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KeYNamM
Teil 8
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Informationen
- Story: KeYNamM
- Autor: Ruwen Rouhs
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Historisch
Inhaltsverzeichnis
23 Abrechnung mit dem Monster
Ikken konnte nicht schlafen. KeYNamM hatte Tanan und ihn am Abend in den Plan eingeweiht. „Ich muss euch mitnehmen“, erklärte er zum Schluss. Ikken war Feuer und Flamme, Tanan dagegen protestierte. „Ich möchte bei meiner Mutter bleiben! Bitte KeYNamM! Ich habe doch so lange ohne sie leben müssen!“, sagte er mit dem Blick eines traurigen Hündchens, „Warum KeYNamM?“ Dem Amestan tat das Herz weh, er verstand Tanan. „Aber der Ankläger hat euch mit mir hier gesehen. Er weiß, dass ich den Gouverneur hasse! Er weiß, dass ich ihn für den Serienmörder halte! Den Anschlag wird er mir sicher zuschreiben und da er ein gerechter Mann ist, wird er nach mir suchen, sogar suchen müssen!“ Er schaute Tanan fragend an. „Und wo wohl zuerst? Hier!“ Nun mischte sich auch Ikken ein. „Auch ich würde hier suchen! Wo denn sonst?“ KeYNamM setzte noch hinzu, „Ob der Anschlag gelingt oder nicht, wir müssen aus der Stadt, denn sobald der Tod des Gouverneurs bekannt ist, wird die Polizei die gesamte Stadt auf den Kopf stellen, um die Täter zu finden.“
Jetzt, da die Hälfte der Nacht gerade vorbei war, warteten die beiden ungeduldig auf KeYNamM. Wie abgesprochen, nahmen sie nichts mit als ihre Messer und ein dünnes, starkes Seil mit einer Ankerkralle an einem Ende. Der Amestan war besser ausgerüstet. Er hatte den langen, uralten Dolch mit den Gravuren im Gürtel stecken und dann trug er einen kleinen Sack mit einem Feuertopf über der Schulter.
Ikken führte KeYNamM und Tanan durch kleine Gassen zum Plateau über der Stadt und von dort zur Rückseite der Villa des Gouverneurs. Plötzlich standen sie an der Mauerkrone des Gartens der Gouverneursvilla und konnten zur Villa hinunterblicken. Die Nacht war ruhig, kein Laut drang aus dem Haus, kein Lichtschimmer deutete darauf hin, dass jemand noch wach war. Da ein sicherer Fluchtweg notwendig war, schien es nicht sinnvoll, sich von oben in den Garten abzuseilen. Sie schlichen daher an der Mauer entlang bis zu ihrem Ende, rutschten dann den steilen Trampelpfad, der an der Gartenmauer entlangführte, hinunter bis zu der Stelle, wo ein hoher Baum seine Äste über die Mauer reckte. KeYNamM warf das Seil in den Baum. Als die Ankerkralle an einem dicken Ast verankert war, kletterten erst Ikken, dann Tanan und als letzter KeYNamM über die Mauer und schlichen durch den Garten zum Haus. Die Tür zum Oberstock war nicht verschlossen und KeYNamM drückte sie vorsichtig auf.
Angestrengt lauschten sie ins Dunkel. Aus dem Unterstock war ein gequältes Schnarchen zu vernehmen. „Sicher eine der alten Dienerinnen! Sie schlafen!“, zischte KeYNamM und betrat auf Zehenspitzen den dunklen Flur. An der ersten Tür blieb er stehen und lauschte. Kein Laut drang durch das Holz. Mit seinem Messer suchte er im Spalt zwischen Tür und Türrahmen nach einem Riegel, um ihn zurückzustoßen. Als er keinen ertasten konnte, drückte er vorsichtig gegen die Tür. Sie gab unter Knarren nach.
Aus einem kleinen Fester oben in der Wand zum Garten fiel etwas Licht in den Raum. KeYNamM spähte ins Halbdunkel. Mitten im Raum stand ein breites, niedriges Bett. Ein Haufen zerwühlter Decken und Kissen bedeckten es. Auf den Decken lag ein dicker Sack, der Körper eines Mannes. Der Körper bewegte sich im Rhythmus des Atmens. Der Amestan hielt die Luft an und lauschte. Plötzlich ertönte hinter ihm ein ersticktes „Aua!“. Er wollte sich schon umdrehen, als Ikken zischte, „Es ist nichts! Tanan hat sich nur den Fuß angestoßen.“ KeYNamM zischte zurück, „Bleibt hinter mir! Das muss ich allein machen!“
Ein Räuspern von Bett her warnte ihn! Der Sack bewegte sich und warf sich im Bett herum, stöhnte tief und setzte sich plötzlich auf. Im Zwielicht starrten sie einander an, KeYNamM und Gouverneur Gwasila. Noch halb im Schlaf, räusperte sich letzterer, hustete zweimal und fragte mit heiserer Stimme ins Dunkel, „Wer ist da? Lalla, bist du alte Hexe es? Hörst du wieder Geister? Heute sind keine da!“ Als er keine Antwort erhielt, streckte er sich wieder aus „Geh schlafen Alte! Alles ist in Ordnung. Heute brauch ich deine Hilfe nicht!“ und begann sofort zu schnarchen.
KeYNamM wartete noch einen Augenblick, war dann mit einem Sprung am Bett, sprang darauf, packte den Kopf des Gouverneurs und setzte ihm seinen scharfen Dolch an die Kehle. Plötzlich war der Gouverneur hellwach. Er versuchte KeYNamM mit beiden Armen zurückzustoßen. Das gelang nicht! Darauf versuchte er sich aufzusetzen und den Unbekannten, der auf ihm saß, herunterzustoßen. KeYNamM musste sofort handeln. Er stieß mit dem Dolch zu und durchtrennte Gwasila die Kehle. Aber der Gouverneur war stark! Er strampelte, schlug mit den Armen um sich. Sein Herz schlug wild und Blut pulste stoßweise aus der angeschnittenen Halsschlagader. Im Todeskampf bäumte sich sein Körper immer wieder auf und die Arme und Beine zuckten krampfhaft. Als Ikken und Tanan sahen, dass KeYNamM Mühe hatte, den wild zuckenden Körper auf dem Bett festzuhalten, sprangen sie hinzu und halfen ihm den Strebenden niederzudrücken.
Der plötzliche Lärm hatte Lalla und ihre Schwester Kella aus dem Schlaf gerissen. Sie standen plötzlich in der Tür zum Schlafzimmer des Gouverneurs und begannen in höchsten Tönen zu kreischen, als sie die Gestalten im Halbdunkel sahen. KeYNamM ließ den Körper des Gouverneurs los, stürzte zur Tür und stieß die beiden alten Weiber zu Boden. „Schnell, lasst ihn liegen. Er ist erledigt!“, rief er Ikken und Tanan über die Schulter zu. Die drei stürzten durch den Ausgang in den Garten und während Ikken und Tanan sofort zum Baum rannten, blieb KeYNamM kurz stehen. Er entzündete den Feuertopf und schleudert ihn in den dunklen Hausflur. Der Schwung war jedoch so groß, dass der Topf bis zur Treppe flog und die Stufen hinunterkullerte und beim Aufschlagen in der Diele zerbrach. Sein klebriger Inhalt aus Steinöl und Harz ergoss sich über die Steinfliesen der Diele, flammte auf und Rauch entwickelte sich. Als die drei über die Mauer kletterten und sich am Seil hinunterließen, sahen sie noch, wie die schreienden Dienerinnen des Gouverneurs vor dem Rauch aus dem Haus in den Garten flüchteten.
Ikken kannte einen Schleichweg vom Stadtberg hinunter zum Soukh an der Stadtmauer. Als sie durch das unübersichtliche Gewirr der Gassen schlichen und Tanan nach einer Weile immer noch nichts vom Durstigen Kamel entdecken konnte, wurde er unruhig. „Geh'n wir nicht nach Hause? Meine Mutter wird mich suchen!“ Ikken flüsterte zurück, „Nein, Baba hat dir doch erklärt, warum wir nicht zu deiner Mutter können. Gleich sind wir bei meiner alten Schlafhöhle in der Stadtmauer und von dort kommen wir ungesehen aus der Stadt! Dann sucht uns die Polizei vergebens in der Stadt.“
„Ikken hat recht“, ergänzte KeYNamM, „Zu unserer Sicherheit und zum Schutz deiner Mutter müssen wir die Stadt sofort verlassen! Die Stadttore werden gleich doppelt und dreifach bewacht sein!“
An der Brandruine des Standes von Ikken's Muhme angekommen, rissen KeYNamM und Tanan Bretter aus der Absperrung zu Ikken's Wohnhöhle, während dieser Schmiere stand. Dann krochen die beiden durch den Durchgang und befanden sich im Nu vor der Stadtmauer. Dort warteten sie auf Ikken. Der verrammelte inzwischen von innen den Durchstieg in seine Wohnhöhle so gut er konnte und kroch zu den anderen vor die Stadtmauer.
Am Fuß der Stadtmauer fielen alle drei erschöpft zu Boden. Die Aufregung hatte ihnen stärker zugesetzt als die Anstrengung selbst. Besonders Tanan war geschafft. Zwar hatte er bei seinen Großeltern auf dem Dorf schon zugesehen, wenn Tiere geschlachtet wurden, aber er war noch nie dabeigewesen, wenn einem Menschen der Hals durchtrennt wurde. Er hatte zwar das Blut nicht gesehen, hatte es jedoch gerochen und gespürt, wie den Gouverneur plötzlich die Kraft verlassen hatte.
Anders Ikken. Auch ihm ging der Tod des Gouverneurs nahe, aber neben dem Schock war er von einem Triumphgefühl wie berauscht. Er hatte sich so oft ausgemalt, wie er seinen Vater rächen würde. Jetzt war es geschehen und das Triumphgefühl besiegte den Schauder, der in ihm den Tod eines Menschen auslöste. Außerdem kannte er das Gefühl schon, da er auf dem Feldzug sein Leben und das Yufayyur's nur hatte retten können, indem er einen Menschen tötete. Jetzt setzte er sich daher zu Tanan, der heulend auf dem Boden hockte und begann ihn zu trösten. „Du darfst nicht traurig sein, Tanan. Der Gouverneur hat Tadla ermordet, er hat viele andere Mädchen bestialisch ermordet und noch viel mehr Jungen, viel schwächere Jungen als dich und mich. Er hat meinen Vater ermordet, er hat meine alte Muhme auf dem Gewissen und hätte auch KeYNamM ermordet, wenn Aylal und ich ihm nicht geholfen hätten.“
KeYNamM war inzwischen an der Mauer entlang bis zum Stadttor gegangen, das noch geschlossen war. Gewöhnlich war zu dieser Nachtzeit aus dem Wachhaus kein Laut zu hören, aber heute hörte er, wie die Wächter lautstark diskutierten. Jetzt war er sich sicher, dass der Tod des Gouverneurs schon bekannt und die Wache am Tor daher verstärkt worden war. Er war kurz versucht, an das Tor zu klopfen, damit Polizisten bezeugen konnten, dass er die Nacht außerhalb der Stadt verbracht hatte, verwarf den Gedanken dann aber und kehrte zu Ikken und Tanan zurück. „Wir müssen weg! Die Wachen am Tor sind schon verstärkt und wenn sie uns nicht in der Stadt finden, werden sie auch die Umgebung nach uns absuchen. Kommt!“ Als Tanan den Kopf schüttelte, nahm ihn der Amestan in den Arm, „Wir müssen, Tanan, komm! Die suchen bestimmt zuerst im Durstigen Kamel und dann ist es besser, wenn sie dich dort nicht finden und deine Mutter behaupten kann, dass sie dich zuletzt gestern Abend gesehen hat!“
Im Morgengrauen stahlen sich die drei auf Nebenwegen so unauffällig wie möglich zu dem Grenzland im Osten von Tinghir, denn sie mussten unbedingt vermeiden, von den Händlern und Bauern gesehen zu werden, die zum Markt in die Stadt wollten.
