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Abschiedsbrief

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Informationen

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Hallo lieber Leser,

warst du schon mal so sehr verliebt, dass es schon richtig wehgetan hat, sobald du der Person zu nahe gekommen bist? Vermutlich nicht und wenn doch, dann hast du mein volles Mitleid.

Ich denke nicht, dass es die Liebe an sich ist, die den tatsächlichen Schmerz auslöst, vielmehr ist es das unsterbliche Verlangen nach dieser Person und das Wissen, dass sie niemals dir gehören wird.

Genau so geht es mir...jedes Mal. Ja, du hast richtig gehört. Ich begehe den selben Fehler immer und immer wieder, als hätte ich beim ersten Mal nichts dazu gelernt und beim nächsten Mal genauso wenig und dann wieder und wieder und wieder. Vielleicht ist es mir einfach nicht vergönnt glücklich zu werden, zumindest nicht im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen. Liebe an sich ist mir kein Fremdwort, zumal ich weiß wie sie sich anfühlt. Nein, ich möchte mich an dieser Stelle korrigieren: Ich weiß wie es sich anfühlt zu lieben, aber nicht wie es ist von einer anderen Person geliebt zu werden. Als Kleinkind vermisste ich es nicht, denn schließlich war ein liebloses Leben meine Normalität. Mir wurde erst bewusst, dass mir etwas ganz wundervolles entging, als ich erstmals beobachten konnte, wie Eltern ihre Kinder lieben können. Meine Eltern konnten das nicht. Über meinen Vater weiß ich nichts und wenn ich den Worten meiner Mutter glauben soll, war der Typ eh ein gottloser Heide mit narzisstischer Veranlagung, der sich entsprechend für niemand anderen interessierte, als sich selbst. Meine Mutter verhielt sich da ähnlich, wobei auch ihre ständig wechselnden Sexualpartner zu meiner Vorstellung von „Normalität“ gehörten und ich dieses Verhalten heute als krankhafte Nymphomanie betiteln kann. Sowieso hat sie sich nur für ihre Typen interessiert und deren Geld mit dem sie sich die teuren Operationen und Kleidungsstücke leisten konnte. Von ihr wurde ich geduldet, aber auch nur zu gewissen Zeiten, denn wenn sie Besuch hatte, war es meine Aufgabe, mich im Schrank zu verkriechen oder die Wohnung zu verlassen, bis das Schäferstündchen beendet war. Letzteres bevorzugte ich natürlich, wobei es in kalten Winternächten auch schon mal kritisch wurde. Na ja, alles besser, als sich über Stunden hinweg in der Dunkelheit die Ohren zuzuhalten um ja nichts davon mitzubekommen, was sich innerhalb meines Zuhauses abspielte.

Hört sich nett an, oder? Eine traumhafte Kindheit, welche natürlich so noch nicht beendet war.

Um seine Identität zu schützen, nenne ich den ersten Protagonisten meiner Misere, einfach mal A.

A war einer von den Liebhabern meiner Mutter und das sogar über mehrere Monate hinweg, was echt unüblich für meine Mutter war. Mit ihm hatte sie irgendwie Glück gehabt, denn der Kerl unterschied sich von den anderen Sextouristen, die sonst zu Besuch waren. Zum einen, war er irgendwie viel jünger und hatte echt was auf dem Kasten. Na ja, etwas anderes hätte ich auch nicht von einem Lehrer erwartet. Ich war 11, als er erstmals bei uns auftauchte und genau in diesem Moment, als ich zum ersten Mal die blauen Augen sah, begann ich meinen ersten, großen Fehler. Erst glaubte ich, dass diese starken Gefühle daher rührten, dass ich ihn so sehr bewunderte. A war groß, sportlich und im Ganzen wahnsinnig attraktiv. Er unterrichtete am städtischen Gymnasium und obwohl er recht jung war, bekam ich nicht nur einmal mit, wie er auf offener Straße von den Eltern seiner Schüler auf seine hervorragende Leistung als Mathematiklehrer angesprochen wurde. Ich besuchte die Realschule und konnte mir nur ausmalen wie toll er als Lehrer gewesen sein musste.

A war in der Tat auch der erste, der sich mit mir und nicht nur mit meiner Mutter befasste und für einen kleinen Zeitabschnitt, glaubte ich sogar endlich glücklich sein zu dürfen. Bei A fühlte ich mich sicher und wohl. Er machte mir sogar Geschenke und widmete mir immer mehr seiner Zeit. Sogar Fußball brachte er mir bei, nachdem er so besessen von dem Sport gewesen war. Tja, aber wie das in meinem Leben nun mal so ist, ging alles den Bach runter. Ich schaffte es, den wohl tollsten Kerl der Welt zu vertreiben. Willst du wissen wie? Na ja, ich war nicht in der Lage meine Gefühle angemessen einzuordnen und zu kontrollieren. Ich weiß, dass ich A wirklich liebte und nicht so wie ich es hätte tun sollen. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto deutlicher wurde es. Mein Körper reagierte auf seine einfachen Berührungen und selbst auf seine Blicke, die mir einfach alles bedeuteten. Irgendwie war es schön gesehen zu werden. Egal, ich versaute es, nachdem er mich dabei erwischte wie ich ihn unter der Dusche beobachtete und dabei...na ja...gewisse Dinge mit mir tat. Muss ziemlich verstören für ihn gewesen sein und so...verschwand er aus meinem und auch aus dem Leben meiner Mutter.

Du magst jetzt glauben, dass das doch nicht so schlimm sei, aber für mich war es das. Ich lernte mit 11 Jahren, dass meine Existenz nicht nur lästig für andere ist, sondern auch mit purem Ekel betrachtet wird, als wären die Hänseleien in der Schule nicht schon Bestätigung genug gewesen. Warum ich gehänselt wurde? Okay, damit hätte ich vielleicht anfangen sollen, aber wie du im Laufe dieses Textes feststellen wirst, bin ich das pure Chaos und so wirst du auch hier vergeblich nach sinnvollen Strukturen suchen. Zurück zu mir und meiner Abartigkeit. Zum einen sah ich schon immer „anders“ aus, als die anderen Jungs. Hilft es dir zu wissen, dass man mich bis zu meinem 18. Lebensjahr, für ein Mädchen halten konnte? Vermutlich nicht. Dann gehen wir doch mehr ins Detail. Ich bin immer ein bisschen kleiner gewesen, als die anderen Jungs und auch entsprechend schmaler. Hinzu kommt, dass ich blonde Haare habe und meiner Mutter 1:1 aus dem Gesicht geschnitten bin. Dass ich damals auch kein Geld hatte um zum Friseur zu gehen, war auch kontraproduktiv im Bezug auf das „männlichere“ Aussehen, denn so wuchsen die Haare natürlich. Wenn ich mich selbst im Spiegel angesehen habe, zweifelte ich manchmal wirklich an meinem Geschlecht. Ich erwägte den Gedanken, eventuell doch ein Mädchen zu sein. Ein sehr dünnes und mit einem Genitalbereich, der eben dem eines Typen ähnlicher war. Manchmal glaubte ich auch, dass meine Mutter mich vielleicht beachten würde, sähe ich nicht so aus, sondern ein bisschen mehr wie die Kerle die bei uns ein und aus gingen. Ein echt kranker Gedanke, aber als Kind denkt man da eben etwas anders.

In der Schule hatte ich also auch keine Freunde. Sowieso war ich ein Einzelgänger, da mir die anderen Kinder und deren Verhalten ein echtes Rätsel waren.

