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Weirdos
Teil 4
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Informationen
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 21 - Morgendämmerung
- Kapitel 22 - Coming Home
- Kapitel 23 - In die Hose
- Kapitel 24 - Zurück
- Kapitel 25 - Liebe?
- Epilog
Kapitel 21 - Morgendämmerung
„Hey, beeil dich mal!“ forderte Kevin mich ungeduldig auf, als er mich immer noch im T-Shirt vor dem geöffneten Kleiderschrank herumstehen sah. An den Tagen vorher war es nicht mehr besonders kalt gewesen und der Wetterbericht hatte leichten Regen angekündigt. Daher war ich unschlüssig, ob ich wieder meine warme Daunenjacke und darunter nur ein dünnes Langarmshirt ohne Kapuze oder doch lieber einen etwas dickeren Kapuzenpulli und dazu meine andere Jacke, die nur leicht wattiert war, anziehen sollte. Schließlich entschied ich mich für die zweite Variante und griff nach einem weißen Hoodie. Ich schlüpfte hinein und nahm danach die Jacke vom Bügel. Diese war kurz und schmal geschnitten, im aktuellen Retro-Look aus rotem und dunkelblauem Glanznylon. Wie Kevin bereits einmal bei der Inspektion meines Kleiderschranks festgestellt hatte, war auch bei dieser Jacke die Kapuze im Kragen untergebracht, im Gegensatz zu meiner Daunenjacke aber nicht hinter einem Klettverschluss, sondern in einem Reißverschlussfach. Somit war nun auch ich zum Aufbruch bereit, wenn auch noch ziemlich lustlos.
An diesem Samstagmorgen hatte uns der Wecker bereits um halb sieben aus dem Bett geklingelt. So früh aufzustehen war ich inzwischen gar nicht mehr gewohnt. Daher fühlte ich mich noch nicht wirklich wach. Kevin hingegen war bereits richtig hibbelig. Er stand mittlerweile schon vor der geöffneten Zimmertür und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Es wunderte mich aber nicht wirklich, dass ihn die Tatsache nervös machte, heute nach vielen Wochen wieder nach Hause zurückzukehren und seine Freunde wiederzusehen.
Obwohl die Entfernung zu Kevins Heimatstadt nur knapp 150 Kilometer betrug und wir bereits am nächsten Abend zurück sein würden, hatte ich das Gefühl, zu einer großen Reise aufzubrechen. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich nun beinahe vier Wochen nicht über den näheren Umkreis dieser Klinik hinausgekommen war. Bepackt mit einem kleinen Rucksack, der Wäsche zum Wechseln und ein paar weitere nützliche Utensilien enthielt, trat ich schließlich zu Kevin hinaus in den Flur.
Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch, als ich die Tür hinter uns abschloss. Das Gefühl verstärkte sich noch, als wir mit leisen Schritten durch den Gang eilten. Um diese Zeit war es in der Klinik noch totenstill und die Notbeleuchtung erzeugte eine unheimliche Atmosphäre. Um die Stille nicht zu stören, traute ich mich kaum, auch nur ein einziges Wort mit Kevin zu wechseln, nicht einmal im Flüsterton. Da auch er sich nicht bemüßigt fühlte, irgendetwas zu sagen, liefen wir schweigend in Richtung Fahrstuhl. Am Übergang zwischen den Gebäudeflügeln sah ich kurz durch die Fenster nach draußen. Die Morgendämmerung setzte langsam ein, noch schien aber die Dunkelheit die Oberhand zu behalten.
Als wir schließlich nebeneinander vor dem Aufzug standen und Kevin auf die Taste mit dem nach unten gerichteten Dreieck drückte, schien die merkwürdige Stimmung, die mich seit dem Verlassen unseres Zimmers befallen hatte, ihren Höhepunkt zu erreichen. Das Surren des Fahrstuhlmotors, das leise Pling, mit dem die Kabine in unserem Stockwerk zum Stillstand kam, und das Rattern der sich öffnenden Türen, Geräusche, die ich sonst kaum wahrnahm, schienen diesmal viel zu laut zu sein. Ich fragte mich, ob das nur mir so vorkam, oder ob Kevin genauso empfand. Jedenfalls sprachen wir weiterhin kein einziges Wort, während wir hinunter in den Keller fuhren. Erst als wir draußen im Freien vor der Klinik standen, schien der Bann ein wenig zu brechen.
„Wie viel Zeit haben wir noch, bis der Bus fährt?“ hörte ich Kevin sagen, als wir uns in Bewegung setzten.
Ich schob den Ärmel meiner Jacke zurück und sah auf meine Armbanduhr.
„Genügend“, antwortete ich nur.
Immer noch hatte ich das Gefühl, dass jedes unserer Worte bis hinauf hinter die Fenster der Klinik zu hören war und ebenso wie das Knirschen unserer Schuhsohlen auf dem Kiesweg die Stille unangemessen störte. Zögerlich ließ ich meinen Blick über die Umgebung wandern. Dichter Nebel verhüllte die Landschaft um uns herum, so dass die Sicht auf zwanzig oder dreißig Meter beschränkt war. Die Wiesen waren über und über mit Reif bedeckt. Als das Klinikgebäude hinter uns im Nebel verschwunden war und plötzlich einige kahle Bäume schemenhaft vor uns auftauchten, wäre ich vor Schreck beinahe zusammengezuckt. Hastig zog ich mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf. Nicht wegen der Kälte, sondern um mich vor dieser unheimlichen Atmosphäre abzuschirmen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, um nicht über irgendetwas zu stolpern, die Sicht nach rechts und links durch die Kapuze eingeschränkt, trottete ich still neben Kevin her. Als ich nach einer Weile den Blick in seine Richtung wandte, bemerkte ich, dass auch er die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen hatte. Ich fragte mich, ob ihm diese genau wie mir ein Gefühl von Schutz und Sicherheit vermittelte, oder ob ihm einfach nur kalt war. Mit gesenktem Kopf setzte er einen Schritt vor den anderen, die Hände tief in den Jackentaschen. Sein Atem kondensierte zu kleinen Wölkchen. Er bemerkte überhaupt nicht, dass ich ihn ansah.
Ich fragte mich, worüber er gerade nachdachte und wie er sich wohl fühlte. Am vergangenen Nachmittag hatte er noch einmal lange mit Enrico telefoniert. Er hatte zwar kaum darüber geredet, was er alles mit ihm besprochen hatte, aber ich hatte ihm danach deutlich anmerken können, dass er sich auf das Wiedersehen richtig freute. Inzwischen schien diese Vorfreude aber in so etwas wie Unsicherheit oder Anspannung umgeschlagen zu sein. Jedenfalls schien er es im Moment vorzuziehen, einfach in Ruhe gelassen zu werden.
Endlich tauchten die ersten Häuser von Bad Neuheim vor uns auf. Ich hatte das Gefühl, dass wir für den Weg an diesem Morgen viel länger gebraucht hatten also sonst. Inzwischen war es etwas heller geworden und auch das Leben schien langsam Einzug in die Umgebung zu halten. In einer kleinen Bäckerei brannten die Neonröhren an der Decke. Durch das Schaufenster konnte man deutlich die Verkäuferin erkennen, die einer frühen Kundin gerade eine Tüte mit Gebäck über die Theke reichte. Nur ein paar Momente später tauchte ein Radfahrer auf, der in Schal und Mütze gehüllt sein Rad vor der Ladentüre abstellte, um dann ebenfalls den Laden zu betreten. Die Türglocke war bis zu uns herüber auf die andere Straßenseite zu hören..
Schließlich erreichten wir den Ortsplatz und setzten uns nebeneinander auf die Bank des Buswartehäuschens. Die Konstruktion aus Plexiglas und Metall sah so aus, als wäre sie erst vor ein paar Monaten hier aufgestellt worden. Trotzdem waren die Scheiben bereits mit einigen Schmierereien und tiefen Kratzern verunziert. Sicher warteten hier unter der Woche Schüler aus Bad Neuheim auf den Bus, der sie in die nächstgrößere Stadt brachte, wo es neben dem Bahnhof, der an diesem Tag unser nächstes Ziel sein würde, wahrscheinlich auch ein Gymnasium oder eine Realschule gab. Heute am Samstag saßen wir ganz alleine hier. Auf der Straße vor uns war nicht besonders viel Verkehr und auf dem Ortsplatz ließen sich ebenfalls nur vereinzelt Passanten blicken.
Unser beider Schweigen setzte sich fort, während wir auf den Bus warteten. Jedes Mal, wenn ich mich zu Kevin umdrehte, versperrte mir seine Kapuze den Blick in sein Gesicht. Fast hatte ich den Eindruck, als wollte er sich unter ihr vor mir verstecken. Entweder sah ich nur seine Nasenspitze oder er hatte den Kopf ganz von mir abgewandt. Ich fragte mich, ob er da nur nach dem Bus Ausschau hielt oder ob er meinem Blick ganz bewusst auswich. Es war schwer zu deuten, was ihn im vorging. Vielleicht hatte er doch mehr Angst vor dem, was daheim auf ihn zukommen würde, als er mir oder sogar sich selbst eingestehen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass das Tageslicht seine Laune aufhellen würde.
Kapitel 22 - Coming Home
„Wow!“, entfuhr es mir, als wir endlich am Tor vor dem Grundstück der Familie Winter ankamen. Kevin hatte mir unterwegs schon erzählt, dass ihr Haus von einem bekannten Architekten entworfen worden war - wiederum ein Freund seiner Eltern, der damit irgendeinen Architekturpreis gewonnen hatte. Trotzdem musste ich im ersten Moment spontan meine Bewunderung äußern. Mir war aber gleichzeitig klar, dass dieses extravagante Heim Kevins Familie nicht vor schweren Schicksalsschlägen geschützt hatte. Deshalb vermied ich es, in einen Begeisterungstaumel zu verfallen, sondern unterließ weitere Bemerkungen. Stattdessen wartete ich schweigend, bis Kevin seinen Schlüssel aus der Jackentasche gekramt hatte und mit dessen Hilfe das elektrische Tor zur Seite schwingen ließ, dass die Einfahrt ins Grundstück verwehrte.
Unterwegs war Kevins Stimmung tatsächlich besser geworden. Auf dem etwa halbstündigen Fußweg vom Bahnhof bis hierher hatte er sogar sichtlich Freude daran gehabt, mir seine Heimatstadt zu zeigen. Die Reise zuvor, in langsamen Nahverkehrszügen und mit zwei endlos erscheinenden Umsteigeaufenthalten, war zwar nervig gewesen, inzwischen aber längst vergessen. Das Einzige, was mir den Tag jetzt noch vermieste, war das Wetter. Der Himmel war zwar grau und wolkenverhangen, vom Regen waren wir auf unserer Reise aber sehr zu meinem Leidwesen verschont geblieben. Unsere Kapuzen hatten wir beide daher seit dem Einstieg in den Bus am frühen Morgen nicht mehr gebraucht.
Auf dem Weg über den gepflasterten Weg zur Haustür ließ ich meinen Blick weiter in stiller Bewunderung über das Haus und das Grundstück schweifen.
„Los, komm schon rein!“ musste mich Kevin daher extra auffordern, nachdem er die Haustür aufgesperrt hatte. „Wenn du willst, kannst du dir das später noch alles in Ruhe anschauen. Ich hab jetzt Hunger. In der Kühltruhe gibt’s bestimmt Tiefkühlpizza. Ist das okay für dich?“
„Klar“, willigte ich sofort ein. Auch mir knurrte inzwischen der Magen. Die Mittagszeit war längst vorbei und wir hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen.
Von innen wirkte das Haus nicht ganz so spektakulär. Es war modern eingerichtet, unterschied sich aber diesbezüglich nicht sehr von anderen Häusern. Kevin ließ mir nicht viel Zeit, um mich umzusehen und durch die offenen Türen in die anderen Räume zu blicken, sondern stürmte sofort voraus in die Küche. Es schien, dass er nach der langen Abwesenheit überhaupt keine langsame Wiedereingewöhnung nötig hatte. Ich blieb neben der Küchentür stehen und sah ihm dabei zu, wie er die Kühltruhe durchwühlte und schließlich drei quadratische Packungen hochhielt.
„Pizza Salami, Pizza Mozzarella oder Pizza Funghi?“
„Mag ich eigentlich alle“, erwiderte ich.
„Dann machen wir die mit Salami und die mit Mozzarella. Auf Pilze bin ich grad nicht scharf. Wenn du willst, kannst du dann von jeder die Hälfte haben. Okay?“
„Perfekt!“, stimmte ich zu. Mir lief bei dem Gedanken an die fruchtige Tomatensoße und den zerlaufenen Käse schon das Wasser im Mund zusammen.
Kevin schaltete den Backofen ein und bereitete die beiden Pizzen vor. Als er sie in den Ofen geschoben hatte und keine Anstalten machte, die Küche wieder zu verlassen, fragte ich ihn: „Willst du dich nicht mal im Haus umsehen? Du warst schließlich schon lange nicht mehr hier.“
„Später“ war die einzige Antwort, die ich erhielt.