Ankläger Anir und der Stadthauptmann trafen gleichzeitig an der Villa des Gouverneurs ein. Das Feuer im Unterstock war schon erloschen, doch die gesamte Gouverneursvilla war von dickem, beißendem Rauch erfüllt. Aus diesem Grunde waren bisher weder die Polizisten noch einer der Feuerwärter ins Innere des Hauses vorgedrungen. Lalla, die ältere der beiden Dienerinnen des Gouverneurs und seine ehemalige Amme, und ihre Schwester Kella zeterten. Als sie der Beiden ansichtig wurden, stürzten sie auf sie zu. Sie verfluchten die Polizisten, die Feuerwächter, die gesamte Stadt und flehten gleichzeitig alle um Hilfe an, „Der Gouverneur, der liebe Gwasila, unser Gwasilalein, helft ihm! Helft ihm! Er ist da drinnen! Stadthauptmann, Ankläger, ihr müsst ihm helfen! Dort, dort oben! Dort liegt unser Gwasilalein. Dort liegt er in seinem Blute und niemand holt ihn heraus! Helft! Alles Unfähige! Tölpel! Undankbare!“ Polizisten drängten die zwei ab und der Hauptmann der Feuerwächter berichtete. „Droben soll der Gouverneur liegen! In seinem Blute! Im Bett! Die eine sprach von drei Riesen, die ins Haus eingedrungen wären und den Gouverneur umgebracht hätten, die andere erzählte von Geistern, von Geistern in wallenden Kleidern, von Jinns! Einem riesigen Jinn und zwei Zwergen, Zwergen mit Schwertern und Spießen wollte sie gesehen haben.“ Dann deutete er zum Garten, „Wir konnten nicht durch das Treppenhaus in den Oberstock und sind deshalb durch den Garten dort hin. Das Feuer ist erloschen, aber alles ist voller Rauch. Ich selbst bin bis ins Schlafzimmer des Gouverneurs vorgedrungen. Dort liegt ein Toter auf dem Bett.“
„Ist es der Gouverneur?“
„Schwer zu sagen, aber ich glaube, die beiden haben recht. Es ist jedenfalls der Körper eines massigen Mannes.“
Der Stadthauptmann und Anir, der Ankläger, fanden den Gouverneur im Schlafzimmer. Sie fanden seine ausgeblutete Leiche, den Hals durchschnitten, den Körper verkrampft und blutbesudelt wie das Bett. Ein Mord also, dessen Vertuschung durch den Brand nicht gelungen war.
Sobald es hell genug war, begannen der Ankläger und der Stadthauptmann nach Spuren zu suchen. Sie fanden weder das Mordwerkzeug, noch Spuren, die auf drei Täter hinwiesen. Drei waren es nach Aussage der Dienerinnen, wobei beiden klar war, dass es keine Jinns gewesen waren. „Jinns verhexten, Jinns töteten mit den Blicken, aber nicht mit Messer“, bemerkte der Stadthauptmann. Der Gouverneur war also von drei Männern oder von einem großen Mann und zwei kleineren ermordet worden.
Anir hatte sofort einen Verdacht: der Amestan und seine Söhne! KeYNamM, Ikken und Tanan also. Hieß nicht der größere der Jungen, die den Amestan befreiten, ebenfalls Ikken? Wie er inzwischen erfahren hatte, hatte der Junge allen Grund den Gouverneur Gwasila zu hassen. Anir arbeitete zwar erst einige Monate in Tinghir, aber seine Haushälterin hatte ihm von den Machenschaften des Gouverneurs erzählt, die zum Tode von Ikken's und Aylal's Vater führten!
Anir beschloss seinen Verdacht vorerst für sich zu behalten. Der Amestan und Ikken waren ihm sympathisch und auch Tanan, der, wie er vermutete, Tirizi's verschwundener Sohn war. Diese Geschichte hatte ihm die Haushälterin erst gestern erzählt. Anir ärgerte sich über seine Subjektivität, aber dann entschied er, dass er seinen Verdacht nicht äußern durfte, bis er Beweise hatte, dass die drei die Tat begangen hatten.
Bei der Durchsuchung des Oberstocks wurde der Stadthauptmann stutzig. Etwas stimmte nicht! Der Schlafpalast des Gouverneurs war kürzer als der Flur. Als er die Länge der Räume auf der anderen Flurseite abschritt und mit der Länge des Schlafraumes verglich, kam er zu dem Schluss, dass neben dem Schlafraum noch ein zweiter, kleiner Raum liegen müsste. Ein Raum ohne Zugang? Das war unwahrscheinlich! Er klopfte den Teil der Wand des Flurs ab, hinter der er den geheimen Raum vermutete. Richtig! Die Wand klang hohl. Er ging ins Schlafzimmer, schob einen der Teppiche beiseite, die an der Seitenwand des Raumes hingen und begann die Wand dahinter abzuklopfen. Wieder klang es hohl.
Er fuhr Lalla an, die klagend am Fuß des Bettes bei der Leiche stand, „Ist da ein Raum hinter der Wand? Ein Geheimzimmer?“ Die schaute kurz auf, tat als würde sie nicht verstehen und begann wieder mit ihren Klageliedern. Der Stadthauptmann hatte aber bemerkt, dass sie nicht ihn anblickte, sondern den mittleren Teppich, der die Wand verdeckte. Als er diesen beiseite schieben wollte, protestierte Kella lautstark. „Das war Gwasila's Lieblingsteppich! Keiner darf ihn anrühren! Keiner verschieben! Nur ich und meine Schwester dürfen ihn berühren.“ Jetzt wurde auch Anir auf die Vorgänge aufmerksam. „Der Stadthauptmann und ich untersuchen den Fall. Wir müssen alles untersuchen, wenn der Mord aufgeklärt werden soll!“ Nun protestieren beide, Lalla und Kella. Sie stellten sich vor den Teppich, „Nein, nein! Hier ist nichts dahinter.“ Als zwei Stadtwächter sie wegzerren mussten, kratzten und bissen sie diese.
Hinter dem Teppich kam eine niedrige Tür zum Vorschein. Der Stadthauptmann riss sie auf und stand am oberen Ende einer Wendeltreppe, deren Ende sich im Dunkeln verlor. Die Wendeltreppe führte steil nach unten ins Dunkel. Anir und der Stadthauptmann benötigten Licht, wenn sie nach unten steigen wollten. Während der Stadthauptmann den Schlafraum des Gouverneurs nach Kerzen oder Laternen absuchte, entdeckte Anir gleich mehrere Laternen auf einem Bord im Vorraum der Treppe, die sie entzündeten. Begleitet von drei Polizisten, begannen sie die steile Treppe hinabzusteigen.
„35 Stufen!“, verkündete der Stadthauptmann, als sie am Fußende der Treppe standen und in den nach links abbiegenden Gang vordrangen, „Viel mehr Stufen, als notwendig wären, um das Erdgeschoss zu erreichen. Die Treppe endet also tief im Untergrund unter der Villa!“ Ein knapp mannshoher Gang führte weiter in die Tiefe und endete nach etwa 150 Schritten an einer schweren Holztür. Da der Gang mehrere Biegungen machte, hatten sowohl der Stadthauptmann als auch Anir die Orientierung verloren und wussten nicht wo er endete.
Die Polizisten hebelten die Tür auf. Plötzlich standen sie in einem großen, dunklen Raum, dessen Wände der schwache Lichtschein der Laternen gerade noch erreichte. In der Mitte des Raumes sahen sie ein schmales, hohes Gestell, das aussah wie eine Bahre. Daneben standen Leuchter mit Kerzen. Anir und der Stadthauptmann durchquerten den Raum vorsichtig, den Boden immer mit den Füßen abtastend, da sie eine Falle befürchteten. Vor dem Gestell blieben sie stehen und erkannten im schwachen Licht, dass es sich wirklich um eine Bahre auf Rändern handelte, auf der eine lederbezogene Matratze lag.
Jetzt entzündeten sie die Kerzen in den Leuchtern. Der flackernde Schein der Kerzenflammen reichte jetzt soweit, dass sie den Raum überblicken konnten. Beide überlegten noch, was es mit dieser Bahre auf sich hätte, als sie ein Schrei eines Polizisten, der noch an der Türe stand, aufschreckte. „Dort, dort stehen Jinns! Dort an der Wand.“ Anir schaute auf. Im Kerzenlicht konnte er deutlich drei Gestalten sehen, die im flackernden Licht wie lebendig wirkten. Flatternde Schattenbilder an der Wand verstärkten den grusligen Eindruck noch. „Drei Jinn? Drei Geister? Nein, es sind doch nur Puppen! Schaut, nur Puppen in bunten Kleidern!“, rief Anir den Polizisten zu.
Aus der Nähe erkannten sie, dass es sich um Strohpuppen handelte. Zwei waren wie junge Mädchen gekleidet, mit weiten, bunten Blusen über bauschigen Röcken. Als Kopf diente ein Knäuel Stroh, das ein Kopftuch bedeckte, ein Aleshu, welches mit goldenen Blättchen verziert war. Um den Hals der Puppen hingen Ketten aus glänzenden Glasperlen. Trotz des Schmucks wirkten die Puppen tot, da ihnen die Augen fehlten.
„Die Kleidung erkenne ich!“, rief einer der Polizisten und deutete auf eine der Puppen. „So ein Kleid hat Tadla immer getragen, wenn sie zum Markt ging!“ „Bestimmt ist es ihr Kleid!“, rief ein anderer, „Als meine Frau Tadla damit auf dem Markt sah, wollte sie sofort das gleiche haben! Es ist bestimmt ihr Kleid! Aber ...“, er wurde plötzlich stumm und begann sich zu übergeben. Als er sich etwas gefasst hatte, fuhr er fort „Wenn es so ist, und ich bin sicher, dass es so ist, sind das die Kleider der ermordeten Tadla und die ...“, er deutete auf die andere Puppe, „... die sind die des jungen Mädchens aus dem Grenzland, das Anfang des Jahres tot aufgefunden wurde! Tot und nackt!“, er drehte sich zu Anir, „Das kann ich beschwören! Gestern noch hab ich die Berichte über die vergangenen Morde genau durchstudiert.“
Anir wandte sich der dritten Puppe zu. Sie war kleiner, schmächtiger und trug keine farbenfrohen Mädchenkleider und keinen Schmuck, sondern ein weites erdbraunes Hemd und eine knielange Hose. „Ein Junge, der Größe nach, ein kleiner Junge! Vielleicht 10 Jahre alt oder nur 9.“ Anir Magen krampfte sich zusammen. Er schüttelte sich vor Grauen und fragte den Stadthauptmann mit belegter Stimme, „Wann ist der letzte ermordete Jungen aufgefunden worden? Dieses Jahr, letztes Jahr?“
„Der letzte? Am Ende des Winters. Ich erinnere mich genau! Er hatte seine Eltern in die Stadt zum Markt begleitet und verschwand im Laufe des Nachmittags.“
Der ältere der Polizisten meldete sich, „Ich habe den Jungen gefunden, seine Leiche, wollte ich sagen! Er war grässlich zugerichtet!“, und er schloss die Augen, als wolle er das grausige Bild nicht noch einmal sehen. „Seine Eltern haben nie gesehen, wie bestialisch er zugerichtet war. Wir mussten ihnen den Anblick ersparen.“ Er seufzte, „Das Monster hatte den armen Jungen nackt ausgezogen, hatte ihn erwürgt, den Penis abgeschnitten und ihm einen spitzen Pfahl in den After gerammt!“
Anir schüttelte sich vor Grauen. Doch dann fragte er, „Und die Hoden? Waren die abgeschnitten?“ Anir musste das wissen, da er sich erinnerte, dass die Lieblingsspeise des Gouverneurs Hoden von kleinen Jungen waren.
„Die? Die wurden nicht gefunden, während der abgeschnittene Penis im Mund des toten Jungen steckte.“
Anir sah, dass es im Kopf des Stadthauptmanns arbeitete. Darum fragte er, „Hauptmann, glaubst du auch was ich glaube?“ Der nickte nur! Zurück an der Bahre untersuchen sie diese genauer. Der Lederbezug der Matratze auf ihr war saubergewischt, aber an den Seiten fanden sie noch feuchte, klebrige Stellen. Als der Stadthauptmann mit dem Fingernagel etwas von der dunklen Masse abkratzte und an ihr roch, stöhnte er, „Blut, geronnenes Blut!“ Als er mit der Hand entlang auf der Unterseite der Matratze entlang strich, fand er weitere Spuren von Blut. Er musste sich zwingen, sich nicht zu übergeben.
Im Untergestell der Bahre war eine Schublade eingebaut. Sie enthielt kleine und große Messer, lange Nadeln, Stricke und eine Auswahl weiterer Marterinstrumente. An den Ecken der Bahre hingen breite Bänder herunter, mit denen die Opfer auf ihr festgebunden werden konnten.
Am Ende dieser ersten, hektischen Untersuchung standen die fünf Männer unter Schock. Der jüngste der Polizisten hockte sich auf den Boden und weinte hemmungslos. „Ich habe Tadla so gemocht! Sie war so schön. Ich wollte sie jedes Mal, wenn ich sie traf, fragen, ob sie mich heiraten würde. Ich habe mich aber nicht getraut! Ich, ich bin schuld, das sie ermordet wurde!“ Anir hockte sich zu ihm und versuchte ihn zu trösten, aber vergebens. Die anderen starrten wortlos zu Boden.