Kurz nachdem A aus meinem Leben verschwunden war, muss ich mich noch mehr zurückgezogen haben. Ich fühlte mich abartig und das spürten meine Mitschüler. Man nennt das „Opferaura“. Das Mobbing verstärkte sich und aus den Beschimpfungen wurde physische Gewalt. Ich erinnere mich noch heute daran, wie schmerzvoll es war die ersten Prügel zu kassieren und wie entwürdigend, den Kopf in die Toilette gesteckt zu bekommen. Bei letzterem ist es nicht nur das Gefühl fast zu ertrinken, sondern vor allem der eigene Stolz, der mit jeder Sekunde unter Wasser im Keim erstickt wird. Das erste Mal war wirklich mies, aber auch das fand seine Routine und nach etwa einer Woche hatte ich mich daran gewöhnt. Nach 5 Tagen hatten meine Mitschüler wohl auch ihre Kreativität ausgeschöpft, sodass ich auf jeden Schmerz gefasst war. Meinen letzten Rest Stolz schaltete ich aus und vergrub ihn ganz tief in mir drin.

Es erstaunte mich, wie anpassungsfähig mein Körper war und irgendwann war ich sogar in der Lage, den Kopf ganz abzuschalten, wenn mir körperliche Schmerzen zugefügt wurden. Ich war ganz einfach nicht mehr da, sondern fing an, mich in eine fiktive Welt zu flüchten. In eine Welt, die eigentlich die Erinnerung an diesen einen Tag mit A war, an welchem wir zusammen auf dem schäbigen Bolzplatz ein paar Tore geschossen haben. Wir hatten uns wirklich billige, belegte Brötchen mitgenommen und selbst das schmeckte an diesem einen Tag, wie ein teures Festmahl. Tag für Tag spielte ich diese Erinnerung durch und je älter ich wurde, desto mehr Details fügten sich hinzu. A alterte in meiner Erinnerung nicht, aber ich wurde erwachsener. Mit 16 war A nicht mehr nur der Freund meiner Mutter, sondern meiner. Zumindest in dieser Erinnerung. Ich wusste, dass es nicht echt war, aber es ließ mich allen Schmerz ein bisschen besser ertragen.

Ich sah also nicht nur wie ein Mädchen aus, sondern fühlte auch wie eines. Das war eine unschöne Erkenntnis und irgendwie ahnten das auch meine Mitschüler. Mein „Schwulsein“ wurde zur neuen Zielscheibe und im Abschlussjahr der Realschule, gerade als ich schon glaubte das Ende dieser schrecklichen Zeit zu sehen, hatte mein langjähriger Klassenkamerad Kevin eine Idee. Der Typ war eigentlich nicht sonderlich kreativ, aber da bewies er sich wirklich. Er war schon immer an vorderster Front gewesen, wenn es darum ging, mich rund zu machen, daher überraschte es mich eigentlich auch nicht, dass der Einfall von ihm kam.

Ursprünglich hatte ich nicht vorgehabt den Abschlussball zu besuchen, zwecks mangelnder Begleitung, da Mädchen mich sowieso mieden. Leider bin ich doch hingegangen, vermutlich weil ich die Hoffnung hatte, wenigstens an diesem einen Abend etwas Spaß zu haben und tatsächlich unterhielt ich mich erstmals mit einem Mädchen aus der Parallelklasse, dass aufgrund des eigenen Äußeren wohl ähnliche Qualen erlebt hatte, wie ich. Ich weiß noch, dass ich es sehr schade fand, erst zum Schluss mit einer Mitschülerin zu interagieren.

Während ich also damit beschäftigt war, mir ihre Geschichte anzuhören und auf welche Arten Mädchen ihre Zeitgenossinnen folterten, bereitete Kevin seinen Masterstreich vor. Gemeinsam mit zwei anderen Jungs aus meiner Klasse, beobachtete er mich. Das war mir natürlich aufgefallen, aber ich rechnete maximal mit einer letzten Tracht Prügel. Dem war nicht so.

Kevin und seine Lakaien, folgten mir zur Toilette und dort ging es los. Mittels ein paar gewohnten Faustschlägen, brachte man mich zu Boden und ich war gerade dabei mein Bewusstsein auszuschalten und mich der gewohnten Aktionen hinzugeben, als etwas passierte, dass mich unmittelbar wieder zurück holte. Man riss mir die Kleidung vom Körper und obwohl ich mich heftig wehrte, hatte ich keine Chance. Eine solche Panik hatte ich lange nicht mehr. Letztendlich kramte Kevin ein rosa Ballkleid aus dem Rucksack heraus, welches wohl seiner jüngeren Schwester gehörte, zog es mir über und dann schlug man mich bewusstlos. Ich weiß nicht, wie lange ich weg gewesen war, aber als ich wieder auf dem kalten, nach Urin riechenden Boden, zu mir kam, mich unter Schmerzen aufraffte und in den Spiegel schaute, sah ich, dass man mir mit bunter Farbe ein echt fieses Make-up ins Gesicht gemalt hatte. Ich versuchte es abzuwaschen, was natürlich nicht möglich war, da Edding sowieso gerade voll im Trend war und genauso effektiv auf den Türen der Toiletten, wie auch auf der Haut haften blieb. Danach suchte ich nach meiner eigenen Kleidung, oder dem was davon noch übrig geblieben war und fand nichts mehr vor. Da stand ich also, schlecht geschminkt und in einem rosa Ballkleid. Ich weiß, dass ich geheult habe und deshalb noch wütender auf mich selbst wurde. Da fing ich auch zum ersten Mal an, mich selbst wahrhaftig und aus tiefster Seele zu hassen. Ich wusste ja schon, dass ich nichts wert war, aber das tötete den letzten Rest meiner Selbstachtung und so schlug ich meinen schon schmerzen Kopf immer wieder gegen die kalte Fliesenwand, bis ein paar Bluttropfen auf den dreckigen, schimmligen Boden fielen. Ich wischte mir übers Gesicht und durch das Blut konnte man wenigstens nicht mehr so viel von dem Edding in meinem Gesicht erkennen. Es befleckte auch das rosafarbene Kleid, sodass ich über mich lachen musste. Ich sah aus wie die Hauptperson aus dem Film „Carrie“. Ich drehte durch und dabei war das noch nicht das Ende von Kevins grandiosem Plan gewesen.

Irgendwie musste ich ja das Schulgebäude verlassen und auch dafür hatte sich Kevin etwas wirklich Tolles überlegt. Während ich mich also aus der Toilette schleichen wollte, musste ich feststellen, dass nicht nur mein geliehener Anzug, sondern auch meine Hausschlüssel und mein Handy verschwunden waren. Ohne diese Dinge, würde ich in dem Aufzug bleiben müssen, da meine Mutter garantiert nicht aufgemacht hätte. Um da ran zu kommen, musste ich also zurück in die Sporthalle, wo die Festivitäten stattfanden. Heute hätte ich Kevin vermutlich applaudiert, denn hätte er für seine schulischen Noten genauso viel Aufwand geleistet, wie hierfür, hätte er die Schule wohl als Jahrgangsbester verlassen. Ich befand mich in einer Zwickmühle. Entweder in dem Aufzug zurück zu den anderen gehen, oder das Schulgebäude so verlassen und bis morgen so vor der Wohnung warten.

Na? Wofür hättest du dich entschieden?

Ich nahm den letzteren Weg und verließ in diesem Aufzug das Schulgebäude. Allerdings hatte ich nicht vor nachhause zu gehen. Mein Kopf hatte ganz schön was abbekommen, womit ich mich heute nur noch schwach an den Weg bis zur alten Brücke erinnern kann. Die Brücke war eigentlich ein recht hübscher Platz gewesen, an welchem sich immer viele Jugendliche trafen um gemeinsam abzuhängen, aber an diesem Abend, hatte die „Jugend“ wohl einen anderen Ort zum chillen gefunden. Vermutlich hätte auch die Anwesenheit anderer nichts daran geändert, dass ich über das Geländer stieg und nach unten zu dem dunklem Fluss blickte, der sich mit lautem Rauschen bemerkbar machte.