Da ich mich nicht traute, allein das fremde Haus zu erkunden, bleib ich in der Küche, setzte mich an den Tisch und ließ mir ein Glas Cola einschenken.
Nachdem wir unsere Mahlzeit verspeist und gemeinsam das Geschirr abgespült hatten, bemerkte ich beim Blick durch eines der Küchenfenster, dass draußen nun doch noch der Regen eingesetzt hatte. Leise grummelte ich vor mich hin: „Na toll! Das hätte ruhig schon vorhin regnen können, als wir auf dem Weg hierher waren.“
Kevin hatte meine Bemerkung gehört und reagierte sofort: „Hey, im Gegensatz zu dir fand ich das trockene Wetter vorhin schöner.“
„Wir könnten ja jetzt noch mal rausgehen und uns weiter die Gegend ansehen“, schlug ich mit einem frechen Grinsen vor.
Kevin grinste kurz zurück, wurde aber gleich darauf ziemlich ernst.
„Ich würde jetzt gerne mal rauf in mein Zimmer gehen“, sagte er zögerlich. „Ich meine, dass ich erst mal eine Weile ganz alleine da oben sein möchte. Verstehst du?“
Natürlich verstand ich das. Ich hatte mich ja sowieso schon gewundert, warum Kevin mich so schnell in die Küche geschleppt hatte, ohne die anderen Räume auch nur zu beachten. War das vielleicht eine Art Flucht gewesen, um die tatsächliche Rückkehr in dieses Haus noch eine Weile hinauszuzögern?
„Klar, ist absolut okay.“
„Wie wär’s, wenn du dich alleine draußen umsiehst? Setz deine Kapuze auf und lass dich ’ne Weile nass regnen.“ Seine ernste Miene war schon wieder einem Schmunzeln gewichen.
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und willigte sofort ein.
„Hier, nimm den Schlüssel mit und komm einfach rein, wenn du genug hast oder total durchgeweicht bist.“
„So doll regnet’s jetzt auch wieder nicht“, erwiderte ich und verdrehte dabei die Augen.
Während Kevin die Treppe in den ersten Stock hinaufging, schlüpfte ich wieder in meine Jacke und verließ das Haus. Noch bevor ich hinaus in den Regen trat, hatte ich auch schon die Sweatshirtkapuze über den Kopf gestreift. Am liebsten hätte ich jetzt auch noch den Reißverschluss hinten am Kragen meiner Jacke geöffnet, die dünne Nylonkapuze herausgeholt, über die Sweatkapuze gezogen und anschließend beide Kapuzen fest zugebunden. Ich fand aber sofort mehrere Gründe, dies nicht zu tun. Zum einen war der Regen nicht wirklich stark. Außerdem wäre ich mir so ausstaffiert trotz der damit verbundenen Erregung ziemlich blöd vorgekommen. In Kevins Wohngegend war es zwar ziemlich ruhig und es kannte mich hier auch niemand. Trotzdem wäre es mir peinlich gewesen, in solch einem Outfit jemandem zu begegnen. Es war mir noch nicht mal Recht, wenn Kevin mich aus einem der Fenster so sehen würde. Schließlich beließ ich es dabei, die Kordel der Sweatshirtkapuze etwas enger zu ziehen, so dass auch meine Stirn vor den Regentropfen geschützt war, und begann meine Erkundungstour damit, dass ich mir Kevins Haus von der Einfahrt aus nochmals genau ansah.
Das zweistöckige Haus setzte sich aus mehreren Quadern zusammen. Dabei bildete ein großer Quader die Grundform. Zwei längliche Quader mit Glasfronten an den Enden, die ein Stück über die Mauern unter ihnen ragten, waren links außen und in der Mitte in die Grundform eingelassen und schienen quasi mit dem Obergeschoss des Gebäudes verschmolzen zu sein. Ein ähnlicher Quader ragte auf der rechten Seite im Erdgeschoss hervor. Am Rest des Gebäudes zierten große Fenster die weiße Fassade. Bei der ein paar Meter entfernt stehenden Doppelgarage setzte sich das Verwirrspiel aus Ecken und Kanten fort, wobei man hier jedoch auf große Glasflächen verzichtet hatte.
Ich machte mich auf den Weg um das Haus herum. Da das Gebäude an einem Hang erbaut worden war, führten mich zunächst ein paar Treppenstufen nach unten. Dann erstreckte sich vor mir eine große Rasenfläche, die an beiden Seiten von Büschen und Bäumen flankiert wurde. Nach vorne hin hatte man einen guten Ausblick über die ganze Stadt. Als ich mich zum Haus umwandte, entdeckte ich durch die Glasfront im Untergeschoss einen Swimmingpool. Von dem hatte mir Kevin schon erzählt und mich am Morgen extra noch einmal daran erinnert, eine Badehose mitzubringen. Als ich alles ausgiebig betrachtet hatte, machte ich mich wieder auf den Rückweg zur anderen Hausseite. Der Regen war mittlerweile schon wieder schwächer geworden. Als ich über den Baumwollstoff meiner Kapuze strich, fühlte sich dieser zwar feucht an, er war aber noch lange nicht durchgeweicht. Ich entschied mich daher, noch ein wenig länger im Freien zu bleiben und verließ das Grundstück durch ein schmales Seitentor, das ich problemlos mit einem von Kevins Schlüsseln öffnen konnte. Die Straße vor dem Grundstück wirkte wie ausgestorben. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Ich lief ein Stück den Gehsteig entlang und begutachtete die anderen Grundstücke. Die Wohngegend war zweifellos den wohlhabenderen Einwohnern der Stadt vorbehalten. Trotzdem konnte es keines der übrigen Häuser architektonisch mit dem der Winters aufnehmen.
Als ich wieder am großen Tor vor der Einfahrt ankam, steckte ich den mit ‚Tor’ beschrifteten Schlüssel in das in eine Säule eingelassene Schloss und ließ die breite metallene Pforte aufschwingen, genau wie Kevin dies vorhin getan hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es nach einer Weile von alleine wieder zugehen würde, deswegen blieb ich wartend auf dem Grundstück stehen. Nichts passierte. Ich lief zurück zur Säule, um es nochmals mit dem Schlüssel zu versuchen. Der Anblick eines Radfahrers ließ mich innehalten. In all der Zeit, die ich hier draußen verbracht hatte, war dies der erste Mensch, der mir begegnete. Da ich erkennen konnte, dass die Gestalt als Schutz vor dem immer noch leicht herabplätschernden Regen eine Kapuze aufgesetzt hatte, wartete ich, bis sie näher kam. Der Radler war eindeutig männlich. Als er noch etwa 50 Meter entfernt war, erkannte ich im Schatten unter der Kapuze ein noch relativ junges Gesicht. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. Auch wenn die Jacke, die er da anhatte, nicht unbedingt meinem Geschmack entsprach und außerdem eine feste Kapuze aufwies, die man aufsetzen konnte, ohne damit uncool zu wirken, konnte ich nicht umhin, den Anblick in meinem Gehirn abzuspeichern. Um ihm nicht das Gefühl zu geben, von mir angestarrt zu werden, wandte ich mich rechtzeitig bevor er an mir vorbeifuhr wieder der Säule zu. Entgegen meinen Erwartungen fuhr der Junge aber nicht auf der Straße weiter, sondern bog dicht hinter meinem Rücken durch das noch immer geöffnete Tor in die Einfahrt ein. Er trat in dem Moment kräftig auf die Bremse, als das Hinterrad die Grundstücksgrenze überrollt hatte, und blieb knapp zwei Meter vor mir stehen.
„Hi!“, rief er mir zu. „Man kann das Tor auch vom Haus aus schließen.“
„Oh, das wusste ich nicht“, erwiderte ich lahm, zu erstaunt und überrumpelt, um seine Begrüßung zu erwidern.
„Du bist sicher David, oder?“
„Ja, der bin ich.“ Jetzt war ich noch verwirrter. Woher kannte der Typ meinen Namen? Ich sah ihn mir genauer an. Er wirkte eher blass und hatte Sommersprossen im Gesicht, wenn auch nicht übermäßig viele. Unter der Kapuze lugten ein paar rote Locken hervor. Insgesamt war er nicht unattraktiv. Nur die schwarze Winterjacke aus Baumwollstoff mit der angeschnittenen Kapuze fand ich eher langweilig. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass der Anblick mir gefiel. Wie gut, dass ich selbst darauf verzichtet hatte, mich in zwei Kapuzen einzupacken. Vor ihm in solch einem Outfit dazustehen, wäre mir unendlich peinlich gewesen.
Mittlerweile war er von seinem Mountainbike abgestiegen und streckte mir seine rechte Hand entgegen, während er mit der linken weiter sein Rad festhielt.
„Hallo“, begrüßte er mich nochmals. „Ich bin Enrico Heymann. Kevin hat dir sicher schon was über mich erzählt.“
Ich schüttelte seine Hand und sagte ebenfalls Hallo. Ich erinnerte mich, dass ich in der vergangenen Woche seinen Anruf entgegen genommen hatte und fragte: „Dann warst du das also vor ein paar Tagen am Telefon?“ „Wo ist Kevin denn?“, wollte er sofort wissen, nachdem er bejahend genickt hatte.
„Der wollte rauf in sein Zimmer, eine Weile für sich allein sein. Sich hier wieder eingewöhnen oder so. Ich bin alleine noch mal raus, um mal ein bisschen die Gegend zu erkunden und mir das Haus noch mal von außen anzusehen.“
„Sieht schon stark aus, oder?“
„Ja“, musste ich zugeben. „In so ’nem Haus wohnt nicht jeder.“
„Wolltest du gerade wieder reingehen?“
„Ja. Ich hab von Kevin den Schlüssel“, erwiderte ich und hielt den Schlüsselbund hoch.
„Ich stell noch schnell mein Fahrrad da unter.“ Er deutete auf eine überdachte Fläche neben der Garage.
Ich wartete, bis er wieder zurück war, und ging dann neben ihm zurück zum Haus. Als er sich im Eingangsbereich die Kapuze vom Kopf schob, kam ein roter Lockenkopf zum Vorschein. Ich erinnerte mich, dass ich ihn mir nach unserem kurzen Telefonat wegen seines Namens unwillkürlich als schwarzhaarigen, braungebrannten Südländer vorgestellt hatte. Vielleicht war ich deswegen nicht von selbst auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Jungen, der da auf das Grundstück der Winters eingebogen war, um Kevins Kumpel Enrico handelte.
Ich schloss die Tür auf und wir traten ein. Enrico zeigte mir sogleich den Knopf, mit dem man das Tor schließen konnte. Während ich in der geöffneten Haustür stehen blieb und zusah, wie es langsam zuschwang, hatte Enrico schon seine Jacke ausgezogen. Ich tat es ihm gleich und streifte auch endlich die Kapuze vom Kopf.
„Dann lass uns mal nach Kevin sehen“, schlug ich vor und rief laut dessen Namen. Als auch nach einigen Augenblicken keine Antwort zu hören war, rief ich noch einmal nach ihm.
„Wir schauen einfach mal nach oben“, ergriff Enrico schließlich die Initiative.
Zögerlich stieg ich hinter ihm die Treppe hinauf. Während er sich hier anscheinend gut auskannte, vielleicht sogar heimisch fühlte, kam ich mir wie ein Eindringling vor.
„Kevin, wo steckst du?“, rief Enrico leise, als er die oberste Stufe erreicht hatte. Er blieb einen Moment stehen und sah sich um.
„Die Tür von Marcos Zimmer ist offen“, flüsterte er mir erschrocken zu. „Du weißt ja sicher über Marcos Unfall Bescheid, oder?“
Ich nickte kurz und wir gingen ein paar Schritte weiter.
„Kevin, bist du da drin?“, rief er leise in Richtung der offenen Zimmertür.
„Ja, ich bin hier“, kam es leise zurück.
Ich war erleichtert, dass Kevin endlich antwortete. Ich hatte schon begonnen, mir Sorgen zu machen. Inzwischen war Enrico direkt vor die Öffnung getreten und blickte ins Zimmer. Ich trat ängstlich schräg hinter ihn und spähte über seine Schulter hinweg ebenfalls in den Raum. Kevin saß von der Tür abgewandt in der Mitte des Zimmers auf dem Boden, sah aber über die Schulter zu uns her. Er sah richtig traurig aus.
„Eigentlich wollte ich gar nicht hier reingehen“, sagte er. „Ist immer noch alles so wie früher hier drin. So als ob Marco nur kurz weg wäre.“
Es folgte eine Pause, in der er den Kopf wieder von uns abwandte.
„Ich weiß nicht, was mich hier reingezogen hat“, fuhr er nach einer Weile leise fort, während er sich langsam vom Boden erhob. „Irgendwie musste ich mir das alles einfach mal wieder ansehen.“
Es schien ihn einige Kraft zu kosten, ein leichtes Lächeln in Enricos Richtung zustande zu bringen. Als er seinem Freund schließlich entgegentrat, schien sein Gesichtsausdruck aber doch Wiedersehensfreude widerzuspiegeln.
