Stories
Stories, Gedichte und mehr
KeYNamM
Teil 2
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: KeYNamM
- Autor: Ruwen Rouhs
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Historisch
Inhaltsverzeichnis
3 Ein seltsamer Prozess
KeYNamM hastete über den Platz, dem Stadthaus mit dem Gerichtssaal entgegen. Er hatte es noch nie so eilig gehabt, er wollte frei sein, am Besten sofort. Er wollte den Lohn seines Kampfes auf der Himmelsleiter ernten. Frei sein! Dem Imperium den Rücken kehren! Zurückkehren ins Unland am Fluss Draa! Seine Aufgabe erfüllen! Seine Aufgabe als Amestan, als Beschützer der Menschen im Unland.
„Halt, halt …“, rief der Ältere der Stadtwächter, „… nicht ins Stadthaus! An so einem Tag verhandelt Gouverneur Gwasila im Garten hinter seiner Villa, nicht im Gerichtssaal!“
Als KeYNamM irritiert zu den Wächtern blickte, versuchte der andere es ihm zu erklären. „Ein ordentliches Gericht wird tagen, in der Villa, der Gouverneur, Schöffen, der Ankläger, der Stadthauptmann und ein Schreiber.“
„Der Hauptmann ist in Ordnung. Er verfolgt alle Verbrecher unerbittlich, aber er ist gerecht. Glaub mir, alle deine Missetaten sind in seinem Buch verzeichnet, ihre Schwere, der Ort an dem du sie begangen hast, sogar der Zeitpunkt!“
„Anir der Ankläger ist neu hier! Vor dem brauchst du keine Angst zu haben. Er ist noch jung und er richtet nach Recht und Gesetz, berichten die Beschuldigten! ER beugt das Gesetz nicht.“
„Bis jetzt! Er gehört noch nicht zum …“, schwieg aber dann. „… zum Stadtklüngel.“, wollte er sagen, schwieg aber lieber.
KeYNamM war beruhigt, aber sein Misstrauen blieb.
In der schmalen Gasse, die neben dem Stadthaus bergauf führte, waberte die Luft in der Spätnachmittagshitze. Die Villa des Gouverneurs von Tinghir war das größte und letzte Gebäude vor dem steilen Anstieg der staubigen Gasse zum Plateau des Stadtberges. Die Villa war wie ein Schwalbennest an den Steilhang geklebt. Sie war mächtig und abweisend. An das Gebäude anschließend, auf der Höhe des Oberstocks, war ein Garten in die Flanke des Steilhangs gehauen. Er war trapezförmig und seine Breite schrumpfte von der des Gebäudes, dort wo er an die Villa grenzte, zu kaum einem Meter am anderen Ende. Die Balustrade des Gartens zur Gasse hin war mit Wein bepflanzt, der über die Brüstung herabhing. Nach hinten, zum Berghang hin, schütze eine hohe Mauer den Garten vor abbröckelnden Felsbrocken. Auch an dieser Wand kroch Wein hoch und auf der Mauerkrone waren Kübel aufgereiht, von denen jetzt zur Hochsommerzeit vertrocknete Pflanzenstängel herabhingen.
Im Schatten der Mauer war eine Tafel aufgebaut, an deren zur Mauer gewandten Längsseite die Gäste des Gouverneurs Platz genommen hatten. Gouverneur Gwasila selbst thronte in der Mitte, breit, feist und rotgesichtig. Ein Tarbusch mit goldener Quaste schützte seinen kahlen Schädel. Die Plätze rechts neben ihm nahmen drei Männer ein, die drei wichtigsten Honoratioren von Tinghir. Der Rotbärtige mit dem weißen Turban beherrschte das Nachtleben der Stadt, d.h. er war Bordellwirt, der Arm wie Reich mit „Frischfleisch“ versorgte, wie er sich ausdrückte. Der mit dem schwarzen Bart hatte durch Bestechung von Hofschranzen den Getreidehandel im Ostteil des Imperiums in seine Hand gebracht und seine Förderer verdienten mit ihm. Der Dritte, der Hagere, war bartlos. Seine Karawanen transportieren alles, legale und illegale Güter. Von Salz aus der großen Wüste im Südwesten hin zu getrocknetem Fisch vom Meer im Norden, von Feigen und Datteln aus den Oasen, bis zu Sklaven aus den angrenzenden Ländern. Sie gehörten zur Geldelite der Stadt und kontrollierten alles, auch den Gouverneur.
Heute hatte sie Gouverneur Gwasila als Geschworene zu dem Prozess gegen den Amestan vom Draa eingeladen. Er wusste, sie waren die richtigen Geschworenen für einen solchen Prozess, der der endgültigen Freilassung des Gewinners eines Kampfes auf der Himmelsleiter vorauszugehen hatte. Alle drei hassten den König vom Unland, da er ihre Geschäfte gestört hatte, als er noch frei war. Ihre Teilnahme sollte sicherstellen, dass der Prozess so ausging, wie der Gouverneur es wollte. Und der wollte, dass der Amestan, aus welchem Grund auch immer, für alle Zeit aus dem Verkehr gezogen wurde. Ein Grund würde sich in der Verhandlung ergeben, dafür würde er schon sorgen, Gesetz hin oder her.
Links vom Gouverneur saßen die anderen Teilnehmer am Prozess, der Staatsanwalt Anir, ein junger Mann, der vor kurzem erst vom Imperator nach Tinghir gesandt worden war, der Stadthauptmann, ein grimmiger aber gerechter Mann und ein Schreiber.
Gouverneur Gwasila hatte reichlich aufgetischt, Couscous mit den besten Stücken vom Lamm und Geflügel, den besten Gemüsen die die Jahreszeit hergab, Fladenbrot belegt mit geröstetem Fleisch von Wildtauben, süßen Reisbrei, Muhallabia, ein mit Datteln gefülltes süßes Gebäck, grünen heißen Tee mit Pfefferminzblättern für die Strenggläubigen und süßen Wein für die übrigen, zu denen er sich zählte.
Jetzt, zu Beginn der Verhandlung, hingen die Geschworenen und der Gouverneur satt, müde und leicht benebelt vom Wein in ihren Stühlen. Weder sie, noch der Gouverneur nahmen daher KeYNamM wahr, als ihn die beiden Wächter die schmale Treppe von der Gasse hinauf in den Garten führten. Sie kannten das Ritual schon und setzten sich, den Gewinner des Kampfes auf der Himmelsleiter zwischen sich, dem Gouverneur gegenüber auf eine Bank an der Balustrade.
Allein der Staatsanwalt blickte gespannt auf den Ankömmling. Er war neu in der Stadt und es war das erste Mal, dass er bei einem Prozess teilnehmen sollte, der über die endgültige Freilassung eines Mannes, der die Himmelsleiter bezwungen hatte, entschied. Ankläger Anir blickte den Mann gegenüber an und versuchte ihm in die Augen zu schauen, aber der hielt die Augen geschlossen, da ihn die Spätnachmittagssonne blendete. Anir hatte sich einen so berüchtigten Verbrecher anders vorgestellt. Der schmale Mann in dem zerrissenen Hemd war ihm sogar sympathisch. Endlich schaute er auf, ihre Augen begegneten sich und der Ankläger konnte nicht anders, als dem Fremden zuzulächeln.
Endlich nahm auch der Gouverneur von KeYNamM Notiz. Er musterte ihn und dann winkte er eine alte Dienerin mit einer weiteren Speise heran. Er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht, um den Mann zu demütigen, um ihn, den Amestan, zu reizen, damit er einen Grund fände, dessen Freilassung abzulehnen.
„Jetzt kommt das Beste des heutigen Festtages, Freunde!“, prahlte der Gouverneur, nahm den Deckel von der Platte und da lag das Leibgericht des Propheten, das Tharid, sechs dampfende Rollen aus papierdünnem Fladenbrot.