Es ist seltsam, dass ich zuvor nicht daran gedacht hatte, aber in diesem einen Moment wurde es mir erstmals klar. Ich bin nichts weiter als Platzverschwendung. Mir wurde auch klar, dass ich keine Zukunft haben würde. Es würde sich nichts ändern und in meinem Leben gibt es auch nichts, für dass es sich zu kämpfen lohnt.

Ich weiß, dass ich mich nicht selbst bemitleidete, ich war auch nicht traurig, sondern wütend. Ich hasste mich selbst und mein Leben so abgrundtief, dass ich ohne Bedauern die Augen schloss und mich die knapp 20 Meter ins reißende Wasser fallen ließ.

Das war nicht mein Ende, ansonsten könnte ich ja nicht diese Zeilen verfassen. Logisch, oder?

Ich habe mal gehört, dass einem Selbstmörder zum Zeitpunkt des Todes, nochmal alle positiven Dinge im Leben vom eigenen Gehirn vorgespielt werden. Das ist Quatsch. Man hat Angst und obwohl man sich bewusst dafür entschieden hat, wird einem erst dann wirklich klar, was man tut. Todesangst und die fühlt sich grausam an und viel schlimmer als alles, was mir zuvor widerfahren ist, denn letztendlich handelt mein Körper instinktiv und auch bei einem Menschen mit starken, endgültigen Suizidgedanken, ist dieser Schutzmechanismus noch vorhanden. Leider kommt der erst raus, wenn es zumeist schon zu spät ist.

Vielleicht hatte ich Glück, vielleicht wollte mein Körper aber auch überleben und übernahm selbst den Kraftakt, gegen die Strömung anzukämpfen und den Kopf über Wasser zu halten. Ich nahm das nicht mehr bewusst war, denn dann ging es nur noch darum zu überleben.

An diesen Moment, erinnere ich mich nur wage, was ich aber beteuern kann ist, dass Wasser in der Lunge schmerzhaft ist und obwohl man kaum noch bewusst denkt, ist da auch diese Urangst vor dem Unbekannten unter der Wasseroberfläche.

Und dann fühlte ich mich plötzlich gut. Ich bekam einen dickeren Ast zu greifen, der von einem alten Baum, ins Wasser ragte und zog mich daran wieder an Land.

Hustend und nach Luft ringend, drehte ich mich auf den Rücken und starrte einfach nur in den Sternenhimmel über mir. Wie wahnsinnig gut sich die warme, trockene Luft plötzlich anfühlte, kann ich bis heute nicht beschreiben. Es war, als würde sie mich regelrecht umarmen. Ich weiß nicht, wie sich die Umarmung eines Menschen anfühlt, aber ich fühlte mich gehalten. Gehalten von dem warmen Sommerwind und für diesen Moment, war es auch egal, wie ich aussah, wer ich war und was ich getan hatte. Ich war einfach nur da und...atmete. Bis die Müdigkeit einsetzte und ich einschlief. Ich träumte nicht, oder konnte mich ganz einfach nicht daran erinnern. Es kam mir so vor, als hätte ich zum ersten Mal echte Ruhe gefunden.

Klingt so, als hätte ich wenigstens diese Lektion gelernt, oder? Nein. Ich bin einfach nicht der Typ, der dazulernt, aber das Thema „von der Brücke springen“, war danach wenigstens vom Tisch.

Nichts desto trotz kam natürlich der nächste Tag und ich wurde von einer schleimigen, weichen Zunge aufgeweckt, die mir einmal quer übers Gesicht leckte.

Ein älterer Herr, der seinen Hund am frühen Morgen ausführte, hatte mich gefunden und sofort die Polizei und einen Krankenwagen gerufen. Ich wehrte mich nicht dagegen, auch wenn ich die seltsamen Blicke der Polizisten und des Notarztes kaum ertrug. Na ja, wer würde sich nicht über einen 16-jährigen Kerl wundernd, der in einem rosa Ballkleid und blutüberströmt am Flussufer liegt?

Man brachte mich ins Krankenhaus, wo man sich doch tatsächlich um mich kümmerte. Zumindest, bis es darum ging, die Krankenkassenkarte vorzuzeigen, die natürlich mit meinem Handy, dem Hausschlüssel und dem Geldbeutel verschollen waren. Da ich minderjährig war, wollten sie meine Mutter kontaktieren, doch ich gab an alleine zu wohnen. Dann kam die Polizei hinzu und auch eine nette Dame vom Jugendamt. Es wurde immer schlimmer und ich wusste, dass sie meine Mutter ausfindig machen würden, also nutzte ich einen Moment der Ruhe um schnell abzuhauen. Glücklicherweise, hatte man mir ein paar Kleidungsstücke dagelassen, die nicht das rosa Ballkleid waren.

Ich war zwei Tage weg gewesen und als ich zuhause ankam, fragte meine Mutter nicht einmal wo ich gesteckt hatte. Sie hatte am Esstisch gesessen und mich nur kurz mit einem missbilligenden Blick gemustert, ehe sie sich wieder der Frauenzeitschrift widmete. Scheinbar waren die Diättips wichtiger als ich. In dem Moment, erinnerte ich mich daran, dass ich trotz des schönen Gefühls, überlebt zu haben, keinen Platz auf dieser Welt hatte und obwohl so viel passiert war, änderte es nichts daran, dass ich nichts weiter war als eine lächerliche Person, die anderen die Ressourcen wegnahm.

Traurig, oder? Damals war ich auch traurig, aber gleichzeitig fühlte es sich auch gut an, endlich aufzuhören, immer wieder zu hoffen, dass es sich jemals bessern würde.

Ich wurde depressiv und verlor den Appetit, der zuvor auch nicht wirklich vorhanden war. Vielleicht wollte ich unterbewusst verschwinden und mich einfach in Luft auslösen und tatsächlich schaffte ich es fast.

Mit 17 Jahren schaffte ich es meinen Körper so auszumergeln, dass es selbst meiner Mutter auffiel. Vielleicht nervte es sie auch einfach nur, dass ich das Haus nicht mehr verlassen konnte und sie damit bei ihren gängigen Aktivitäten störte.

Ich weiß noch, dass ich im Bett lag und lächelte. Ich wusste wohl, dass mein Körper ziemlich am Ende war und dass ich wirklich bald verschwinden würde. Es fühlte sich zwar nicht gut an, nein, es tat höllisch weh, aber ich musste daran denken, wie viel leichter es meine Mutter haben würde. Nie wieder der Störfaktor Maxim.

Oh! Da fällt mir ein, dass mein Name bisher noch nicht gefallen ist. Na, jetzt kennst du ihn. Mein Name ist Maxim Viljo Ivanovic. Ein lustiger Name, oder? Zumeist nannte man mich einfach nur Maxi und mit „man“ meine ich meine Mutter. Alle anderen gaben mir andere Namen, aber das muss hier wohl nicht nochmal breitgetreten werden.

Wo war ich? Ach ja! Ich starb an Unterernährung und es fiel meiner Mutter sogar auf. Sie war nicht bestürzt oder so und vielleicht hätte sie auch noch länger mit ihrer Kippe im Mund im Türrahmen zu meinem Zimmer gestanden und mich beobachtet, wüssten die Nachbarn nicht von meiner Existenz und könnten sie wegen Vernachlässigung belangen.