„Hi, Enrico!“
„Hi, Kevin!“
Die beiden nahmen sich kumpelhaft in den Arm und klopften einander mehrmals auf die Schulter.
„Lang nicht mehr gesehen, was?“ bemerkte Enrico betont locker.
Als die beiden sich wieder voneinander gelöst hatten, wischte Kevin sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
„Keine Sorge, ich bin schon okay“, wehrte er ab, bevor Enrico oder ich irgendetwas sagen konnten.
„Lasst uns runter gehen“, forderte er uns schließlich auf und schloss die Zimmertür hinter sich.
Kapitel 23 - In die Hose
Das nächste Mitglied von Kevins Freundeskreis, das im Laufe des späten Nachmittags eintraf, war ein hübsches, nettes Mädchen namens Sara. Sie fuhr mit einem kleinen, gelben Twingo bis direkt vors Haus - Kevin hatte das große Tor vorsorglich bereits geöffnet - und klingelte an der Tür.
Es folgte eine herzliche Begrüßung mit einer langen Umarmung, in deren Verlauf Kevin mehrere Küsschen auf die Wange erhielt. Er machte das alles bereitwillig mit.
„Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“
„Naja, noch nicht ganz“, beschwichtigte Kevin. „Ich muss schon noch mal zurück in die Klinik. Wir hauen gleich morgen früh wieder ab.“
Er deutete auf mich: „Das da ist übrigens David.“
Er stellte mir auch Sara vor. Wir gaben uns kurz die Hand und sagten Hallo.
„Aber bald bis du wieder ganz zuhause, oder?“ kam Sara nochmals zu Kevin gewandt auf das vorherige Thema zu sprechen.
„Ja, dauert nicht mehr lange, dann bin ich wieder hier.“
„Das ist so toll, dass es dir wieder besser geht. Geht’s dir doch, oder?“
Kevin lächelte tapfer. „Ich komm schon wieder in Ordnung.“
„Ich hätte dich so gern mal angerufen, aber Enrico war sich nicht sicher, ob dir das Recht ist.“
Kevin zuckte mit den Schultern. „Jetzt bin ich ja erst mal wieder hier.“
Sara war erst wenige Minuten im Haus, als ein zweites Auto vorfuhr. Diesmal war es ein alter roter Golf, aus dem zwei Jungs ausstiegen. Bevor sie zum Haus kamen, holten sie eine Getränkekiste und zwei prall gefüllte Plastiktüten aus dem Kofferraum. Schwer bepackt kamen sie schließlich herein und stellten alles im Eingangsbereich ab. Enrico und ich machten uns spontan daran, die Sachen in die Küche zu schleppen und dort gleich die Tüten auszupacken, die verschiedene Snacks enthielten. So konnte Kevin die beiden mir noch unbekannten Freunde in Ruhe begrüßen. Nur am Rande bekam ich noch mit, dass der eine Kevin in den Arm nahm und ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte. Diese Art der Begrüßung fand ich zwar etwas merkwürdig, dachte mir aber zunächst nichts weiter dabei. Kevin schien die Geste auch nicht besonders zu genießen. Als ich zu der Gruppe zurückkehrte, schüttelte Kevin gerade dem anderen die Hand. Diese Begrüßung war zwar weniger innig, schien dafür aber herzlicher zu sein.
„Ihr beide seid also immer noch zusammen“, bemerkte Kevin schließlich und ließ dabei den Blick von dem einen jungen Mann zum anderen schweifen.
„Nee, ‚immer noch’ ist nicht ganz richtig. Wir hatten uns zwischendurch mal getrennt. Irgendwie hat’s dann aber doch noch mal gefunkt.“
Die beiden traten nebeneinander, legten sich demonstrativ gegenseitig die Arme um die Hüften und sahen sich lächelnd in die Augen. Es dauerte einen Moment, bis bei mir der Groschen fiel. Die beiden Jungs waren ein Paar! Jetzt erinnerte ich mich auch wieder, dass Kevin zwei schwule Kumpels erwähnt hatte, als wir gleich in der ersten Woche unseres Klinikaufenthalts den Ort erkundet hatten. Damals - es schien schon endlos lange her zu sein - hatte ich mich vor Kevin als schwul geoutet. Das da waren also die beiden Homosexuellen in Kevins Clique. Da ich die Existenz der beiden bis eben völlig vergessen hatte, war ich auf die Begegnung überhaupt nicht vorbereitet. Ich schüttelte ihnen kurz die Hand, während Kevin sie mir als Maxi und Tobi vorstellte - die Namen passten ja schon mal gut zusammen - und hielt mich dann wieder im Hintergrund. Glücklicherweise war ich nicht auch noch von Tobi umarmt und abgeknutscht worden. Aus irgendeinem undefinierbaren Grund war mir das Aufeinandertreffen mit den beiden ziemlich unangenehm. Möglicherweise lag es daran, dass sie ein Paar waren und ich mir deshalb bei keinem von ihnen irgendwelche Hoffnungen zu machen brauchte. Aber eigentlich konnte das nicht die Ursache für mein Unbehangen sein, denn ich fand sie weder besonders attraktiv, noch hatten die beiden klamottenmäßig irgendetwas Interessantes für mich zu bieten. Was löste dann meine Unsicherheit aus? Vielleicht war es ganz einfach ihr selbstsicheres Auftreten. Im Gegensatz zu Thomas und Stefan, den beiden anderen Schwulen, die ich in den letzten Wochen kennen gelernt hatte, schienen sie nicht mit Problemen zu kämpfen zu haben, sondern verströmten förmlich eine Aura von Lebensfreude. Wahrscheinlich hatten sie auch keine so verqueren Neigungen wie ich. Spontan kam mir wieder einmal mein Kapuzenfetisch in den Sinn. Und falls doch, dann lebten sie diese Vorlieben sicher mit viel Spaß gemeinsam aus.
Da nun in kurzer Abfolge weitere Gäste ins Haus strömten, blieb mir keine Zeit, mir weiter den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen kam ich mir unter all den Fremden, die sich untereinander offensichtlich alle gut verstanden, immer verlorener vor. Wenigstens konnte ich mich nützlich machen und zusammen mit Enrico in der Küche Chips und andere Knabbersachen in Schalen füllen und Gläser für die Getränke aus den Schränken holen. Mit ihm war ich mittlerweile ja schon etwas vertraut, so dass ich mich in seiner Gegenwart recht wohl fühlte. Als wir alles auf zwei großen Tabletts ins Wohnzimmer trugen, war der Rest der Gruppe dort bereits versammelt. Kevin saß dicht neben Sara auf der Couch, während Enrico und ich uns noch zwei Stühle aus der Küche holen mussten, weil alle anderen Sitzgelegenheiten bereits belegt waren. Wir zwängten uns schließlich an einer noch freien Stelle nebeneinander in die Runde.
Inzwischen wurde schon eifrig berichtet, was Kevin während seiner Abwesenheit alles verpasst hatte. Zumeist waren das irgendwelche Geschichten über lustige Vorfälle in der Schule oder aus der Freizeit. Die Atmosphäre war zu meiner Überraschung erstaunlich locker. Von großer Anspannung oder Zurückhaltung wegen Kevins Problemen nach dem Tod seines Bruders war nicht viel zu spüren. Nur wenigen von Kevins Freundinnen und Freunden schien es schwer zu fallen, mit der Situation umzugehen. Sogar Kevin schien richtig Spaß zu haben. Auch als es nach einer Weile etwas stiller zuging und man Kevin vorsichtig auf sein eigenes Schicksal ansprach, blieb er erstaunlich gefasst. Zunächst wurden nur zögerlich Fragen darüber gestellt, was in der Klinik allgemein so ablief, ob die Zimmer schön wären und ob das Essen genießbar war. Bei diesen Themen konnte ich mich auch endlich wieder ein wenig am Gespräch beteiligen und ein paar Ergänzungen anbringen. Später wurde Kevin offener und erzählte zögernd, so weit er dazu bereit und in der Lage war, von dem, was er durchgemacht hatte, von seinen Albträumen und von den Therapiegesprächen. Sara hielt dabei seine Hand, strich ihm durchs Haar oder wickelte sich ein paar der Strähnen um den Zeigefinger, während ihre anderen Finger sanft seinen Nacken streichelten.
„Waren die zwei mal ein Paar?“ fragte ich Enrico heimlich.
„Nein“, flüsterte er leise zurück. „Aber Sara mag ihn schon lange. Es hat sie ganz schön mitgenommen, dass es ihm so schlecht ging.“
Ich hatte das Gefühl, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnte. Für Kevin hätte mich das natürlich wahnsinnig gefreut. Ich selbst musste mir aber eingestehen, dass ich etwas eifersüchtig war. Schließlich war ich es gewesen, der Kevin in den letzten Wochen immer beigestanden hatte. Jetzt Sara so neben ihm sitzen zu sehen, löste Gefühle in mir aus, die ich nicht erwartet hatte.
Irgendwann wurde das Gespräch wieder auf weniger ernste Themen verlagert. Da ich weder die Personen noch die Orte kannte, von denen die Rede war, versank ich immer mehr in eigenen Gedanken. Ich dachte dabei noch nicht mal mehr über Kevin und Sara nach, sondern fragte mich, was wohl in der Klinik gerade passierte. War dort alles in Ordnung? War Stefan wieder bei Thomas?
Ich zuckte leicht zusammen, als plötzlich eine Hand meine Schulter berührte.
„Du langweilst dich gerade, oder?“
Die Worte kamen von Enrico und es war auch seine Hand, die auf meiner Schulter lag. Ich brauchte einen Moment, um wieder richtig im Hier und Jetzt anzukommen.
„Naja, geht so“, antwortete ich schließlich.
„Hat Kevin dir schon den Pool gezeigt?“
„Nein“, antwortete ich. „Ich hab ihn aber schon vom Garten aus durch die Fenster gesehen.“
„Wenn du Lust hast, könnten wir schwimmen gehen. Was hältst du davon?“
„Wir zwei?“
„Ja. Oder magst du nicht?“
In Enricos Stimme schwang Enttäuschung mit. Ich hoffte, dass er meine zögerliche Antwort nicht als Ablehnung empfunden hatte.
„Doch, gerne“, antwortete ich daher schnell. „Ich wusste bloß nicht, ob vielleicht sonst noch wer mitkommt.“
„Nee, ich glaube die anderen amüsieren sich hier alle gerade ganz gut. Nur wir beide also. Was ist nun? Kommst du mit?“
Als Antwort nickte ich ihm lächelnd zu. Enrico teilte den anderen noch mit, was wir vorhatten, und verließ dann zusammen mit mir das Zimmer.
„Hast du eine Badehose dabei?“ frage er mich beim Hinausgehen.
„Ja. Kevin hat mir mindestens hundert Mal gesagt, dass ich eine mitbringen soll. Ich muss nur schnell rauf, um sie zu holen.“
Am Nachmittag hatte Kevin mir bereits das Gästezimmer gezeigt, in dem ich in der kommenden Nacht schlafen würde. Dieses lag wie sein eigenes Zimmer im ersten Stock. Da ich bereits meinen Rucksack dort deponiert hatte, in dem auch die Hose war, rannte ich schnell nach oben.
„Handtücher liegen unten am Pool“, rief Enrico mir noch nach.
Keine Minute später liefen wir schon die Treppe ins Untergeschoss hinunter - das Wort ‚Keller’ wurde dem, was uns dort erwartete, nicht gerecht. Als Enrico das Licht eingeschaltet hatte, fiel mein Blick auf ein richtiges Schwimmparadies. Der Pool war zwar nicht besonders groß, wurde aber effektvoll beleuchtet. Statt der üblichen Rechteckform hatte er abgerundete Seitenwände. Ein paar Liegen und zahlreiche Pflanzen vermittelten eine heimelige Atmosphäre.
„Es gibt auch ’ne Sauna hier unten, aber wenn wir die jetzt einschalten, ist die nicht vor Mitternacht heiß.“
„Mir reicht der Pool völlig.“ Ich konnte mir gar nicht richtig vorstellen, wie es wäre, nur allein mit Enrico, den ich kaum kannte, in so einer Kabine zu sitzen, wir beide völlig nackt. Oder wickelte man sich in der Sauna üblicherweise ein Handtuch um die Hüften?
Enrico öffnete ein in der Nähe stehendes Schränkchen. „Ich hab hier immer ’ne Badehose deponiert. Früher war ich ständig bei Kevin zum Schwimmen, aber seit das alles passiert ist, war ich nicht mehr hier. Hoffentlich passt sie mir noch.“
Verstohlen grinsend wandte er sich von mir ab, streifte seine Klamotten ab und schlüpfte in die Badehose, die immer noch perfekt saß. Während ich mich selbst ebenfalls meiner Kleidung entledigte, blickte ich mich heimlich ein paar Mal in seine Richtung um. Sein Körper war ziemlich schmal und wenig muskulös. Eine große Sportskanone schien er nicht zu sein. Das war ich aber auch nicht.