Später erinnerten sich die Polizisten und ihr Hauptmann, dass die Leichen immer am Fuß der Stadtmauer gefunden worden waren, immer an fast der gleichen Stelle. Sie vermuteten, das der Mörder, und alles deutete auf den Gouverneur als Täter hin, die Toten nicht die Treppe hinauf zurück in die Villa geschafft hatte, um sie dann über die Straße zum Platz vor dem Gericht und zur Mauer zu tragen. Das wäre unvorsichtig gewesen. Irgendwo musste es also einen weiteren Ausgang aus dem unterirdischen Raum geben. Sorgfältig suchten sie die Wände der Schreckenskammer ab. Als sie schon aufgeben wollten, trat der jüngste Polizist voll Wut und Verzweiflung dort gegen die Wand, vor der die Puppe mit den Jungenkleidern stand. Eine getarnte Tür öffnete sich hinten und gab den Zugang zu einem engen Gang frei, der schräg nach oben führte. Er endete im Freien an einer Stelle der Stadtmauer zwischen dem Gefängnis und dem Amtssitz des Gouverneurs im Stadthaus. „Durch diesen Gang wurden also die ermordeten Kinder aus der Folterkammer herausgebracht und anschließend über die Mauer geworfen“, stellte der Stadthauptmann mit heiserer Stimme fest.
Zurück in der Folterkammer rochen die fünf Männer erst, wie widerwärtig es in ihr roch. Es roch nicht nur nach abgestandener Luft, sondern wie in einem Schlachthaus nach Blut und Kot. Der Stadthauptmann befahl nun dem jüngsten Polizisten nach oben zu gehen und die beiden Dienerinnen nach unten bringen zu lassen. Außerdem sollten mehr Laternen und Kerzen heruntergebracht werden. „Du bleibst oben Kamerad und erholst dich. Du hast heute schon genug gesehen. Andere sollen die Beiden herunterbringen, wenn nötig mit Gewalt. Auch der Schreiber soll kommen, ich will die beiden Frauen hier unten vernehmen!“
Nach einer kurzen Zeit hörten sie Lalla und Kella auf der Treppe schimpfen und streiten. Wenn Lalla den Stadthauptmann als undankbaren Idioten und Feind des Imperators beschimpfte, versuchte sie Kella, ihre Schwester, zu beruhigen. Wenn Kella den Staatsanwalt mit einer Schimpfkanonade bedachte, beruhigte sie Lalla. Die jüngere jedoch war nicht zu beruhigen, „Der unerfahrene Schnösel, der irre Rechtsverdreher, einer den der Teufel schleunigst holen sollte“, schimpfte sie.
Sobald die beiden jedoch die Folterkammer betraten, waren sie wieder ein Herz und eine Seele und Lalla schrie, „Was habt ihr in Gwasila's Allerheiligstem zu suchen? Wer hat euch die Erlaubnis gegeben hier einzudringen? Er, der treueste Diener des Imperators ist ermordet worden und ihr spioniert ihm nach, anstatt seine Mörder zu suchen?“ Kella schloss sich dem Geschrei ihrer Schwester an, „Ja, Gwasilalein hat hier im Namen des Imperators Recht gesprochen! Hier hat er das Land von bösen Geistern befreit! Hört ihr nicht die Jinns heulen?“ Dann schrie Lalla mit sich vor Zorn überschlagender Stimme, „Kel Essuf wird kommen und euch das Herz aus der Brust reißen! Seid verflucht, ihr Verräter! Dreimal verflucht!“
„Nieder auf die Knie!“, schrie sie der Stadthauptmann an. Als sie sich weigerten, rief er den Polizisten zu, „Schlagt ihnen die Beine weg!“ Und die taten dies ohne Erbarmen. Als die beiden Schwestern endlich knieten, fuhr er Lalla an, „Was hat der Gouverneur hier unten getan? Wann war er zuletzt hier in diesen Raum? Wo hat er Tadla verstümmelt und ermordet? Hier?“, und er deutete auf die Bahre.
„Diese Ausgeburt der Hölle, dieses Tanzmädchen, die den Männern den Kopf verdreht hat, nicht zu Gott gebetet hat, nicht einmal unseren Imperator die Ehre erwies, ja, dieses Tanzmädchen haben wir für ihn gefangen!“, schrie Lalla zurück.
„Ja diese Ausgeburt des Teufels, Gwasilalein hat sie ausgewählt und wir haben sie zu ihm gebracht“, kreischte Kella. „Unser Gwasila, der treue Knecht unseres Imperators, musste den bösen Geist aus ihr austreiben!“
„Ja, sie hat alles gestanden!“, brüstete sich Lalla, „Am Ende hat sie alles gestanden! Wie sie die Männer verzaubert hat, wie sie die Männer in Weiber verwandelt hat, unbrauchbar für den Kampf gegen die Wüstensöhne und den König des Unlands!“
„Ja! Sie war es, diese Verbündete des Teufels!“, zischte Kella vor Zorn bebend.
Jetzt konnte Anir nicht mehr still halten, „Und die kleinen Jungen? Haben die kleinen Jungen auch die Männer verführt, haben sie auch im Namen des Teufels den Wüstensöhnen geholfen.“
„Nicht den Wüstensöhnen! Aber dem Amestan, dem verfluchten Amestan haben sie geholfen, die Menschen am Draa zu beschützen. Ihm haben sie geholfen, den Imperator seines Tributs zu berauben!“, schrien beide mit einer Stimme.
„Es ist genug!“, sagte der Stadthauptmann mit tonloser Stimme, „Schreiber hast du die Aussagen genau notiert, Wort für Wort?“ Jetzt wandte sich der Stadthauptmann an seine Polizisten, die fassungslos und entsetzt dastanden, „Habt ihr das gehört? Habt ihr die beiden Dienerinnen von Gouverneur Gwasila gehört? Habt ihr verstanden, was sie eingestanden haben?“ Dann blickte er zur dunklen Decke der Folterkammer, „Jetzt steht ohne Zweifel fest, dass der Gouverneur ein Serienmörder war und die beiden Schwestern seine Helfer.“ Er wartete bis die Polizisten aus ihrer Starre erwachten und blickte den Staatsanwalt in das verstörte Gesicht: „Jetzt ist es an dir Ankläger Anir, den beiden den Prozess zu machen. Ich werde heute noch den neuen Imperator über die Untaten seines Gouverneurs unterrichten und dann seine Befehle abwarten.“
24 Freunde – Verbündete
„Ich muss Tirizi die Nachricht selbst überbringen, wie und wo ihre Tochter ermordet wurde. Das ist meine Aufgabe, Stadthauptmann!“ Dann zögerte Anir, „Vielleicht sind sogar noch Tadla's alte Eltern hier? Ich weiß nicht, wie ich die trösten könnte!“ Das hatte der Ankläger erklärt, als er und der Stadthauptmann gegen Mittag die vorläufigen Untersuchungen zur Ermordung des Gouverneurs und zu dessen ruchlosem Treiben abgeschlossen hatten.
Im Verlauf der Untersuchung, hatten die beiden noch mehr Hinweise darauf gefunden, dass der Gouverneur selbst die bestialischen Massenmorde durchgeführt oder dass diese zumindest in seiner Folterkammer durchgeführt worden waren. In Truhen in einer Nische der Folterkammer fanden sich weitere Kleider, Kopfschmuck und Armbänder wie sie junge Mädchen lieben und Hemden und Hosen, die typisch für Jungen vom Grenzland und Unland waren. Sogar allerlei Gegenstände, wie sie kleine Jungen gern in ihren Taschen herumtragen, hatte der Gouverneur hier aufgehoben. Eigentlich reichten diese Fundstücke und die Aussagen der Dienerinnen aus, um die Schuld des Gouverneurs zu beweisen. Die beiden beschlossen jedoch, die Erlaubnis des Imperators für weitergehende Untersuchungen einzuholen, da dieses Verbrechen jeden Rahmen sprengte, der ihnen bekannt war, und darüber hinaus den höchsten Vertreter des Imperators in der Stadt betraf. Der Stadthauptmann ordnete daher eine Sicherung und die strengste Bewachung sowohl der Gouverneursvilla, als auch des unterirdischen Raumes an, in denen die Verbrechen begangen worden waren.
Anir stand jetzt vor der Herberge zum „Durstigen Kamel“ und zögerte die Karawanserei zu betreten. Das hatte mehrere Gründe. Einmal war er dem Stadthauptmann gegenüber nicht ehrlich gewesen. Er hatte behauptet, dass er niemanden in Verdacht habe. Das stimmte natürlich nicht. Der eigentliche Grund Tirizi's Herberge aufzusuchen, war seine Überzeugung, dass der Amestan den Gouverneur getötet hatte. Anir's Meinung nach hatte KeYNamM allen Grund für eine solche Tat und billigte sein Handeln instinktiv. Als Staatsanwalt war er jedoch überzeugt, dass niemand die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen durfte. Er rechtfertige sein Handeln daher damit, dass er sich noch einmal die Gründe vor Augen führte, die den Amestan zu dieser Tat bewogen haben könnten. Da war die Tatsache, dass KeYNamM als Verfemter kaum die Möglichkeit hatte, den obersten Vertreter des Imperiums in Tinghir anzuklagen. Dann waren da die Gründe, deretwegen KeYNamM das Imperium bekämpfte, wie die als Tribut kaschierten Raubzüge der Häscher des Imperators im Draatal und die Verschleppung der Frauen, Mädchen und Jungen in die Sklaverei. Dazu kam die Bedrohung unter der KeYNamM als Amestan, d.h. Beschützer der Menschen vom Draa, dauernd leben musste und schließlich hatte der Gouverneur Geld auf seinen Kopf ausgesetzt und das war keine zu geringe Summe. Diese war seit der Befreiung der Strafgefangenen aus dem Straflager bei der Kristallmine verdreifacht worden. Der Grund für die Erhöhung des Kopfgelds war dreifach, der Gouverneur machte KeYNamM nicht nur für die Gefangenenbefreiung, sondern auch für den Überfall auf den Kristalltransport und schließlich auch noch für die Niederlage der Strafexpedition gegen die Wüstensöhne verantwortlich.
Die Dienerinnen des nun toten Gouverneurs hatten jedoch von drei Eindringlingen gesprochen, Lalla von drei großen Geistern und Kella von einem großen Jinn und zwei schmächtigen Jinns. Auf seine Nachfrage hatte sie eingeräumt, dass es sich auch um einen Mann und zwei Jungen hätte handeln können. Also Ikken und Tanan? Was lag näher? Warum aber sollte KeYNamM die beiden mitnehmen, überlegte Anir. Im Fall von Ikken lagen die Gründe klar auf der Hand. Der Junge hatte jeden Grund Gouverneur Gwasila zu hassen, schließlich hatte dieser seinen Vater ermorden lassen und später noch die Muhme, die ihn und Aylal aufgezogen hatte. Jetzt, nach Aufdeckung der Verbrechen des Gouverneurs war Anir sicher, dass das Gerücht stimmte und Ikken's Vater nur hingerichtet worden war, damit sich der Gouverneur den Garten des Händlers aneignen konnte. Und die Muhme? Die hatte er ermordet, weil sie im nicht sagen konnte, wo sich die Jungen aufhielten. Aber halt, da war noch etwas. Es war nur ein Gerücht, aber eins das nicht verstummte, so unglaublich es auch für ihn, den Mann aus der Hauptstadt des Imperiums klang. Das gesamte Umland von Tinghir und selbst viele Stadtbewohner raunten, dass Ikken der Nachfolger von König Gaya wäre. Von dem König Gaya, der der Stammvater aller Wüstensöhne war. Alle kannten die Weissagung, dass König Gaya einmal als Knabe wiedergeboren werden würde und das dieser Knabe Frieden zwischen den Wüstensöhnen, den Menschen vom Unland und denen des Imperiums bringen würde. Viele kannten die Prophezeiung und glaubten sie und die weisen Frauen hatten beschworen, dass der wiedergeborene König niemand anderes als Ikken sei. Ikken war also auch in Gefahr, in höchster Gefahr sogar, und er und KeYNamM wussten, dass man der Gefahr am besten entgeht, indem man ihr zuvorkommt. Aber Tanan? Was hatte Tanan damit zu tun? Er konnte sich keinen Reim darauf machen und der Grund, warum Tirizi ihren Sohn als Kleinkind weggeben musste, war ihm unbekannt. Aber Anir glaubte Tanan zu verstehen, einen Jungen, dem das Imperium seine Mutter vorenthalten hatte. So sehr Anir den Mord verurteilte, so war ihm doch klar, dass ohne die Tat der drei das Geheimnis des Gouverneurs nie ans Tageslicht gekommen wäre.