Sie rief keinen Krankenwagen, sondern einen ehemaligen Lover von sich an, der sich als Psychotherapeut entpuppte und mich anonym in die örtliche Anstalt brachte. Dort debattierte man schon über meinen Zustand, denn ein Aufenthalt im Krankenhaus mit Zwangsernährung war wohl sinnvoller, als mich gleich zu therapieren und so landete ich nur ein paar Monate nach meinem ersten Suizidversuch wieder im Krankenhaus und wurde parenteral zwangsernährt, was bedeutet, dass man mir die Nährstoffe intravenös zuführte, aus Angst vor Nierenversagen und weiteren Symptomen bei weiterer Nahrungsverweigerung.

Dass die nachfolgende Anfangszeit des Klinikaufenthalts kein Zuckerschlecken war, kannst du dir sicher denken. Vielleicht hast du den einen oder anderen Film darüber gesehen oder was darüber gelesen, daher erspare ich dir diesen Ausflug in die Verdammnis.

Wichtig wäre vielleicht zu erwähnen, dass meine Mutter daraufhin vom Jugendamt unter die Lupe genommen wurde und das ließ sie mich spüren, mittels absolutem Kontaktabbruch. Ich landete in einer Einrichtung für suchtkranke Menschen und da verbrachte ich die meiste Zeit damit, mir das ständige Geheule der Mädels anzuhören, die ach so eifersüchtig auf meine schlanke Statur waren. Gut, ich war zu dem Zeitpunkt nicht schlank, sondern extrem dünn. Um einem Refeed-Syndrom vorzubeugen, lernte ich ganz langsam wieder das regelmäßige Essen, auch wenn es mir oft zuwider war. Ich hatte keinen wirklichen Überlebenswillen, sondern ließ mich einfach nur mitziehen. Man besuchte also Gruppentherapien und hatte auch Einzelgespräche mit der Psychotherapeutin. Dort sprach ich erstmals über mein Leben und auch über meinen Suizidversuch, welcher mächtig durchleuchtet wurde, wobei ich natürlich die Tatsache ausließ, dass ich in einem lächerlichen, rosa Kleid gesteckt hatte.

Als einziger Junge unter dutzend anorexischer Damen, kam ich mir noch bescheuerter und lächerlicher vor, wobei es hier erstmals ein Vorteil war, so feminin auszusehen. Ich fiel nicht wirklich auf, da die meisten Mädels dort eine genauso flache Brust hatten, zwecks Unterernährung.

Irgendwann kam der Moment, als beschlossen wurde, dass ich mich ganz gut anstellte, anständig aß und sogar wieder zu einem Gewicht zurückfand, welches für meine knappen 1,72m ganz in Ordnung war. Man ließ mich also auch mal auf den Hof und zu den Junkies, die dort ihren Entzug machten und versuchten sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Dort lernte ich Fehler Nummer 2 kennen und da ich auch seine Anonymität wahren möchte, nenne ich ihn ganz freundlich „2“. Ich begegnete 2 zum allerersten Mal auf dem Hinterhof, wo man sich die traurige Freizeit mit diversen, sportlichen Aktivitäten vertreiben konnte. Er spielte gerade Volleyball mit ein paar echt gruseligen Gestalten und fiel mir natürlich sofort auf. Ich glaubte erst, dass er einer der Betreuer sei, da er so gesund und bodenständig wirkte, wie sonst keiner dieser ehemaligen oder noch Drogenabhängigen. 2 war ein echter Hingucker und das fiel auch den Mädels auf, mit denen ich so eine Art Freundschaft aufgebaut hatte. Natürlich entging ihm das auch nicht, was man daran erkannte, dass er immer wieder in unsere Richtung sah und lächelte, während wir ihm beim Spiel zusahen. Ein wahnsinnig schönes Lächeln, welches nur noch von der hübschen, gebräunten Haut und den dunkelbraunen, perfekt gestylten Haaren, sowie den grünen Augen übertroffen werden konnte. Außerdem war 2 natürlich in Topform, ein ganzes Stück größer als ich und wie ich nach dem Spiel erfuhr, 21 Jahre alt. Er strahlte dieses unendliche Selbstbewusstsein aus, in welches ich mich natürlich sofort verknallte. Gut, eventuell waren es auch die schlanken, langen Beine in den schwarzen Shorts oder die definierten Oberarme unter dem Shirt, in die ich mich verliebte. Jedenfalls kamen wir alle ins Gespräch, wobei ich mich zurückhielt, da er sich ganz angeregt mit Ally unterhielt. Der 18-jährigen Blondine, von der ich wusste, dass sie Essen unter ihrem Bett hortete aus...Gründen.

Eigentlich hatte ich jeden weiteren Kontakt zu 2 schon abgeschrieben, doch an einem Nachmittag – es muss 2 Tage später gewesen sein – war ich gerade dabei mir in dem kleinen Café einen Snack zu holen, als er hinter mir auftauchte und mich begrüßte. Er fragte mich nach meinem Namen und ich fühlte mich ein wenig überrumpelt. Schlimmer wurde es dann, als er meine beiden Schokoriegel bezahlte und der Dame hinter dem Tresen so verführerisch zuzwinkerte, dass selbst ihr grimmiger Dauergesichtsausdruck einem Lächeln mit geröteten Wangen wich. Ja, 2 wusste wie er auf andere wirkte und mir war zu dem Zeitpunkt auch noch nicht klar, das genau das zu einem Problem werden würde. Er bestand darauf, die freie Stunde bis zu seiner Gruppentherapie mit mir zu verbringen.

Mensch, war ich vielleicht nervös. Da war dieser wahnsinnig tolle Kerl, der einfach alles über mich wissen wollte. Er interessierte sich für mich und damit festigte sich die Erinnerung an die alte Mauer, auf der wir gesessen hatten und uns einen Schokoriegel teilten, während wir uns kennenlernten, als eine der schönsten in meinem Leben. 2 schien das zu heilen, was A damals hinterlassen hatte. Ich erfuhr von 2, dass er aus einem eigentlich sehr stabilen Haushalt stammte, aber einfach in die falschen Kreise geraten war. 2 war koksabhängig und hatte sich auch mit anderen aufputschenden Mittelchen das Leben versüßt. Zuletzt wurde er wegen einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert und beschloss dann an einem Entzugsprogramm teilzunehmen. Wie er so erzählte, ging es ihm gut und der Grund weshalb er die Drogen nahm, war ganz einfach die Langweile und der Wunsch dazuzugehören.

2 und ich verbrachten fast jeden Tag zusammen und obwohl er oft anzügliche Bemerkungen über die Mädels aus meinem Bereich machte, hatte ich das Gefühl, dass er mich dennoch besonders mochte. Als hätte ich nicht aus der Sache mit A gelernt, verliebte ich mich Hals über Kopf in den hübschen Kerl, der mir zu meinem 18 Geburtstag das wohl schönste Geschenk machte, das ich mir hätte vorstellen können.

Ich hatte meinen Geburtstag nur am Rande erwähnt, da ich diesen nie gefeiert habe und ich vermutlich nur traurig gewesen wäre, zu wissen, dass es eh niemanden interessiert. Tja, und dann kam der Tag, den ich so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Ich stand morgens auf und bewegte mich wie gewohnt nach unten zum Frühstück. Es war nichts besonderes. Paula, ein junges Mädchen von 17 Jahren, bekam einen Heulkrampf bei dem Anblick von Weißbrot auf ihrem Teller und eine andere zählte verbotener Weise die Kalorien ihres gesamten Tellerinhaltes auf, während das die restlichen Mädels am Tisch nur triggerte. Ich war dann der Einzige, der sich die Ration einverleibte. Ich und Lara, die zwar bei uns Dürren stationiert war, aber unter der Binge-eating-Störung litt und damit sowieso nichts gegen Frühstück hatte.