Als ich mit dem Umziehen fertig war, schwamm Enrico bereits im Pool. Er war einfach hinein gehüpft. Ich hingegen setzte mich auf den Beckenrand und ließ mich langsam ins Wasser gleiten.
„Du kannst doch schwimmen, oder?“ scherzte Enrico.
„Nee, das wirst du mir erst beibringen müssen“, erwiderte ich schlagfertig.
Im nächsten Moment kam mir ein Schwall Wasser entgegen, was mich dazu veranlasste, auch Enrico ein wenig nass zu spritzen. Das hier schien richtig lustig zu werden.
Als Enrico nach einer Weile die Gegenstromanlage einschaltete, war der Spaß perfekt. Wir ließen uns immer wieder bis zur einen Seite des Beckens treiben und schwammen anschließend gegen die Strömung an, bis wir die breite Haltestange am anderen Beckenrand erreicht hatten, wo mehrere Düsen unter uns einen druckvollen Strahl aus Wasser und Luft ausstießen. Manchmal hielten wir uns dann eine Weile an dem Griff fest, um das Sprudeln am ganzen Körper zu spüren, was fast einer Massage glich, ehe wir uns erneut abtreiben ließen.
Zunächst schwammen wir meist Seite an Seite nebeneinander her, später ließ sich immer einer treiben, während der andere auf gleicher Linie gegen die Strömung anschwamm. Das zwang uns zu schnellen Ausweichmanövern, wenn wir uns in der Mitte begegneten. Bisweilen berührten sich dabei unsere Körper. Irgendwann verlor ich jedes Zeitgefühl. Auch Kevin und die anderen, die oben im Wohnzimmer saßen, vergaß ich völlig.
„Hey, ich brauch mal ’ne Pause“, rief mir Enrico irgendwann zu. Besonders viel Kondition schien er wirklich nicht zu haben. Ich selbst fühlte mich noch kein bisschen erschöpft.
„Bleib ruhig drin, wenn du willst.“ wies er mich an.
Ich sah ihm zu, wie er aus dem Becken kletterte, sich ein Handtuch aus einem Regal schnappte und sich abzutrocknen begann. Er schien ganz schön aus der Puste zu sein und ließ sich ächzend auf eine der Liegen fallen. Während ich weiter meine Bahnen zog - was alleine weit weniger Spaß machte, wie ich bald feststellte - sah ich öfters zu ihm hinüber und bemerkte dabei, dass auch er seinen Blick meist auf mich gerichtet hatte. Respektvoll musste ich feststellen, dass ich Kevin um seine Freundschaft mit diesem Typ beneidete. Die beiden waren zusammen sicher schon durch dick und dünn gegangen. Es war ja nun wirklich nicht so, dass ich selbst zuhause keine Freunde gehabt hätte, aber so eine wirklich innige Freundschaft wie die von Kevin und Enrico war nicht dabei. Meine eigene Krise hatte mir dies richtig deutlich gemacht. Echtes Verständnis und bedingungslosen Zusammenhalt hatte ich nicht erfahren. Enrico hatte heute sehr gut erkannt, dass Kevin bei den anderen oben gut aufgehoben war, und stattdessen beschlossen, sich um mich zu kümmern, damit auch ich den Abend ein wenig genießen konnte. Und das hatte er wirklich geschafft. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt.
Nach einer Weile kletterte ich ebenfalls aus dem Becken, griff nach einem Badetuch und lief zu ihm hinüber. Da die Liegen weit auseinander standen, setzte er sich auf und rückte zur Seite, so dass ich neben ihm Platz nehmen konnte.
„Na, jetzt siehst du aber auch ganz schön erschöpft aus“, flachste er.
„Bin ich auch“, musste ich zugeben und wischte mir mit dem Handtuch die Wassertropfen von der Stirn. Ich war sogar so ausgelaugt, dass ich keine Lust hatte, mich weiter abzutrocknen. So beließ ich es dabei, meinen Oberkörper in den weichen Baumwollstoff einzuwickeln und wartete schweigend, bis sich mein Atem etwas beruhigt hatte.
„Mit Kevin bin ich früher auch immer so um die Wette geschwommen“, erzählte mir Enrico derweil. „Als seine Eltern das Haus hier fertig gebaut hatten, war ich zwölf oder so. Am Anfang war ich jeden Tag hier, so begeistert war ich. Meine Eltern können sich so was nicht leisten. Wir wohnen in ’nem stinknormalen Haus. Da hab ich nur ’ne einfache Badewanne zur Verfügung.“
„Kevin hat aber mal erzählt, dass die Ferienwohnung, in der eure Eltern jetzt sind, euch gehört.“
„Naja, meine Großeltern wohnen im Allgäu und haben dort ein Haus. Für die beiden alleine ist das viel zu groß und ein Stockwerk an Fremde vermieten wollen sie nicht. Deswegen können wir den ersten Stock als Ferienwohnung nutzen. Kevin übertreibt eben manchmal ganz gern.“
„Du bist schon lange mit ihm befreundet oder?“ wollte ich wissen.
„Ja, unsere Familien kennen sich schon ewig. Unsere Mütter waren Schulfreundinnen. Wir haben schon zusammen im Sandkasten gespielt.“
Er stützte die Hände hinter sich auf und lehnte sich seufzend zurück.
„Ist schon Scheiße, was passiert ist. Kevin ging’s richtig dreckig, oder?“ fragte er leise.
Ich nickte: „Das kann man wohl sagen.“
„Nach dem Unfall hat er sich nie was anmerken lassen. Er hat nie seine Gefühle gezeigt. Nicht mal mir, seinem besten Freund. Ich versteh das nicht.“
„Ich glaube, er hat einfach nicht wahrhaben wollen, dass durch den Tod seines Bruders sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde, und hat deshalb krampfhaft versucht, so weiterzumachen wie vor dem Unfall. Dass das nicht funktionieren konnte, hat er wohl nicht erkannt. Und deswegen ist er dann irgendwann komplett zusammengebrochen. So wirklich verstanden habe ich das aber auch alles nicht“, musste ich zugeben.
„Ihm geht’s inzwischen aber wirklich besser, oder?“
„Ja, auf jeden Fall“, beruhigte ich Enrico. „Ich denke, er ist wieder ganz okay. Wir müssen uns wohl keine Sorgen mehr um ihn machen.“
Enrico musste lächeln. Wahrscheinlich aus Erleichterung. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck machte mich aber stutzig.
„Du magst ihn, oder?“ fragte er mich nach einem Moment des Schweigens.
„Ja. Wie kommst du jetzt darauf?“
„Naja, weil du sagst, dass du dir Sorgen um ihn gemacht hast.“
„Du doch auch, oder?“
„Ja klar, aber ich kenn ihn ja auch schon ewig. Du hast ihn erst in der Klinik kennen gelernt.“
Ich wusste nichts darauf zu erwidern und schwieg verlegen.
„Hey, ich kann das gut verstehen, dass du Kevin magst. Echt gut.“
Seufzend klopfte er mir kurz auf die Schulter.
„Weißt du, als ich so 15 oder Anfang 16 war ...“ Er zögerte eine Weile und schien nicht zu wissen, wie er fortfahren sollte. Schließlich beugte er sich nach vorn, stützte sich auf der Vorderkante der Liege ab und richtete den Blick zum Boden. Er atmete tief ein und erzählte dann leise: „Ich hab Kevin das nie verraten, aber in dem Alter war ich ’ne Weile richtig verknallt in ihn. Ich kann also wirklich verstehen, dass du ihn gern hast.“
Ich war sprachlos. Wahrscheinlich starrte ich Enrico, der mir inzwischen wieder zaghaft die Augen zugewandt hatte, sogar mit offenem Mund an.
„Das heißt, du bist schwul?“ brach es aus mir hervor.
„Ja, hat Kevin dir das denn nicht gesagt?“ erwiderte er mit sichtlicher Verwunderung.
„Nein!“ erwiderte ich. „Hat er nicht!“
Ich schrie die letzten Worte fast heraus, denn im selben Moment wurde mir klar, dass Enrico zwar seine Verliebtheit vor Kevin geheim gehalten hatte, nicht aber seine Homosexualität. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Kevin hatte mir nur etwas von zwei Schwulen in seinem Freundeskreis erzählt, nicht von dreien. Und diese beiden waren ja nun ganz eindeutig Maxi und Tobi. Was ging hier gerade vor? Nichts passte auf einmal mehr zusammen.
„Kevin weiß, dass du schwul bist?“ fragte ich noch einmal nach, nur um sicher zu gehen, dass ich nichts missverstanden hatte.
„Ja, klar weiß er das.“
Enrico sah mich völlig verstört an, während mir eine weitere Erkenntnis dämmerte. Offensichtlich wusste Enrico über mich Bescheid. Er wusste, dass auch ich schwul war. Wie hätte er meine Gefühle für Kevin sonst richtig deuten können? Und warum hätte er mir sonst erzählen sollen, dass auch er mal in Kevin verknallt gewesen war? Ich versuchte krampfhaft, meine Gedanken zu ordnen.
„Du weißt von mir, dass ich schwul bin?“ Ich realisierte erst jetzt, dass ich aufgesprungen war und wild gestikulierend vor ihm stand, während er hilflos zu mir aufblickte.
„Ja“, antwortete er völlig arglos.
„Woher?“
„Von Kevin.“ Enrico war inzwischen ziemlich kleinlaut.
Ich merkte gar nicht, dass mein Verhalten ihm gegenüber nicht in Ordnung war. „Warum verrät Kevin dir, dass ich schwul bin? Ich hab ihm das nicht erlaubt! Und mir sagt er nichts über dich!“
„Ich weiß nicht. Ich dachte, er hätte dir gesagt, dass ich auch schwul bin. Wirklich!“
„Hat er dir mehr über mich erzählt?“
„Ja, schon.“
Ich wand mich von ihm ab und feuerte mein Badetuch gegen die nächste Wand. Im Moment wollte ich gar nicht wissen, was Kevin alles über mich ausgeplaudert hatte. Welches Spiel wurde hier verdammt noch mal gespielt? Sollte dies so eine Art Verkuppelungsversuch sein, von dem ich als Einziger nichts wusste? Wahrscheinlich hatte Kevin sogar verraten, dass ich auf Kapuzen stand und nur deswegen war Enrico heute mit aufgesetzter Kapuze aufgetaucht. Ich lief Richtung Ausgang und schnappte mir unterwegs meine Klamotten.
„Hey, warte doch“, rief Enrico mir nach. Er war mir inzwischen gefolgt und sah richtig verzweifelt aus. „Was ist denn los? Ich versteh das alles nicht!“
„Dann geht’s dir wie mir!“ erwiderte ich barsch. Ich hatte zwar das Gefühl, ihm irgendwie Unrecht zu tun, konnte mich im Moment aber nicht beherrschen. Er eilte mir immer noch hinterher, als ich die Treppe ins Erdgeschoss hinauf hastete. Als ich seine Schritte hinter mir hörte, wandte ich mich kurz um, und giftete ihn an: „Lass mich!“
Im Eingangsbereich angelangt hörte ich Gelächter aus dem Wohnzimmer dringen. Fast hatte ich das Gefühl, dass die Stimmen mich auslachten. Ich kämpfte gegen die aufkommende Paranoia an und verschwand schnell die Treppe hoch im Gästezimmer, wo ich die Tür hinter mir zuknallte und mich aufs Bett warf.
Es dauerte keine Minute, bis mir klar wurde, dass ich völlig überreagiert hatte. Was war denn schon passiert? Kevin hatte Enrico verraten, dass ich schwul war. Na und? Da war schließlich nichts dabei. Warum er mir im Gegenzug nichts über Enrico erzählt hatte, konnte ich mir zwar immer noch nicht erklären, aber irgendeinen Grund musste es dafür schließlich gegeben haben. Vielleicht hatte er es einfach nur vergessen. Trotzdem war ich stinksauer auf ihn.
Da ich immer noch die nasse Badehose anhatte, begann ich langsam zu frösteln. Ich streifte sie ab und begann mich anzuziehen, stellte aber schnell fest, dass mir eine Socke fehlte. Sie musste unterwegs aus dem Jeans- und Sweatshirt-Knäuel herausgefallen sein. Frustriert schlüpfte ich unter die Bettdecke und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Die Zeit im Pool mit Enrico war so schön gewesen! Irgendwas war danach ganz fürchterlich in die Hose gegangen.
Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür.
„David? Kann ich reinkommen?“ drang es gedämpft herein. Eindeutig Kevins Stimme.
Ich gab keine Antwort und wartete ab, bis er auch ohne meine ausdrückliche Erlaubnis ins Zimmer trat. Er war allein und wirkte fast genauso hilflos wie Enrico eben.
„Was hast du Enrico alles über mich erzählt?“ fuhr ich ihn sofort an, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte.
„Nichts was dir peinlich sein müsste. Wirklich! Ja, ich hab ihm verraten, dass du schwul bist. Du hast das vor mir und den anderen in der Klinik doch auch nicht verheimlicht, oder?“
„Und was sonst noch?“
„Dass du ein toller Typ bist, ganz gut aussiehst, und dass du in Bad Neuheim immer für mich da warst. Dass ich’s ohne dich dort vielleicht gar nicht ausgehalten hätte.“ Er musste schlucken, als er den letzten Satz aussprach.