Dann aber gab es noch etwas, etwas was einem Ankläger nie passieren durfte. Ihm Anir, dem Staatsanwalt und Ankläger des Imperators, war KeYNamM im Verlauf des schändlichen Prozesses nach dessen Sieg auf der Himmelsleiter so ans Herz gewachsen, wie noch nie jemand zuvor. Hatte er sich in KeYNamM verliebt? Anir wollte das nicht wahr haben, aber sein Herz sagte, dass es so war. Seit dem Tag des Scheinprozesses wünschte er sich KeYNamM zum Freund. Ihn zum Freund haben und jetzt auch dessen Söhne, Ikken, Aylal und Tanan! Was gäbe es schöneres.
Anir traf Tirizi in ihrem Wohnzimmer hinter dem Gastraum an. Sie war verweint, ihre Augen waren rot, die Schminke von Tränenspuren durchzogen. „Tadla ist tot!“, begrüßte er sie, „Aber der Stadthauptmann und ich sind uns sicher, wer das bestialische Monster war. Wir sind sicher, niemand anderes als Gouverneur Gwasila hat diesen Mord und all die anderen nicht aufgeklärten Morde begangen. Gouverneur Gwasila war ein Mörder und Serientäter! Sag es jedoch bitte nicht weiter, liebe Tirizi, nicht zu diesem Zeitpunkt, denn es ist noch nicht offiziell. Aber glaube mir, der Stadthauptmann und ich werden es beweisen!“ Als Tirizi nicht antwortete und ihr erneut Tränen aus den Augen quollen, setzte er hinzu, „Ich weiß, das ist kein Trost. Aber wenn in Zukunft keine Morde mehr passieren, dann haben wir es auch Tadla zu verdanken!“ Als die Herbergswirtin wiederum nur verzweifelt aufschluchzte, trat Anir hinter sie, legte die Arme um sie, „Wie kann ich dich trösten? Wo ist KeYNamM, Tanan und Ikken, um dich zu trösten und aufzumuntern? Sind sie nicht hier?“
Anir spürte wie sich Tirizi verkrampfte bevor sie antwortete, „Heute Morgen waren alle drei weg. Ihre Sachen sind noch da, auch die Pferde. Sie müssen ganz früh in die Stadt sein, wahrscheinlich haben sie vom Tod des Gouverneurs gehört und sind jetzt unter den Neugierigen vor dem Gerichtshof.“
„Wirklich?“, entgegnete er skeptisch, „Wir suchen aber drei, einen Erwachsenen und zwei Jungen von 13 oder 14 Jahren. Sie haben etwas mit dem Tod des Gouverneurs zu tun!“ Als Tirizi blass wurde und nicht antwortete, sprach er weiter „Ich würde gerne mit dem Amestan sprechen, wirklich! Er kann den Ort wählen, an dem wir uns treffen! Sag ihm das! Es besteht keine Gefahr, weder für ihn noch für die beiden Knaben. Ich selbst werde auch Boten durchs Land senden, um ihm die Nachricht zukommen zu lassen.“
Ikken sah die Hütte zuerst. Eigentlich war es nur ein Schilfdach auf vier kurzen Posten, so niedrig, dass er darunter nicht aufrecht stehen konnte. Er war vorausgelaufen, um als erster am Rinnsal in der flachen Senke anzukommen, die quer zum eingeschlagenen Weg in Richtung Draa führte. Er wollte sich so schnell wie möglich den Schweiß abwaschen, der während der Wanderung von Tinghir bis zur Grenze des Unlands auf seiner Haut angetrocknet war.
Am frühen Morgen, als noch nicht zu befürchten war, dass die Neuigkeit vom Tod des Gouverneurs den nächsten Marktflecken östlich von Tinghir erreicht hatte, säuberten sie sich an einem Brunnen und schlenderten anschließend über den Wochenmarkt, um sich mit Fladenbroten und Datteln zu versorgen. „Das wird für die nächsten drei Tage alles sein, was wir zu essen haben, es sei denn, uns läuft ein Huhn oder ein Schaf über den Weg“, hatte KeYNamM betont, bevor sie anschließend den versteckten Weg durchs Grenzland zum Draa einschlugen, den sie schon bei ihrer ersten Flucht aus der Stadt genommen hatten. KeYNamM hatte recht gehabt. Den ganzen Tag über waren sie im trockenen Buschland niemandem begegnet, nicht einmal einem verlaufenen Huhn oder Schaf. Der zweite Tag der Flucht verlief genauso ereignislos wie der erste.
„Hier, hierher! KeYNamM, Tanan! Kommt hierher, hinter den Dornbüschen ist eine Hütte, da können wir übernachten!“ Dann war Ikken den beiden zu der Senke vorausgelaufen, aber einen Bach fand er nicht, auch kein Wasser.
Sie beschlossen die Nacht unter dem Dach zu verbringen. Alle drei waren erschöpft und verschwitzt, durstig und hungrig, vor allem Tanan. Nachdem der ein ganzes Fladenbrot in sich hineingestopft und seine Ration Wasser bis zum letzten Tropfen getrunken hatte, fiel er wie tot um und war eingeschlafen, noch bevor Ikken sein Fladenbrot auch nur zur Hälfte aufgegessen hatte.
„Wie geht’s jetzt weiter? Ich meine mit Tanan! Er hat mit unserer Abrechnung mit dem Gouverneur nichts zu tun und trotzdem hast du ihn mitgenommen?“, fragte Ikken. Als KeYNamM seinem Adoptivsohn nicht sogleich antwortete, fuhr der fort „Tanan war dabei, als du den Gouverneur getötet hast und alle werden ihn für mitschuldig halten. Dabei hat er nichts gemacht, als den Gouverneur festzuhalten, als der strampelte. Ich dagegen hätte dem Gouverneur selbst die Gurgel durchgeschnitten, wenn du mich gelassen hättest.“
„Ich glaube dir. Ich weiß, dass du ihm genauso den Tod gewünscht hattest wie ich. Aber glaube mir, es war besser, dass du ihn nicht töten musstest. Bisher hast du noch nie einen Menschen die Kehle durchschnitten, nur mit einem Pfeilschuss hast du einen anderen getötet. Jemanden die Gurgel durchzuschneiden, fällt viel schwerer! Glaub mir.“
„Und warum hast du dann Tanan mitgenommen? Nun ist er gefährdet!“
„Tanan war es schon zuvor! Du kennst die Vorgeschichte nicht, nicht einmal Tirizi weiß genau, warum sie ihn weggeben musste! Aber sie hatte Angst, dass der Gouverneur ihren Tanan töten würde, sobald er erfuhr, dass er zu seiner Mutter zurückgekehrt ist.“
„Warum musste sie Tanan überhaupt weggeben? Das war grausam. Genauso grausam war es, dass sie nie mit ihm Verbindung aufnehmen durfte!“
„Ich kann es dir heute nicht sagen. Nur so viel, er war in tödlicher Gefahr, solange der Gouverneur noch lebte. Der hatte den Befehl gegeben, Tanan sofort zu töten, wenn er in Tinghir auftaucht!“
Als hätte er mitbekommen, dass über ihn gesprochen wurde, begann Tanan zu jammern, warf sich hin und her und setzt sich schließlich mit geschlossenen Augen auf. „Wo bin ich? Ich will nicht allein sein! Ich ...!“ Dann öffnete er die Augen und blinzelte, „Ikken bist du das? Bitte komm her, halte mich fest.“ Als Ikken sich neben ihn legte und umarmte, schlief Tanan sofort wieder ein.
Gegen Morgen wurde Ikken durch das leise Scheppern kleiner Glöckchen geweckt. Als er gähnend aus der Schutzhütte kroch, schliefen die beiden anderen noch. Neugierig lief er das kurze Wegstück zum Pfad hinunter und stand plötzlich mitten in einer Ziegenherde. Die neugierigsten Tiere begannen sofort seine nackten Beine zu belecken, denn Ziegen lieben Salz und der eingetrocknete Schweiß enthielt genug davon. Während er die Tiere streichelte, hörte er eine brüchige Stimme, „He Junge!“, als er sich umdrehte, „He, du da! Wo kommst du her? Dich habe ich hier noch nie gesehen und ich kenne jeden weit und breit!“ Ein alter Mann bahnte sich seinen Weg durch die Herde, musterte ihn mit kurzsichtigen Augen und stellte fest, „Du bist nicht von hier! Bist du aus der Stadt? Aus Tinghir?“ Ikken überlegte noch die passende Antwort, als ihn der Alte mit der Frage überraschte, „Ist es wahr, dass der Gouverneur tot ist? Drei böse Geister sollen den Gouverneur einen Kopf kleiner gemacht haben! Ist das wahr?“, dann murmelte er kaum verständlich in seinen dichten Bart, „Hat Kel Essuf endlich seine Jinns nach ihm geschickt? Verdient hat er es, der Gouverneur.“
Ikken musterte den Alten genauer. Trotz der am Mittag zu erwartenden Hitze hatte der mindestens drei Lagen Kleider übergezogen und seinen Kopf mit einem Turban bedeckt. Der ließ nur die Augen und den Bart frei. „Kommst du allein in die abgelegene Gegend?“ Als Ikken noch immer nicht antwortete, stieß er ihn mit seinem Stock an, „Bist du taubstumm oder ein Jinn?“
„Ja Herr, ich komm aus der Tinghir, aber vom Gouverneur weiß ich nichts. Wir sind vor zwei Tagen schon ganz früh am Morgen aufgebrochen!“
Inzwischen standen KeYNamM und Tanan am Rand der Herde und wurden von den Ziegen ebenso beleckt, wie Ikken zuvor. Tanan war in seinem Element. Er streichelte eine Ziege, kraulte einer anderen den Bart, verteidigte sich gegen den Ziegenbock. Er sprach mit jedem Tier. Der Alte hatte Tanan sofort entdeckt und rief ihm zu, „Kommt her! Dich könnte ich gut gebrauchen. Du liebst Ziegen! Willst du bei mir bleiben?“
KeYNamM übernahm es dem Alten auszufragen, „Wer hat dir das erzählt über den Gouverneur? Was soll ihm passiert sein? Ermordet hast du gesagt, von Jinns?“, er drängte sich durch die Tiere, „Ich dachte immer, Jinns arbeiten mit Zauber. Seit wann schneiden sie Köpfe ab?“
„So hat es der Bote erzählt, der aus der Stadt, der am Dorfbrunnen gestern am Abend Halt gemacht hat. Drei Jinns waren es, einer groß wie der Schaitan selbst und zwei kleine Jinns, seine Söhne“, damit deutete er auf Ikken und Tanan, kicherte etwas und stieß Ikken wieder mit dem Stock an, „Wärst du ein richtiger Jinn, dann müsste ich Angst vor dir haben. Oder?“, drehte sich dann KeYNamM zu, „Aber vielleicht habe ich doch eine Botschaft für euch drei! Der große Jinn soll mit ihm sprechen, mit dem Ankläger!“ Als KeYNamM die Brauen fragend hochzog, „Ja, der Amestan soll sich beim Ankläger Anir melden. Den großen Jinn will Anir sprechen, unter allen Umständen, an jedem Ort den dieser auswählt, zu jeder Tages- oder Nachtzeit!“ Als KeYNamM ihn erstaunt musterte, fügte er hinzu „Das sagte der Bote! Nicht nur mir. Er hat es am Brunnen verkündet und überall entlang seines Weges. Jeder der den Amestan trifft, soll es ihm ausrichten!“ Dann wiegte er den Kopf, „Ich würde einem Boten aus der Stadt auch nicht trauen, aber glaubt mir Herr, ich habe in meinem Leben genug gesehen und er sprach die Wahrheit!“
Tanan, der sich inzwischen zu den drei gesellt hatte, räusperte sich, „Darf ich eine Ziege melken, Alter? Ich habe schon Tage und Tage keine Ziegenmilch mehr getrunken. Bitte!“
Im Weiterwandern, nachdem er Tanan erlaubt hatte, eine Ziege zu melken, drehte dich der Alte nochmals um und rief, „Etwas habe ich nicht verstanden, etwas was der Bote gesagt hat. Der Amestan soll den Prinzen schicken, hat der Ankläger dem Boten eingeschärft. Der Prinz hat in Tinghir nichts zu befürchten! Prinz Gaya hat niemanden zu fürchten. Prinz Gaya ist unantastbar.“
War der alte Schäfer selbst der Bote? War er ein Hellseher? War er ein Medium? Sie berieten. Wenn die Botschaft wahr war, dann musste KeYNamM ergründen, warum der Ankläger ihn zu sprechen wünschte. Wenn der Ankläger ihn in eine Falle locken wollte, hätte er ihm nicht die Wahl des Ortes, der Zeit und der Umstände überlassen. Das sprach für die Glaubwürdigkeit des Angebots. Was dagegen sprach war, dass Ikken die Verbindung zwischen ihnen herstellen sollte. Fragen, Fragen, Fragen! Ikken löste das Problem auf seine Weise. „Ich gehe! Er hat mich Prinz Gaya genannt. Ich habe nichts zu befürchten!“ „Ich komme mit, wo du hingehst, gehe auch ich hin!“, entschied Tanan.