Nach der üblich chaotischen Gruppentherapie, sollten wir mal wieder spontan auf die Wage steigen. Es ging mir gut, auch wenn ich nach wie vor recht schlank war, längst aber nicht mehr lebensbedrohlich dünn. Meine Therapeutin lobte mich dafür, wollte aber aufgrund meiner suizidalen Vorgeschichte noch ein bisschen mit mir zusammen arbeiten. Das machte mir nichts aus, da ich sowieso keine Bleibe hatte, würde ich diesen Ort verlassen müssen. Außerdem gab es da ja noch 2, der mir so ein gutes Gefühl gab, dass ich es mir sogar erlaubte zu lächeln.

Ich traf ihn wie üblich im Café und als ich ihn dort auf dem alten, weißen Plastikstuhl sitzen sah, breit grinsend und mit einem echten Leuchten in den Augen, hätte ich am liebsten angefangen zu heulen. Er stand auf und hielt wohl etwas hinter dem Rücken. Er gratulierte mir zur Volljährigkeit und ich wunderte mich schon, dass er sich überhaupt daran erinnern konnte. Dann erzählte er mir von einem peinlichen Geschenk. Ich war mir nicht sicher, wie ich hätte reagieren sollen und dann zauberte er einfach ein kleines, schwarzes Holzkistchen hinter dem Rücken hervor. Ich musste lachen, kam mir vor wie ein echt verknalltes Mädel und als ich das Kästchen öffnete, war da ein weiß-glänzender Anhänger an einer langen Kette in den man mit größer Sorgfalt den Buchstaben M eingeritzt hatte. 2 erzählte mir mit tatsächlich etwas geröteten Wangen, dass er sich jetzt noch blöder vorkam, mir aber unbedingt ein kleines und vor allem persönliches Geschenk machen wollte, also arbeitete er die letzten beiden Wochen an diesem Ding während der Ergotherapie. Es ist ein flacher, runder, weißlicher Stein, den ich noch heute um den Hals trage, einfach weil er mich daran erinnert, wie glücklich ich damals gewesen war. Zugleich verbinde ich auch diesen mit einer mindestens genauso tragischen Geschichte.

Genau wie zuvor auch schon bei A, deutete ich diese Geste vollkommen falsch. Ich muss zwischen all den Gefühlen vergessen haben, wer oder was ich eigentlich bin. Nichts weiter als menschlicher Abschaum.

Es dauerte weitere 2 Wochen, in welchen ich es kaum in 2's Nähe aushielt, weil es einfach zu schön war um wahr zu sein. Ich genoss es dennoch, wenn er mich in den Arm nahm und ließ mich gänzlich auf das ein, was dieser wundervolle Typ mit mir machte. Tja, und dann verlor ich erneut die Beherrschung. Wir hatten gerade ein echt intensives und auch spaßiges Volleyballspiel beendet, als er mir mit seinem wahnsinnig hübschen Lächeln im Gesicht, durchs Haar fuhr und sich für meinen Einsatz bedanke. Ich muss seine hübschen Lippen zu lange angestarrt haben, sodass ich mich dazu hatte verleiten lassen, ihn einfach zu küssen. Seine darauffolgende Reaktion war absehbar und machte mir schlagartig bewusst, dass ich in all die Gesten erneut viel zu viel hineininterpretiert hatte. Mein so abgöttisch geliebter 2, wurde plötzlich so unglaublich aggressiv, dass ich keine Chance hatte, rechtzeitig abzuhauen. Wie sehr er mich so plötzlich hasste, ließ er mich mit verdammt kräftigen Faustschlägen spüren. Ich merke auch da, dass ich in all der Zeit, in welcher ich nicht täglich vermöbelt worden war, ganz schön weich geworden bin. Es tat unfassbar weh. Nicht nur physisch.

Ein paar Pfleger beendeten das dann schließlich und brachten ihn weg.

Von der Auseinandersetzung erfuhr natürlich auch meine Therapeutin und da mein ach so geliebter 2 nach wie vor wusste, wie er die Leute um seinen Finger wickeln konnte, wurde ich zum Schuldigen und damit als „uneinsichtig“ und damit „untherapierbar“ erklärt. Scheinbar hätte ich seinen wunden Punkt gekannt und alles darauf angelegt und weil ich nun mal ich bin, wehrte ich mich nicht gegen die Anschuldigungen. Ich sah die Strafe ein und verließ die Einrichtung, ignorierte diversen Papierkram und na ja, dann landete ich ohne Bleibe und Job natürlich auf der Straße. Ich war Volljährig, also musste sich auch niemand mehr um mich kümmern.

Ich stand vor der Wohnungstür meiner Mutter, spielte mit dem Gedanken, mich für all die Umstände zu entschuldigen und vielleicht nochmal von vorn anzufangen, doch dann erinnerte ich mich wieder einmal daran wer und vor allem was ich war.

Na ja, so ist das eben. Ich weiß, dass man mich nicht lieben kann, wieso sollte das also gerade meine Mutter tun, die meinetwegen so viel Mist durchmachen durfte und für die ich sowieso nur ein Störfaktor gewesen war.

Kannst du mir noch folgen, oder langweile ich dich schon? Falls letzteres der Fall sein sollte, entschuldige ich mich natürlich für all die klischeehaften Ereignisse in meinem Leben und falls nicht, freue ich mich natürlich, wenn du weiter dran bleibst und dir meine Geschichte anhörst.

Fahren wir also fort. Ich war also 18 Jahre alt, obdachlos, ohne Job und sah noch immer nicht wirklich wie ein echter Kerl aus. Wo landet jemand wie ich also? Richtig! Im Rotlichtviertel, wobei das „Viertel“ hier eher eine Straßenseite ist und nicht sonderlich viele Besucher hat, außer die Junggesellenabschiede und ein paar echt traurige Freier.

Vielleicht sollte ich kurz erzählen, wie ich dort gelandet bin.

Im Prinzip bettelte ich mir die täglichen Essrationen vor einem Supermarkt zusammen, bis ein riesiger Typ mit schwarzen, langen, zusammengebundenen Haaren, voll tätowierter Haut und dicken Muskeln vor mir stand und mich fragte, ob ich mir etwas Kleingeld dazuverdienen wollen würde. Ich bin nicht vom Mond und raffte natürlich, dass der Kerl den Schlagring nicht nur zur Dekoration trug, sondern um seine Mädels gefügiger zu machen. Dennoch sah ich es als einzige Chance an, nicht mehr in diesem widerlichem Obdachlosenheim unterzukommen. Ich glaubte, dass ich diese Möglichkeit als Sprungbrett hätte nutzen können um eventuell doch etwas selbstständiger zu werden, also folgte ich dem Kerl zu der Straße. Nennen wir sie die L-Straße und da der Kerl im realen Leben auch darauf stand, erkannt zu werden und zudem stolz auf sich und seine Arbeit war, kann ich ihn getrost bei seinem echten Namen nennen. Keno. So, ich folgte Keno also in die L-Straße und dort brachte er mich in eine Art Bar/Club/Massagesalon/Sexshop/Bordell. Ich kannte diesen Ort bis dato nur von außen und hielt das für eine einfache Stripbar, wo ein paar traurige Typen den vollbusigen, osteuropäischen Damen ein paar gekaufte „Dollars“ zustecken können um sich dann an einem Lapdance zu erfreuen. Tatsächlich war die Bar mit dem Namen „AbnoAmo“ (voll ausgesprochen: Abnormis Amour), eine Freakshow, wobei wohl jeder Fetisch irgendwie abgedeckt werden konnte. Da gab es die dicke Marie, genannt „Fat Mary“,die sich vor den Augen ihrer Kundschaft gerne Bürger einverleibte, die Domina Katy Loveless (alles Künstlernamen, also keine Sorge), Lang Mao, die oder der als Junge in Thailand geboren wurde und sich zu dem auch sehr femininen Aussehen, lediglich die Brüste hat anpassen lassen und jetzt als Ladyboy seine Gäste beglückt. Dann gibt es noch die kleinwüchsige Anastasia und nicht zu vergessen den einzigartigen Sunny. Oh ja, Sunny zog natürlich sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Über ihn möchte ich dir auch direkt mehr erzählen, denn er war nicht etwa Nummer 3 auf meiner Liste der großen Fehler, sondern viel eher eine Figur, die eine andere, wenn auch genauso gravierende Rolle in meinem Leben spielte. Sunny stand kurz für „Sunshine“ und das natürlich nicht grundlos. Wenn man Sunny ansah, dann steckte seine positive Art tatsächlich an, auch wenn er mit Abstand der Verrückteste dieser Truppe war.

