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Have Yourself A Merry Little Christmas
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Informationen
- Story: Have Yourself A Merry Little Christmas
- Autor: Sammy
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Weihnachten
HAVE YOURSELF A MERRY LITTLE CHRISTMAS
»Have yourself a merry little Christmas
Let your heart be light
From now on our troubles will be out of sight...»
(Lyrics by Ralph Blane)
So ein Unfug... Ich stellte das Radio aus und ärgerte mich über das nervige Gesabbel des seltsamen Sängers im Radio. Was wusste der schon? Vielleicht war für den alles in Ordnung... Für mich jedenfalls nicht... Ich war hier auf der Autobahn und hatte locker noch eine gute Stunde Fahrzeit, oder doch eher Schonfrist? Ganz sicher war ich mir nicht. Sicher, ich freute mich schon, meine Eltern und meinen Bruder mal wieder zu sehen... Immerhin war ich seit 5 Monaten nicht mehr bei ihnen daheim gewesen. Ging ja auch schlecht. Ich musste ja in den Semesterferien Geld verdienen... Aber vielleicht sollte ich das kurz erklären. Also, ich bin Thomas, bin 20 Jahre alt und studiere jetzt im dritten Semester BWL in Köln. Das war alles ja schön und gut, aber meine Eltern hatten nicht wirklich genug Kohle, um mir das Studium komplett zu finanzieren, und für BaFöG war ihr Einkommen dann aber doch zu viel. Tolle Scheiße. Daher musste ich die Semesterferien größtenteils zum Geldverdienen nutzen, da ich einen recht straffen Stundenplan an der Uni hatte und so während des Semesters nicht wirklich zu einem Nebenjob kam. Also war ich das letzte mal zu Beginn der Sommer-Semesterferien Ende Juli daheim gewesen und in eben jenem Moment befand ich mich auf dem Heimweg zu meinen Eltern in der Nähe von München. Den größten Teil der Strecke hatte ich schon hinter mich gebracht. Mittlerweile befand ich mich schon zwischen Ulm und Augsburg und ärgerte mich mal wieder über die Straßenverhältnisse auf der A8. Seit ich denken konnte war die A8 besch... ausgebaut. Ständig Spurrillen oder unebene Straßen. Naja, was sollte es, dafür würde es hinter Augsburg besser werden. Was wohl daran lag, dass die Landeshauptstadt als nächst größere Stadt nach Augsburg kam. So fuhr ich also mit den erlaubten 120 km/h die kaum befahrene Autobahn entlang. Normalerweise war hier ein extrem reger Betrieb, aber da es mittlerweile 5 Uhr morgens war, waren kaum Autos unterwegs. In einiger Entfernung konnte ich die Rücklichter eines anderen Autos sehen, sonst war momentan kein anderes Fahrzeug in meiner Reichweite.
Noch eine Stunde Fahrt, und kein Ende in Sicht. Aber ich war froh darüber. Immerhin war ich momentan alleine und niemand ging mir auf den Keks. Oder nervte mit den obligatorischen Fragen, ob ich denn mittlerweile eine Freundin hätte oder so. In Köln war alles so schön einfach. Keiner, der einen ansprach, ob man denn schon eine Freundin hatte. Alle akzeptierten mich so, wie ich nun mal war. Aber hier bei mir ging das nicht. Wie sollte es auch. Warum sollte ich auch mal Glück haben? Hatte ich ja sonst auch nie. Mir grauste schon vor daheim. Ich freute mich zwar schon, dass ich meine Familie wieder sehen würde, aber es nervte mich auch gewaltig. Besonders, wenn am ersten Feiertag die ganze Verwandtschaft eintrudeln würde. Ein ganzes Jahr lang hatten sie es nicht für nötig gehalten, sich bei einem von uns zu melden, und dann wird jedes Weihnachten auf schöne heile Welt gemacht. Einfach widerlich. Genauso wie dieses Gedudel im Radio, das ich schon vor einer viertel Stunde abgestellt hatte. Nur Bla bla bla, was da gesungen wurde. Warum gab es eigentlich an Weihnachten immer nur so bescheuerte Musik? Warum nur?