KeYNamM hatte im Morgengrauen des übernächsten Tages Ikken und Tanan bis zum Marktflecken vor Tinghir begleitet. Heute hätten weder Tirizi noch Hiyya die beiden erkannt. Unterwegs hatten sie sich bei einem Lumpenhändler neu eingekleidet. Was heißt neu? Sie sahen in den zerfetzten Hemden, ausgefranste Hosen und abgetragenen Sandalen wie Bettlerjungen aus und niemand hätte erkannt, dass sie die Jinns seien, von denen ganz Tinghir sprach. Als die ersten Bauern im Morgengrauen mit ihren Eselskarren am Dorf vorbeikamen, bettelten sie so lange bis sich ein mürrischer Alter erbot, sie mit zur Stadt zu nehmen. „Einer von euch kann immer oben bei mir sitzen und sich ausruhen, der andere muss aber derweilen den Esel am Zügel führen, denn der ist heute störrischer als mein Weib und ich will noch am Vormittag auf dem Soukh sein!“
Der Esel war störrisch! Das störrische Tier blieb alle paar Schritte stehen und weigerte sich, die Last zu ziehen. Als der hochbeladene Wagen endlich am Tor angekommen war, führte Ikken gerade das Tier. Da er unerfahren im Umgang mit einem so störrischen Esel war, sah es aus, als würde er den Esel und den Karren gleichzeitig ziehen und nicht der Esel den Karren. Unter dem Spott der Wächter kamen sie unkontrolliert in die Stadt und zum Soukh. Während der Alte noch ablud, waren die beiden schon verschwunden, Tanan in Richtung der Herberge „Zum Durstigen Kamel“ und Ikken zum Haus des Anklägers, dessen Adresse er von einem Wächter des Soukh erbeten hatte.
Anir hatte ein Haus auf der Seite des Stadtberges gekauft, die entgegengesetzt zu der lag, auf der die Gouverneursvilla und das Stadthaus lagen. Es war ein bescheidenes, altes Haus mit nur zwei Stockwerken und einem schmalen Garten, der sich den Berg hinaufzog. Anir lebte allein. Morgens jedoch in aller Früh kam eine Nachbarin, die ihm den Haushalt führte und kochte. Als Ikken vor der Tür nervös von einem Fuß auf den anderen trat und überlegt ob er anklopfen solle oder nicht, drang plötzlich der Duft frischgebackenen Fladenbrots durch die Türritzen. Der Duft und sein knurrender Magen gaben den Ausschlag. Er klopfte und als sich auf sein wiederholtes Klopfen nichts rührte, begann er gegen die Tür zu hämmern. Endlich riss die Frau die Tür auf. Als Ikken ihr fast in die Arme fiel, schimpfte sie lautstark mit ihm. „Bettler! Bettler schon am frühen Morgen! Weißt du nicht Bettlerjunge, wessen Haus das ist? Willst du eingesperrt werden? Du weißt, dass der Gouverneur zu betteln verboten hat! Scher dich weg und belästige meinen Herrn nicht, den Ankläger Anir!“
Anir hatte das Hämmern gehört und stand plötzlich hinter seiner Haushälterin. „Den Gouverneur gibt es nicht mehr und daher auch das Gesetz nicht! Aber hungrige Jungen gibt es immer!“ Plötzlich leuchteten seine Augen auf, „Ich habe auf dich gewartet, mein Prinz. Also hat euch einer meiner Boten gefunden, dich, KeYNamM und Tanan!“ Dann schob er die Frau zur Seite, „Komm, du hast bestimmt Hunger!“ Die Haushälterin machte widerwillig Platz und schimpfte beim ins Haus gehen, „Diese Gesetzesänderung kenne ich nicht und einen Bettler Prinz nennen?“, sie schnaubte, „Aber alles ändert sich, kaum ist der Gouverneur tot, da tanzen die Mäuse auf dem Soukh!“
Anir freute sich. Er zog Ikken in die Küche und wollte ihn zum essen nötigen, was er bestimmt gemacht hätte, hätte ihm nicht der Gestank von Ikken's schmutziger Kleidung den Appetit verschlagen. „Komm!“, befahl er, und zog ihn hinaus in den Garten, „Zieh das Zeug aus!“ Als Ikken nackt vor ihm stand, goss er ihm Wasser aus dem Brunnen über den Kopf bis Schmutz und Staub abgewaschen waren. Nur mit einem viel zu großen Hemd von Anir bekleidet, durfte sich Ikken dann an den Tisch setzen und mit dem Ankläger frühstücken.
Als Ikken ihre Backkunst in höchsten Tönen lobte, war die Haushälterin sofort versöhnt und sagte „Wenn ich auch nicht glaube, dass du ein Prinz bist, so bist du doch ein hübscher junger Mann mit guten Manieren.“ Anir schüttelte den Kopf über ihren Kommentar und als Ikken kurz darauf die Augen zufielen und er den Kopf auf den Tisch legte, befahl die Haushälterin dem Ankläger, „Legt deinen Prinzen doch ins Bett.“ Als der sie erstaunt anblickte, „In deines Ankläger oder hat in diesem Haus, außer dir, noch jemand ein Bett?“ Dann wurde ihr Gesicht rot vor Verlegenheit und sie versuchte abzulenken, „Er kann hier bleiben, während ich auf dem Markt bin. Ihr müsst gehen, der Stadthauptmann wartet bestimmt schon auf euch. Er ist immer früh auf.“
Ikken spürte im Schlaf, dass ihn jemand anschaute, von Kopf bis Fuß genau studierte. Mit einem Ruck setzte er sich im Bett auf und sah sich um. Den großen Raum kannte er nicht. Er schien die Breite des gesamten Oberstocks des schmalen Hauses einzunehmen. An der Wand, dem niedrigen Bett gegenüber, stand ein langer schmaler Tisch, auf dem sich Stöße von Papier und dicke Folianten türmten. Davor standen ein Stuhl und mehrere dreibeinige Hocker. Auf letzteren stapelten sich ebenfalls Unterlagen. Wo in Häuser von Wohlhabenden bunte Teppiche hingen, waren hier große Leinentücher angebracht, die mit bunten Linien und kleinen Kästchen übersät waren. Jedes dieser Kästchen sah aus wie ein kleines Gemälde. Wie er später erfuhr, waren die Tücher Landkarten des Imperiums. Beiderseits des Zimmereingangs standen Truhen und niedrige Tische. An der Wand hinter dem Bett hingen ebenfalls solche Tücher mit Zeichen und kleinen Bilder. Erst als er den Kopf in Richtung des Ausgangs in den Garten drehte, bemerkte er die Silhouette eines Mannes, dessen schlanke Gestalt das hereinströmende Licht fast blockierte.
Ikken erschrak, als die Gestalt auf ihn zukam und sich an den Bettrand setzte. „Ausgeschlafen Prinz Gaya? Du musst ja sehr müde gewesen sein. Die Sonne hat ihren Zenit schon lange überschritten.“ Als Ikken von ihm wegrückte und sich eng an die Wand drückte, schmunzelte der Mann „Angst?“ Jetzt erst erkannte er den Ankläger Anir und schüttelte verneinend den Kopf. Anir jedoch fuhr fort, „An deiner Stelle wäre ich auch auf der Hut, in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, in einem fremden Haus!“ Da Ikken nicht antwortete, „Ich war heute Morgen sehr erstaunt, dass du wirklich den Boten spielst. Du bist mutig! Ich habe jedoch nichts anderes von dir erwartet!“
„Der Amestan war zuerst misstrauisch, aber dann entschied er deiner Botschaft zu vertrauen. Tanan und ich vertrauen dir ebenfalls. Daher habe ich beschlossen, dir die Nachricht zu überbringen.“
„Glaubst du, du kennst mich so gut? Wir haben uns bisher nur einmal gesehen.“
„Ich weiß, wem ich trauen kann, Ankläger. Aber jetzt muss ich gehen. Ich werde später KeYNamM's Pferd und meines holen und heute in der Dämmerung vor dem Tor auf dich warten. Ich bringe dich zum Amestan! Du darfst aber nur allein kommen.“
„Versprochen, aber jetzt raus. Ich glaube du bist halb verhungert, sonst hättest du mir am Morgen, nicht fast alle Fladenbrote weggegessen.“
Ikken verschränkte die Arme verschämt auf der Brust, als er im zu großen Hemd des Anklägers mitten im Zimmer stand. Der Saum des dünnen, gewaschenen, alten Hemdes reichte bis unter die Knie und seine Hände verschwanden in den Ärmeln. Anir sah seine Verlegenheit und hob darauf einen Stapel Kleider vom Hocker, „Meine Haushälterin schenkt sie dir! Sie sind von ihren Söhnen! Die sind herausgewachsen und brauchen sie nicht mehr.“
Beim Umziehen konnte der Ankläger nur staunen wie spindeldürr Ikken war und als der sich frisch eingekleidet zu ihm umdrehte, musste er seiner Haushälterin Recht geben. Vor ihm stand ein hübscher, ein wirklich hübscher, junger Mann in einem hellen Oberkleid mit bunten Borten und einer dunklen, knielangen Hose.
„Jetzt gehen wir essen! Du brauchst mehr Fett auf den Rippen.“ Ikken nickte erfreut. Als Anir noch hinzufügte „Wir gehen zu Tirizi, Tanan ist auch schon im Durstigen Kamel gesichtet worden“, strahlte er noch mehr.
Tirizi staunte! Anir und Ikken! Ikken saß vor Anir auf dem großen Rappen, der den freien Arm fest um die Mitte des Jungen geschlungen hatte. Den ganzen Vormittag hatten Tirizi Sorgen geplagt, obwohl sie vor Freude über Tanan's unerwartete Rückkehr am liebsten Luftsprünge gemacht hätte. Sie hatte ihren erfahrensten Diener auf Kundschaft geschickt. Der hatte sich überall herumgetrieben, vor des Anklägers Haus, als dessen Haushälterin gerade zum Markt ging, vor dem Amtssitz des Stadthauptmanns, wo er diesen und Anir im Gesprächen vertieft sah, am Amtssitz des Gouverneurs und dem Gerichtsgebäude mit den Arrestzellen. Dort fragte er einen der Wächter, ob heute ein großer Junge eingeliefert worden sei, ein fremder, blondhaariger, junger Mann. Niemand hatte ihn gesehen. Der Wächter deutete auch nicht an, dass ein solcher verhaftet worden wäre. Keine der Beobachtung wies darauf hin, dass Ikken in der Stadt sei. Ikken war einfach von der Bildfläche verschwunden. Nach des Dieners Rückkehr war Tirizi noch mehr beunruhigt als zuvor.
Jetzt aber strahlte sie. Ikken und Anir, der Prinz und der Ankläger, bei ihr im „Durstigen Kamel!“ Zuerst rief sie Tanan herbei. Dann ließ sie an Speisen auffahren, was Küche und Keller auf die Schnelle hergaben: knusprige Fladenbrote, Hirsebrei, saftigen Braten, Weintrauben, Datteln, Feigen, Limonenwasser. Sie bat Anir sich an eine der Schmalseiten des Tischs ihr gegenüber zu setzen, während Ikken und Tanan einander gegenüber an den Längsseiten Platz nehmen sollten.
Tirizi hatte die Tischordnung ohne ihren Sohn gemacht. Tanan stand auf, ging um den Tisch herum zu Ikken, fasste ihn an der Hand und führte ihn auf seine Seite. Dort saßen sie nun Schulter an Schulter, Tanan links, Ikken rechts. Während Tanan mit der Rechten zulangte, aß Ikken mit der Linken. Was sie mit der anderen Hand unter dem Tisch machten, war nicht zu sehen. Aber beide kicherten wie kleine Mädchen, was Tirizi und Anir strahlen ließ. Nach dem Essen verschwanden sie in Tanan's Zimmer, schlossen die Tür und ihr Kichern und lustiges Gekreische war im Wohnzimmer noch lange zu hören, bis es schließlich abebbte. Als Tirizi und Anir gegen Abend ihre Köpfe durch den Türspalt stecken, sahen sie zwei Jungen, die wie junge Hunde eng aneinandergeschmiegt schnarchten. Lange nachdem sich der Ankläger verabschiedet hatte, tauchten die beiden auf und staksten steifbeinig durchs Haus.