Ich kam also in diese Bar und das am helllichten Tag, somit waren nur wenige Kunden da und erfreuten sich an der Vielfalt in diesem Laden, als ein ebenfalls blonder Kerl mit zerzaustem Haar und lediglich in einem kunterbunten Kimono bekleidet hinter einem der roten Vorhänge im hinteren Bereich des Gebäudes hervortrat. Er war wirklich unfassbar hübsch und trotz der ebenfalls eher schlanken Statur und den auch etwas weicheren Gesichtszügen, wirkte er nicht so weibisch wie ich. Er war auch älter als ich, zum damaligen Zeitpunkt schon 28. Mir fielen auch bei ihm direkt die Tätowierungen an Hals und Armen, sowie Händen auf. Alle sehr asiatisch angehaucht und fast im Übergang zu dem bunten Seidenmantel, der den hübschen Körper umhüllte. So wie Keno den so viel schmächtigeren Typen begrüßte, war schnell klar, dass die beiden eine ganz besondere Beziehung zueinander hatten. Es war ein flüchtiger Klaps auf den Hintern des kleineren und dessen Antwort in Form eines Kusses und als der Blonde dann zu mir blickte und grinste, schreckte ich richtig zurück. Was man Sunny auf den ersten Blick nicht ansieht ist, dass er auf Extreme steht. In seinem Fall ist es extreme Bodymodification in Form von angespitzten Zähnen und sogar einer gespaltenen Zunge. Auch die Augen wirkten irgendwie anders und bei genauerem Betrachten fiel mir dann auf, dass sie ungewöhnlich hell waren, fast weiß und ein bisschen trüb. Dazu schmückte das auf den ersten Blick so makellose Gesicht, eine längliche Narbe, welche sich Diagonal darüber zog und bei richtigem Lichteinfall erkannte man auch, dass sie sich am Hals fortsetzte und erst an der Schulter endete. Es schockierte mich, dass der Typ erst so wahnsinnig hübsch wirkte und dann plötzlich wie eine Gestalt aus einem Fantasieroman.

Sunny stellte sich mir vor und dann steckte mich erstmals seine sanfte Stimme und das Lächeln an. Man vergisst schnell die Narben und all die anderen Absurditäten, sobald er spricht. Ich konnte den Akzent erst nicht einordnen, aber nachdem Sunny mich unter seine Fittiche genommen hatte, erfuhr ich sehr schnell, dass er, wie meine Mutter, ursprünglich aus Serbien stammte. Das machte mich sehr glücklich, wobei er oft darauf herum ritt, dass ich kaum serbisch sprechen konnte, trotz meiner Wurzeln.

Sunnys Job war tatsächlich der eines Strippers und seine Klienten waren überraschend anständige Typen mit hohen Positionen wie CEO einer großen Firma. Sogar ein recht bekannter Politiker verirrte sich ab und an in Sunnys Gesellschaft, was mich absolut überraschte, da genau dieser in der Öffentlichkeit eine sehr konservative Meinung vertrat und sogar gegen die Rechte Homosexueller wetterte. Dazu darf ich natürlich nicht mehr Information preisgeben, denn wie ich damals schon von Sunny lernte, ist die Anonymität der Kundschaft zu wahren, oberste Priorität. Außerdem brachte er mir bei, wie ich mein „anderes“ Aussehen erfolgreich nutzen konnte, um den Herren der Schöpfung das Geld regelrecht aus der Tasche zu ziehen. Mein junges Aussehen entpuppte sich als ein passender Zusatz in dieser Freakshow und so machte man mich hier zu dem „Twink“.

Sollte der Begriff nicht bekannt sein, darfst du ihn gerne googlen.

Nun aber mal weiter im Text.

Ich war also im AbnoAmo gelandet und in der Ausbildung bei Sunny, um perversen Typen das Geld abzuknöpfen. Dabei kam mir meine Fähigkeit aus der Schulzeit zu Nutze. Während ich eine Show darbot und dafür bezahlt wurde, schaltete ich ab. Ich funktionierte, aber nicht mehr bewusst und dank der ständigen Beaufsichtigung durch Keno, kam mir auch keiner dieser verschwitzten Typen zu nahe.

Ich verdiente mein eigenes Geld und konnte schon nach 2 Monaten aus Sunnys Wohnung, über dem AbnoAmo aus und in meine eigenen 4 Wände einziehen. Meine erste Wohnung war winzig, aber dort hatte ich alles was ich brauchte. Nicht nur das. Ich freundete mich außerdem mit Sunny an. Sunny wurde so etwas wie mein großer Bruder und ich liebte es auch von ihm in den Arm genommen zu werden. Er passte auf mich auf, sorgte dafür, dass ich regelmäßig aß und hörte sich meine Geschichte an. Er verstand mich und nach einer kurzen Weile, erfuhr ich auch etwas mehr über ihn. Keno hat Sunny ebenfalls von der Straße geholt und nach kürzester Zeit, merkten beide, dass sie sich ziemlich gern hatten. Mir war schon klar, dass diese Spannung zwischen den beiden nicht freundschaftlicher Natur ist, aber damit bekam ich den Verdacht bestätigt. Sunny erzählte mir auch, dass Keno trotz seines Jobs und seines eher angsteinflößenden Äußeren, ein echt netter Kerl sei. Für mich war das schwer zu glauben, da ich oft zusehen musste, wie er einen übergriffigen Gast ziemlich gewalttätig aus dem Club schleppte. Was aber stimmte war, dass er niemals gewalttätig uns gegenüber war. Ich erfuhr auch, dass Sunny Serbien verlassen musste, weil sein eigener Vater ihn wohl sonst umgebracht hätte. Sunnys „Schwulsein“ wurde in seiner Familie als absolute Sünde betrachtet und das ließ sein Vater ihn auch nicht mehr vergessen, als er den eigenen Sohn mit einem Messer angriff. Daher stammte auch die lange Narbe. Durch Sunny lernte ich, dass selbst jemand der so gelitten haben muss und irgendwann kaputt gegangen ist, geliebt werden kann. In seinem Fall von Keno und je mehr ich die beiden beobachtete, desto mehr Hoffnung baute sich in mir auf, vielleicht auch eines Tages einen Typen zu finden, der mich so bedingungslos liebt, wie Keno das mit Sunny tat.

Happy End? Keines Weges, denn nach einem Jahr im AbnoAmo und innerhalb meiner neuen „Familie“ in der ich mich trotz des Jobs so wohl fühlte, passierte etwas, womit ich so nicht gerechnet hatte.

Tagsüber übernahm ich auch mal die Bar und an diesem einen Abend im Sommer, tauchte jemand auf, den ich zu allerletzt an einem Ort wie diesen erwartet hätte.