So, mehr oder weniger alleine fuhr ich also über die Autobahn, als ich das Straßenschild erkannte, das mit verriet, dass ich die nächste Abfahrt raus musste. Augsburg West. Einige werden sich bestimmt fragen, warum ich hier raus musste, wenn ich doch in München wohnte. Das lässt sich aber leicht erklären. Ich hatte über die Mitfahrzentrale nach Leuten gesucht, die ich mitnehmen konnte, damit die Benzinrechnung nicht zu hoch wurde. Meinen letzten Fahrgast hatte ich in Frankfurt aufgenommen und vor etwa einer Stunde in Ulm abgesetzt. Eine sehr interessante Pädagogikstudentin... 23 Jahre und Klamotten Marke Altkleidersammlung. Und ein Organ, das selbst das leidgeprüfte Ohr von Maxwell Sheffield (dem Vater aus der Serie »Die Nanny«) zum Platzen gebracht hätte. Die ganze Fahrt über erzählte sie mir von ihren verschiedenen Lovern, die sie im letzten Monat hatte. Bei Nummer 14 hab ich aufgehört, mitzuzählen. Ich atmete erleichtert auf, als ich sie in Ulm abgesetzt hatte.
Mittlerweile hatte ich die Autobahn verlassen und versuchte, mit den Angaben des nächsten Fahrgastes, meinen Weg zum ausgemachten Treffpunkt zu finden. Eins musste man dem Typen ja lassen, immerhin hatte er den Weg perfekt beschrieben. Als ich in die Straße einbog, konnte ich schon jemanden unter einer flackernden Straßenlaterne stehen sehen. Er trat von links nach rechts und hielt die Hände vor den Mund. Vermutlich versuchte er sich warm zu halten, immerhin hatte es gerade mal -4 Grad, und ich war etwa eine viertel Stunde zu spät. Ich brachte den Wagen zum Stehen.
»Hi, bist du Tom?« wurde ich durch die von mir geöffnete Fensterscheibe gefragt.
»Der bin ich, und du bist Michael?«
»Ja, aber sag bitte Michi, sonst hab ich immer das Gefühl, ich hätte was ausgefressen.«
Dabei entblößte er zwei Reihen perlweißer Zähne, hatte eine süße Nase und leuchtend grüne Augen. Mehr war wegen seiner Vermummung zum Schutz vor der Kälte nicht von ihm zu erkennen.
»Geht klar, aber pack dich erst mal ins Auto, dann ist dir nicht mehr so kalt, und mir auch nicht.«
Also nahm er seine Tasche und verfrachtete sie auf dem Rücksitz, und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Dort entledigte er sich erst mal seiner Jacke, und auch der Schal und die Mütze mussten dran glauben, unter der verstrubbelte, kurze, dunkelblonde Haare hervor kamen.
»Du musst entschuldigen, ich seh schrecklich aus, aber normalerweise gehe ich auch nicht um diese Uhrzeit aus dem Haus, höchstens Heim von der Disco.«
»Hey, du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich seh bestimmt auch nicht besser aus«, grinste ich den süßen Mitfahrer an.
»Stimmt, aber du bist ja auch schon einige Stunden unterwegs...«
»Um genau zu sein, seit etwa 8 Stunden. Und daher brauch ich jetzt auch erst mal einen Kaffee und ne Zigarettenpause.«
»Kein Problem, Hauptsache ich muss nicht mehr in der Kälte stehen.«
»Tut mir echt Leid, dass ich zu spät bin, aber bei so einem Wetter kann man nie genau sagen, wie lange man genau braucht. Und hätte ich länger gebracht, hätte ich dich schon informiert.«
»Das will ich hoffen, aber ich wäre so oder so hier draußen rumgestanden. Aber egal...«
Ups, da war wohl noch jemand nicht gut drauf, daher versuchte ich erst mal das Thema zu wechseln.
»Ähm, weißt du zufällig hier etwas, wo man um die Uhrzeit nen Kaffee und so bekommen kann? Ich kenn nur den McDonalds in Dasing...«
»Was anderes fällt mir leider auch nicht ein, da ich hier nur zu Besuch war.«
»Nur gut, dass der um 5 in der Früh schon aufmacht. Dann wollen wir mal losfahren.«
Ich fuhr also wieder zurück auf die Autobahn und die paar Kilometer nach Dasing. Michi war sehr schweigsam und starrte, so weit ich es mitbekam, aus dem Beifahrerfenster. Vielleicht war er auch einfach nur müde, was ja um diese Uhrzeit nicht wirklich verwunderlich war. Nach etwa 10 Minuten hatten wir dann auch das begehrte Restaurant mit dem großen M erreicht und begaben uns nach drinnen. Es war noch richtig leer, nur zwei Angestellte waren noch dabei, die Stühle von den Tischen zu stellen, und eine einzelne Frau saß an einem Tisch und trank ihren Kaffee.