Ich beruhigte mich etwas und mein Ärger verflog ob seiner emotionalen Reaktion zumindest zum Teil. Leiser setzte ich mein Verhör fort: „Als Enrico heute mit dem Rad kam, hatte er die Kapuze auf. Hast du ihm erzählt, dass mir das gefällt?“
„Mann, es hat geregnet du Idiot!“ fuhr Kevin mich daraufhin ärgerlich an. „Da setzen auch andere Leute außer dir schon mal ’ne Kapuze auf. Und selbst wenn ich ihm davon erzählt hätte, was ich nicht habe, wäre das so schlimm? Du bist echt der Einzige, der glaubt, dass man sich für so was Harmloses schämen muss!“
„Und warum hast du mir nicht verraten, dass Enrico schwul ist? Kannst du mir das mal erklären? Du hast mir überhaupt nichts von ihm erzählt!“
Kevin seufzte und ließ sich neben mir aufs Bett fallen.
„Okay, das hab ich anscheinend wirklich vermasselt“, gab er zu. „Aber ich kann dir erklären, warum das jetzt alles so blöd gelaufen ist.“
„Dann fang mal damit an.“
„Gut“, seufzte er und fuhr zögernd fort: „Du weißt doch noch, wie du wegen diesem Daniel reagiert hast, dem Typ aus der anderen Gruppe.“
Natürlich erinnerte ich mich daran.
„Du hast dir da Hoffnungen gemacht, und als der Typ plötzlich wieder weg war, bist du total ausgetickt.“
Als Austicken hätte ich meine damalige Reaktion zwar nicht bezeichnet, aber ich musste zugeben, dass Kevin da einen wunden Punkt getroffen hatte.
„Wenn ich dir erzählt hätte, dass Enrico schwul ist, dazu noch genauso jungfräulich wie du, und dass er dich gerne kennen lernen möchte, dann hättest du dir vielleicht wieder irgendwelche übertriebenen Hoffnungen gemacht, oder?“
Ich brauchte eine Weile, um alle Informationen zu verarbeiten. Soeben erfuhr ich mehr, als ich überhaupt erhofft hatte. „Das heißt, du wolltest nur, dass ich nicht wieder eine Enttäuschung erlebe?“, fragte ich nach und tat so, als ob ich die Aussage über Enricos sexuelle Unerfahrenheit überhört hätte.
„Ja. Ich hab mir gedacht, dass Enrico wahrscheinlich gar nicht dein Typ ist, wegen der roten Haare und so.“
„Nee, eigentlich find ich ihn ganz süß“, gab ich mit einem seligen Grinsen zu. „Außerdem ist er ein total netter Kerl.“
„Na siehst du, dann ist doch alles in Ordnung. Ich hätte euch einfach nur besser aufeinander vorbereiten müssen. Bist du noch böse?“
Ich schüttelte den Kopf, wollte aber doch noch etwas wissen: „Eine Sache versteh ich trotzdem noch nicht. Du hast mir mal gesagt, dass zwei deiner Freunde schwul sind. Hast du dich da verzählt oder was?“
Kevin schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Daran erinnerst du dich noch? Dann hast du wahrscheinlich gedacht, dass Maxi und Tobi damit gemeint waren, als die heute aufgetaucht sind, oder?“
„Ja, was hätte ich sonst denken sollen?“
„Okay, dann erklär ich dir das auch noch. Maxi gehört wirklich zur Clique, aber der schleppt immer mal wieder ’nen anderen Freund mit an. Normalerweise hält das bei ihm nie lange. Diesen Tobi kenne ich eigentlich kaum. Ich war total überrascht, dass der überhaupt mitgekommen ist.“
„Dann hast du damals in Bad Neuheim nicht Maxi und Tobi, sondern Maxi und Enrico gemeint?“
„Genau, du hast’s kapiert. Ist jetzt alles geklärt? Kommst du wieder mit runter?“
Eigentlich hätte ich das nun tun sollen. Hinuntergehen und mich dort sofort bei Enrico entschuldigen. Aber mir war der Vorfall von eben viel zu peinlich, um Enrico jetzt wieder unter die Augen treten zu können.
„Ich kann nicht. Ich hab nur eine Socke“, erfand ich deshalb spontan als Ausrede und streckte Kevin meine Füße entgegen, von denen der eine immer noch nackt war. „Die andere hab ich irgendwo verloren.“
„Soll ich suchen gehen?“, kam es sofort spöttisch zurück.
„Nein“, antwortete ich betrübt. „Ich kann da jetzt wirklich nicht mit runter. Ich hab mich total blöd benommen. Enrico muss mich doch jetzt für ’nen totalen Spinner halten. Außerdem wird das mit ihm und mir sowieso nichts. Du und ich, wir müssen morgen früh schon wieder zurück in die Klinik. Und ich wohne mehr als 200 Kilometer entfernt von hier. Wie soll das funktionieren? Du wolltest nicht, dass ich mir falsche Hoffnungen mache. Jetzt will ich nicht, dass Enrico sich falsche Hoffnungen macht. Kannst du ihm sagen, dass mir das alles leidtut, dass ich ihn mag und dass das Schwimmen mit ihm ganz toll war, aber dass das mit uns einfach keinen Sinn hat?“
„Wenn du meinst“, erwiderte Kevin enttäuscht. „Aber überleg dir das besser noch mal, okay? Ich werde Enrico erst mal sagen, dass du noch ’ne Weile allein sein willst, um das alles zu verdauen, okay?“
Kevin war inzwischen aufgestanden und zur Tür gelaufen. Als von mir keine Antwort mehr kam, verließ er sichtlich frustriert den Raum. Ich wandte mich ab und hörte noch, wie sich seine Schritte entfernten. Nach wenigen Momenten kamen sie zurück und ein Fetzen Stoff flog über mich hinweg.
„Da hast du deine Socke!“ hörte ich Kevin von außerhalb des Zimmers rufen. „Lag gleich hier oben neben der Treppe.“
Dann schlug die Tür zu und ich war allein.
Lange lag ich einfach nur so da, wälzte mich von einer Seite auf die andere und zerbrach mir den Kopf darüber, wie es nun weitergehen sollte. Egal was ich auch tat, ich würde Enrico längere Zeit nicht wiedersehen können. Am nächsten Tag ging es gleich zurück nach Bad Neuheim, und wenn ich in der übernächsten Woche die Klinik verlassen hatte, würde für mich bis zum Abitur die Schule an erster Stelle stehen müssen, um die Prüfungen überhaupt noch schaffen zu können. Für andere Dinge würde nicht viel Zeit bleiben. Bestenfalls konnte ich also jetzt noch ein paar Stunden mit Enrico verbringen. Ein paar Stunden! Was war das schon? Danach würde mir der Abschied bestimmt nicht leicht fallen. Da blieb ich doch lieber hier im Zimmer! Das Einzige, was mich daran hinderte, war die Erinnerung an Enricos Gesichtsausdruck, als ich ihn so brüsk am Pool zurückgelassen hatte. Wie er sich jetzt wohl fühlte? Mein Verhalten hatte ihn bestimmt verletzt. Ich musste mich auf jeden Fall selbst bei ihm entschuldigen, schämte mich aber immer noch zu sehr für meinen Auftritt von vorhin, um sofort dazu bereit zu sein. Ein zufälliger Blick auf den Wecker am Nachttisch ließ mich dann aber aufschrecken. Es war bereits nach 22:00 Uhr! Ich hatte überhaupt nicht realisiert, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war. Wir mussten wirklich ziemlich lange im Pool herumgetollt sein. Ob Enrico vielleicht schon gegangen war? Ich meinte, bereits vor einiger Zeit von unten Stimmen und das Zuschlagen der Haustür gehört zu haben. Entmutigt ließ ich mich wieder aufs Bett fallen.
Nur Momente später klopfte es, die Zimmertüre öffnete sich einen Spalt und Kevin lugte herein.
„Was ist jetzt?“ wollte er wissen. „Hast du dich entschieden, noch mal runterzukommen?“
„Ist Enrico noch da?“ fragte ich sofort zurück.
Kevin kam nun ganz ins Zimmer. „Die meisten sind schon weg, wollten den Rest des Abends noch woanders verbringen. Hätten uns beide auch gerne mitgenommen, aber ich hab gesagt, wir müssen morgen früh raus.“
„Und Enrico?“ wollte ich voller Verzweiflung nochmals wissen.
„Der ist noch unten. Ist immer noch ganz schön durch den Wind. Sara ist auch noch da.“
Ich rappelte mich hoch, zog mich endlich fertig an und brachte vor dem Spiegel so schnell es ging meine Frisur in Ordnung. Dann stapfte ich hinter Kevin die Treppe hinunter und erblickte dabei sofort Enrico, der uns mit ängstlichem Gesichtsausdruck von unten entgegensah.
„Hey, es tut mir wirklich leid“, fing er sofort an.
Ich brachte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen.
„Ich muss mich bei dir entschuldigen“, begann ich. „Ich hab mich total blöd benommen. Völlig überreagiert. Mir tut’s wirklich leid. Es war echt toll mit dir im Pool, wirklich!“
Enrico entspannte sich sichtlich und schenkte mir ein dankbares Lächeln. Auch Sara kam nun aus dem Wohnzimmer zu uns dreien herüber.
„Hallo David, da bist du ja wieder“, rief sie mir zu und hielt gleichzeitig eine Monopoly-Schachtel in die Höhe. „Habt ihr da drauf vielleicht jetzt Lust?“
Wir folgten ihr zurück in den Raum und ließen den Abend in geselliger Runde mit einem lustigen Spiel ausklingen. Als Sara und Enrico kurz nach Mitternacht gingen, fiel uns allen der Abschied schwer. Während Sara und Kevin sich lange umarmten, standen Enrico und ich uns nachdenklich gegenüber.
„Du kommst doch sicher bald mal, um Kevin zu besuchen, oder?“, wollte er vorsichtig wissen.
„Klar, dann sehen wir uns wieder.“
„Vielleicht könnt ihr ja am nächsten Wochenende noch mal herkommen?“
Ich schüttelte traurig den Kopf. „Das ist das letzte Wochenende, an dem unsere Gruppe noch komplett in der Klinik zusammen sein wird. Die meisten dürfen danach heim. Ich auch. Wir hatten vor, am Samstagabend Abschied zu feiern.“
„Oh!“ reagierte Enrico enttäuscht.
„Hey, wir sehen uns wieder“, versuchte ich ihn aufzumuntern.
„Versprochen?“
„Ja, versprochen!“
Kapitel 24 - Zurück
Am nächsten Morgen wurde ich früh von Kevin geweckt. Der sah aus, als wäre er schon seit längerer Zeit auf den Beinen.
„Hey, wach auf, wir haben heute noch was vor!“, rief er mir direkt ins Ohr und rüttelte an meiner Schulter, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich munter wurde.
„Was ist denn? Es ist erst Acht. Unser Zug fährt erst kurz nach elf!“, entgegnete ich gereizt nach einem verschlafenen Blick auf den Wecker.
„Ich will noch wo vorbeischauen“, erwiderte er. Seine Stimme klang auf einmal ängstlich.
„Wo denn?“
“Ich will da jetzt noch nicht drüber reden. Ich weiß nicht, ob ich’s wirklich schaffe.“
Ich konnte mir keinen Reim auf sein Verhalten machen, fragte aber nicht weiter nach und stieg aus dem Bett. Kevin hatte unten schon Ordnung gemacht und sogar ein provisorisches Frühstück vorbereitet, das wir schnell verzehrten.
Wir verließen das Haus viel früher als ursprünglich geplant. Draußen erwartete uns ein trüber Sonntagvormittag. Es war erstaunlich warm und ich war froh, nur ein T-Shirt unter der Jacke zu tragen. Statt den Weg, auf dem wir gestern hierher gekommen waren, wieder zurückzugehen, schlugen wir an diesem Tag eine andere Richtung ein. Kevin wollte immer noch nichts von seinem Vorhaben preisgeben, so dass wir meist schweigend durch die Siedlung liefen. Mit der Zeit wurden die Grundstücke kleiner und die Häuser biederer. Irgendwann bogen wir von der breiten Wohnstraße in einen kleinen Seitenweg ab, der sich bald als Sackgasse entpuppte. Kevin blieb vor einem Gartentor stehen und drückte dort auf die Klingel. Nur wenige Augenblicke später trat eine Person aus der nahegelegenen Haustür. Sofort erkannte ich die roten Haare und die schwarze Jacke wieder. Enrico wohnte hier!
„Hey, ihr seid ja schon da“, rief er uns zu und wünschte uns einen guten Morgen.