„Alter Räuberhauptmann!“, sprach der Gouverneur den Dürren an, „Schnuppere dran? Riechst du es?“ Dann hielt er den beiden Dicken die Platte unter die Nase, „Riecht ihr es? Mit was sind die Röllchen gefüllt? Wer kann es mir sagen?“
Alle Drei kannten den ausgefallenen Geschmack des Gouverneurs. Als erster versuchte es der Bordellbesitzer. „Gazellenhoden!“, rief er. Als der Gouverneur den Kopf schüttelte, versuchte es der Getreidehändler, „Affenhoden!“ Wieder Kopfschütteln. Mit „Löwenhoden“ versuchte es der Getreidehändler.
„Pah! Gazellenhoden, nein! Affenhoden, nein! Löwenhoden, nein! Das habe ich euch doch schon serviert. Heute ist der König vom Unland unser Gast!“, und er beugte sich mit spöttischer Miene zu KeYNamM. „Was ist wohl eines Königs würdig!“ Bevor er weiterredete, vergewisserte er sich, dass KeYNamM zuhörte und wandte sich dann an den Hageren. „Habe ich deiner Karawane nicht vor zwei Tagen drei kleine wimmernde Jungen als Tribut für den Imperator mitgegeben, drei hellhaarige Jungen aus dem Unland am Draa? Was glaubst du, warum die so wimmerten?“, dabei fixierte er KeYNamM. „Ich habe die drei eigenhändig kastriert!“ Jetzt wandte er sich direkt an ihn. „Und du konntest das nicht verhindern, du der Amestan, du der große König vom Unland!“ Befriedigt plusterte er sich auf, „Hoden von Wildfängen aus dem Draa sind das beste Stimulans für uns Männer!“
Nun wandte er sich wieder an den Hageren. „Wie viele Söhne hast du Gauner? 20, 25? Lass dir heute Nacht eine Jungfrau von unserm Zuhälter schicken!“ Dann zum Bordellbesitzer „Du hast doch immer frisches Fleisch in deinen Etablissements, Jungfrauen vom Draa, mit blondem Haar, Jungfrauen aus dem Süden, schwarz wie die Nacht, Jungfrauen von der Küste im Norden, weiß wie die Gipfel der Berge! Was kannst du ihm anbieten, ihm und deinem Freund dem Getreidehändler?“ Der Gouverneur schnaufte vor Vergnügen. „Los greift zu, ich biete euch die Tharids nicht ein zweites Mal an.“
Sein nächstes Ziel war der Ankläger. „Du bist schon zwei Monate hier Staatsanwalt. Als Ankläger hattest du nur drei Prozesse zu führen gehabt. Zwei davon gewonnen! Du hattest also Zeit genug für andere Dinge! Du bist jung, du bist stark wie ein Bulle! Und was höre ich? Du hast kein Weib! Nicht einmal eine junge Dirne lebt in deinem Haus, die dir das Bett wärmt. Und hübsche Jungen gehen auch nicht ein und aus! Ich wette deine Eier sind zum Platzen gefüllt! Iss eins von den Röllchen, das macht Mut und dann geh mit in seinen Puff.“ Dabei deutete er auf den Rotbärtigen. „Such dir die Schönste aus! Machs mit ihr, bis du ihn nicht mehr hochkriegst!“ Als er noch mit schlauem Grinsen hinzufügte, „Oder bist du impotent?“, zuckte der Staatsanwalt nur mit den Schultern und wies das gefüllte Teigröllchen zurück.
Aber der Gouverneur gab nicht nach. „Merk dir eins, junger Mann, wenn du in dieser Stadt zu denen gehören willst, die die Stadt regieren, dann befolge meinen Rat! Stimmst du zu Stadthauptmann?“ Der aber zuckte nur mit den Schultern. Dem Ankläger aber legte der Stadthauptmann eine Hand zur Beruhigung auf die Schulter und tippte sich mit der anderen an die Stirn.
Der Gouverneur bemerkte die Gesten des Stadthauptmanns nicht, da er das nächste Opfer suchte. „Hallo Schreiberling, bist du scharf auf ein Röllchen? Glaubst du, das ist etwas für dich?“ Er hielt dem Schreiber die Platte mit den dampfenden Teigrollen hin, zog sie aber sofort wieder grinsend zurück. „Nichts für dich! Du hast schon eine Frau und vier Kinder zu versorgen! Bei deinem Gehalt! Dann esse ich die restlichen Tharids doch lieber selbst!“ Unter beifälligem Gelächter seiner drei Freunde verschlang er die Teigröllchen und rülpste dann ausgiebig.
Die beiden Wächter hatten während der provozierenden Darbietung des Gouverneurs KeYNamM nicht aus den Augen gelassen. Als der bei der Schilderung des Schicksals der drei Knaben aufspringen wollte, um den Gouverneur an die Gurgel zugehen, hielten sie ihn fest und einer zischte „Willst du dein Leben verwirken? Der will dich doch nur provozieren! Das macht er immer so!“
Jetzt wandte sich Gouverneur Gwasila seinem eigentlichen Ziel wieder zu. Erst lächelte er, dann herrschte er KeYNamM an. „Steh auf, Feind des Imperiums! Du bist noch nicht frei! Du stehst vor dem Vertreter des Imperators, du selbsternannter König vom Unland, du selbsternannter Amestan, du Beschützer der räudigen Eselficker vom Draa, der läufigen Schlampen vom Draa, die nichts mehr lieben, als von den Affen des Waldes gevögelt zu werden, du Beschützer ihrer hohlköpfigen Missgeburten! Tritt vor! Ich kann dich immer noch zurück ins Straflager schicken oder dich hinrichten lassen! Dein Prozess ist noch nicht zu Ende!““
KeYNamM platzte fast vor Wut. Er ließ es sich aber nicht anmerken, biss sich auf die Lippen, stand auf, trat vor und schwieg!
„Wie nennst du dich eigentlich selbst, du Rebell, der dem Imperium nicht geben will, was ihm zusteht, den Tribut dieses verkommenen Gesindels, das der Imperator schützt, er, der auch die niedrigsten Würmer nicht verkommen lässt! Du versteckst diese Missgeburten von Kindern, wenn die Soldaten des großen Imperators sie holen und einem nützlichen Zweck zuführen wollen.“ Der Gouverneur machte eine Pause, um KeYNamM die Möglichkeit zum Widerspruch zu geben. Da der stumm blieb, versuchte er ihn anders zu reizen. „Was glaubst du Einfältiger, was aus den Hurentöchtern in der Hauptstadt wird? Hausmädchen? Dienerinnen? Diese Fotzen sind zu nichts anderem nütze als dazu, dass sich unsere jungen Burschen bei ihnen die Hörner abstoßen. Mit ihnen können sie treiben, was sie später mit ihren Ehefrauen nicht machen können, von vorn, von hinten, von oben, von unten!“ Dann lachte der Gouverneur höhnisch auf! „Wofür werden denn eure blauäugigen Knaben in der Hauptstadt benötigt? Glaub mir, junge und alte Männer stehen Schlange, um ihnen den Arsch aufreißen zu können! Und eure dreckigen Weiber, diese Schlampen? Die sind für die Soldaten! Was glaubst du, wie diese Hurenweiber sich freuen, wenn jeden Abend eine ganze Kompanie ihre Fotzen ölt! Was glaubst du sonst, warum das Imperium dieses Pack als Tribut fordert?“
Der Gouverneur hatte sich in Rage geredet. Sein Kopf war hochrot, Geifer rannte aus seinem Mund, er schwitzte am ganzen Körper. Jetzt brüllte er den Mann an. „Nenn endlich deinen Namen, deinen richtigen Namen, den mit dem dich deine Hure von Mutter gerufen hat! Sag ihn mir endlich.“
KeYNamM bebte vor Wut! Er wollte sich auf den Gouverneur stürzen, aber die Wächter hielten ihn fest. Jedoch noch etwas anderes hinderte ihn daran. Der Ankläger blickte ihm ins Gesicht, blickte in seine Augen und der Blick sagte: „Beruhige dich! Beruhige dich! Der! Der will dich doch nur provozieren! Mach jetzt keinen Fehler!“ und das Räuspern des Stadthauptmanns sagte „Vergiss die Provokationen, wenn du freikommen willst!“
„Nenn deinen Namen endlich, du Sohn einer Hurenschlampe und eines räudigen Hundes!“, schrie der Gouverneur erneut. Aber der Mann blieb stumm und der Gouverneur wandte sich zum Schreiber, „Wie steht im Vernehmungsprotokoll, KeYNamM? Kein Name! KeYNamM, der Name des Mannes der weniger als Nichts ist, weniger als Schnee in der Sommerhitze, weniger als Mondlicht zur Zeit der hellen Mittagssonne!“ Als KeYNamM weiter schwieg, lehnte sich der Gouverneur erschöpft zurück. Seine Provokationen hatten nicht zum Ziel geführt. Der Mann hatte ihn nicht beschimpft, hatte sich nicht auf ihn gestürzt. Jetzt musste der Ankläger seine Arbeit verrichten und er befahl, „Staatsanwalt Anir, du Engel der Rache, Ankläger, deine Aufgabe!“
Der Staatsanwalt blickte kurz auf den Mann und begann dann ruhig. „KeYNamM, König vom Unland! Du verantwortest dich hier vor den Vertretern des Imperiums. Ich, als Vertreter des Imperators, klage dich an, die Tributzahlungen der Bewohner des Unlands an das Imperium zum wiederholten Mal verhindert zu haben. Jene Tributzahlungen, die dem Imperium seit mehr als hundert Jahren zustehen, für den Schutz, den das Imperium den Bewohnern des Unlands gegen die räuberischen Söhne der Wüste, den Tamasheq, den Saad und Maqil gibt!“ Dann löste er seinen Blick von dem Mann, blätterte in seinen Unterlagen und fixierte ihn erneut. „KeYNamM, Du rühmst dich der Amestan, der Beschützer der Bewohner des Unlands zu sein! Was gibt dir das Recht, dem Imperium seinen Tribut vorzuenthalten, der da sind:
Im Jahr sechs Knaben und sechs Mädchen im Kindesalter,
im Jahr sechs Jungfrauen und sechs Jünglinge,
im Jahr sechs Frauen im gebärfähigen Alter!