Ich ging zielstrebig mit Michi auf die Essensausgabe zu und bestellte mir ein Frühstück. Nach ein paar Minuten hatte ich es erhalten und auch mein Mitfahrer gesellte sich kurze Zeit später zu mir. Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, zündete ich mir eine Kippe an und auch Michi tat das gleiche. Schweigend saßen wir uns gegenüber. Irgendwann ging mir dieses aktive Schweigen auf den Keks.
»Ich weiß zwar, dass wir nur eine Stunde oder so jetzt in meinem Auto verbringen werden, aber wir können uns ruhig unterhalten. Ich bin eigentlich ganz umgänglich – wurde mir zumindest mal gesagt.«
»Ach, es liegt nicht an dir, ich bin einfach beschissen drauf.«
»Hey, noch einer. Auch so genervt vom alljährlichen Familienstress zu Weihnachten, oder wie?«
»Familie? Was ist das? Sowas hab ich seit fast 3 Jahren nicht mehr.«
»Oh, ich wollte nicht...«
»Schon gut, du kannst ja nichts dafür. War Scheiße damals. Sie waren auf dem Heimweg aus dem Urlaub von Spanien, als anscheinend urplötzlich dieses Unwetter hereinbrach und ihr Flugzeug abgestürzt ist.«
» Das tut mir Leid...«
»Wieso tut es dir Leid? Du kanntest sie ja nicht mal«, maulte mich mein Mitfahrer an.
»Sorry, aber es tut mir Leid, weil du anscheinend sehr traurig darüber bist...«
»Ach, wenn es nur das wäre... aber ich will nicht darüber reden...«
»Kein Thema.«
OK, wenn er nicht reden wollte, ich würde ihn nicht zwingen. Ich kannte ihn ja nicht einmal, und in einer guten Stunde würden wir uns vermutlich für immer »Auf Wiedersehen« sagen. Warum sollte ich mich also in etwas reinsteigern, wo ich doch selbst genug genervt war.
»Aber wieso bist du so Scheiße drauf, du hast doch eine Familie?«
Die Frage traf mich überraschend, und ohne groß darüber nachzudenken, antwortete ich einfach das, was mir in den Sinn kam.
»Das schon, aber mir geht dieses ganze Weihnachtsgetue auf den Keks.«
»Weihnachtsgetue?« Michi schaute mich stutzend an.
»Ach, kennst du das nicht? Das ganze Jahr über spricht man nicht miteinander, und dann für diese drei Tage kommt die ganze Verwandtschaft und macht einen auf heile, glückliche Familie. Den Rest des Jahres können sie sich nicht wirklich ausstehen und giften sich nur an... Das ist sowas von zermürbend...«
»Bei uns war das damals anders, aber ich habe schon gehört, dass das in vielen Familien so ist... Vielleicht war das auch immer so besonders, weil meine Eltern beide Einzelkinder waren... Und mittlerweile sind alle tot... Alle außer mir... Vielleicht sollte ich ihnen ja auch folgen, Nachwuchs ist von mir eh nicht zu erwarten.«
Ich war erschüttert. Dachte er wirklich daran sich das Leben zu nehmen? Er schien nicht wirklich ein sehr labiler Mensch zu sein. Klar, er trauerte immer noch um seine Eltern, was ja auch zu verstehen war, aber er wirkte keineswegs am Boden zerstört. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken könnte.
»Das solltest du lieber bleiben lassen.«
»Und wieso?« Er zischte mich regelrecht an.
»Weil es bestimmt jemanden geben würde, der dich vermisst.«
»Das bezweifle ich... Aber wir sollten langsam weiter fahren, es scheint, dass wieder Schnee fällt, und nicht gerade wenig, wenn ich mir die Wolken da hinten anschaue.«
»Du hast Recht, lass uns gehen.«
Wir machten uns auf den Weg zurück zum Auto. Ich nahm noch aus dem Kofferraum eine Tüte mit meinen CDs, da ich absolut keine Lust mehr auf das doofe Gedudel aus dem Radio hatte.
»Hier, du kannst die Musik aussuchen, nur bitte was eher Ruhiges, wenn es geht.«
»Kein Thema, ich find schon was passendes.«
Kurze Zeit später hörte ich die leisen Klänge einer vertrauten Musik, und noch während ich über die gute Musikauswahl schmunzelte, bemerkte ich, dass Michi wieder aus der Windschutzscheibe starrte. Ich konzentrierte mich auf die Straße und er sich wohl auch. Oder war das gerade ein Blick zu mir aus seinen Augenwinkeln? Bestimmt hatte ich mich getäuscht. Michi drehte sich weiter von mit weg und blickte wieder aus der Seitenscheibe. Hatte er mich bemerkt? Wohl kaum, ich habe ja nur den Bruchteil einer Sekunde zu ihm gesehen. Dieses Schweigen machte mich unruhig, es war noch schlimmer, als das Gebrabbel von der Tussi zuvor.