Nachdem er das Haus abgeschlossen hatte, kam er zu uns herüber. Obwohl ich von seinem Auftauchen völlig überrascht war, lächelte ich ihm sofort erfreut zu. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn an diesem Wochenende noch einmal zu sehen, und war mir nicht wirklich sicher, ob ich dieses Aufeinandertreffen wirklich wollte. Schon in der vergangenen Nacht war mir der Abschied schwer genug gefallen. War das etwas Kevins Plan gewesen? Waren wir nur deswegen so früh aufgebrochen, damit ich noch Zeit mit Enrico verbringen konnte? Ich verwarf diese Theorie sofort wieder, weil Kevin am Morgen viel zu ernst gewesen war und auch jetzt noch angespannt wirkte.
Wir setzten unseren Weg zu dritt fort, angeführt von Kevin, der weiter ziemlich still blieb.
„Oh Mann“, entfuhr es Enrico auf einmal. „Jetzt weiß ich, wo du hinwillst!“
Kevin seufzte.
„Bist du sicher, dass du das schaffst?“ fragte Enrico nach.
„Ich muss da einfach hin“, antwortete Kevin gequält. „Und mit euch zwei zusammen werd’ ich das ja wohl schaffen!“
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Erst als ich auf einem Wegweiser das Wort ‚Waldfriedhof’ entdeckte, dämmerte es mir, dass wir zum Grab seines Bruders unterwegs waren. Auch ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Kevin war nicht auf der Beerdigung gewesen. Wahrscheinlich hatte er das Grab noch nie gesehen. Ob er überhaupt wusste, wo genau es lag? War Enrico etwa deswegen mitgekommen?
Als wir schließlich vor dem Gelände standen, war mir nicht wohl dabei, ebenfalls mit hineinzugehen. Schließlich hatte ich seinen Bruder überhaupt nicht gekannt.
„Ist es okay, wenn ihr beide ohne mich da rein geht?“, wollte ich daher wissen und erklärte ihnen, warum ich selbst lieber vor der Pforte warten wollte.
Nachdem Kevin zögernd zugestimmt hatte, öffnete Enrico das schmiedeeiserne Tor und machte sich zusammen mit seinem besten Freund, der nur zögerlich Schritt vor Schritt setzte, auf den Weg. Bald verschwanden sie hinter Büschen und Bäumen aus meinem Blickfeld. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die beiden zurück waren, und in welchem Zustand Kevin dann sein würde. Unruhig lief ich vor der Friedhofsmauer auf und ab und blickte immer wieder auf das Gelände, um nach ihnen Ausschau zu halten. Zu allem Überfluss begann es jetzt auch noch zu tröpfeln. Ich betete fast darum, dass der Regen nicht stärker wurde. Dies war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um meinen Kapuzenfetisch auszuleben. Bei einer anderen Gelegenheit wäre ich natürlich nur zu gerne zusammen mit Enrico mit aufgesetzten Kapuzen durch den Regen spaziert. Im Moment lag mir jedoch nichts ferner.
Die beiden schienen eine halbe Ewigkeit nicht wieder zu kommen und meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Wenigstens hatte das Wetter ein Einsehen und es blieb bei ein paar vereinzelten Tropfen. Irgendwann sah ich sie dann endlich an den Grabreihen entlang zurück zum Tor kommen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Enrico mir schon von weitem beruhigend zuwinkte. Als die beiden vor mir zum Stehen kamen, wirkte Kevin zwar etwas mitgenommen, er ließ sich aber nichts weiter anmerken. Ich sah ihm nicht an, ob er vielleicht geweint hatte. Auch bei Enrico war die Erleichterung deutlich spürbar.
„Auf zum Bahnhof“, forderte Kevin uns schließlich auf. Er schien nicht weiter über seine Gefühle reden zu wollen. Vielleicht hatte er das ja bereits mit Enrico auf dem Friedhof getan.
Die Stimmung unter uns blieb nachdenklich, als wir gemeinsam unseren Weg fortsetzten. Erst als wir das Stationsgebäude betreten hatten und unsere Sinne durch die anderen wartenden Fahrgäste, die Reklametafeln und die Auslagen an den Kiosken etwas Ablenkung fanden, schien der Trübsinn auch bei Kevin langsam wieder zu verfliegen.
Da wir bis zur Abfahrt des Zuges noch viel Zeit hatten, ließen wir uns nebeneinander in einem beheizten, durch eine Glasfront vom Rest der Bahnhofshalle abgetrennten Wartesaal nieder. Unsere Jacken und den Rucksack warfen wir achtlos über die Lehnen der anderen freien Sitze, da wir den Raum fast für uns allein hatten. Ich besorgte uns am Kiosk die aktuelle Tageszeitung, die wir dann gemeinsam durchblätterten, um uns die Zeit zu vertreiben. Enrico und ich sahen uns immer wieder verstohlen an, wussten aber wohl beide nicht recht, wie wir miteinander umgehen sollten. Für mich zumindest stand fest, dass es erst einmal besser war, ihn nicht zu sehr in mein Herz zu schließen, konnte im Gegenzug aber schlecht einschätzen, ob er das genauso empfand oder sich mehr erhoffte.
„Ich kümmere mich mal um die Fahrkarten“, erklärte ich schließlich, um der Situation zumindest vorübergehend zu entfliehen, und war fast erleichtert, als keiner der beiden irgendwelche Anstalten machte, mit mir mitzukommen. Der einzige Fahrkartenautomat im Gebäude war defekt, so dass ich hinaus auf den Bahnsteig musste, um mein Glück dort an einem anderen Automaten zu versuchen. Schon als ich ins Freie trat, fing ich in meinem kurzärmligen T-Shirt leicht an zu frösteln, wollte aber nicht mehr zurück, um meine Jacke zu holen. Zunächst musste ich eine Weile warten, bis ein anderer Fahrgast den Erwerb seines eigenen Tickets beendet hatte. Dann dauerte es noch mehrere Minuten, bis ich mich mit der Bedienung vertraut gemacht und selbst die richtigen Fahrkarten für Kevin und mich gelöst hatte. Wenigstens sorgte eine große Reklamewand neben dem Gerät für etwas Windschutz. Als ich schließlich vor Kälte schlotternd zurück zu den beiden anderen Jungs kam, schlüpfte ich sofort in meine Jacke und schmiegte den weichen Nylonstoff eng um mich.
Inzwischen waren es nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt, sodass wir uns bald zu dritt auf den Weg hinaus auf den Bahnsteig machen mussten. Die Waggons des Zuges erwarteten Kevin und mich dort bereits mit offenen Türen. Den Abschied von Enrico gestalteten wir kurz und schmerzlos. Durchs Fenster winkten wir ihm ein letztes Mal zu. Dann setzte sich der Zug auch schon ächzend in Bewegung.
Geknickt verbrachte ich die knapp dreißigminütige Fahrt bis zu unserem ersten Umsteigeaufenthalt. Ich hatte das Gefühl, eine echte Chance verpasst zu haben. Die letzten Stunden mit Enrico hatte ich einfach so verstreichen lassen. Jetzt war es zu spät. Ich würde ihn wahrscheinlich monatelang nicht wiedersehen. Vielleicht würde ich ihn überhaupt nie mehr wiedersehen.
Als wir den Zug an einem der nächsten Bahnhöfe verlassen hatten und durch die Unterführung zu dem Gleis gelaufen waren, an dem unser Anschlusszug abfahren würde, war meine Stimmung auf dem Nullpunkt. Kevin sah mir kopfschüttelnd dabei zu, wie ich unruhig auf dem Beton neben den Schienen auf und ab lief, eine achtlos weggeworfene Bierdose wiederholt gegen einen Lampensockel kickte, bis sie so platt und zerbeult war, dass ich sie mit der Fußspitze nicht mehr richtig traf, und anschließend begann, nervös mit dem Reißverschluss meiner Jacke zu spielen. Irgendwann schien es ihm zuviel zu werden. Er kam zu mir herüber und griff nach meinem rechten Arm, der den Reißverschlussschieber abwechselnd ein Stück nach oben und wieder nach unten zog.
„Jetzt hör endlich damit auf! Du reißt den Nippel sonst noch ab! Beruhig dich mal, steck deine Hände in die Jackentaschen und werd wieder locker.“
„Was soll das denn jetzt?“ wollte ich wissen, gehorchte ihm aber.
In der rechten Tasche fand ich sehr zu meiner Überraschung einen Gegenstand vor. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich den dort hineingesteckt hatte. Das unbekannte Etwas fühlte sich an wie ein in der Mitte zusammengefaltetes Stück Pappe mit glatter Oberfläche. Als ich es herauszog und ansah, lächelte mich Enrico in doppelter Ausführung von zwei Passfotos aus an. Seine Locken wirkten auf den Bildern noch roter als sonst, wahrscheinlich wegen des Blitzlichts. Unvermittelt musste ich lachen. Wahrscheinlich hatte er die Fotos im Bahnhof schnell an einem Automaten geschossen, während ich die Tickets geholt hatte, und sie dann heimlich in die Tasche meiner Jacke gesteckt. Anders konnte ich mir das jedenfalls nicht erklären.
„Mann, ich hatte erwartet, dass du die viel früher findest“, hörte ich Kevin ärgerlich von hinten. „Muss man bei dir eigentlich immer nachhelfen?“
Ich faltete den Streifen vorsichtig auseinander, um ihn nicht zu beschädigen, und es kamen zwei weitere Fotos zum Vorschein. Auf diesen beiden hatte Enrico die Kapuze seiner Jacke aufgesetzt.
„Du hast ihm also doch was gesagt!“ fuhr ich Kevin an. Im ersten Moment war ich etwas ärgerlich.
„Ich hab ihm nur ’nen kleinen Tipp gegeben, als er mir von seiner Idee mit den Fotos erzählt hat. Hab ihm nur gesagt, dass er auf einem der Bilder die Kapuze überziehen soll. Er hat gar nicht weiter nachgefragt.“
Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich meinen Blick erneut über die vier Fotos schweifen ließ.
“Schau auch mal auf die Rückseite“, drängte mich Kevin nach einer Weile.
Als ich den Papierstreifen umdrehte, fiel mein Blick auf die Worte: ‚Lieber David, ich freue mich auf unser Wiedersehen. Alles Liebe, Enrico.’
Neben seinen Namen hatte er ein kleines Herz gemalt. Außerdem hatte er seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse dazugeschrieben. Ich konnte mein Glück nicht lange genießen, denn schon im nächsten Moment hielt mir Kevin ein Handy entgegen. In der Klinik waren die zwar unerwünscht, er schien seines aber trotzdem an diesem Tag von Zuhause mitgenommen zu haben.
„Was soll ich ihm denn sagen?“, fragte ich hilflos.
„Zum Beispiel, dass du mit dem Zug da drüben gleich wieder zurückfährst.“
Er deutete auf die drei Gleise entfernt stehenden Waggons, mit denen wir hierher gekommen waren.
„Das ist nicht dein Ernst?“
„Warum denn nicht?“
„Weil das nicht geht! Wir müssen heute Abend wieder in der Klinik sein!“
„Mann, du kannst ja gleich morgen Früh fahren. Dann bist du zum Mittagessen wieder zurück. Du wirst deswegen schon keinen Ärger bekommen.“
„Ich weiß aber nicht, ob Enrico das überhaupt will.“
„Wenn ich’s dir doch sage!“, erwiderte Kevin und verdrehte die Augen.
„Er ist inzwischen bestimmt schon wieder bei sich zuhause“, wand ich ein. Langsam gingen mir die Argumente aus. Obwohl ich tatsächlich gerne zu Enrico zurückgefahren wäre, schreckte ich doch vor dieser spontanen Aktion zurück.
„Enrico ist immer noch am Bahnhof.“
„Warum sollte er da jetzt noch sein?“ fragte ich verblüfft.
„Um auf dich zu warten zum Beispiel?“
„Warum sollte er glauben, dass ich noch mal zurückkomme?“
„Weil ich ihm gesagt habe, er soll dort bleiben, bis der Zug von hier aus wieder zurückgefahren ist. Wenn du dann noch nicht bei ihm angerufen hast, kann er heimgehen. Er starrt jetzt bestimmt nervös auf sein Handy und wartet verzweifelt darauf, dass es klingelt.“
Als ich weiter wie betäubt dastand und nicht wusste, wie ich reagieren sollte, rüttelte Kevin an meinen Schultern. „Mann, entscheide dich endlich, sonst fährt der Zug weg!“
Im gleichen Moment kam eine Durchsage durch die Laufsprecher, die uns darauf hinwies, dass der Zug tatsächlich gleich abfahren würde.
„Los! Lauf!“ forderte Kevin mich auf.
Jetzt war ich wirklich zum Handeln gezwungen. Ich warf alle Einwände und Befürchtungen über Bord und leistete keinen Widerstand, als Kevin mich am linken Unterarm ergriff und hinter sich her zerrte. Nebeneinander rannten wir die Treppe hinunter und durch den Tunnel zum anderen Gleis.
„Das mit dem Anruf muss dann wohl ich erledigen“, rief Kevin mir unterwegs zu. „Ich würde dir ja gerne mein Handy überlassen, aber ich habe Sara versprochen, dass ich von unterwegs bei ihr anrufe.“
Als wir auf der anderen Seite den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, hechtete ich sofort durch die nächstgelegene offene Waggontür. Der Schaffner stand bereits mit seiner Kelle bereit. Ich hatte es also gerade noch in letzter Sekunde geschafft! Kevin warf mir noch schnell seinen Schlüsselbund entgegen.