Was gibt dir das Recht, dem Imperium den Zehnten des Viehs vorzuenthalten, der Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen? Durch deine Taten hast du nicht das Unland geschützt, sondern seine Menschen gefährdet!“
KeYNamM ließ seine Blicke über das Gericht schweifen, über den Gouverneur, die Beisitzer, den Stadthauptmann und den Schreiber. Sein Blick blieb schließlich am Ankläger hängen: „Nachdem der Häuptling der Banu Saad vor einem viertel Jahrhundert starb und die Saads und Maqils jetzt ein Stamm sind, mit einem König und einem Gesetz, haben die Kel Tamasheq und die Bewohner des Unlands ihre Fehden beigelegt und Frieden geschlossen. Daher haben die Ältesten des Unlands vom Imperator die Beendigung der Tributpflicht erbeten und dafür dem Imperium ihre ewigen Dienste als Verbündete und Vermittler zwischen den Wüstensöhnen und dem Imperium angeboten.“ Er atmete durch. „Der Imperator und seine Ratgeber aber haben die Ältesten verlacht und wie Hunde vom Hofe verjagt. 'Geht!' hat der Imperator ihnen zugerufen, 'Wir, die Auserwählten des Herrn, schließen keine Verträge mit den Abkömmlingen von Affen und Ziegen!'“ Er fixierte jetzt das Gericht mit Blicken. „Ich, KeYNamM wie ich genannt werde, sage euch: Jetzt, da keine Gefahr an der Ostgrenze des Imperiums besteht, sind die Tributforderungen nur noch ein willkürlicher Raub! Raub aber ist selbst im Imperium ein Verbrechen!“
Der Staatsanwalt lauschte den Argumenten des Mannes konzentriert. Dann atmete er durch. „Die Ältesten des Unlands und das Imperium vertreten in dieser Frage gegensätzliche Auffassungen. Fest steht jedoch, dass Abkommen nur im gegenseitigen Einvernehmen verändert werden können. Ich räume ein, dass die Verhandlungen bisher nicht weitergekommen sind! Das gibt dir aber nicht das Recht, das Eintreiben des Tributs zu verhindern.“
KeYNamM merkte, dass der Staatsanwalt diese Auslegung der Sachlage nur mit Bedauern vertrat und war daher überrascht, als er fortfuhr. „Im Namen des Imperators klage ich dich, KeYNamM, an, während der letzten Jahre das Eintreiben der Tributforderungen verhindert zu haben.“ Dann wandte er sich an den Schreiber und befahl „Trage die einzelnen Verbrechen dieses Mannes vor!“
Der Amestan jedoch kam dem Schreiber zuvor. „Das ist nicht notwendig! Ich, KeYNamM, bekenne mich stolz zu den Taten, wie sie durch die Polizei und die Soldaten ermittelt wurden! Denn waren es nicht Taten für mein Volk?“
Das Gesicht des Gouverneurs, der bisher fast teilnahmslos zugehört hatte, lief bei den letzten Worten rot an. Er fuhr hoch und deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Mann, „Du!“ brüllte er, „Du! Hast du vergessen, dass du vor einem Gericht des Imperators stehst? Du!“ Sogar der Stadthauptmann, der dem Vortrag des Anklägers regungslos zugehört hatte, zeigte seinen Unmut und schüttelte den Kopf. „KeYNamM!“, zischte er, „willst du dich um Kopf und Kragen reden!“
Dem Ankläger aber wurde nun bewusst, dass jede weitere Diskussion dem Angeklagten nur schaden konnte. Er trug daher sein Fazit vor. „Du KeYNamM bist uneinsichtig! Das Gesetz des Imperiums ist aber für alle geschaffen, Reumütige und Uneinsichtige!“ Der Ankläger atmete durch um sich selbst Mut zu machen, denn er wusste, was er jetzt sagte, würde den Gouverneur und die Beisitzer aufs Stärkste verärgern. „Für deine Taten hast du fast ein Jahr im Straflager gebüßt. Dann hast du jedoch den Mut gehabt, alles auf eine Karte zu setzen. Du hast den Kampf auf der Himmelsleiter gewählt! Du hast gesiegt! Daher verlieren diese Anschuldigungen ihren Wert. Deine Schuld ist gelöscht!“ Er zögerte nur einen Moment, dann sprach er mit Nachdruck. „Nach dem Gesetz des Imperiums bleibt dem Gouverneur und dem Gericht keine andere Möglichkeit, als dich freizugeben! Geh jetzt!“
„Geh jetzt! Geh jetzt! Seit wann entscheidet der Ankläger den Prozess!“ Es sah aus, als wollte der Gouverneur den Ankläger in Fetzen reißen. Doch dann kam ihm ein Gedanke. „Deine Anklage, Anfänger, war unvollständig! Du hast sein schwerstes Verbrechen vergessen!“ Er rang nach Luft! Dann brüllte er: „Schreiber! Das Buch!“ Hastig blätterte er darin! Dann schüttelte er die Kladde und brüllte den Stadthauptmann an! „Hier fehlt das Hauptverbrechen! Stadthauptmann! Warum ist der Mord an vier Soldaten unseres Imperators nicht darin verzeichnet? Er!“, dabei deutete er mit ausgestreckte Hand auf KeYNamM, „Er, der König vom Unland, hat drei unserer besten Soldaten die Kehle feige im Schlaf durchschnitten! Den vierten hat er im Moor verschwinden lassen!“ Voll Wut wandte er sich erneut dem Stadthauptmann zu. „Sag Hauptmann, warum ist dieses Majestätsverbrechen nicht in deinem Buch verzeichnet!“
Der Hauptmann hatte den Prozess mit runzelnder Stirn verfolgt, da er das Verhalten des Gouverneurs eines Dieners des Imperiums unwürdig fand! Nicht, dass er Sympathien für den Angeklagten hegte, nein! Zwar verstand er dessen Argumente in gewissem Grade, aber Auflehnung gegen die Gesetze des Imperiums war ein Verbrechen und in seiner Verantwortung lag es Verbrechen zu verhindern, zu verfolgen und die Täter dem Gericht zu überstellen. Der Vorwurf des Gouverneurs traf ihn tief, zog dieser doch seine Integrität in Zweifel.