»Darf ich dich noch was fragen?«
»Wenn es sein muss.«
Langsam ging mir seine extrem schlechte Laune auf den Keks.
»Nein, muss es nicht, aber dieses Schweigen geht mit auf den Nerv«, gab ich genervt zurück.
»Sorry, so war das nicht gemeint.«
»Schon OK. Also, was ich wissen wollte, wie kommst du eigentlich dazu, dass du hier mitfährst. Und ich meine nicht, dass du Heim willst, sondern wieso? Immerhin hast du erst heute Abend bei mir angefragt, ob ich noch Platz hätte. Zudem sind doch Zugtickets von Augsburg nach Dachau nicht so teuer.«
»Das stimmt, aber es waren keine mehr für gestern Abend zu haben.«
»Und wieso fährst du dann nicht einfach morgen mit einem Zug?«
»Weil ich, da wo ich war, weg musste.«
Ob man das »Bahnhof« in meinem Gesicht lesen konnte? Ich hoffte es, sonst würde ich es wohl nie erfahren. Wobei, ich könnte natürlich nachfragen.
»Du willst es also genau wissen?«
»Wenn du so fragst: Ja.«
»Also ich habe jemand besucht, und dieser jemand offenbarte mir gestern am frühen Abend auch, dass ich nicht mehr erwünscht sei bei ihm.«
»Wieso?« Ich fragte einfach mal, mehr als abblocken konnte er ja nicht.
»Weil sich diese Person in jemand anders verliebt hatte.«
Auf meinen Lippen zeichnete sich ein großes sarkastisches Grinsen ab. Michi musste das wohl falsch aufgefasst haben.
»Was gibt es denn da zu grinsen, ich finde das überhaupt nicht komisch.«
»Sorry, die Tatsache an sich ist nicht wirklich komisch, da hast du absolut recht. Aber ich find es trotzdem amüsant.«
»Und wieso?«
»Naja, erstens, weil du so schön um einen gewissen Teil herum palavert hast, das war einfach süß. Du bist doch schwul, oder?«
Der Kleine wurde richtig rot im Gesicht und wendete sich verschämt ab.
»Und was ist der zweite Grund?« fragte er schüchtern.
»Naja, weil mich mein angeblicher Freund mit nem Anderen betrogen hat, und mir das vor zwei Wochen offenbarte. Ich war wohl extrem blind. Während ich glaubte, er würde zusammen mit ein paar seiner Studienkollegen lernen, hat er sich mit dem Anderen vergnügt. Ich war wohl schön blöd.«
»Du... du bist auch schwul?«
»Ja, wieso stutzt du so?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du schwul bist«
»Tja, bin ich aber... So schlimm?«
»Natürlich nicht. Und ich versteh deinen Ex nicht wirklich... Dich würd ich nicht hergeben.«
»Danke für die Blumen, aber wie meinte er so schön: Ich sei ein guter Fickschlitten, aber nicht mehr.« Aus meiner Stimme klang Verbitterung.
»Na, du bist bestimmt gut im Bett, oder?«
Ich musste grinsen, und auch Michi ging es nicht anders. Das war das erste Mal, dass ich ihn ehrlich grinsen sah. Es war ein sehr schönes Lachen, soweit ich das beurteilen konnte. Immerhin lächelte er, das war schön, und ich fühlte mich wohl.
»Selbstverständlich. Was denkst du denn?«
»Ich kann es ja nicht beurteilen.«
»Stimmt auch wieder.«
Mittlerweile hatten wir die Abfahrt erreicht und ich bremste den Wagen. Das Gespräch, war wieder erstorben. Aber etwas interessierte mich dann doch noch.
»So, bevor ich dich abgeliefert habe, hätte ich noch eine Frage.«
»Und die wäre?«
»Wie verbringst du jetzt eigentlich Weihnachten?«
»Naja, eigentlich sollte ich bei der Familie von Daniel feiern, aber das hat sich ja erledigt, da er mich mehr oder weniger rausgeworfen hat. Also werde ich mir morgen eine Dose Ravioli kaufen und mich vor den Fernseher oder PC setzen. Aber das ist nicht so schlimm, das hab ich die letzten beiden Jahre auch gemacht... Immerhin musste ich so meine Tränen nicht verstecken.«
»Das ist echt beschissen...« Mehr fiel mir dazu nicht ein, auch wenn sich ein Gedanke in meinem Kopf eingeschlichen hatte. Aber den behielt ich erst mal für mich.