Als die Nacht die Schatten im Hof des „Durstigen Kamels“ schon fast verschluckt hatte, sattelte Ikken sein Pferd und das KeYNamM's und machte sich auf den Weg vor das Stadttor. Tanan wollte ihn begleiten, was Ikken ablehnte, “Ich habe mit Anir abgemacht allein zu kommen, um ihn zum Amestan zu führen, aber nur dann, wenn er allein kommt.“ Als Tanan ihn zweifelnd ansah, beruhigte er seinen Freund, „Anir hat’s beschworen! Was er verspricht hält er.“
Anir hatte Mühe rechtzeitig vor dem Stadttor einzutreffen. Der Tod des Gouverneurs hatte den normalen Ablauf der nächsten Tage vollständig durcheinandergebracht. Der Stadthauptmann hatte noch am Tag, als sie die Leiche des Gouverneurs und anschließend dessen Geheimnisse entdeckten, einen Boten mit einer ausführliche Schilderung der Ereignisse zur Hauptstadt des Imperiums gesendet. Der junge Imperator hatte sofort reagiert und einen neuen Gouverneur ernannt. Der war zwei Tage später eingetroffen und am Tor vom Stadthauptmann, vom Ankläger und wichtigen Persönlichkeiten der Stadt willkommen geheißen worden.
Anir war freudig überrascht, als er den neu ernannten Gouverneur sah! Es war sein Freund und Schulkamerad Yattuy 'der Lange'. Den Spitznamen 'der Lange' trug dieser seit der Studentenzeit, da er ungewöhnlich groß und dünn war. Da ihn alle seine Freunde so nannten, hatte er Yattuy jetzt zu seinem Namen gemacht.
„Langer, Langer!“, rief Anir, „Yattuy, wer hätte das gedacht. Du und ich im gleichen Nest. Ein Nest ist es nur verglichen mit der Hauptstadt, aber schön ist es hier und aufregend!“
„Anir, mein Herzensbruder, du hast dich in den letzten Jahren gar nicht verändert. Doch, doch! Aus dem spindeldürren, bartlosen Wesen ist ein richtiger Mann geworden. Aber deine Augen leuchten immer noch wie früher! Anir, mein Anir! Mager bist du immer noch! Füttert dich deine Frau nicht genug?“
„Du kennst mich doch, ich halte nichts vom Heiraten, also bin ich immer noch allein.“
„Das wirst du bereuen, wenn du erst Thiyya kennenlernst, meine schöne Thiyya und meine drei Söhne. Merin, der älteste ist jetzt schon fast acht und ein aufgewecktes Bürschchen! Und die andern, einer lieber als der andere.“
Anir war auf Grund dieses unerwarteten Wiedersehens in Hochstimmung. Als er Ikken nach Einbruch der Dunkelheit endlich traf, schwärmte er von den alten Zeiten in höchsten Tönen und sah entsprechend zuversichtlich dem Zusammentreffen mit KeYNamM entgegen. Ganz entgegen seiner sonstigen Art sprudelte es nur so aus ihm heraus.
Endlich merkte Anir, dass Ikken in Gedanken mit einer anderen Sache beschäftigt war und dabei unruhig auf dem Sattel hin und her rutschte. Er rief ihn an, „Langweile ich dich mit den alten Geschichten? Ich erzähl schon von vergangenen Zeiten, wie ein Tattergreis!“ Als Ikken verneinend den Kopf schüttelte, „Also nein! Aber dann verrate mir, warum rutschst du mit dem Hintern so in dem Sattel hin und her? Hast du Schmerzen? Ist dein Po durchgeritten?“
Da grinste Ikken „Kennst du das nicht? Hast du dort nie Schmerzen, nachdem du mit einem Freund zusammen warst?“ Als Anir den Kopf schüttelte, wurde Ikken rot. “Nein? Wirklich nicht?“ Ikken schaute Anir nun gespannt an, „Du rutschst aber auch aufgeregt im Sattel hin und her. Freust du dich schon so auf das Wiedersehen mit KeYNamM?“ Als Anir nicht antwortete, „Ich kann dir was verraten!“, grinste Ikken von Ohr zu Ohr, „Noch heute Nacht wirst du meinen KeYNamM-baba richtig kennenlernen. Der denkt schon seit dem Tag auf der Himmelsleiter an dich!“
In der sich verstärkenden Dunkelheit durchquerten die beiden im Trab die fast leeren Gassen des Marktfleckens im Osten von Tinghir, kamen etwas später an einer Kasbah vorbei, auf die sie nur deshalb aufmerksam wurden, weil aus ihren Fensterluken Licht fiel, und bogen, als es schon fast zu dunkel zum Reitern war, in ein Trockental ein, dessen Hänge im Dunkeln kahl und unbewohnt schienen. Als Ikken schließlich sein Pferd kurz anhielt und in einen fast unsichtbaren Seitenweg einbog, der bergan führte, schreckte Anir auf und war plötzlich hell wach.
„Hoppla, fast wäre ich von Pferd gefallen! Versteckt sich KeYNamM abseits der Straße im Nichts? Wie weit müssen wir noch reiten? In dieser Dunkelheit wird er uns nicht sehen!“ Dann ermahnte er Ikken, „Reit vorsichtig Ikken oder willst du, dass dein Pferd im Dunkeln stolpert, du aus den Sattel fällst und dir das Genick brichst?“ Ikken aber lachte nur, „Der Amestan sieht uns schon. Es ist abgemacht, dass wir hier abbiegen und so lange weiterreiten, bis er uns ein Zeichen gibt.“ „Im Dunkeln?“, zweifelte Anir.
Kurz darauf ertönte der helle Gesang einer Wüstenlerche links vom Pfad. Ikken hielt sein Pferd sofort an und antwortete mit dem Gebell eines Wüstenfuchses. Ein Mann trat aus dem Dunkel an Anir's Pferd heran und sagte leise „Ich bin es, den du sprechen willst, der Amestan!“ Er nahm Anir's Pferd am Zügel und führte es auf einen Sandweg, der zu der Ruine einer verlassenen Ghorfas, einer Speicherburg, führte, die auf der nächsten Anhöhe thronte. Ikken folgte ihnen.
Im Hof der Speicherburg glimmten Kohlen. Die flammten auf, als KeYNamM trockene Späne hineinwarf und beleuchteten die dunklen Höhlen, die einst Speicherkammern waren. Erst als alle drei ums Feuer hockten, brach der Amestan das Schweigen. „Willkommen in meinem Versteck, Ankläger! Du wolltest mich sprechen, hier bin ich. Leider kann ich kein guter Gastgeber sein. Ich kann dir nur Brot und Wasser anbieten, denn einer der unsichtbar bleiben muss, kann nur das Nötigste einkaufen.“
„Ich bin froh Amestan, dich endlich wiederzutreffen. An gutem Essen liegt mir wenig, Brot und Wasser reichen, so bleibt der Kopf klar und die Gedanken werden nicht behindert.“ Dann verbeugte er sich, „Ich danke dir König vom Unland, das ich dich treffen darf. Aber warum machst du dich unsichtbar? Niemand fahndet nach dir!“
„Und der Tod des Gouverneurs? Wird mir der nicht zugerechnet?“
„Dem, der den Gouverneur getötet hat, gebührt der Dank der ganzen Stadt, sogar des gesamten Imperiums. Erst sein Tod hat seine himmelschreienden Taten ans Tageslicht gebracht. Er war das bestialische Monster, der Mörder all der unschuldigen Mädchen und Jungen, die in den letzten Jahren in der Stadt verschwunden sind. Daneben hat er noch viele weitere Rechtsbrüche begangen. Denke an Ikken's Vater, an seine halbblinde Muhme, denke an die Kinder, Jungfrauen und Mütter, die er als Tributzahlung im Draatal rauben ließ und in die Sklaverei schickte, denke an all die Missetäter, die er wegen kleinen Missetaten zur Zwangsarbeit in der Kristallmine verurteilte.“ Dann schwieg er kurz, „Der Stadthauptmann und ich sind uns einig, dass es drei Jinns waren, die Gouverneur Gwasila vom Leben zum Tod beförderten. Das haben wir dem Imperator mitgeteilt und dann überall in der Stadt und dem gesamten Bezirk bekanntgeben lassen. Was sollen wir dann noch nach Mördern in Menschengestalt suchen, wenn Kel Essuf und seine Jinns Gouverneur Gwasila geholt haben? Geh dorthin, wohin du willst, geh dorthin, wohin du musst ...“, er schluckte kurz, „... aber ich habe eine Bitte, werde mein Freund, denn ...“, plötzlich verstummte er und sah in die Flammen. Ikken aber setzte den Satz fort, als könne er Anir's Gedanken gelesen „... denn ich liebe dich und möchte deinen Söhnen auch Vater sein!“ Anir erschrak, nickte dann aber nur und starrte weiter in die Flammen.
KeYNamM blickte erst zu Anir und dann zu Ikken. Lange sagte er nichts, dann stand er auf, schritt um das Feuer herum zu Anir, setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm über die Schultern. „Bruder!“, sagte er kaum hörbar, „Bruder, was soll ich diesen Worten noch hinzufügen. Seit wir uns das erste Mal sahen, denke ich an dich, sogar während des Kampfes gegen die Söldner des Gouverneurs gingst du mir nicht aus dem Kopf!“
Die halbe Nacht saßen KeYNamM und Anir eng nebeneinander am Feuer und schienen zu träumen. Da sie nicht essen wollten, wünschte ihnen Ikken bald gute Nacht und suchte sich einen Schlafplatz in einer der leeren Speicherkammern. Der König vom Unland und der Staatsanwalt des Imperators aber begannen Gedanken auszutauschen, erzählten sich ihre Lebensgeschichten und ihre Träume.
Anir und KeYNamM waren nicht nur etwas gleich alt und gleich groß, auch ihre Lebensgeschichten ähnelten sich. „Ich erhielt meine Ausbildung weit entfernt von Mutter und Vater“, erzählte KeYNamM. „Ich wuchs wild heran, ungebunden und trotzdem hatte der Marabout, der mich unterrichtete, keine Mühe mir all sein Wissen zu vermitteln. Das war eine großartige Zeit, mit all den Freunden, mit Jungen und Mädchen. Sie war plötzlich vorbei, als die Knechte des Imperators meinen Vater vergifteten. Noch in der Nacht seines Begräbnisses in Tamegroute wurde ich sein Nachfolger, wurde ich Amestan, der Mann ohne Namen, der König vom Unland, der Beschützer der Völker am Draa.“
„Alle kennen dich nur unter dem Namen KeYNamM, d.h. Mann ohne Namen. Aber alle Mütter rufen ihre Kinder mit Namen. Hat deine Mutter dir keinen Namen gegeben? Meine nannte mich Anir, Engel, und ich bin stolz auf den Namen, auch wenn mich der Gouverneur immer Engel der Rache nannte!“
„Dir verrate ich das Geheimnis. Meine Mutter nannte mich „Draa“, nach dem Fluss der aus den Bergen kommt, der im Sand versickert und wieder auftaucht. Seit alters her tragen alle Könige des Unlands diesen Namen, manchmal als ersten Namen, manchmal als zweiten, oft auch als dritten, aber sie tragen ihn immer. Du kannst mich so nennen, wenn du möchtest! Denn es ist mein erster Namen und du liebst mich.“
„Draa, wie der Fluss!“ Anir sprach das Wort langsam nach, „Draa! Draa! Draa! Welch schöner Name. Ich liebe DRAA!“ Er rückte noch enger an den Amestan. „Meine Mutter starb zu früh, sie starb im Kindbett. Mein Vater erzog mich. Von ihm lernte ich lesen, schreiben, rechnen ... denn das brauchst du als Kaufmann am Nötigsten, sagte er immer. Dann, als ich in das Geschäft eingestiegen war, mit fünfzehn Jahren, unternahm er eine Kauffahrt zum Meer im Norden. Er kam bis ans Meer, aber nie zurück. Seinen Dolch entdeckte ich später bei einem Briganten. Der schwor, er habe meinen Vater nicht getötet und seine Waren nicht geraubt. Alle glaubten ihm, denn er war ein Freund des Imperators. Einer aber glaubte ihm nicht! Ich! Ich wollte ihn überführen! Ich verkaufte das Geschäft meines Vaters, studierte die Gesetze bei den berühmtesten Rechtsgelehrten und wurde schließlich Ankläger. Der Brigant aber starb, bevor ich ihn anklagen konnte.“
Am Ende der Nacht zogen sich die beiden in eine Speicherkammer zurück, die weit entfernt von der lag, die sich Ikken für die Nacht ausgesucht hatte, und schiefen unter einer Decke bis sie Ikken weckte.