Er überlegte nur kurz. „Schreiber, nimm die Akte unerledigte Fälle zur Hand!“ Dann schoss er zurück. „Hoher Gouverneur erinnern sie sich, wann diese grässlichen Morde geschehen sind? Nein!“ und er fixierte den wütenden Mann. „Hier ist der genaue Zeitpunkt der Auffindung der Ermordeten verzeichnet! Schreiber lies!“ Als dieser die Akte aufblätterte und dann mit rotem Kopf herumzudrucksen begann, entriss er sie ihm und las selbst. „Hier steht! Die drei Leichen wurden mit durchgeschnittener Kehle im 4. Zeltlager am Draa gefunden. Eine vierte Leiche wurde nicht gefunden. Die Waffen der Drei befanden sich samt und sonder im Lager und ihre drei Pferde weideten auf der Koppel. Das vierte Pferd war ebenso wie der vierte Soldat verschwunden. Auch die Wertsachen der drei Ermordeten fehlten. Als Zeitpunkt der Entdeckung des Verbrechens wird der Morgen des 16. Tages des fünften Monats angegeben. Da die Leichen sonst unversehrt waren, d.h. weder von Hunden noch von Wildtieren angefressen, waren die Morde erst kurz zuvor, wahrscheinlich in der Nacht, geschehen!“
„Und?“ herrschte ihn der Gouverneur an, „Und? Spricht das gegen den König vom Unland als Mörder?“
„Das nicht, aber der Zeitpunkt! Der König vom Unland war seit Mitte des letzten Jahres bis gestern Nacht im Straflager an der Kristallmine und die letzte Nacht verbrachte er hier im Gefängnis!“ und dann setzte der Stadthauptmann hinzu. „Das Straflager hat er zu keinem Zeitpunkt verlasen, das steht fest! Die Morde aber geschahen erst vor drei Monaten!“
„Und weiter?“, tobte der Gouverneur. „Die Morde entsprechen der Gesinnung dieses Feindes des Imperiums! Ihn freizulassen, stellt eine Gefahr für das Imperium dar. Er! Er gefährdet die Ordnung des Imperiums, dieser …“ Dabei deutete er mit ausgestreckter Rechter auf KeYNamM, den Beschützer des Unlands.
In diesem Moment begann auf der Stützmauer, die den Garten zum Berg hin begrenzte, ein großer Tontopf mit vertrockneten Blumen gefährlich zu wackeln. Er verlor seinen Halt und stürzte im hohen Bogen herunter in den Garten, dem tobenden Gouverneur direkt auf die rechte Schulter. Der schwere Topf warf den schweren Mann nach vorn. Er fiel mit dem Gesicht auf die Tafel. Ein zweiter, kleinerer Topf folgte und traf seinen Kopf hinter dem linken Ohr. Gouverneur Gwasila schrie gequält auf. Ein dritter Topf verfehlte seinen Kopf nur knapp, schlug auf die Tafel auf, zerschellte und verstreute seinen ausgetrockneten Inhalt auf der Tischplatte.
Die Teilnehmer an der Gerichtssitzung brauchten einen Moment bevor sie den Vorgang erfassten. Dann waren es die beiden Wächter, die als Erste dem Gouverneurs zu Hilfe eilten. Sie versuchten ihn aufzurichten, was jedoch erst gelang, als der Ankläger und der Zuhälter den Leblosen packten, hochzogen und in seinen Sessel setzten.
Auf das Geschrei der Anwesenden hin stürzten die beiden Dienerinnen aus dem Haus. Aufgeregt bemühten sie sich um ihren Herren, wussten jedoch nicht was zu tun sei. Erst auf den Befehl des Karawanenbetreibers holten sie feuchte Tücher, um mit diesen den benommenen Gouverneur zu erfrischen und so zum Leben zurückzurufen. Sobald dieser aber seine Benommenheit auch nur halbwegs abgeschüttelt hatte, begann er zu fluchen und zubrüllen.
Der Stadthauptmann bemühte sich nicht um den Verletzten, sondern war ganz in seinem Element als Ermittler und versuchte sofort herauszufinden, warum die Töpfe so plötzlich von der Mauer herabgestürzt waren. Von seinem Platz aus konnte er niemanden entdecken, der sich hinter den Blumentöpfen auf der Mauerkrone versteckt gehalten hätte. Seine Erfahrung sagte ihm jedoch, dass sich so schwere Töpfe nicht von alleine aus ihrer Verankerung lösen könnten. Irgendjemand musste sie von der Mauer gestoßen haben. Aber wer? Wer war für das Attentat verantwortlich? Er schüttelte gedankenverloren den Kopf, stand dann auf, um oben nach Spuren eines möglichen Attentäters zu suchen.
4 Dem Tod entkommen
Im dem Augenblick, als der Gouverneur mit dem Kopf auf der Tafel aufschlug und die Wächter ihm zu Hilfe eilten, sprang KeYNamM auf und nutzte die momentane Verwirrung zur Flucht. Mit einem Satz sprang er über die Gartenmauer in die Gasse hinunter und rannte den Weg bergauf, hinaus aus der Stadt. Er wusste instinktiv, dass dies seine einzige Möglichkeit war, dem Gouverneur und dessen Hass zu entkommen. Kaum war er zwanzig Schritte den steilen Pfad hinaufgehetzt, als ihn eine Kinderstimme anrief. „Baba, Baba, KeYNamM! Du, KeYNamM-baba, schnell hier her! Hier bin ich!“
Ein Junge in ausgefranstem Hemd sprang aus den Büschen am Ende des Gartens und zog ihn zu dem schmalen Pfad, der verdeckt von Gestrüpp an der Gartenmauer entlang hinauf auf einen Ausläufer des Stadtberges führte. Es war eigentlich kein Pfad, sondern nur eine steile Rinne, die der Winterregen ausgewaschen hatte. Der Junge kraxelte sie so schnell auf allen Vieren hinauf, dass ihm KeYNamM nicht folgen konnte, da er immer wieder auf den losen Kieseln ausrutschte. Auf halbem Wege kam ihnen ein größerer Junge entgegen und half ihm hinaufzukriechen.
Von hier oben, auf dem Ausläufer des Stadtberges, waren von den Häusern in der Gasse, die alle mit ihrer Rückwand gegen die Felswand gebaut waren, nur die Dächer und Dachterrassen zusehen. Bei einem waren Umbaumaßnahmen im Gange, die jetzt gegen Abend ruhten. Es stand leer. Auf der Dachterrasse, zu der eine schmale Planke führte, war Baumaterial aufgestapelt. Der größere Junge schob KeYNamM über eine Planke auf die Terrasse und zog diese dann weg. Auf der Terrasse versteckten sie sich hinter Baumaterial und Gerümpel.
Erst jetzt, geduckt hinter dem Gerümpel, kam KeYNamM zu Atem und erkannte die beiden Jungen sofort wieder. Es waren die Brüder aus der Brunnenkammer. „Ikken? Aylal?“, fragte er, um sicher zu gehen. „Ikken und Aylal, die aus der Brunnenkammer?“ Dann, nach kurzem Zögern, fuhr er erstaunt fort. „Warum helft ihr mir? Warum helft ihr mir zu entkommen? Ich bin ein Fremder! Ihr kennt mich doch gar nicht!“
Anstatt einer Antwort legte Ikken den Zeigefinger auf den Mund und hauchte „Still, still“ und Aylal piepste „KeYNamM-baba, still, still!“
Eng aneinandergedrückt, lauschten sie auf die Kommandos und das Fußgetrampel der Suchtrupps, die die Gasse vor der Villa herauf und herunter hasteten, erschraken jedes mal, wenn jemand an der verschlossenen Türe des leerstehenden Hauses rüttelte und warteten darauf, dass sie aufgebrochen würde. Aber niemand brach sie auf und drang ins Haus. Kein Stadtwächter suchte den Bergrücken hinter den Häusern oder die Dachterrassen ab, nur der Stadthauptmann, der den Trampelpfad neben der Stützmauer hochgeklettert kam. Aber auch er entdeckte ihr Versteck nicht.