»Sowas passiert, also was soll's. Wir sind eh gleich da. Fährst du mich noch zu meiner Haustür?«
»Klar, die paar Kilometer sind kein Problem.«
»Lieb von dir, ich sag dir den Weg.«
Und so lotste mich Michi durch die Dachauer Straßen, und nicht mal 10 Minuten später hatte ich mich von ihm verabschiedet und befand mich auf meinen letzten Kilometern. Knapp 20 Minuten später bog ich in die Auffahrt zu unserem kleinen Häuschen ein. Ich stellte den Motor ab, nahm meinen Kram aus dem Auto und ging auf mein Zimmer. Wie zu erwarten war, lag das ganze Haus noch tief im Schlaf und so begab ich mich auch in mein Bett. Ich hatte zwar ausreichend vorgeschlafen, aber so eine Fahrt strengt doch an und wenige Minuten später war ich dann wohl auch eingeschlafen.
Wach wurde ich erst, als ich es von unten laut scheppern hörte. Da war wohl wieder mal meine Mutter am Abspülen, schoss es mir in den Kopf. Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass es mittlerweile kurz vor 12 Uhr Mittags war. Also begab ich mich aus meinem Bett und ging runter in die Küche.
»Hallo mein Schatz, wann bist du denn angekommen? Ich hab gar kein Auto gehört.«
»Hi Mama, ich bin so gegen 6 da gewesen, aber gleich in mein Bett geschlichen, da ich doch nach der Fahrt recht kaputt war.«
»Ging es gut mit dem Fahren, und geht es dir auch gut?«
»Mir geht es gut, nur noch etwas müde, und die Fahrt war ok, eine Quasselstrippe, die unentwegt 3 Stunden geredet hat war dabei, sonst war es sehr angenehm.«
»Schön, aber jetzt lass dich erst mal drücken.«
Muss ich erwähnen, das man der Umklammerung dieser Frau nicht wirklich entkommen konnte?
»Du solltest vielleicht auch mal deinem Vater Hallo sagen.«
»Wo ist der überhaupt?«
»Im Wohnzimmer und dekoriert den Baum. Da wir nicht genau wussten, wann du aufstehen würdest, hat er damit schon mal begonnen.«
»Schon gut, dann werd ich mal zu ihm schauen und etwas beim Schmücken helfen.«
»Magst du was zum Frühstück?«
»Gegen so ein Stück von deinem selbst gebackenen Stollen hätte ich nichts einzuwenden, und ne Tasse Tee wäre nett.«
»Kein Thema, bring ich dir dann alles ins Wohnzimmer.«
»Danke, Mama.«
Und schon war ich im Wohnzimmer und begrüßte meinen Vater.
»Hi Papa, brauchst du Hilfe?«
»Klar, mir fallen schon die Arme ab. Wie geht's dir denn?«
»Mir geht's prima. Nur noch etwas erledigt vom Autofahren, bin ja doch immerhin 8 Stunden oder so unterwegs gewesen.«
»Kann ich verstehen. Und mit dem Wagen war alles ok, oder?«
Typisch mein Vater, immer besorgt um die Autos. Was man jetzt allerdings nicht falsch verstehen sollte. Natürlich interessierte ihn mein Wohlbefinden auch, aber nachdem ich mich mit ihm unterhielt, was klar, dass es mir gut ging. Also erübrigte sich so eine Frage.
»Ja klar...«
Und so unterhielten wir uns etwas über die Fahrt, während wir uns zusammen an dem Baum zu schaffen machten. Nach einiger Zeit kam dann auch meine Mutter mit einem Tablett herein und stellte es auf dem Wohnzimmertisch ab.
»So, Pause für meine schwer schuftenden Männer, jetzt gibt es erst mal Tee und Stollen.«
Also setzten wir uns auf die Couch und ich frühstückte erst einmal. Irgendwie fühlte ich mich richtig gut, trotz der langen Fahrt, die mir in den Knochen steckte. Meine schlechte Laune von gestern war wie verflogen. Ob das nun am weihnachtlich wirkenden Haus lag, oder an der Anspannung, die ich während der Fahrt hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls tat es mir gut, wieder daheim zu sein. Und da raffte ich mich auf, und setzte meinen zweiteiligen Plan, der mir gestern im Kopf rumgeisterte, in die Tat um. Als erstes versuchte ich, die jeweilige Stimmung meiner Eltern zu ergründen, und war froh, dass sie meines Anscheins nach recht gut drauf waren. Und eine gute Stimmung konnte jetzt nicht schaden, also versuchte ich mein Glück.