Ikken weckte das Gurren von Tauben, die in den leeren Speicherkammern nisteten. Als er weder KeYNamM noch Anir neben sich entdeckte, begann er sie zu suchen. Als er fast alle Getreidekammern abgesucht hatte, fand er sie. KeYNamM lag auf dem Rücken und schnarchte leise. Anir auf der Seite und drehte seinem neuen Freund den Rücken zu. Ikken hob einen Strohhalm vom Boden auf und begann KeYNamM an der Nasenspitze zu kitzeln. Beim dritten oder vierten Mal fuhr dieser hoch, fasste noch im Halbschlaf hinter sich, erwischte Ikken's Arm und zog ihn zu sich. Als er sah, dass es Ikken war, begann er ihn zu kitzeln, bis der laut auflachte.
Durch den plötzlichen Ruck und das Gekicher wachte Anir auf, drehte sich um und schon war Ikken zwischen den beiden eingeklemmt. Mit Fünf hätte er das genossen, aber jetzt? Er war doch viel zu alt, schon fast erwachsen, das hatten ihm die Spielereien mit Yufayyur und Tanan gelehrt. Er wollte sich gerade aus der Lage zwischen den beiden befreien und herauskriechen, als Anir begann ihn ebenfalls zu kitzeln. Bald konnte Ikken vor Lachen beinahe nicht mehr sein Wasser halten. „Hört auf, hört auf, sonst werde ich euch nasspinkeln. Sie ließen ihn flitzen und als er draußen vor dem Eingang zur Speicherkammer stand, ließ er die Hose herunter, drehte ihnen den Po zu und rief über die Schulter, „Anir, wird dir heute auch der Po jucken, wenn du heimreitest, so wie mir gestern?“ KeYNamM verstand die Anspielung schneller als Anir und drohte Ikken mit dem Finger, „Pass auf! Pass auf Söhnchen, sonst tut dir noch dein Hintern von etwas anderem weh, meiner Hand!“
25 Neubeginn
Die drei trennten sich, als sie wieder im Trockental angekommen waren. KeYNamM und Ikken ritten nach Südosten zu Ennand's Hof, Anir nach Westen zur Stadt. Als der Ankläger am späten Vormittag das Stadttor von Tinghir erreichte, wurde er schon ungeduldig von einem Boten erwartet, „Herr, Herr, Ihr sollt sofort zum Amtssitz des Gouverneurs kommen, der Gouverneur Yattuy und der Stadthauptmann warten schon. Gegen Mittag wollen die Notabeln der Stadt dem neuen Gouverneur ihre Aufmachung machen!“ Anir trieb sein Pferd zur Eile an. Als er am Stadthaus war, stürzte er schwitzend, und noch den Geruch der vergangene Nacht auf der Haut, in den Ratssaal.
„He Anir, hast du verschlafen?“, begrüßte ihn Yattuy, „Das bin ich von dir nicht gewohnt, Anir, Junge! Hat dich die Provinz faul gemacht? Früher warst du immer der erste!“ Die feine Nase des Stadthauptmann hatte erschnuppert, was Anir in der Nacht getrieben hatte und stellte trocken fest, „Ich wette, unser Staatsanwalt hat heute Nacht etwas Wichtigeres zu tun gehabt, als zu schlafen. Sonst ist er immer noch vor mir hier!“
„Dann hast du doch eine geheime Freundin? Wann stellst du mir sie vor?“ Aber bevor Anir seinem Jugendfreund antworten konnte, lenkte der Stadthauptmann des Gesprächs in andere Bahnen. „Gouverneur Yattuy will ein Beratergremium einsetzen, da er hier fremd ist. Du und ich sollen ihm angehören und jetzt benötigen wir noch eine Frau, da keiner von uns Dreien über die Belange der Frauen dieser Stadt wirklich Bescheid weiß.“ Er kratzte sich am Kopf, „Meine kommt dafür nicht in Frage. Sie steht mir einfach zu nahe und eine Marktfrau sollte es auch nicht sein, obwohl die am besten Bescheid wissen!“
Anir dachte kurz nach, „Meine Haushälterin ist herzensgut jedoch nicht klug genug für so eine Aufgabe.“ Dann strahlte er, „Tirizi, die Besitzerin von der Herberge zum „Durstigen Kamel“ weiß bestimmt über Alles in der Stadt Bescheid, kennt jeden und jede und ist als Geschäftsfrau erfahren in vielen Dingen! Obwohl?“, und er überlegte einen Augenblick, „Hat sie als Besitzerin einer Karawanserei nicht einem zu verdächtigen Ruf?“
Der Stadthauptmann überlegte einen Augenblick, „Gouverneur Yattuy, Anir's Vorschlag ist gut, obwohl die vornehmen Frauen die Nase rümpfen werden. Tirizi ist wirklich eine tüchtige Geschäftsfrau, selbstständig, erfahren in allen Dingen des Lebens und sie hat auch das Ohr der armen Frauen. Bisher habe ich ihr als oberster Polizist der Stadt nichts vorzuwerfen und bei mir enden alle Klagen.“
„Ist das am Ende deine Freundin?“, grinste Yattuy. Als Anir den Kopf schüttelte, befahl der neue Gouverneur die Herbergsmutter schnellstens herbeizurufen.
Tirizi wurde nervös als der Befehl des Gouverneurs eintraf, um sie abzuholen. Der Bote jedoch beruhigt sie. „Der Gouverneur, der Ankläger und der Stadthauptmann brauchen deine Hilfe und so eine Ehre darfst du nicht abschlagen.“
Am Amtssitz des Gouverneurs drängten sich die Notabeln schon ungeduldig vor dessen Haupteingang, als sie kam. „Warum darf sie hinein, eine der untersten Klasse?“, fragte der hagere Sklavenhändler und Importeur illegaler Güter seine Kollegen, den dicken Bordellbesitzer und den noch dickeren Getreidehändler. Letzterer schnaubte wütend durch die Nase, „So ein Weib uns vorzuziehen, würde sich ein erfahrener Gouverneur nicht erlauben!“ Der Bordellbesitzer aber strahlte, „Der Ankläger ist drinnen, was soll er von ihr schon wollen? Das Weib verhaften. Solche wie sie schaden meinem Geschäft!“
Im großen Saal staunten die drei und die anderen Notabeln nicht schlecht, als sie Tirizi rechts vom neuen Gouverneur neben Staatsanwalt Anir auf der Empore sitzen sahen. Links des Gouverneurs hatte der Stadthauptmann Platz genommen.
Der Stadthauptmann erhob sich, als die Geladenen Platz genommen hatten. “Meine Herren, Notable dieser Stadt und der umliegenden Dörfer!“, er winkte ihnen sich zu erheben, „Gouverneur Yattuy gibt sich die Ehre euch heute zu einem kurzen Empfang zu treffen. Der große, offizielle Empfang wird stattfinden, sobald die notwendigen Vorbereitungen für ein Fest zu Ehren des Imperators abgeschlossen sind. Es wird vor den Toren der Stadt abgehalten mit Spielleuten, Gauklern, Clowns und Possenreißern. Die Einladung wird an allen Bewohner von Tinghir, des Grenzlandes und der zum Gouvernement gehörigen Dörfer ergehen.“
Die Notabeln erhoben sich und verneigten sich vor dem neuen Gouverneur. Darauf erhob sich Yattuy ebenfalls, verbeugte sich und forderte dann die Anwesenden mit Gesten auf sich zu setzen. Dann richtete er das Wort an sie, „Stützen des Gouvernement, darf ich mich zuerst für den gestrigen Empfang am Stadttor bedanken, besonders bei unserem Stadthauptmann und Anir, dem Staatsanwalt und Ankläger. Ihm bin ich seit unserer gemeinsamen Studienzeit freundschaftlich verbunden.“ Dann musterte er die Reihen der Gäste ausgiebig und fuhr fort, „Ich sehe, an euren erstaunten Gesichter, dass sie sich wundern, dass der Stadthauptmann und der Staatsanwalt hier neben mir auf dem Podium sitzen!“ Er lächelte, „Sicher noch größer ist euer Erstaunen über die Dame an meiner Seite.“ Dann machte er eine Pause. „Sie ist ihnen sicher allen bekannt. Für die, die sie nicht kennen …“, er machte erneut eine Pause und verbeugte sich jetzt vor Tirizi. „Ja, es ist die Besitzerin der Herberge zum „Durstigen Kamel“, es ist die ehrenwerte Tirizi. Sie habe ich zur Vertreterin aller Frauen der Stadt und der Dörfer bestimmt, denn die Tradition in meiner Heimat gebietet, dass auch Frauen ihre Stimme im Führungskreis des Gouvernements haben. Ich habe diese drei gebeten, mir in allen Fragen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“ Als sich ein unwilliges Gemurmel erhob, ignorierte er dies und verkündete, „Jetzt, meine Notabeln, werden sie mir von Tirizi und dem Stadthauptmann einzeln vorgestellt.“
Nun wandte er sich betont laut an den Ankläger, „Mein Freund Anir, du wirst in der Zwischenzeit die Untersuchungen zum Mord und den monströsen Verbrechen des Gouverneurs Gwasila vorantreiben. Verhöre Lalla und Kella, die Helferinnen des Serienmörders. Wenn notwendig, dann setze sie auf den Hexenstuhl. Ich will alles wissen, wann und wo er den ersten Mord begangen hatte, an wie viele Morde sie sich erinnern können. Besonders interessiert den Imperator, ob dem Gouverneur Gwasila Helfer zur Seite gestanden haben und wer seine Mitwisser waren.“ Ein Gemurmel erhob sich; fragende Stimmen von den Notabeln der Dörfer, zustimmende von denen aus der Stadt und protestierende aus der Clique des ehemaligen Gouverneurs, zu der auch der Sklavenhändler, der dicke Bordellbesitzer und der Getreidehändler zählten. Sie waren bleich geworden und der Angstschweiß stand jedem von ihnen auf der Stirn.
Anir stieg die dunkle Treppe zur Folterkammer herab. Heute erschien der unterirdische Weg von der Gouverneursvilla zur Folterkammer des Gwasila viel kürzer, als an dem Tag, an dem sie die Leiche des Gouverneurs im verrauchten Haus entdeckt hatten. Graues Licht strömte aus der Tür zur Folterkammer in den Gang und als er näher kam, hörte er die beiden Dienerinnen drinnen miteinander flüstern. Er verstand sie jedoch nicht.
Vom Eingang aus überblickte er den Raum. Lalla und Kella saßen mit dem Rücken zu ihm auf Stühlen gefesselt mit dem Blick in Richtung zum Ausgang des Folterkellers zur Stadtmauer. Bahre und Puppen standen an ihrem angestammten Platz, nur der ausladende Gegenstand zwischen den beiden war neu hinzugekommen. Im ersten Moment erkannte Anir nicht, um was es sich handelte. Dann erinnerte er sich. Es musste ein Hexenstuhl sein. Von diesem Folterinstrument hatte er während seines Studiums gehört, aber nie davon, dass er angewendet wurde. Aber hier an der Grenze des Imperiums zum Reich der Wüstensöhne, dem abgelegensten Ort des Imperiums, gab es ihn noch und er wurde ihm für das Verhör zur Verfügung gestellt. Jetzt erinnerte er sich auch, wie der Hexenstuhl gebaut war, sowie wie er angewendet werden konnte.
Der Hexenstuhl war eigentlich nichts weiter als ein riesiger Stuhl, einem Thron nicht unähnlich. Jedoch an ihm war vorne, etwas oberhalb des eigentlichen Sitzes, ein schmales Brett angebracht. Den Delinquenten wurden die Überkleider ausgezogen, sodass ihr Rücken und ihr Hinterteil nackt waren. Dann wurden sie so auf dem Stuhl festgebunden, dass sie mit ihren Oberschenkeln auf dem Brett saßen und ihr nacktes Hinterteil über der Sitzfläche hing. Aus dieser ragten fingerlange, scharf angespitzte Stacheln aus dem Holz des Eisenbaumes, die, sobald man sich auf sie setzte, ins nackte Fleisch eindringen würden. Mit ähnlichen, aber kürzeren Stacheln waren die Armlehnen des Stuhles und das Fußbrett besetzt. Solange der oder die Verhörte stark genug waren, um sich auf dem schmalen Brett halten zu können, berührten sie weder mit ihrem Gesäß die harten Stacheln des Sitzbretts, noch mit ihrem Rücken die Rückenlehne, aus der ebenfalls scharfe Stacheln herausstanden, noch mit ihren Unterarmen die Stacheln der Armlehnen oder mit den Fußsohlen das stachelbewährte Fußbrett. Kaum ein Beschuldigter konnte seine Muskeln auf die Dauer so anspannen, dass er längere Zeit auf dem schmalen Brett sitzen konnte, ohne dass sie einer nach dem anderen nachgaben. Meist bohrten sich zuerst die Stacheln der Armlehnen und des Fußbrettes in das Fleisch, aber kurz darauf auch die des Sitzbrettes und der Rückenlehne. Der Delinquent spießte sich nach und nach selbst auf, während seine Schmerzen ins Unermessliche stiegen.