„Falls ihr wieder schwimmen wollt“, rief er mir zu.
Mir blieb keine Zeit mehr für irgendwelche Entgegnungen. Ich rief ihm nur noch kurz ein spontanes Danke zu, als sich bereits die Türen vor mir schlossen.
Die Fahrt verbrachte ich in gespannter Erwartung. Hatte Kevin Enrico wirklich angerufen und ihm Bescheid gesagt, dass ich kam? Hatte Enrico es sich vielleicht doch noch anders überlegt und war gar nicht mehr so scharf auf ein Wiedersehen mit mir?
Als sich der Zug wieder dem Bahnhof von Kevins Heimatstadt näherte, schob ich das Fenster neben meinem Sitz nach unten, ohne auf die wenigen anderen Fahrgäste Rücksicht zu nehmen, die sich durch den kalten Luftzug möglicherweise gestört fühlten. Zu meiner großen Erleichterung brauchte ich nicht lange nach Enrico Ausschau zu halten, denn der stand mutterseelenallein direkt am Ende des Bahnsteigs. Als er mich winken sah, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Er winkte kurz zurück und spurtete dann los, um mit dem Zug Schritt zu halten, fiel aber bald zurück. Als er den Waggon, in dem ich mich befand, wieder eingeholt hatte, stand ich bereits in der offenen Tür.
„Da bin ich wieder!“ rief ich ihm zu und winkte verlegen. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich ziemlich unsicher und fragte mich, wie sich unser Zusammensein wohl entwickeln würde. Enrico war von dem kurzen Sprint schon wieder ziemlich aus der Puste. Wir ließen uns deshalb zunächst nebeneinander auf eine Bank fallen.
„Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist“, stieß er keuchend aus.
Spontan legte ich ihm einen Arm um die Schultern und wartete einen Moment, bis sein Atem sich wieder halbwegs normalisiert hatte. Noch immer hatte ich den Papierstreifen mit seinen Porträts in der Hand. Ich hielt ihn hoch, so dass er die Bilder sehen konnte. „Das mit den Fotos war echt ’ne gute Idee.“
„Mann, ich war so verzweifelt, weil ich dich vielleicht nie wieder sehen würde. Da musste ich mir eben was einfallen lassen.“
„Ich hatte dir doch versprochen, dass ich wieder komme.“
„Ja, schon. Aber ich war mir nicht sicher, ob du mich wirklich magst. Wie hätte ich die Ungewissheit so lange aushalten sollen?“
Eine Weile saßen wir nur da und sahen uns gegenseitig in die Augen.
„Dir gefallen meine roten Haare nicht so besonders, oder?“ fuhr er nach einer längeren Pause ängstlich fort und fuhr sich dabei mit der Hand über den Kopf.
„Quatsch, wie kommst du denn darauf?“ entgegnete ich sofort.
„Naja, Kevin meinte, ich solle für die Fotos die Kapuze aufsetzen. Ich dachte, damit man die Haare nicht so sieht.“
„Unsinn! Ich mag deine Haare“, beruhigte ich ihn lächelnd und wuschelte ihm kurz durch die Locken, was ihm ein breites Grinsen entlockte.
„Früher in der Grundschule habe ich mir wegen der Farbe öfters mal dumme Sprüche anhören müssen“, erklärte er mir. „Kevin musste mich dann immer verteidigen. Der war viel stärker als ich. Einmal hätte er einen anderen Jungen fast verprügelt.“
Ich hörte interessiert zu und begann dann selbst zögerlich zu erklären: „Das mit der Kapuze hat einen anderen Grund. Ich mag Kapuzen einfach, und Kevin weiß das. Ist so ’ne Art Fetisch.“
„Ach so“, entgegnete Enrico leicht verdattert.
„Wenn du willst, kann ich die ja wieder aufsetzen“, fuhr er zögerlich fort und war bereits dabei, nach hinten über die Schulter zu greifen. Ich fasste nach seiner Hand, um ihn daran zu hindern.
„Nee, lass mal!“
Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich begriff, was ich ihm soeben offenbart hatte. Vielleicht hatte er keine Ahnung, was ein Fetisch überhaupt war? Ich würde das Thema lieber erst einmal ad acta legen.
„Wir sollten langsam gehen“, fuhr ich deshalb fort. „Schließlich können wir nicht den ganzen Tag hier auf dem Bahnsteig herumsitzen.“
Als ich die Fotos einsteckte, diesmal in die Innentasche, fand ich dort mein Zugticket vor. Grinsend streckte ich es Enrico entgegen. „Ich sollte wirklich besser von hier verschwinden. Wahrscheinlich bin ich gerade schwarz mit dem Zug gefahren. Ich glaube kaum, dass man mit dieser Fahrkarte noch mal zurückfahren darf.“
Kapitel 25 - Liebe?
Wir machten uns auf den Weg zurück zu Enricos Zuhause. Als wir kurz nach Mittag an einer Konditorei vorbeikamen, die auch am Sonntag geöffnet hatte, stellten wir beide fest, dass unsere Mägen langsam zu knurren begannen. Enrico schlug vor, daheim erst einmal Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen. Trotzdem kauften wir uns für den Nachmittag ein paar Donuts mit bunter Glasur. Ich bezahlte und packte sie in meinen Rucksack.
„Hast du eigentlich noch Geschwister oder haben wir euer Haus ganz für uns allein?“ wollte ich unterwegs irgendwann wissen.
„Ich hab eine zwei Jahre ältere Schwester. Die hat aber diesen Winter mit ihrem Studium begonnen und kommt während des Semesters nur jedes zweite oder dritte Wochenende nach Hause. Wahrscheinlich kommt sie nächsten Freitag mal wieder.“
Wir unterhielten uns weiter über unser beider Familien, bis wir sein Haus erreicht hatten. Ich erfuhr, dass sein Vater vor einigen Jahren mit einer eigenen kleinen Firma pleitegegangen war und jetzt einen ziemlich mühsamen Vertreterjob hatte. Glücklicherweise verdiente seine Mutter mit ihrem Anteil an der Boutique von Frau Winter etwas dazu. Im Haus angekommen zeigte er mir zunächst die Zimmer im Erdgeschoss. Obwohl das Gebäude von außen bereits älter wirkte, war die Einrichtung modern und geschmackvoll.
Nach dem Mittagessen führte er mich dann in sein Zimmer, das im ausgebauten Dachgeschoss lag und über eine Wendeltreppe erreichbar war. Die schrägen Wände waren mit hellen Holzpanelen verkleidet, die wiederum mit zahlreichen Postern beklebt waren, hauptsächlich mit irgendwelchen Filmplakaten, die mir wenig sagten. Den Boden bedeckte ein flauschiger beigefarbener Teppich, auf dem vor einer schmalen Couch ein niedriger Tisch stand. In dessen Mitte befand sich eine Schale mit verschiedenen Süßigkeiten, die mein Verlangen nach einer Nachspeise weckten. Gegenüber stand in einer Kombination aus kleinen Schränken, Schubladen und Regalen ein mittelgroßer Flachbildfernseher und eine Spielkonsole. Ein Doppelfenster in einem Erker zwischen Couch und Bett gab den Blick auf den kleinen Garten hinter dem Haus frei. An der am weitesten von der Treppe entfernten Seite des Raums stand unter einem weiteren Fenster ein Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop lag. In den Regalen entdeckte ich zahlreiche Bücher, CDs und DVDs. Bis auf das ungemachte Bett mit der bunten Bettwäsche, deren einer Zipfel bis auf den Boden hing, wirkte alles aufgeräumt und sauber. Ich konnte nur wenige Anzeichen dafür entdecken, dass hier ein schwuler Teenager lebte. Lediglich ein paar seiner Bücher und DVDs wiesen darauf hin.
„Setz dich doch“, bot Enrico an. „Kannst dir ruhig ein Mars oder ein Snickers aus der Schale nehmen, wenn du möchtest. Bounty ist leider alle. Ich steh total auf Kokosflocken, so dass die immer als Erstes weg sind.“
„Danke, mir ist ein Snickers sowieso lieber.“
„Wollen wir was zocken?“, fragte er, während ich den Schokoriegel auspackte.
Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich war mir alles Recht, solange ich nur Zeit in seiner Gegenwart verbringen konnte. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht. Einfach nur mit ihm zusammen sein.
„Kennst du MotorStorm Pacific Rift?“, wollte er wissen. „Das hat ‘nen Splitscreen-Modus.“
„Nee, ich hab keine Konsole. Ich mag eigentlich hauptsächlich Echtzeit-Strategiespiele am PC, so Sachen wie Command & Conquer. Aber wir können das trotzdem spielen, wenn du mir ’ne Chance lässt.“
„Klar, mach ich“, antwortete er dankbar lächelnd.
Eine ganze Weile verbrachten wir nebeneinander auf der Couch, die Controller in der Hand, und fuhren um die Wette. Schnell wurde ich besser und gewann sogar das eine oder andere Rennen, zumindest wenn ich es schaffte, Enrico unfair von der Strecke zu drängen. Mit der Zeit stießen wir nicht mehr nur mit unseren Fahrzeugen zusammen, sondern rempelten uns auch immer öfter sanft gegenseitig mit den Ellenbogen an, um den anderen beim Steuern zu behindern. Aufgrund der Kabbeleien brachen wir häufig in heftiges Lachen und Kichern aus. Als ich ihn einmal in zwei Rennen hintereinander besiegt hatte, ließ er sich von mir tröstend in die Arme nehmen.
„Mann, das kann ja wohl nicht sein, dass du jetzt schon besser bist als ich“, jammerte er übertrieben, als er sich nach einiger Zeit wieder aus meinem Griff löste.
„Du hast mich sicher extra gewinnen lassen“, grinste ich ihn an.
Als wir genug von dem Rennspiel hatten, holte Enrico zwei Teller und meinen Rucksack mit den Donuts nach oben. Gläser und Getränke hatte er bereits während einer kurzen Spielpause gebracht. Ich fuhr noch schnell ein letztes Rennen gegen mehrere Computergegner, die mittlerweile aber alle keine Chance mehr gegen mich hatten. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Enrico dabei, wie er die Tüte mit den Donuts aus dem Rucksack zog und anschließend auch noch mein weißes Kapuzensweatshirt zum Vorschein brachte, das ich am Morgen dort zerknüllt hineingestopft hatte.
„Darf ich das mal anziehen?“ wollte er wissen.
„Klar“, erwiderte ich und legte den Controller beiseite.
Sein eigener Pullover flog auf sein Bett und nach wenigen Sekunden hatte er mein Sweatshirt über den nackten Oberkörper gestreift. Die Kapuze landete gleich auf seinem Kopf, nur ein paar rote Locken lugten darunter hervor. Er sah wahnsinnig niedlich aus! Der bunte Druck auf der Frontseite war zwar etwas zerknittert, das störte den Gesamteindruck aber kein bisschen.
Dann fing er an, die Donuts zu gleichen Teilen auf die beiden Teller zu packen. Mit einem Teller in jeder Hand kam er zurück zur Couch. Nachdem er mir den für mich bestimmten gereicht hatte, ließ er sich selbst wieder neben mich auf die Couch plumpsen, lümmelte sich in den Sitz, legte die Füße auf den Tisch und biss genüsslich in den ersten Donut.
„Mmh, lecker“, kam es mampfend von ihm herüber.
Wir aßen jeder erst mal zwei von diesen süßen Gebäckkringeln. Unterdessen miteinander zu reden war vollkommen unmöglich. Wenn einer von uns etwas sagte, konnte der andere nicht antworten, weil er gerade den Mund voll hatte. Unverständliche Laute und zwanghaftes Kichern waren die Folge. Ich fühlte mich in Enricos Gegenwart unglaublich wohl und wollte gar nicht daran denken, dass wir uns in nur wenigen Stunden wieder würden trennen müssen.
„Du stehst also auf so Kapuzensachen?“, fragte er mich, als wir aufgegessen hatten. Er hatte seinen kapuzenbedeckten Kopf nach hinten auf die Sitzlehne gelegt und in meine Richtung gedreht.
„Ja“, antwortete ich, plötzlich wieder etwas schüchtern.
„Bis auf die schwarze Jacke hab ich überhaupt keine Klamotten mit Kapuze. Komisch, oder?“
Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was für eine Antwort er nun von mir erwartete.
„Doch, ’ne alte Regenjacke müsste noch irgendwo im Schrank liegen“, fuhr er nach einer Weile fort. „Glaub aber nicht, dass mir die noch passt.“
„Wenn du willst, kannst du das Sweatshirt behalten“, bot ich an.
„Echt?“
„Klar.“
„Wow! Immer wenn ich das anziehe, werd’ ich an dich denken.“
Er ließ seinen Kopf an meine Schulter gleiten. Ich spürte, wie der Baumwollstoff der Kapuze an meiner Wange entlang strich, als er sich wohlig räkelte.