Als das Abendlicht endlich der mondlosen Nacht gewichen war, wagten sich die Drei aus dem Versteck. Aylal war inzwischen eingeschlafen. KeYNamM nahm ihn daher wie ein Wickelkind auf den Arm und folgte Ikken auf einem sandigen Pfad quer über den Bergrücken zu einer schmalen Straße, die hinab in die Stadt führte.
Die schmalen verwinkelten Gassen von Tinghir waren um diese Zeit menschenleer. Trotzdem spähte Ikken an Straßenkreuzungen um die Ecken und gab ein Zeichen, wenn niemand zu sehen war. Sie hatten Glück. Nur zweimal mussten sie sich in dunklen Hauseingängen vor nächtlichen Spaziergängern verstecken.
Vom Tragen Aylal's wurden KeYNamM die Arme bald schwer und als er aufwachte, nahm er ihn huckepack. Erst jetzt erinnerte er sich an das grüne Pentagramm im roten Dreieck auf dem Rücken seines Hemdes, das ihn als Eigentum des Imperators verraten hätte. Er war daher erleichtert, dass das verräterische Zeichen jetzt vom schmalen Körper Aylal's verdeckt wurde.
KeYNamM kam der Weg durch die dunklen Gassen unendlich lang vor, wie immer, wenn er einen Weg zum ersten Mal ging. Endlich, endlich, als er es schon fast nicht erwartete hatte, sagte Ikken: „Wir sind gleich da. Wir müssen nur noch durch den Soukh.“
KeYNamM kannte die Stadt von früheren Besuchen, aber jetzt im Dunkeln hätte er nie zum Soukh gefunden. Ikken jedoch huschte wie eine Katze durch die Nacht und bald erreichten sie den ausgestorben daliegenden Markt. Ikken führte ihn durch die schmalen Gassen zwischen den Marktständen bis zur Stadtmauer, wo die kleinsten und ältesten Stände sich mit ihrer Rückseite an die dicke Lehmmauer anschmiegten. Hier schlüpfte Ikken in eine enge Lücke zwischen zwei schiefen Hütten, schob eine Planke von der Seitenwand der einen beiseite und schob KeYNamM, der Aylal immer noch auf dem Rücken trug, in die stockdunkle Hütte.
Drinnen roch es nach getrockneten Kräutern, Gewürzen und Trockenfrüchten. Ikken kramte im Dunkeln herum, fand was er suchte, zündete eine kleine Öllampe an und leuchtete damit auf eine quadratische Öffnung in der Wand hinter einem Regal. „Hier hinein!“, bedeutete er KeYNamM. „Das ist unser Unterschlupf!“
Dahinter befand sich ein Hohlraum in der Stadtmauer aus Lehm. Er war kaum mannshoch und nur wenige Schritte tief. Diese Höhle war seit langem die Bleibe von Ikken und Aylal. Hier war ihr Schlafplatz, hier hingen die wenigen Habseligkeiten die sie besaßen an der Wand oder lagen in der kleinen Truhe am Fuß des Schlafplatzes.
Aylal wachte nicht auf, als ihn KeYNamM auf die Decken des Schlafplatzes legte. Er rührte sich zwar, gähnte kurz, schlief jedoch sofort weiter. „Ich gehe noch Wasser besorgen und hole etwas Essen“, wisperte Ikken KeYNamM zu. „Warte! Ruh dich aus und verhalte dich ruhig. Ich weiß noch nicht, wie lange ich wegbleibe. Bitte versuche nicht mich zu suchen oder wegzulaufen. Ich komme schon zurück!“
Ikken blieb sehr lange weg. Als KeYNamM es vor Durst fast nicht mehr aushielt, traf der Junge endlich wieder in ihrem Versteck ein. „Wir müssen weg! Ganz schnell! Sie suchen die gesamte Stadt nach dir und deinen Helfern ab. Sie nehmen an, es waren zwei Jungen, ein größerer und ein kleinerer, wissen aber nicht wer sie sind. Sie klopfen an alle Häuser und fragen nach den dreien. Bald werden sie auch auf dem Soukh auftauchen. Sie wissen noch nicht, dass Aylal und ich es waren, die dir geholfen haben. Aber das finden sie bald heraus! Wir verlassen die Stadt, sofort.“
KeYNamM wollte schon aus dem Unterschlupf in den Marktstand steigen, aber Ikken ihn zurückhielt. „Nicht durch die Stadt, hier raus!“ Er schob einige Bretter auf der Rückwand der Unterkunft zur Seite. „Hier durch! Auf dem Bauch! Nimm den Wasserschlauch mit. Auf der anderen Seite musst du die Reisigbündel wegstoßen und schon bist du im Freien.“
Auf dem Bauch liegend hatte KeYNamM Mühe, die verkeilten Reisigbündel wegzuschieben, die den Ausgang des Durchschlupfs tarnten. Als er sich endlich in der sternklaren Nacht vor der Stadtmauer aufrichten konnte, bemerkte er, dass sein Hemd vor Aufregung durchgeschwitzt war. Als nächstes kam Aylal, den Ikken wachgerüttelt hatte und dann Ikken selbst mit einem Ledersack voller Lebensmittel. Ikken übernahm den Befehl und duldete keine Pause. „Nimm den Wasserschlauch auf die Schulter und Aylal an die Hand“, befahl er KeYNamM. „Ich tarne den Ausgang des Durchschlupfs noch mit Reisig und komme dann nach.“ Er deutete nach Osten, wo die Sonne gerade aufging. „Siehst du dort die Straße, sie führt ins Grenzland!“
5 Ikken's Zorn
Ikken war enttäuscht. „Soll das unser neues Zuhause sein? Unser Unterschlupf in der Stadtmauer hinter dem Marktstand unserer Muhme war dagegen ein Palast!“, stöhnte er.
Drei Tage nach der hastigen Flucht aus der Stadt, erst auf versteckten Wegen durch das ausgedorrte Vorland des Gebirges, dann durchs versteppte Grenzland und immer auf der Hut vor den Soldaten des Imperiums, standen er und sein Bruder Aylal vor einem primitiven Unterschlupf am Ufer des Draa. „Du hast uns doch all die anstrengenden Tage mit dem Versprechen auf deinen Lieblingsplatz vertröstet und jetzt? Das ist doch nur ein mieser Unterschlupf, mit einem Dach aus Schilf über einem Loch im Abhang, ohne Bett und Tisch!“
KeYNamM musste Ikken Recht geben. Sein Lieblingsplatz war nur ein Unterstand zwischen den dichten Büschen des Galeriewaldes am linken Ufer des Draa. Zwar war der sandige Boden im Unterstand trocken und die Feuerstelle vor dem Eingang mit Steinen eingefasst, aber sonst? Ein primitiver Unterstand, wie ihn Jäger oder Hirten bevorzugten. Was KeYNamM jedoch an diesem Ort liebte war seine Abgeschiedenheit, die Ruhe ringsumher, den grasbewachsenen Uferstreifen, der sich bis zum Schilfgürtel am Ufer der kleinen Bucht erstreckte, die Kühlung, die der Draa in der Mittagshitze gewährte, und den dichten Wald, der alles wie einen Festungswall umgab. „Langsam, langsam!“, bemühte er sich Ikken zu beruhigen. „Schlaf erst eine Nacht hier und du wirst den weichen Sand, das Quaken der Frösche in der Nacht und den Morgengesang der Vögel nie mehr vermissen wollen.“
„Ich hab Hunger!“, klagte Aylal. „Mein Magen knurrt schon seit wir im Morgengrauen aufgebrochen sind. Aber du hast keinen Herd, um meine Enteneier zu kochen. Warum habe ich eigentlich das Nest ausgenommen? Hier gibt es nur die Feuerstelle, sonst nichts!“ Er verzog das Gesicht weinerlich. „Ich habe es dir schon zehnmal gesagt, KeYNamM-baba, ich mag keine Datteln mehr!“
„Warte nur einen Moment! Jemand der versteckt lebt, kann sein Eigentum nicht einfach für alle sichtbar herumliegen lassen. Komm Ikken, hilf mir.“
KeYNamM kroch neben dem Unterstand in die Büsche und begann an einer flachen Stelle Blätter und Äste wegzuräumen. Eine geflochtene Abdeckung wurde sichtbar. „Hilf mir den Deckel hochzuklappen, Ikken.“ Als die Grube abgedeckt war, fragte er ihn: „Und nun?“, und zeigte in die Grube. Da lagen ein Tontopf, eine Schüssel mit Deckel, ein zugestöpselter Behälter aus Glas, ein kleiner Lederbeutel, ein großer Löffel, ein Messer mit kurzer Schneide und ein Beil. KeYNamM hob die Schüssel aus der Grube, deckte sie auf, roch am Inhalt und hielt sie dann Aylal unter die Nase, der gerade dazugekommen war. „Riecht gut, nicht Aylal? Riech, nach mehr als einem Jahr riecht die Hirse noch wie frisch geerntet. Heute gibt es Hirsebrei mit Eiern.“ Dann prüfte KeYNamM die Schneide des kurzstieligen Beils mit dem Daumen. „Scharf genug! Das ist leider die einzige Waffe, die für den Nahkampf taugt. Das kleine Messer taugt dazu nicht.“ Dann grinste er. „Aber wir haben andere Waffen zu unserer Verteidigung!“ Damit fischte er eine Rolle Schnüre und den Lederbeutel aus dem Versteck. „Die Schnüre brauchen wir für Bogensehnen!“ Dann gab er Ikken den Beutel, „Schau nur hinein, die Pfeilspitzen und die Federn sind hier drin.“
Ikken runzelte die Stirn, „Wo ist denn der Bogen und die Pfeilschäfte?“
„Das Holz für Bögen muss gerade hängen und darf nicht austrocknen. Schau dort im Baum, zwischen den Ästen, dort hängen Bogenhölzer und Pfeilschäfte. Siehst du sie? Gut versteckt und für Vorbeikommende nicht zu entdecken!“
Später, als das Wasser im Tontopf auf der Feuerstelle dampfte, schüttete KeYNamM die Hirse hinein, ließ sie quellen, schlug dann drei der aus dem Nest geräuberten Enteneier hinein und schmeckte das Ganze mit Salz aus dem Glasbehälter und mit Kräutern ab, die zwischen den Bäumen wuchsen.