Ich unterhielt mich gerade mit Marie, als die Tür aufging und sich sogar Lang Mao in Bewegung setzte um den neuen Gast zu empfangen, was für die eher faule Person echt unüblich war.

Neugierig sah ich also zu dem besonderen Gast und dann verschluckte ich mich vor Schreck fast an meiner eigenen Spucke.

Völlig perplex blickte ich in die eisblauen Augen von einem doch etwas gealterten A. Mein Herz setze wohl für einen Moment aus und da kamen so gar keine Worte aus meinem Mund. A hatte meinen Namen gesagt und nochmal nachgefragt ob das auch wirklich ich sei. Ich bestätigte das mit einem leichten Nicken und dann schüttelte er den Kopf und verließ fluchtartig die Räumlichkeiten. Natürlich wurde ich anschließend von den anderen ausgequetscht, wer denn dieser bildhübsche Mann gewesen sei und woher ich ihn kenne, was ich natürlich nicht wahrheitsgemäß beantworten konnte und wollte.

Die nachfolgenden Tage fühlte ich mich so schlecht wie noch nie zuvor. Ich fing wieder an mich zu erinnern. Woran wohl? Na daran, was ich bin. Abschaum und vor allem jemand, den niemals jemand lieben könnte.

Das geht schnell, musst du wissen, vor allem dadurch, dass mein Job so „unkonventionell“ war und ich letztendlich nur ein Objekt für andere war.

Vielleicht hätte ich so irgendwie weitermachen können, aber dann, etwa 3 Wochen nach der kurzen Begegnung mit A, kam es zu einer wirklich üblen Auseinandersetzung zwischen Keno und ein paar Typen, die den Club für sich beanspruchen wollten. Ich wusste, dass Keno sich trotz der ständigen Drohungen immer geweigert hatte Schutzgeld an die hiesige Untergrundorganisation zu zahlen und sich auch so keiner Gruppierung anschließen wollte. Das bekam er in dieser Nacht zu spüren, wobei ich hoffe, dass er nicht lange leiden musste. Es brauchte sechs kräftige Typen und eine 9Militmeter um Keno in die Knie zu zwingen. Die Polizei war wie immer zu spät an Ort und Stelle und letztendlich konnte man sehen, dass sie sich auch nicht besonders um die Aufklärung dieses Falles bemühten. Keno war ja nur ein „Zuhälter“ und dann auch noch einer eines solch abartigen Milieus. Sunny veränderte sich danach und ich konnte richtig sehen, wie schlecht es ihm tatsächlich ging. Ohne Keno musste der Laden geschlossen werden, denn leider hatte er seine Betriebsgeheimnisse gut geheim gehalten und es war keinem von uns möglich den Laden weiter zu führen.

Es war an dem Abend, als wir noch die letzten Dinge aus dem Laden schleppten, als Sunny mich zu sich winkte und mich ganz fest drückte. Ich hatte ihn lange nicht mehr lächeln sehen, aber in diesem Moment tat er es. Er sagte mir, dass alles wieder gut werden würde und obwohl ich die traurigen Augen sah, glaubte ich seinem Lächeln und den Worten.

An diesem Abend ließ Sunny sich in seiner Wohnung vollkommen zulaufen und wurde dann zwei Tage später von Lang Mao in seinem Bett gefunden. Sunny hatte sich umgebracht und am schlimmsten war wohl der Anblick von ihm, wie er eines von Kenos Shirts umklammerte.

Es war Sunnys kleine Tradition gewesen, an der Stelle, an welcher Keno erschossen wurde, eine kleine Kerze aufzustellen, gemeinsam mit einem Bild, sodass man ihn nicht vergessen würde. Ich stellte eine weitere Kerze dazu und auch ein Bild von Sunny daneben. Ich weiß nicht, ob Sunny daran glaubte, so wieder bei Keno sein zu können, ober ob er es einfach nicht mehr ertragen könnte ohne ihn weiterzumachen, aber in meiner Erinnerung sind die beiden zusammen und das für immer.

Klingt echt romantisch, nicht wahr? Na ja, wenn man mal davon absieht, dass ich täglich eine neue Kerze aufstellen musste und mehrmals die Bilderrahmen wechseln durfte, da die Mehrheit von ihrer Beziehung angeekelt war, ist das wohl auch so.

So, dann kommen wir doch langsam mal zum Finale und vor allem zu dem eigentlichen Grund, wieso ich diesen Text hier überhaupt verfasse.

Du wirst es dir schon denken können. Nach wie vor, ist nichts wirklich Gutes in meinem Leben passiert und nach Sunnys Vorbild, ist es ja auch nicht mehr so abwegig.

Das hier ist mein Abschiedsbrief, weil ich nach wie vor keinen Sinn mehr darin sehe, weiterzumachen. Da kommt nichts mehr und auch wenn ich gerade erst 20 Jahre alt bin, bin ich mir dessen absolut sicher.

Jetzt wirst du vielleicht denken „Komm schon, dir ist sicher auch mal was Gutes passiert, du hast dich nur zu sehr auf das Negative konzentriert.“. Das mag schon stimmen, aber lass mich dir noch von meinem letzten Fehler berichten, welcher ironischer Weise auch mein erster war.

Richtig. A tauchte wieder in meinem Leben auf. Ich war gerade 20 Jahre alt geworden und jobbte in einem kleinen Lebensmittelgeschäft für den Mindestlohn, was zur Folge hatte, dass ich die Wohnung wieder aufgeben musste und bei Lang Mao einzog. Es war ganz nett dort zu wohnen, wobei sie ihre Arbeit jetzt natürlich zuhause fortsetzen musste und mich das oft an die Zeit mit meiner Mutter erinnerte. Ich mied es also weitestgehend nachhause zu gehen, tat es lediglich um zu duschen und etwa 4 Stunden zu schlafen. Vielleicht hätte ich die Stadt verlassen, wären da nicht Sunny und Keno, deren Andenken ich kontinuierlich wieder aufstellte.

Es war ein kalter Winterabend, als ich den Laden verließ und wie gewohnt noch einen Spaziergang zu der Gasse in der L-Straße machte, wo Kenos und Sunnys Andenken aufgestellt worden war.

Wie immer tat es schrecklich weh, zu sehen, wie jemand die Bilderrahmen zertreten und die Kerzen zerbrochen hatte. Mit roter Farbe hatte man „Scheiß Schwuchtel“ an die Mauer geschmiert. Das machte mich wütend und dennoch konzentrierte ich mich erst auf den Wiederaufbau des kleinen Schreins. Sorgfältig entfernte ich die Bilder aus den gebrochenen Rahmen und steckte sie in die neuen, welche ich immer bei mir trug in weiser Voraussicht. Die Scherben und die gebrochenen Kerzen wurden in altes Zeitungspapier eingewickelt und im Mülleimer versorgt, wobei ich mich an einer herausragenden Scherbe schnitt. Der Zeigefinger fing schnell an, heftig zu bluten, aber da hier sowieso niemand war, der deswegen Panik hätte schieben können, ignorierte ich es einfach, umwickelte den Finger mit einem Taschentuch und kümmerte mich weiter um Keno und Sunny. Ich habe ihnen oft von meinem Tag erzählt, auch wenn mir natürlich klar war, wie dumm das eigentlich ist. Ich glaubte nie an ein Leben danach. Vorbei ist vorbei. Da gibt es keine Reue, kein Lob, gar nichts. Wir sind Maschinen und wenn wir sterben ist die Maschine eben kaputt und ausgeschaltet. Die unsterbliche Seele? Nein, daran glaube ich wirklich nicht und ich kann mich erinnern, mir immer wieder gewünscht zu haben, dass ich statt Keno erschossen worden wäre. Dann würde auch Sunny noch leben und die beiden hätten irgendwo zusammen glücklich werden können.