Anir war sich bewusst, dass er mit Hilfe dieses Stuhls jedes Geständnis erzwingen konnte, unabhängig davon, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Sein Gewissen opponierte gegen diese Art des Verhörs, aber er musste die Wahrheit erfahren. Er durchschritt den Raum, blieb vor Lalla und Kella stehen, musterte sie, erst Lalla dann Kella. Dann begann er vor ihnen auf und abzuschreiten. Ihr Flüstern verstummte und sie starrten seine dunkle Silhouette an, die sich gegen das Licht, das vom Ausgang zur Stadtmauer her in den Raum drang, abhob. Lange Zeit herrschte lautlose Stille. Schließlich zischte Lalla, die ältere der Schwestern: „Ankläger! Ankläger Anir, du willst uns verhören? Glaubst du, dass dies deine Pflicht ist? Nein! Du vernachlässigst deine Pflicht! Wer ist der Mörder des Gouverneurs? Hast du ihn schon gefangen. Wer sind seine Helfer? Hast du sie schon dingfest gemacht? Glaubst du, das wir unser Gwasilalein ermordet haben, ihn, den wir wie unseren Sohn aufgezogen haben?“ Kella setzte hinzu, „Du und der Stadthauptmann, ihr verdankt ihm alles, Tinghir verdankt ihm alles, selbst der Imperator verdankt ihm mehr als er verdient! Habt ihr ihn ermorden lassen? Du und der Stadthauptmann? Steckt ihr hinter der Tat der drei Jinns? Schande, Schande über euch! Sein Blut wird über euch und die Stadt kommen!“
Anir blieb vor Lalla stehen. Für einen Moment fiel sein Schatten auf sie und erlaubte ihr sein Gesicht zu studieren. Doch er sah nichts Gutes. „Du weißt, was da zwischen euch steht, Lalla! Du kennst den Hexenstuhl! Bedenke bei deinem Leben, dass du bald auf diesen Thron Platz nehmen wirst, wenn du nicht alles offenbarst. Alle Geheimnisse von Gouverneur Gwasila, alle seine Verbrechen, wer seine Helfer waren, wer seine Mittäter! Ich rate dir, bleib bei der Wahrheit!“ Dann fixierte er Kella, „Oder möchtest du, Kella, zuerst antworten?“
Bevor eine der Schwestern weitere Anschuldigungen erheben konnte, fuhr Anir fort: „Tadla's Leiche wurde vor nur wenigen Tagen gefunden, die des Mädchens aus dem Grenzland einige Monate zuvor und davor noch die des ermordeten Knaben! Ihre Kleider schmücken diese Puppen, wie die Trophäen eines Jägers sein Haus schmücken. Der Gouverneur war der Jäger, aber er jagte keine Löwen oder andere wilde Bestien. Nein! Nein, die jagte er nicht! Der Feigling jagte unschuldige Mädchen und Knaben, wehrlose, unschuldige Kinder! Er war der Jäger, das Monster, denn nur durch seine Schlafkammer gelangt man in diesen Raum!“ Anir deutete mit seinem ausgestreckten Arm auf die Schwestern „Ihr Beide seid alt, aber nicht so alt, das ihr vergessen haben könntet, dass er der Jäger war und wann er seine Beute erlegt hat!“
Lalla schnappte das Wort Jagd auf, „Ja, der Gouverneur hat immer gejagt. Er war Jäger! Er war kein Feigling, kein Monster. Er hat das Böse gejagt!“ Sie zeigte auf die Puppe mit Tadla's Kleider, „Tadla war böse! Er musste sie töten, die Hexe. Der Ausbund des Bösen weigerte sich Buße zu tun! Er musste sie töten, damit das Böse in Tinghir nicht die Oberhand gewinnt! Tadla war böse, sie hat sich gewehrt, hat ihn gekratzt, hat unser Gwasilalein gebissen, in die Hand gebissen, die Hand, die sie vom Bösen heilen wollte!“
„Du gibst also zu, dass er sie ermordet hat, sie verstümmelt hat? Du gibst also zu, dass der Gouverneur ihr Mörder ist?“
„Der Gouverneur ist kein Mörder! Der Gouverneur war der Richter. Er war der Racheengel Gottes! Seine Aufgabe war das Böse auszurotten!“
„Was glaubst du Ankläger, warum der Knabe streben musste, der schmutzverschmierte Knabe und all die verrotteten Knaben zuvor! Er weigerte sich, seine Sünden abwaschen zu lassen. Er verweigerte das Reinigungsbad, das wir für ihn bereitet hatten! Als ihn der Gouverneur ins Wasser steckte, brüllte und tobte er! Nicht nur sein Körper war besudelt, nein, auch seine Seele! Er war verrottet! Er war einer von denen, die den Imperator ermordet hätten, wenn der Gouverneur nicht seine Pläne durchkreuzt hätte!“
„Und warum hat er ihn gepfählt, warum ihm die Hoden abgeschnitten!“
„Solche Vögel überleben ihren Tod, wenn ihre Seele nicht festgenagelt wird! Sie stehen wieder aus ihren Gräbern auf und verüben weitere Gräueltaten, wenn ihnen kein Pfahl ins Fleisch gerammt wird!“, kreischte Kella und rüttelte an ihren Fesseln.
Der Schreiber, der bisher das Protokoll scheinbar ungerührt anfertigt hatte, schrie plötzlich empört auf, „Hört auf! Hört auf ihr Hexen! Der Junge? Der, ein potentieller Königsmörder? Der verrottet? Der Knabe war mit unserem Nachbarn verwand. Ich kannte ihn gut. Er war nicht böse! Er ist nie böse gewesen! Er hatte eine reine Seele! Er ein potentieller Mörder? Er hätte nie einen Mord begannen!“, er stöhnte auf. „Das sind Beschuldigungen von Wahnsinnigen!“
“Du hast Recht Schreiber! Ist das hier noch Vernunft oder ist es schon Wahnsinn? Aber wir müssen fortfahren im Verhör!“ Dann wandte sich der Ankläger wieder den Schwestern zu. „Ihr habt also bei der Ermordung des Knaben zugesehen, ihr habt dem Gouverneur geholfen, diese Wahnsinnstat zu begehen? Ihr wart die Helfer des Gouverneurs! Seid ihr auch seine freiwilligen Helfer bei der Ermordung der anderen Knaben und Mädchen gewesen? Wie war das mit Tadla und dem anderen Mädchen und den Mädchen und Knaben zuvor? Wann hat der Gouverneur, das erste Mal getötet?“
Lalla zischte jetzt wie eine Schlange, „Es gab kein erstes Mal, nein, es gab kein erstes Mal in Tinghir. Seit er ein Knabe war, hat der Gouverneur das Böse verfolgt, es ausgerottet! Schon als Junge hat er das Böse vernichtet, schon lange bevor er hierher kam. Schon immer war er die Hand des gerechten Gottes!“
Anir seufzte. Er war empört, verzweifelt und niedergeschlagen. In seiner Verzweiflung hatte er nicht bemerkt, dass der Stadthauptmann eingetreten war. „Diese Aussagen reichen vorerst, denn ich will im Archiv nachprüfen, in welchem Jahr die ersten ermordeten Mädchen und Knaben aufgefunden wurden. Ich will nachprüfen, ob dieser Zeitpunkt mit dem Zeitpunkt zusammen trifft, an dem der Imperator Gwasila als Gouverneur nach Tinghir geschickt hat!“
„Einverstanden! Aber bevor wir das Verhör abbrechen, sollten wir noch klären, ob außer dem Gouverneur selbst und seinen Dienerinnen noch weitere Bürger des Imperiums an den Morden beteiligt waren.“ Anir wandte sich wieder Lalla und Kella zu. „Wer hat dem Gouverneur die Kinder zugeführt? Er dürfte kaum durch die Stadt gegangen sein, um selbst die Kinder einzusammeln. Ward ihr das?“
Als keine der Schwestern Anstalten machte die Frage zu beantworten, trat der Stadthauptmann zum Hexenstuhl, strich über dessen Lehne und sah erst Lalla dann Kella an, blickte dann zum Ankläger und zurück zu Lalla und fragte, „Du oder du?“ Das reichte den Schwestern.
„Wir haben sie meist nur ins Haus gelassen, wenn sie an die Tür geklopft haben. Oft aber wurden sie auch vom Bordellbesitzer geschickt! Das stimmt doch Lalla?“, rief Kella ihrer Schwester zu, „Und die Mädchen, die er vorbeischickte, waren vom Teufel besessen, alle vom Teufel besessen!“
„Du vergisst den Getreidehändler, Kella!“, redete sich Lalla in Rage, „Er brachte von seinen Reisen oft Mädchen mit, hässliche, ungewaschene Bauerndirnen. Die brachte er selbst vorbei, damit ihnen der Gouverneur das Böse austreibe!“
„Ja, vergiss nicht den mit dem schwarzen Bart, der brachte von seinen Kauffahrten oft Knaben mit, Knaben von weit her, aus dem Unland, aus dem Grenzland oder aus den Wüsten im Süden. Auch diese Heiden versuchte der Gouverneur zu bekehren!“
„Ja, die drei schlossen sich dann mit dem Mädchen oder dem Knaben hier unten ein, beteten mit ihnen, flehten sie an, ihre Schuld zuzugeben, sich zu bekehren. Sie beteten laut und ihr Flehen war die ganze Nacht zu hören. Der Teufel in den Kindern stöhnte und weinte, schrie und fluchte, aber der Gouverneur und seine Freunde haben immer gesiegt. Sie jagten die bösen Geister in die Hölle zurück und hier blieben nur die leblosen Hüllen der Verruchten und ihre schwarzen Seelen!“
„Ja! Ja! Ja! Das waren die Hüllen, die später am Fuß der Stadtmauer gefunden wurden, zur Abschreckung und Mahnung für die ganze Stadt!“
Gouverneur Yattuy hatte den letzten Teil des Geständnisses mitgehört. „Das reicht! Schreiber, hole Wachen, die sollen die beiden Schwestern in ihre Zelle bringen, dort an gegenüberliegende Wände fesseln, bis ich einen Gerichtstermin angeordnet habe.“ Dann verließen der Gouverneur, der Ankläger und der Stadthauptmann die Folterkammer.
Auf dem Weg ans Tageslicht fragte Anir, „Wie gehen wir weiter vor? Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es unklug, den Bordellwirt, den Getreidehändler und den Karawanenbetreiber auf Grund der Beschuldigungen der beiden Hexen festzunehmen. Wir müssen eindeutigere Beweise haben.“
Gouverneur Yattuy nickte, wandte sich darauf dem Stadthauptmann zu, „Du stellst sicher, dass keiner der drei Beschuldigten die Stadt verlässt oder Boten aus der Stadt schickt. Ihre Verhaftung muss warten.“
„Lassen wir uns Zeit, vielleicht wäre es die richtige Strategie, die drei Helfer des Gouverneurs Gwasila im Verlauf des Prozesses gegen die Hexen mit ihren Aussagen zu konfrontieren, sie vor aller Öffentlichkeit zu überführen und anschließend gleich mit abzuurteilen“, schlug Anir vor.
Als sie ins Tageslicht hinaustraten, seufzte Gouverneur Yattuy, „Ein schlimmer Tag Freunde, so schlimm habe ich mir meinen Anfang in diesem neuen Amt nicht im schlimmsten Alptraum vorgestellt!“ Dann aber sagte er mit festen Stimme, „Aber ich bin stolz auf das, was wir geleistet haben. Ich bin stolz, dass die Sonne über Tinghir wieder scheinen wird!“ Dann drehte er sich Anir zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, schaute ihm lange in die Augen, „Ich habe so viel Fragen an dich mein Freund Anir. Entspanne dich und lass uns im Abendlicht Wiedersehen feiern!“
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