Die Drei setzten sich im Kreis um den Topf und begannen um die Wette zu essen. Da nur ein Löffel verfügbar war, ließen sie den kreisen. Aylal nippte vorsichtig an dem heißen Brei, aber Ikken schaufelte sofort los. Nach den ersten Bissen strahlte Aylal. „Das beste Essen seit langem!“, und leckte den Löffel ab und steckte seinem Bruder die Zunge heraus. „Ikken, du kochst schlechter!“ Als er satt war, kletterte er auf den Schoß von KeYNamM, der an einen Baum angelehnt saß, und schmiegte sich eng an ihn. „Jetzt mach ich meinen Mittagsschlaf und du bist mein Bett, KeYNamM-baba!“
Ikken saß den Beiden mit gekreuzten Beinen gegenüber im Sand. KeYNamM beobachtete ihn genau. Als Aylal KeYNamM auf den Schoß gekrochen war, hatte Ikken sie beide mit halbgeschlossenen Augen beobachtet. Dabei zog er ein Gesicht, als wäre er auf seinen kleinen Bruder neidisch. Aber dann streckte er sich im Sand aus und schlief ein.
KeYNamM wusste nicht was er von Ikken halten sollte. Einerseits war der größere der Brüder ein verspielter, neugieriger großer Junge, der typische Heranwachsende, der ihn auf dem Weg hierher mit Fragen gelöchert hatte, andererseits benahm er sich als wäre er schon ein Erwachsener und versuchte seinen kleinen Bruder immer zu beschützen. Wie ein übereifriges, abenteuerlustiges Kind hatte er ihm das Entkommen in Tinghir ermöglicht, ohne die Gefahr zu beachten, die ihm und seinem Bruder dadurch drohen könnte. Aber die Flucht selbst plante und führte er umsichtig wie ein Erwachsener durch. Ikken verhielt sich einmal wie ein naives Kind und dann wieder wie ein erfahrener Erwachsen!
Ikken hatte KeYNamM immer noch nicht verraten, warum er ihn gerettet hatte, trotz seiner wiederholten Fragen und obwohl er ihm versichert hatte, wie er seine Kühnheit bewunderte! Ikken schwieg über sein Motiv. Seine einzige Antwort war ein abwehrendes Achselzucken. KeYNamM vermutete, dass diese Reaktion etwas mit dem verschwundenen Vater zu tun hatte. Aylal hatte so etwas angedeutet und der Kleine nannte ihn immer Vater. Baba, nicht direkt Vater aber KeYNamM-Vater, KeYNamM-baba. Aber auch Aylal verriet ihm nicht, warum sich die beiden dieser tödlichen Gefahr ausgesetzt hatten.
Ikken verhielt sich seinem kleinen Bruder gegenüber fast immer wie ein übervorsichtiges Kindermädchen, nicht wie ein großer Bruder, der dem Kleineren ein Beispiel sein wollte. „Aylal nicht!“, „Aylal, pass auf!“, „Aylal, lass das!“, „Aylal, das ist zu gefährlich!“ Immer wieder warnte er den Jüngeren. Zum Beispiel hatte er ihm verboten, auf den niedrigen Baumstumpf zu klettern, als er das Entennest plündern wollte. „Nicht Aylal! Lass mich lieber die Eier holen, du bist zu klein! Du könntest runterfallen!“ Aber Aylal hatte natürlich nicht auf Ikken gehört und es war ihm natürlich nichts passiert.
Selbst KeYNamM gegenüber benahm Ikken sich recht seltsam. Er behandelte ihn oft, als wäre er ein Kind, das beschützt werden muss. „Pass auf!“, warnte er ihn ein ums andere Mal, z.B. wenn ein aufgescheuchter Skorpion auf dem Weg seinen Stachel hob oder wenn eine Schlange nicht schnell im Gebüsch verschwand, sogar vor dem Frosch warnte er ihn, der in den Brunnen sprang, als sie aus ihm trinken wollten. KeYNamM musste wissen, was sich hinter dieser Einstellung Ikken's verbarg. Er wusste, dass dies wichtig war, wenn er die Aufgabe als Vater der beiden annehmen wollte.
Nach Einbruch der Dunkelheit im Unterstand auf einer Lage frischen Grases liegend, links neben ihm der schnarchende Aylal, weiter rechts Ikken, zusammengerollt wie ein schlafender Hund, überlegte KeYNamM, wie es weitergehen sollte. Ziel seines bisherigen Lebens war es immer gewesen, die Bewohner des Unlands vor den Übergriffen des Imperiums zu schützen, also den Raub von Kindern, Jugendlichen, Frauen und Tieren zu verhindern. Jetzt jedoch war eine andere Aufgabe hinzugekommen, eine schwierigere, eine mit der er nie zuvor gerechnet hatte. Er wollte und musste seine Retter beschützen, Aylal, der ihn wie einen Vater zu lieben schien, und natürlich Ikken, aus dem er noch nicht schlau wurde. Er musste verhindern, dass sie gefangen wurden, dafür sorgen, dass sie selbstständig und erwachsen werden konnten. Aber wie? Er wusste das bloß noch nicht!
Eines hatte KeYNamM in seinem bisherigen Leben gelernt, Angriff war die beste Verteidigung. Er musste daher seinen Feinden immer einen Schritt voraus sein, sie angreifen, bevor sie ihn angriffen, als erster zuschlagen, bevor sie zuschlagen konnten. Er starrte in die Dunkelheit, lauschte dem Quaken der Frösche, dem Bellen von Wildhunden in der Ferne, dem Gesang der Nachtigall und dem Huuten der Eulen. Immer noch grübelnd, schlief er ein. Beim Aufwachen wusste er plötzlich, was die einzige richtige Antwort war.
Am Morgen erbot sich Ikken das Frühstück zu machen. Er wollte Aylal zeigen, dass er ein mindestens ebenso guter Koch sei wie KeYNamM. Der Hirsebrei mit Eiern gelang gut, aber Aylal hatte trotzdem etwas auszusetzen, „KeYNamM-babas Brei schmeckte besser, du hast ihn versalzen!“ Ikken quittierte die Kritik seines Bruders mit einer Kopfnuss.