»Da wir gerade so schön zusammen sitzen, würde ich gerne etwas mit euch bereden.«
»Was gibt es denn? Hast du einen Unfall beim Herfahren gebaut?« grinste mein Vater.
»Nein, es ist was ernstes. Also, Mama, Papa, um es kurz zu machen: Ich bin schwul.«
»Wissen wir schon.«
»Hä?«
»Das heißt 'Wie bitte?'«
»Lass das, du weißt genau, was ich meine...«
War ich hier im falschen Film, oder so?
»Schon klar«, erklärte meine Mutter. »Aber um auf deine Frage zurück zu kommen. Naja, wir mögen zwar Eltern sein, und vielleicht auch nicht mehr die Jüngsten. Aber ganz doof sind wir auch nicht. Und eine Freundin hast du uns noch nie vorgestellt, und auf Fragen diesbezüglich bist du immer ausgewichen. Also gab es nur zwei Möglichkeiten. Erstens, du willst Pfarrer werden, oder du bist schwul. Und nachdem Ersteres unserer Meinung nach ausschied, blieb nur noch die zweite Variante übrig. Und nachdem du auch noch nach Köln zum Studieren gegangen bist, war es absolut klar.«
»...«
Ich konnte nichts mehr sagen, ich war platt. So hatte ich mir das jetzt zwar nicht vorgestellt, aber bisher schien es ja noch gut abzulaufen. Aber da kam mir doch eine Frage in den Sinn.
»Aber wieso habt ihr mich dann immer nach Freundinnen gefragt?«
»Naja,« ergriff mein Vater das Wort. »Dich direkt darauf anzusprechen schien uns nicht das Richtige zu sein, also versuchten wir es indirekt und haben dich immer mal wieder nach Freundinnen gefragt.«
»Klingt bescheuert, aber logisch. Aber was sagt ihr jetzt dazu?«
»Es ist OK, für uns beide. Nachdem es uns ja eh schon länger klar ist, haben wir keine großen Probleme mehr damit, immerhin hatten wir ja ein paar Jahre, um uns darauf vorzubereiten. Und jetzt lass dich von deiner Mutter endlich mal drücken, die sitzt schon auf glühenden Kohlen.«
Danach wurde ich erst mal kollektiv geknuddelt. Früher war mir sowas immer extrem unangenehm, wenn meine Eltern das machten, auch wenn es die letzten Jahre eigentlich nie vorkam. Aber heute freute ich mich sehr darüber. Ich war froh, dass ich noch Eltern hatte, die mich umarmen konnten. Und danach musste ich etwas über meine Zeit in Köln berichten. Natürlich war die Uni der Teil, der meine Eltern am Wenigsten interessierte. Während wir so plauderten, verstrich die Zeit und ich stellte fest, dass es schon nach Eins war. Wenn ich meinen zweiten Teil des Plans auch durchführen wollte, dann sollte ich mich aber langsam sputen.
»Ich hab da noch ein Problem, und dafür brauche ich eure Erlaubnis.«
»Für ein Problem brauchst du eine Erlaubnis? Das passt nicht wirklich zusammen.«
»Doch tut es, hört mir einfach zu...«
Also erklärte ich meinen Eltern, was ich vor hatte. Zuerst schauten sie etwas skeptisch, aber nachdem ich mit meinen Ausführungen fertig war, stimmten sie zu. Als ich dann nach oben ging, um mich anzuziehen und so, hörte ich sie noch irgendwas von einem gelungenen Sohn murmeln, aber darauf ging ich erst mal nicht weiter ein.
Eine knappe halbe Stunde später stieg ich auf dem Parkplatz des nahe gelegenen Kaufhauses aus. Zum Glück hatten seit ein paar Jahren die Kaufhäuser auch außerhalb der Stadt bis 16 Uhr geöffnet. Ich ging also in die Spielwarenabteilung und suchte das aus, was ich mir in etwa vorgestellt hatte.
Ich ging also durch die vielen Menschen, die wohl alle noch im letzten Moment Geschenke für ihre Liebsten kaufen mussten. Aus den Lautsprechern klang leise Musik. Und selbst die Weihnachtslieder störten mich nicht mehr wirklich. Meine Laune wurde immer besser, wenn nun auch noch der zweite Teil meines Plans klappen würde, dann wäre ich wunschlos glücklich.
