt, Kleiner.«
Ich ärgerte mich darüber, dass ich selbst keine Kopfbedeckung mitgebracht hatte. Naja, vielleicht holte ich mir dadurch ja wenigstens eine Erkältung. Dann könnte ich ein oder zwei Tage alleine im Haus bleiben und musste nicht in diese blöde Sprachschule. Plötzlich griff Milan mit der Hand hinten an meinen Jackenkragen.
»Haste wenigstens da hinten 'ne Kapuze drin?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mann«, stöhnte er kopfschüttelnd.
Ehe ich mich versah, hatte er mir seine Strickmütze in die Hand gedrückt.
»Da, setz die auf, dass du ned so nass wirst.«
Ich war so überrascht, dass ich überhaupt nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Vielleicht war er ja doch ganz nett? Oder fand er das vielleicht irgendwie witzig?
»Jetzt mach endlich.«
»Und du?«, wollte ich vorsichtig wissen.
»Ich komm schon klar.«
Er war gerade dabei, den Reißverschluss seiner Daunenjacke einzufädeln. Schnell hatte er ihn bis hoch zum Kinn geschlossen. Dann griff er über die Schultern nach hinten an seinen Kragen und fummelte dort eine Weile an einem Klettverschluss herum. Nach ein paar Momenten brachte er eine dünne Kapuze zum Vorschein und zog sie sich über den Kopf. Er zog an den Enden der Kordel, so dass sich die Kapuze eng um sein Gesicht schloss, dann schob er sie sich noch etwas tiefer in die Stirn. Ich fand, dass er auch so immer noch ziemlich cool aussah. Gleichzeitig fragte ich mich, wie mir wohl seine Mütze stand. Ich hatte sie inzwischen aufgesetzt und hoffte, dass Milan nicht irgendwelche blöden Kommentare darüber machen würde. Das Teil passte sicher überhaupt nicht zum Rest meiner Klamotten.
Naja, es sah nicht so aus, als ob er sich über mich lustig machen wollte. Er öffnete nur die Haustür und ließ mir den Vortritt. Der Regen schien an Heftigkeit in der Zwischenzeit noch nichts eingebüßt zu haben. Jedenfalls war es auch mit der Mütze auf dem Kopf verdammt unangenehm dort draußen.
Wir mussten uns ziemlich beeilen, um rechtzeitig zur planmäßigen Abfahrtszeit an der Bushaltestelle zu sein. Naja, der Bus ließ sich dann noch ein paar Minuten länger Zeit. Da es so etwas wie ein Wartehäuschen nicht gab, wurden wir eben noch etwas nasser. Inzwischen spielte das ohnehin keine Rolle mehr.
»Kommst du jetzt mal mit zu diesen komischen Klippen?«
Wir waren erst vor fünf Minuten zurück ins Haus gekommen. Der Tag in der Sprachschule war eine einzige Katastrophe gewesen und meine Stimmung war am absoluten Nullpunkt angelangt. Ich galt inzwischen als Streber, obwohl es hier noch nicht mal Noten gab. Dabei konnte ich doch nichts dafür, dass Mr. Watson immer mich aufrief, wenn von den anderen keine Antwort kam. Zu allem Überfluss musste er mich dann auch noch ständig loben und als Vorbild herausstellen. Vielleicht dachte er ja, ich würde mich dadurch besser fühlen, aber das genaue Gegenteil war der Fall.
Milan war natürlich die ganze Zeit über mit seinen Kumpels zusammengesessen und hatte genau wie alle anderen kein einziges Wort mit mir gewechselt. Erst jetzt im Zimmer, wo niemand sonst mehr da war, bequemte er sich wieder, mich anzusprechen.
»Keine Lust«, antwortete ich knapp auf seine Frage.
Ich hoffte, dass er dann alleine gehen und mich für eine Weile in Ruhe lassen würde.
»Los, stell dich nicht so an.«
Missmutig kam ich schließlich doch mit nach unten. Wir schlüpften in unsere Jacken und traten hinaus ins Freie. Der Regen hatte schon irgendwann im Laufe des Vormittags wieder aufgehört. Trotzdem war es immer noch grau, trist und ziemlich windig. Ein schmaler, zunächst leicht ansteigender Pfad führte inmitten der hügeligen Wiesen auf die Küste zu. Das Gras um uns herum war hässlich braun. Ich fragte mich, ob das nur an der Jahreszeit lag oder an der Umgebung, die bei mir die ohnehin schon trüben Gedanken nur noch trüber zu machen schien. Vielleicht gefiel es dem Gras hier ja auch nicht?
Nachdem wir eine kleine Anhöhe erklommen hatten, konnten wir endlich das Meer sehen. Zuerst war es kaum vom Grau des Himmels zu unterscheiden. Erst als wir noch etwas näher herangekommen waren, konnten wir deutlich den Horizont erkennen, der die Trennlinie zwischen Luft und Wasser bildete.