Während Ikken das Frühstück zubereitete, hatte KeYNamM zwei Bogenhölzer aus dem Versteck geholt und sie mit Schnüren als Sehnen gespannt. Den mannshohen Bogen hatte er für sich selbst ausgesucht, den etwas kürzeren für Ikken. Als Aylal protestierte „und wo bleibt meiner?“, vertröstete er ihn. „Den muss ich erst machen! Du brauchst einen kleineren Bogen, die beiden sind ja größer als du!“
Nach dem Frühstück zeigte er Ikken wie Pfeile zusammengebaut wurden. In das Ende des Schaftes kerbte er eine Nocke für die Bogensehne, davor klebte er Federfahnen mit Baumpech fest. Die Spitze aus Metall befestigte er am Anfang. Dazu steckte er die Zunge der Spitze in einen Spalt am Anfang des Pfeils und umwickelte dann die Stelle mit einer pechgetränkten Schnur.
„Warum klebst du die Spitze fest?“, wollte Ikken wissen, der KeYNamM's Arbeit aufmerksam beobachtete.
„Damit die Spitze im Schaft hält und später zusammen mit dem Schaft aus der Wunde herausgezogen werden kann. Dies sind nämlich Metallspitzen und ich kann keine von ihnen verlieren“, belehrte er Ikken. „Die Pfeile mit Metallspitzen sind zum Jagen und zur Verteidigung. Gleich werden wir noch Übungspfeile machen, die brauchen wir dringend, da ich schon fast ein Jahr nicht mehr mit Pfeil und Bogen gejagt habe. Ich muss erst zielen üben. Und du Ikken? Bist du ein guter Schütze?“
Der schüttelte mit dem Kopf. „Glaub ich nicht! In der Stadt schießen wir nie mit Pfeil und Bogen!“ Dann bettelte er: „Bringst du mir das Schießen bei?“
Die Übungspfeile hatten keine Metallspitze. Ihr Schaft wurde lediglich angespitzt, die Spitzen im Feuer gehärtet und dann mit Schnur so umwickelt, bis die Jagd- und die Übungspfeile etwa gleich schwer und ähnlich ausbalanciert waren. Dabei durfte Ikken KeYNamM helfen. Beide fertigten jeweils die gleiche Anzahl von Übungspfeilen an.
„Und auf was zielen wir?“ Ikken schaute sich um, „auf den Baum dort?“, und er sah KeYNamM fragend an.
„Nein, nein! Der Stamm ist viel zu hart. In ihm würden unsere Übungspfeile kaum steckenbleiben. Außerdem müssen wir dann die Pfeile, die daneben gehen, im Wald dahinter suchen!“
„Das mach ich!“, rief Aylal, der mit einem Büschel Blumen vom Flussufer zurückkam.
„Ich weiß etwas Besseres. Wir bauen uns einen Mann aus Schilf. Den können wir auf der Wiese aufstellen und aus verschiedenen Entfernungen auf ihn schießen.“
Als das mannshohe Bündel Schilf auf der Wiese stand, zog KeYNamM ein unzufriedenes Gesicht! „Wir müssen eine Markierung genau dort anbringen, wo bei einem Mann das Herz sitzen würde! Diese Stelle ist unser Ziel! Das müssen wir treffen!“
Ikken sah KeYNamM an, dass der scharf überlegte. Dann hellte sich dessen Gesicht plötzlich auf. Er strahlte nun förmlich. Er zog sein Hemd über den Kopf. „Gib mir dein Messer Ikken!“ Mit ein paar schnellen Schnitten trennte er das Zeichen des Imperiums, das grüne Pentagramm im roten Dreieck, aus dem Hemd und befestigte es auf dem Schilfbündel! „Hier! Das ist das Herz des Imperators! Mit jedem Treffer töten wir den Unterdrücker und seine Knechte!“
Zuerst verstand Ikken nicht, was KeYNamM damit meinte. Aber als er den ersten Pfeil auf das Ziel abschoss und das Pentagramm, das Herz des Imperators, durchlöcherte, verstand Ikken. Er begann begeistert zu brüllen. „Getroffen! Getroffen! Der Imperator ist tot, der Gouverneur ist tot und all seine Knechte! Sie sind tot! Wir haben sie getroffen!“
Nun begann auch Ikken Pfeil auf Pfeil auf das Ziel zu schießen. Bei jedem Treffer jubelte er: „Für meinem Vater! Für meinen Vater! Tod dem Gouverneur! Tod dem Imperator!“ Aylal, der den beiden zusah, bekam allmählich Angst. Er klammerte sich an KeYNamM. „Warum macht ihr das? Was hat euch der Imperator getan? Was hat euch der Gouverneur angetan? Menschen schießen doch nicht auf Menschen.“
Plötzlich landeten drei Enten auf dem schmalen Grasstreifen zwischen dem Fluss Draa und dem Uferwald, eine Ente und zwei Erpel. Die beiden Erpel stürzten sich sofort auf die Ente, um sie zu besitzen. Dabei behinderten sie sich gegenseitig und begannen wütend miteinander zu kämpfen. Ikken, der noch einen Übungspfeil übrig hatte, zielte auf die Raufenden. Glück oder Können, er traf einen der Erpel und verletzte ihn so stark, dass Aylal ihn fangen konnte. Fürs Abendessen war gesorgt!
Aylal leckte sich die Finger, als nur noch die abgenagten Knochen vom Entenbraten übrig waren, rülpste dann laut und als ihn weder KeYNamM noch Ikken rügte, trollte er sich gähnend in den Unterstand. Dort rollte er sich in der hintersten Ecke zusammen, rief noch „Gute Nacht“ und begann sofort zu schnarchen.
Im Zwielicht der nahenden Dämmerung ging KeYNamM den schmalen Pfad zum Draa hinunter, setzte sich auf einen angeschwemmten Baumstamm am Ufer und begann die Pläne für seine nächsten Schritte noch einmal durchzugehen. Plötzlich schreckten ihn leise Schritte aus seinen Gedanken. Ikken tauchte im Dunkeln auf. „Komm, setz dich Ikken. Hier!“, er klopfte auf den Stamm direkt neben sich. Ikken setzte sich, aber als er aus Versehen KeYNamM anstieß, fuhr er hoch und rückte ein Stück weg.
Nach einer Weile räusperte sich Ikken und fragte unsicher. „Weißt du eigentlich warum Aylal dich Baba nennt, Vater, KeYNamM-baba?“
„Nicht wirklich! Dein Bruder hat es angedeutet, aber ich habe ihn nicht verstanden. Sag du es mir bitte.“ Ikken schwieg weiter! Da erzählte KeYNamM, was er von Aylal erfahren hatte. „Auf dem Platz vor der Brunnenkammer hättest du gesagt, der Mann dort sieht aus wie Baba. Schau genau hin Aylal, schau er ist so groß wie Baba, hat seine Haare und geht wie er. Schau wie er mit den Armen schlenkert, wie Baba! Warum hast du das gesagt, Ikken?“, fragte er vorsichtig.