Nachdem ich bezahlt hatte, machte ich mich auf den Weg. Während ich durch die winterliche Landschaft fuhr, fiel mir wieder dieses eine Weihnachten ein. Es war das erste, an das ich mich erinnern konnte. Ich war 4 oder 5 und als ich morgens aufgestanden war, ging ich natürlich als erstes ins Wohnzimmer, obwohl ich wusste, dass es eigentlich Sperrgebiet ist. Als ich die Tür öffnete, war ich total erschrocken. Nichts in diesem Zimmer erinnerte an Weihnachten. Alles war so wie immer. Nirgendwo war ein Adventskranz, kein Baum, geschmückt oder nur so, stand herum. Es war als würde Weihnachten dieses Jahr nicht existieren. Keine weihnachtlichen Lieder klangen aus dem Radio. Also schlurfte ich enttäuscht in die Küche. Dort saßen meine Eltern und mein Bruder, der so wie ich seinen Kopf hängen ließ. Kurze Zeit später verließ uns mein Vater, mit der Begründung, dass er arbeiten musste. Mit enttäuschtem Blick gingen mein Bruder und ich nach dem Frühstück wieder in unsere Zimmer und spielten etwas. Irgendwann kam dann unsere Mutter und ging mit uns auf den Christkindl Markt. Wir gingen über den ganzen Markt mit unseren, mit Lebkuchen und anderen Leckereien gefüllten, Tüten, die meine Mutter uns als erstes gekauft hatte. Ich staunte über den riesigen Baum in der Mitte des Marktplatzes, der mit unzählig vielen Lichtern behängt war. Als es richtig dunkel war, machten wir uns wieder auf den Nachhauseweg. Drinnen im Haus war mein Vater schon mit der Zubereitung des Essens fertig, so dass wir kurze Zeit später beim Essen waren. Nachdem wir damit fertig waren, wurden wir von unseren Eltern auf unsere Zimmer geschickt. Ich weiß noch genau, dass ich etwas mit meinen Legos herumalberte, als plötzlich eine Klingel von unten durch das Haus läutete. Nein, es war nicht die Türklingel. Dem Geräusch nachfolgend ging ich aus meinem Zimmer. Mein Bruder musste wohl das gleiche im Sinn haben, denn auch er folgte mir die Treppe hinunter. Das Klingeln wurde immer schwächer. Meine Eltern saßen am Küchentisch und schienen sich zu unterhalten. Verwundert sahen sie uns an.
»Was macht ihr denn hier unten?«
»Habt ihr das Klingeln nicht gehört?«
»Welches Klingeln?«
»Das, das grade aus dem Wohnzimmer kam«, kam es unisono von uns Kindern.
»Nein, haben wir nicht. Seid ihr euch ganz sicher?«
»JA!«
»Na, dann sollten wir doch mal nachschauen, was das war...«
Und so öffnete mein Vater die Wohnzimmertür und schaute vorsichtig hinein.
»Da war wohl jemand hier drin.«
»Wer denn, Papa?«
»Ich weiß es nicht, aber ihr solltet euch das ansehen, Kinder.«
Und somit gab er uns die Tür frei, und wir stürmten hinein und blieben auch sofort wieder stehen. Der ganze Raum war jetzt weihnachtlich dekoriert. Ein riesiger, geschmückter Baum stand da, und die Kerzen brannten darauf. Auf dem Couchtisch stand ein Adventskranz, der ebenso entzündet war. In der Luft roch es nach weihnachtlichen Gewürzen und aus den Lautsprechern tönte passende Musik. Und vor dem Baum standen unzählig viele Geschenke. Es war einfach perfekt. Mein Bruder und ich strahlten über das ganze Gesicht. Wir stürzten uns natürlich sofort auf unsere Geschenke, bis uns meine Mutter dabei unterbrach.
»Seht mal nach draußen. Es schneit.«
Es war einfach ein super schönes Weihnachtsfest. Meine Eltern strahlten sich zufrieden an. Und wir zwei Kinder sahen mit großen Augen nach draußen. Und mit den letzten Worten in den Ohren kam ich wieder zurück in die Realität, und auf meinem Gesicht lag ein Lächeln.
Mittlerweile hatte ich meinen Bestimmungsort erreicht und als ich endlich einen Parkplatz in der Nähe gefunden hatte, nahm ich mein Handy aus der Tasche und suchte die Nummer aus meinem Adressbuch heraus. Nach dem zweiten Klingeln wurde am anderen Ende abgehoben.