Irgendwann standen wir dann nahe am Rand der Klippen. Vor uns ging es noch ein Stück schräg bergab über lose Erde und Geröll, nach zwei weiteren Metern schien der Boden dann senkrecht abzufallen. Das hätte ich aber nur dann sehen können, wenn ich wirklich ganz nach vorne getreten wäre und meinen Kopf über den Abgrund gereckt hätte. Naja, ich war nicht schwindelfrei und hatte viel zu große Angst davor, dort hinunterzufallen. Deshalb blieb ich lieber stehen, wo ich war. Da die Klippen eine leichte Biegung machten, waren aber zumindest auf der rechten Seite die steilen weißen Kalksteinfelsen zu sehen, die eine gigantische, viele Meter hohe Wand bis hinunter ins Meer bildeten. Wenn ich mich noch ein wenig nach vorne beugte, konnte ich sogar an den weiter entfernten Stellen bis zum Fuß der Klippen hinabblicken, wo die Wellen gegen den Fels schwappten und ein paar Möwen auf der Suche nach Nahrung über der Gischt kreisten. Ihre Schreie waren bis zu uns herüber zu hören.
Milan wagte sich noch etwas weiter nach vorne. Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen, um nicht auszurutschen. Dann stand er eine Weile einfach nur still da, mit den Händen in den Hosentaschen, und ließ den Blick ganz langsam von links nach rechts wandern. Der Wind brachte seine weiten Klamotten zum Flattern und blies ihm die dünne Kapuze seiner Daunenjacke gegen den Hinterkopf. Die hatte er in der Zwischenzeit noch nicht wieder im Kragen verstaut.
»Wow, ist das geil hier!«, sagte er nach einer Weile, ohne sich dabei nach mir umzudrehen.
Ich dagegen konnte die Einzigartigkeit dieser Landschaft überhaupt nicht genießen. Die Enttäuschungen der letzten Tage steckten mir tief in den Knochen. Irgendwie hatte sich eine riesige Verzweiflung in mir angestaut, die mich fast zu erdrücken drohte. Und dann war da auch noch Milan, in dessen Gesellschaft ich mich noch kleiner und schwächer und unsicherer fühlte, als ich ohnehin schon war. Aber da war noch ein Gefühl, das ich empfand, wenn ich mit ihm zusammen war. Ein Gefühl, das ich überhaupt nicht beschreiben oder einordnen konnte. Das alles brachte mich völlig durcheinander. Ich setzte mich hinter ihm ins Gras und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Milan drehte sich zu mir um.
»Dir gefällt's hier insgesamt nicht so besonders, oder?«, fragte er.
Vorsichtig stieg er über das Geröll zu mir herauf und setzte sich rechts neben mir auf die Wiese. Irgendwie konnte ich meine Emotionen nun nicht mehr unter Kontrolle halten. Ein paar Tränen liefen mir aus den Augenwinkeln. Milan sah mich erschrocken an.
»Hey, was ist los mit dir?«, wollte er wissen.
Ich begann zu schluchzen. Obwohl ich mir sicher war, dass er mich jetzt für eine jämmerliche Heulsuse hielt und dadurch alles nur noch schlimmer werden würde, konnte ich einfach nicht anders. Sicher würde er gleich aufspringen und sich über mich lustig machen. Doch das geschah nicht. Stattdessen legte er seinen Arm um mich und zog mich sanft zu sich heran. Aus den Augenwinkeln heraus bekam ich mit, dass er mich ansah. Ich dagegen blieb mit hängendem Kopf sitzen und traute mich nicht, ihm ebenfalls ins Gesicht zu blicken.
»Hey, beruhig dich, alles wird gut!«, sagte er leise, fast flüsternd, während sich seine Hand angenehm fest um meine linke Schulter schloss.
Ich heulte einfach weiter. Inzwischen war mir alles egal und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Irgendwann spürte ich dann seine andere Hand, die meinen Kopf sanft an seine Schulter drückte, um einen Moment später damit zu beginnen, mir ganz sachte durchs Haar zu streichen. Ich war so erstaunt, dass ich sofort mit dem Schluchzen aufhörte. Nur ein paar Tränen liefen mir noch aus den Augen, aber auch die versiegten bald völlig. Das führte aber nicht dazu, dass er aufhörte mich zu streicheln. Er machte einfach damit weiter. Mit der Zeit fing ich an, es zu genießen, ihm so nah zu sein, seinen Körper ganz dicht an meinem zu spüren, seine Hand auf meiner Haut wahrzunehmen. Irgendwie fand ich es wunderschön. Die letzten zwei Tage waren einfach schrecklich gewesen, aber ich hätte hunderte solcher Tage ertragen, nur um diesen Moment mit ihm erleben zu dürfen. Das Kreischen der Möwen wurde plötzlich lauter. Anscheinend flogen sie genau in diesem Augenblick direkt unter uns an den Klippen entlang. Schnell entfernten sich ihre Schreie wieder, bis sie irgendwann völlig verstummt waren. Dann war nur noch das Geräusch der Wellen zu hören, die ganz weit unter uns gegen die Felsen schlugen.
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