„Oh Mann“, seufzte er. „Kannst du nicht hier bleiben?“
„Nee, würde ich aber wirklich gern“, seufzte ich zurück und nahm seine Hand.
„Hat Kevin dir eigentlich verraten, dass ich wegen dir die ganze Nacht nicht schlafen konnte?“
„Nein, echt?“ antwortete ich schuldbewusst.
„Ja, hab kein Auge zugetan. Und gleich am frühen Morgen Kevin angerufen und ihm gesagt, dass ich dich unbedingt noch mal sehen will.“
„Das wusste ich nicht. Mann, ich wollte echt nicht, dass du wegen mir so fertig bist. Ich dachte, du wärst heute mitgekommen, weil Kevin deinen Beistand auf dem Friedhof gebraucht hat.“
„Den Entschluss dort hinzugehen, muss er erst später gefasst haben, irgendwann nach meinem Anruf.“
„Wie ist es dort eigentlich gelaufen? Hat er was gesagt, als ihr auf dem Friedhof wart.“
„Ich hab ihm versprochen, nicht drüber zu reden. Er will seine Trauer anscheinend immer noch nicht so richtig zeigen. Aber am Grab hat er schon ein bisschen was von seinen Gefühlen rausgelassen. Ich glaube, ihm hat das heute schon irgendwie geholfen.“
„Eigentlich müsste er inzwischen zurück in der Klinik sein“, sagte ich nach einem Blick auf die Uhr. „Sollen wir ihn mal anrufen?“
„Klar, können mir machen.“
Enrico zog sein Handy aus der Tasche und wählte die eingespeicherte Nummer. Kevin war tatsächlich vor einigen Minuten dort angekommen. Er saß bereits mit den anderen aus der Gruppe zusammen und erzählte von unserem Ausflug. Dabei musste er auch erklären, warum ich noch nicht wieder mit zurückgekommen war. Auch Stefan war anwesend, allerdings schon so gut wie dabei, wieder nach Hause aufzubrechen. Ansonsten gab es dort keine Neuigkeiten. Alles in bester Ordnung also.
Nachdem Enrico das Handy weggesteckt hatte, schmiegten wir uns auf der Couch wieder aneinander.
„Jetzt will ich aber endlich mal wissen, was dir Kevin letzte Woche am Telefon alles über mich erzählt hat“, forderte ich Enrico irgendwann auf.
Zunächst erzählte er fast genau das, was auch Kevin bereits preisgegeben hatte. Nur ein wichtiges Detail hatte Kevin mir unterschlagen. Er hatte Enrico nämlich auch noch verraten, dass das Wort ‚unerfahren’ mich ziemlich gut beschrieb.
„Das hat er über dich aber auch gesagt“, erwiderte ich sogleich, um mich zu verteidigen und mich nicht schämen zu müssen. „Wundert mich aber schon irgendwie, weil ihr mit Maxi ja noch ’nen zweiten Schwulen in der Clique habt.“
Enrico antwortete mit leichter Enttäuschung in der Stimme: „Maxi schleppt mich zwar immer mal wieder in so ’ne schwule Jugendgruppe mit. Aber irgendwie hat sich trotzdem bisher nichts ergeben.“
„Und mit Maxi ist auch noch nie was gelaufen?“
„Nee. Er sagt, ich sei nicht sein Typ. Ich will aber auch überhaupt nichts von ihm. Er hat ja sowieso dauernd ’nen Anderen.“
„Ich hatte bisher nur übers Internet Kontakt zu anderen schwulen Jungs“, musste ich selbst schließlich zugeben. „Zumindest bevor ich in die Klinik gekommen bin. Wir haben dort noch ’nen Schwulen in der Gruppe. Der hat aber ’nen festen Freund.“
„Da hab ich ja Glück gehabt“, meinte Enrico lächelnd. Wir schmunzelten einander zu.
„Hast du denn im Netz wenigstens andere gefunden, die auch auf Kapuzenklamotten abfahren?“, wollte er schließlich noch von mir wissen.
Wieder schüttelte ich traurig den Kopf. „Naja, so Freaks wie mich trifft man da schon ein paar. Nur sind das fast alles irgendwelche Heteros, die davon schwärmen, wie toll Frauen in Kapuzenjacken aussehen. Was soll ich denn bitte mit denen?“
„Weißt du was, ich hab ’ne Idee. Wir googeln mal danach. Ich bin da ziemlich gut drin, was zu finden. Komm mit!“
Wir liefen zu seinem Schreibtisch hinüber und er klappte seinen Laptop auf. Als das Ding bereit war, gab er als Erstes ‚kapuze fetisch’ in die Suchmaske ein. Zuerst landeten wir auf einer Seite mit Bildern, auf denen Menschen mit Ledermasken zu sehen waren, mit Reißverschlüssen quer über den Mündern und ganz engen Augenschlitzen. Auf einer anderen Website war eine Person in einem Ganzkörper-Latexanzug zu sehen, die Kapuze wie bei einem Taucheranzug geformt.
„Von solchen Seiten hab ich auch schon viele gefunden“, sagte ich resigniert. „Lass es gut sein.“
„Jetzt warte doch mal!“
Irgendwann tippte er ‚kapuzen aufsetzen’ in das Suchfeld ein. In der Liste der Suchergebnisse tauchte ziemlich weit oben die Seite www.kapuze-aufsetzen.net auf. Er klickte auf den Link und deutete demonstrativ mit dem Zeigefinger auf das Display, nachdem sich die Seite aufgebaut hatte.
„Na, ist das nichts?“ wollte er wissen.
Ich musste zugeben, dass ich das Bild auf der Titelseite der Website recht ansprechend fand. Und auf der Seite drehte sich tatsächlich alles um Daunenjacken, Regenjacken und Kapuzenpullis. Es gab auch ein Forum, in dem aber nicht viel los war. Die Seite schien aber auch noch ziemlich neu im Netz zu sein. Wahrscheinlich hatte ich sie selbst nur deshalb noch nicht gefunden. Vielleicht gab es da ja bald mehr zu sehen und zu lesen. Wenn ich wieder daheim war, würde ich jedenfalls öfters mal dort reinschauen.
Nachdem wir uns noch eine Weile durchs Netz geklickt, aber nichts Interessantes mehr gefunden hatten, griff Enrico nach einer kleinen Digitalkamera, die ebenfalls auf dem Schreibtisch lag.
„Wir müssen unbedingt ein paar Erinnerungsfotos machen, für die Zeit, in der wir uns nicht sehen.“
Ich stimmte sofort begeistert zu. Unter Verwendung von Blitz und Selbstauslöser posierten wir gemeinsam vor der Linse, mal Kopf an Kopf, mal der Eine in den Armen des Anderen, mal grinsend, mal Grimassen schneidend.
Wir überspielten die Bilder sofort auf Enricos Computer und hatten beim Ansehen noch mal genauso viel Spaß wie beim Aufnehmen der Fotos. Schließlich verschickte Enrico die besten Bilder sofort an meine Mailadresse. Wenn ich in der übernächsten Woche wieder heimkam, würde ich garantiert als erstes meine E-Mails abrufen.
„Wollen wir uns ’nen Film ansehen?“ schlug Enrico schließlich vor.
Ich hatte nichts dagegen und überließ ihm die Auswahl. Als Enrico die DVD in den Player geschoben hatte, machten wir es uns wieder auf der Couch gemütlich. Während ich mich auf die linke Hälfte lümmelte, legte Enrico sich längs der Sitzfläche auf den Rücken und ließ die Beine auf der rechten Seite über die Lehne baumeln. Sein gerade mal wieder kapuzenbedeckter Kopf landete in meinen Schoß. Ich begann ihm sachte über Arme und Oberkörper zu streichen. Schon nach kurzer Zeit machte sich bei Enrico die durchwachte Nacht bemerkbar. Er fing an zu gähnen, kuschelte sich in den weichen Sweatshirtstoff und entspannte sich völlig unter meinen sanften Berührungen. Nach nicht einmal der Hälfte des Films war er eingeschlafen, atmete leise und gleichmäßig. Nur ab und zu stieß er ein wohliges Seufzen aus. Ganz sachte, um ihn ja nicht aufzuwecken, schob ich ihm die Kapuze ein Stück nach hinten, so dass seine roten Locken zum Vorschein kamen, und strich ich ihm sanft durchs Haar. Draußen hatte sich der Himmel zugezogen und es dämmerte langsam, so dass es auch im Zimmer immer dunkler wurde. Die Bilder auf dem Fernsehschirm tauchten uns beide in ein flackerndes Licht. Erste Regentropfen fielen auf die Dachziegel über uns.
Ich würde eine Weile über Enricos Schlaf wachen und ihn vorsichtig aufwecken, wenn der Film zuende war. Danach lag noch der ganze Abend und die ganze Nacht vor uns. Ich hatte immer noch Kevins Hausschlüssel einstecken. Wir konnten schwimmen gehen oder auch etwas ganz anderes machen. Uns würde schon was einfallen.
Epilog
Ich stand mitten im Zimmer und ließ meinen Blick über die karge Einrichtung schweifen. Psychiatrische Kliniken boten meist nur wenig Annehmlichkeiten und Komfort. Auch dieses Gebäude, das sich auf dem weitläufigen Gelände eines Bezirkskrankenhauses befand, machte einen trostlosen Eindruck. An diese Tristesse würde ich mich aber wohl gewöhnen müssen. Der graue Bodenbelag aus PVC war abgetreten, die Wände gehörten dringend neu gestrichen und die Schränke wiesen etliche Dellen und Kratzer auf. Es schien ein geradezu übermächtiger Sparzwang zu herrschen, denn meiner Meinung nach hätte man hier im Wohnheim für das Pflegepersonal schon vor mindestens zehn Jahren mal gründlich renovieren sollen. Wenn ich ein paar bunte Poster aufhängte und die Einrichtung mit einigen persönlichen Gegenständen ergänzte, würde ich es hier für die Dauer meines Zivildienstes aber sicher aushalten. Es war ohnehin fraglich, ob ich in diesem Zimmer viel Zeit verbringen würde.
Vom Flur aus drangen Geräusche durch die offenstehende Korridortür herein. Ich hörte Schritte, jemand ächzte und fluchte. Ein paar Augenblicke später tauchten zwei mit Kapuzensweatshirts bekleidete Gestalten in meinem Blickfeld auf. Beide hatten Schweißperlen auf der Stirn und trugen einen großen weißen Kasten zwischen sich.
„Mann, kannst du dir vielleicht mal ’nen Flachbildschirm kaufen? Das Ding hier wiegt ja ’ne Tonne!“ hörte ich Kevin maulen, als er zusammen mit Enrico meinen 19-Zoll-Röhrenmonitor ins Zimmer trug und neben meinen PC stellte, den ich vorhin ohne große Anstrengung durch das enge Treppenhaus hier herauf in den vierten Stock getragen hatte. Zu blöd, dass der Fahrstuhl gerade defekt war. Alleine wäre ich ganz schön aufgeschmissen gewesen, aber glücklicherweise hatte ich ja zwei Freunde hier in der Stadt, die gerne halfen. Naja, sie hatten ihre Hilfe zumindest gerne angeboten. Inzwischen bereuten sie ihre Gutherzigkeit wohl ein bisschen.
„Wenigstens haben wir jetzt alles raufgeschleppt“, berichtete Enrico keuchend. „Der Kofferraum ist endlich leer.“
Er ließ sich gleichzeitig mit Kevin auf das alte Sofa fallen, was eine Staubwolke zum Aufwirbeln brachte.
„Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich vor ein paar Tagen mal wieder eine Mail von Gudrun bekommen habe?“, fragte ich Kevin, während dieser langsam wieder zu Atem kam.
„Nein, bisher noch nicht.“
„Ich soll dich von ihr grüßen.“
„Danke.“
„Geht ihr richtig gut, seit sie den neuen Job hat. Endlich mal nette Kollegen.“
„Wow! Freut mich für sie.“
„Sie hält ja immer noch Kontakt mit Nadine und Christina. Den beiden geht’s wohl auch einigermaßen.“
„Von Thomas hast du wohl nichts mehr gehört?“
„In letzter Zeit nicht. Mit Stefan hat er ja schon vor Monaten Schluss gemacht. Seit er die eigene Wohnung hat, hab ich ihn nicht mehr erreicht. Hat scheinbar ’ne neue Handynummer. Und von sich aus meldet er sich ja sowieso nicht.“
„Wenigstens hältst du immer noch die Verbindung mit den Anderen aufrecht.“
„Naja, du hast für sowas ja keine Zeit mehr. Wenn man jede freie Minute mit der Freundin verbringt ...“
„Apropos Sara“, warf Kevin mit einem Blick auf seine Armbanduhr ein. „Ich bin in ’ner halben Stunde mit ihr verabredet. Wird Zeit, dass ich abhaue. Ich kann euch beide doch allein lassen?“
„Klar“, antworteten Enrico und ich wie aus einem Munde.
Schnell war Kevin aufgesprungen. Er warf uns einen kurzen Abschiedsgruß zu und schloss dann die Korridortür hinter sich. Nun waren Enrico und ich allein.
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