In meinem Leben gibt es schließlich niemanden, der mich liebt und mich so sehr vermissen würde, dass er es ohne mich nicht mehr aushält. Oder?

Zugegeben, an diesem Abend, als ich mir in den Finger schnitt, hatte ich ein letztes Mal die Hoffnung auf ein Happy End.

Es war ziemlich kalt und trotzdem lief ich zum Laden zurück, holte Eimer, Schwamm und Co., kehrte zu der Gasse zurück und fing an das Geschmiere mühselig von dem Gemäuer zu schrubben. Ich weiß noch, wie stechend kalt meine Hände waren und ich dennoch weiter schrubbte, bis sie richtig taub und blau wurden. Ab einem gewissen Punkt, verzweifelte ich an dem Versuch die Farbe von der Wand zu bekommen und warf den Schwamm wütend von mir. Ich weiß nicht wieso, aber etwas an dieser ganzen Situation und der Tatsache, dass ich Sunny und Kano nicht vor dieser Schande befreien konnte, brachte mich dazu wie ein kleiner Junge loszuheulen. Da saß ich also, zusammengekauert vor dem Andenken eines Strippers und eines Zuhälters und heulte wie ein Schlosshund. Ich war so wütend. Wütend, weil sie es nicht verdient hatten und weil es mein Bild sein sollte das dort immer wieder zertreten werden würde. Ich sollte es sein, auf den sie spucken und den sie alle so sehr verachten, weil er abartig, widerlich und einfach nur Dreck ist. Stattdessen waren es dort zwei wundervolle Menschen mit einem wertvollen Charakter und vor allem mit einer Beziehung die irgendwie alles überstanden hätte. Nur nicht den Tod des anderen.

Wow, das klingt wirklich dramatisch, aber selbst jetzt werde ich noch wütend, wenn ich daran zurückdenke.

Mein Filmreifer Ausbruch, blieb nicht unbemerkt und so war ich gerade dabei meine Finger so fest in meinen Arm zu bohren, dass die Haut schon einriss, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.

Die Hand fühlte sich warm und vertraut an und als ich aufsah und sich mein trüber Blick klärte, waren da die blauen Augen. Die blauen Augen, die ich so sehr geliebt hatte, die mich den körperlichen Schmerz der Prügel immer und immer wieder vergessen ließen und die ich ganz klar noch immer liebte.

A sagte nicht viel, er lächelte nur und reichte mir die Hand um mich zu sich in den Stand zu ziehen. Dann bat er mich um Entschuldigung und ich wusste einfach nicht wieso. Das teilte ich ihm auch mittels eines fragenden Blickes mit und dann versprach er mir Aufklärung bei einem warmen Tee.

Was für ein Zufall, dass er genau zu dem Zeitpunkt dort war, oder? Wie sich herausstellte, war es kein Zufall.

In einem kleinen Café um die Ecke, erzählte A mir etwas, das wohl einiges in meinem Leben geändert hätte, hätte ich davon gewusst.

A war nicht aus meinem Leben verschwunden, weil er von mir angeekelt war. Im Gegenteil. A hatte ein schreckliches Geheimnis, welches sich nicht mehr kontrollieren ließ, sodass er sogar den Job als Lehrer aufgeben musste. Er schämte sich dafür und auch er hatte vorgehabt seinem Leben aufgrund dieser abartigen Neigung ein Ende zu setzen, ehe er einen unschuldigen Menschen damit für immer kaputt machen würde. Er fürchtete, dass er für den Lauf meiner Geschichte verantwortlich gewesen sei, weil er mir tatsächlich nicht aus Nächstenliebe so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Nein, er hatte ein anderes Interesse an mir gehabt und obwohl ich ihm wissentlich immer wieder sehr nahe gekommen war, hatte er mich nie unsittlich berührt.

Dass er das AbnoAmo damals besuchte, hatte den Grund, dass er von mir gehört hatte. Einem Volljährigen, der allerdings nicht so aussah. Er hatte wohl die Hoffnung gehabt mit dem Besuch einer meiner Shows, den Reiz des Verbotenen damit verblassen zu lassen und diesen Druck endlich loszuwerden. Das konnte er natürlich nicht, nachdem er sah, wer hinter diesem „Twink“ steckte.

Tja, und dann verstand ich es. Das was ich für A empfand, fühlte er auch für mich, aber der Altersunterschied hätte uns beide ins Verderben geritten. Mich, weil ich damals sowieso noch nichts davon verstand,es mich physisch wie auch psychisch zerstört hätte und ihn, weil...na ja, ist ja offensichtlich, dass die Konsequenzen für ihn ziemlich übel gewesen wären.

Im Zuge einer Therapie, wollte A mich wiedersehen und daher war es kein Zufall, dass er erneut das AbnoAmo besuchen wollte und mich dann dort in der Gasse vorfand.

Er wollte sich entschuldigen, vor allem dafür, dass er mein Leben ruiniert hatte. Dem konnte ich nicht zustimmen und erzählte ihm, dass ich sehr froh darüber war ihm begegnet zu sein. Ich erzählte ihm auch, wie ich die Erinnerung an den Tag auf dem Bolzplatz nutzte, um die Prügel zu ertragen.

A war davon sehr gerührt und wirkte erleichtert, als ich ihm versicherte, dass ich nicht seinetwegen dort gelandet war, wo er mir zuletzt begegnet ist.

Zu dem Zeitpunkt, schöpfte ich schon wieder falsche Hoffnung und malte mir schon ein glückliches Ende mit meiner ersten großen Liebe aus. Ich nahm seine Hand (natürlich unter dem Tisch, sodass die anderen Gäste es nicht sehen konnten) und schlug ihm vor, von vorn zu beginnen. Schließlich war ich jetzt schon eine ganze Weile volljährig und vor allem war ich mir meiner Taten bewusst. A zog die Hand wieder weg und dann erklärte er mir, dass genau das die Problematik sei. Außerdem wäre es auch im Sinne seiner „Genesung“ absolut kontraproduktiv, aufgrund meines noch immer sehr jungen Aussehens.

Mit anderen Worten, sagte er mir, dass er mich vor 10 Jahren liebte, aber das jetzt nicht mehr tat und dass es selbst ungeachtet diesen Faktes, niemals möglich wäre.

Unsere Wege trennten sich also wieder und jetzt sitze ich hier, schreibe diesen Brief in der Hoffnung, dass ihn irgendjemand lesen wird und den Funken von Traurigkeit verspürt, bei dem Gedanken, dass ich zum Zeitpunkt des Lesens schon nicht mehr existiere.

Ich bin tot und vielleicht bin ich jetzt bei Keno und Sunny und wir trinken auf die Wiedervereinigung. Vielleicht bin ich einfach nur eine kaputte Maschine, die jetzt unter der Erde verrottet. Vielleicht verrotte ich aber auch im Fegefeuer, aufgrund meiner „Sünden“ oder ich bin hier, auf dem alten Bolzplatz, esse billige, belegte Brötchen und spiele Fußball mit meiner großen Liebe.

P.S.: Falls dich mein Brief nicht zu Tränen gerührt hat, dann wünsche ich dir, dass du weiterhin ein schönes Leben führst und falls es dich doch berührt haben sollte, dann möchte ich, dass du dir immer vor Augen führst, dass es eigentlich immer einen Grund gibt um zu kämpfen, denn auch wenn es sich nicht so anfühlt, wird es immer jemanden geben, der sich wünscht, dass du noch am Leben wärst um zu erfahren, dass es selbst unter den schlimmsten Umständen, schöne Momente geben kann.

Bist du nicht der lebende Beweis dafür?

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