Ikken schwieg lange. „Aylal hätte es dir nicht sagen dürfen! Ich habe es ihm doch verboten. Ich habe ihm jedoch nicht alles gesagt.“ Dann zögerte er erneut. „Dein Gesicht sah ich zum ersten Mal in der Brunnenkammer. Du hast durch das Gitter auf uns heruntergeblickt. Das hat mich erschreckt, dein Gesicht sah aus, wie das von Vater, als ich ihn zum letzten Mal im Gefängnis besuchen durfte. Es war bleich, erschöpft, voll von Sorgen! Ich dachte Vater ist zurück, zurück als Geist. Aber dann bist du zurückgeschreckt und dann habe ich erkannt, dass du der Mann von der Himmelsleiter bist, der Amestan, der dem Tod entkommen ist.“ Erst nach einer langen Pause fuhr er fort. „Ich kannte den Gouverneur und kannte ihn gut und wusste, dass du ohne Hilfe verloren bist!“
„Aber dein Vater ist doch nur fort gegangen! Aylal sagt immer: Baba ist einfach fort, er ist vor bösen Menschen weggelaufen, er hat uns nicht im Stich gelassen! Ja, Baba ist weg und er kommt wieder! Aber die bösen Menschen müssen zuerst weg!“
„Ich musste das Aylal so erzählen! Nur das, nicht was wirklich geschehen ist! Vater hat mir das Versprechen abgenommen, ihm nur das zu sagen!“ Ikken schwieg lange, „Vater ist nicht weggegangen! Er hätte uns nie allein gelassen, mich und Aylal! Nein! Der Gouverneur hat ihn uns genommen! Der Gouverneur ließ ihn ermorden!“
Als KeYNamM nichts sagte, erklärte Ikken. „Jetzt weißt du, warum ich heute voller Wut auf die Schilfpuppe geschlossen habe! Ich habe den Gouverneur erschossen! Ich habe meinen Vater gerächt!“ Dann schwieg Ikken verbittert und rückte ganz nahe an KeYNamM heran, als brauche er Kraft und Schutz.
“Willst du wissen, warum der Gouverneur meinen Vater umgebracht hat?“ Ikken wartete KeYNamM's Antwort nicht ab. „Vater hatte im Soukh einen Stand. Bei ihm gab es die süßesten Trauben, die saftigsten Datteln, die reifsten Feigen im Sommer und das beste Trockenobst im Winter. Das ganze Jahr über verkaufte er frisches Gemüse und duftende Kräuter aus den Bergen. Er hatte Kunden von mittags bis spät in die Nacht. In der Morgendämmerung ging er jeden Tag hinaus vor die Stadt in unseren Garten, wässerte die Beete und holte frische Früchte für den Tag. Wenn er zurückkam, warteten schon die Hausfrauen und drängten sich um seinen Stand.
Eines Tages kam er Gouverneur mit seinem Diener auf einem Inspektionsgang vorbei, nahm sich eine der tiefblauen Trauben. Er kostete die Beeren im Weitergehen und blieb erstaunt stehen. Er schickte seinen Diener zurück und lies meinem Vater ausrichten. „Mein Herr möchte noch mehr Trauben! Sie schmecken ihm besser als alle, die er bisher gekostet hat!“
„Das sind Trauben aus meinem Garten. Die Weinstöcke hat mein Vater gepflanzt, Gott hab ihn selig. Ich habe sie gewässert und beschnitten und jetzt, jetzt tragen sie die süßesten Trauben der ganzen Stadt.“
Drei Tage später kam der Gouverneur wieder auf den Markt. Diesmal ging er gezielt auf Vaters Stand zu, probierte die verschiedenen Früchte, leckte sich die Lippen, „Deine Trauben sind wirklich die köstlichsten auf dem Soukh, deine Datteln die süßesten und die Feigen die saftigsten. Wo ist dein Garten? Oben in den Bergen? Liegt er morgens in der Sonne und mittags im Schatten der Bäume und nachts im Mondlicht? Hat er eine eigene Quelle und wird der Boden von dem rieselnden Wasser in den Kanälen gesättigt?“
„Ja hoher Herr! Das alles trifft zu und noch mehr. Er liegt in einem kleinem Tal, geschützt vorm heißen Mittagswind. Morgens singen die Lerchen und nachts die Nachtigallen und am Tag gurren dort die Tauben.“
„Das ist der Garten, den ich mir schon immer wünsche.“ Lachte der Gouverneur, zog einen Beutel aus der Tasche, schüttelte die Kristalle auf seine Handfläche, dass sie in der Sonne glitzerten. „Hier, schau wie sie glitzern. Sie alle sollen dein sein, wenn du mir den Garten verkaufst!“
„Nein, nein Gouverneur! Der Garten ist unverkäuflich! Ich habe ihn von meinem Vater geerbt und der von seinem Vater und der wiederum von seinem Vater. Der Garten gehörte meiner Familie noch bevor die Stadt gegründet wurde! Er ist unverkäuflich!“ Ikken schwieg einen Augenblick. „Ab diesem Tag kam der Gouverneur jeden Tag zu meinen Vater an den Stand, brachte mehr und mehr Kristalle mit und versuchte so meinen Vater zum Verkauf zu überreden. Der aber blieb standhaft.“
„Als alles Überreden nichts nützte, heckte der Gouverneur einen tiefschwarzen Plan aus.“ Ikken schnaubte verächtlich. „Er versprach einem Dieb, den er gerade verurteilt hatte, dass er ihn frei ließe, wenn er einen Beutel Kristalle in meines Vaters Haus verstecken würde. Der tat es, als mein Vater morgens im Garten frische Früchte holte. Als Vater mittags voll bepackt zurückkam, warteten schon Polizisten vor dem Haus und beschuldigte ihn, beim Gouverneur eingebrochen zu sein, den Schlafenden niedergeschlagen und gefesselt zu haben und dann mit einem Beutel voll Kristallen geflohen zu sein. Mein Vater protestierte aufs Heftigste. Da er sich keiner Schuld bewusst war, erlaubte er den Polizisten sein Haus zu durchsuchen. Natürlich fanden sie den Beutel mit Kristallen unter dem Bett, wo ihn der Dieb versteckt hatte! Sie verhafteten meinen Vater unverzüglich und warfen ihn in den Kerker!“
„Wo bliebt ihr? Wo war eure Mutter? Haben die Nachbarn und Freunde deinem Vater nicht geholfen?“, fragte KeYNamM erschrocken über soviel Niedertracht.
„Mutter war schon lange tot. Sie starb als Aylal zur Welt kam. Vater hat uns zusammen mit unserer alten, halbblinden Muhme großgezogen. Er war der beste Vater der Welt!“ Ikken schluchzte leise, „Als sie Vater gefangen nahmen, war Aylal gerade drei und ich acht Jahre alt. Wir blieben bei der blinden Tante, denn niemand sonst wollte uns haben. Der Gouverneur selbst machte meinem Vater den Prozess, nicht der Richter. Der Prozess ging aus wie er es wollte! Er beschlagnahmte unser Haus, unseren Stand im Soukh und natürlich den Garten als Strafe für den angeblichen Diebstahl. Dafür, dass er ihn angeblich niedergeschlagen hatte, wurde mein Vater zum Tode verurteilt.
Die Hinrichtung ließ Gouverneur Gwasila noch am Abend nach der Verurteilung ausführen. Den einzigen Gnadenerweis, den er meinem Vater gewährte, war ein Besuch von mir im Kerker.“ Ikken schluchzte auf, sprach aber dann tapfer weiter. „Beim Abschied bat mich mein Vater: Sag Aylal nur, dass ich fort gegangen bin! Sag deinem Bruder erst wenn er groß ist, dass es der Gouverneur war, der mich ermorden ließ! Versprich es und pass auf deinen Bruder auf, wie ich es tun würde!“ Ikken schwieg kurz. Verzweifelt und voll Hass fügte er dann hinzu: „Noch am Abend ließ der Gouverneur meinen Vater von seinen Häschern vom Berg in die Knochenschlucht stürzen. Dort haben ihn die Hunde tot gebissen und Schakale seinen Leichnam gefressen. Ich konnte nicht einmal seine Knochen begraben.“
KeYNamM nahm Ikken in den Arm. Der Bericht hatte ihn aufgewühlt und wütend gemacht. „Der Gouverneur hat gegen alle Gesetze der Menschen, ja selbst des Imperiums verstoßen! Hat ihn denn niemand daran gehindert, nicht der Richter, nicht der Stadthauptmann?“ Nach langer Pause sagte KeYNamM feierlich: „Der Gouverneur hat den Tod verdient!“
Ikken klammerte sich an KeYNamM, verzweifelt und traurig von der Erinnerung. Doch dann sagte er mit klarer Stimme: „Ich konnte dich doch nicht auch sterben lassen! Ich musste dich befreien! Du durftest nicht sterben wie Baba!“ Jetzt wusste der König vom Unland, dass er den Vater von Ikken und Aylal rächen musste. Rache am Gouverneur, an der Stadt und am Imperium.
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.