»Berger, Hallo?«
»Hi Michi, hier ist Tom, dein Fahrer von gestern, falls du dich nicht mehr erinnerst.«
»Doch tu ich, und ich ahne auch den Grund deines Anrufs. Ich hab gestern ganz vergessen dir das Geld zu geben.«
»Das stimmt zwar, aber deswegen ruf ich nicht an. Bist du daheim?«
»Ja, aber was gibt es?«
»Nicht so eilig, das wirst du schon noch früh genug erfahren. Könntest du bitte runter kommen, oder mich reinlassen. Oder störe ich etwa?«
»Nein, du störst nicht, aber ich wollte grade wo hin. Ich komm runter. Bis gleich.«
»OK.«
Und schon war die Verbindung beendet, und kurz darauf stand Michi neben mir. In der Hand hielt er einen Strauß Blumen.
»Hi nochmal. Was gibt es denn so dringendes, dass du bei mir vorbei fährst, wenn es nicht um das Geld geht.«
»Das wird nicht verraten, aber du wolltest gerade noch etwas erledigen.«
»Ja, und ich muss auch langsam los.«
»Soll ich mitkommen, oder soll ich später nochmal vorbei schauen?«
»Du kannst schon mitkommen, es ist auch nicht sehr weit. Wir können die 10 Minuten ruhig laufen.«
So begaben wir uns auf eine mir unbekannten Weg. Ein paar Querstraßen weiter bogen wir rechts ein, und nach etwa 500 Metern hatten wir unser Ziel erreicht. Wir gingen durch ein großes Eingangstor und standen – auf einem Friedhof. Zielstrebig ging Michi auf ein Grab zu und bleib stehen. Ich blieb einige Meter schräg hinter ihm stehen. Ich konnte sehen, dass er seine Lippen bewegte, aber nicht hören, was er sagte. Es ging mich auch nichts an. Nach einer ganzen Weile wickelte er die Blumen aus und legte sie auf das mit Zweigen abgedeckte Grab und holte eine neues Grablicht aus seiner Jacke, zündete es an und tauschte es gegen ein altes aus. Er kniete immer noch vor dem Grab und murmelte anscheinend wieder etwas. Dann stand er langsam auf und kam mit langsamem Schritt auf mich zu. Obwohl ich diese Leute nicht kannte, hatte ich einen Klos im Hals. Michi war deutlich gezeichnet. Tränen liefen seine Wangen hinunter und er hatte rote Augen.
»Geht es?« fragte ich ihn und reichte ihm ein Taschentuch.
»Gleich geht es wieder.« Er schneuzte sich einmal kräftig, drehte sich noch einmal um und atmete dann tief durch.
»So, jetzt geht es wieder.«
Ich sprach kein Wort, sondern legte einfach meinen Arm um seine Schulter. Er schaute mich dankbar an und lehnte seinen Kopf in meine Schulter. Immerhin war er einen knappen Kopf kürzer.
»Danke.«
»Nein, dafür nicht. Das geht schon klar. Aber ich muss dich schon wieder was fragen.«
»Ich kenne keinen Menschen, der so viel fragt wie du. Und nachdem du dich vermutlich sowieso nicht aufhalten lässt, frag einfach.«
»Haben sich deine Pläne denn geändert bezüglich dem, was du heute Abend vor hast?«
»Nein, haben sie nicht.«
»Doch, jetzt schon.«
»Hä? Ich versteh nur Bahnhof.«
»Macht nichts, du musst nicht alles verstehen. Aber du solltest dich vielleicht nochmal frisch machen und umziehen.«
»Wieso?«
»Nicht fragen, einfach tun, was ich sage.«
»Nur eine Frage, wohin entführst du mich? Ich frage nur wegen der Kleidung. Ob warm oder so.«
»Gute Frage, ich würde mal sagen, Normales reicht. Thermounterwäsche ist nicht nötig, oder so.«
Und er tat wie ihm geheißen ward und ging ins Bad. Und so schaute ich mich in dem Appartement um. Es war zwar nicht sehr groß, aber schön eingerichtet. Es gab eine kleine Couch mit Tisch davor, einen kleinen runden Esstisch mit vier Stühlen, eine Kochnische, die auch als Tresen diente und neben dem Regal-Schrank-System einen Schreibtisch, der recht chaotisch aussah. Irgendwo unter dem ganzen Chaos musste sich eine Tastatur für den Computer befinden. Abgesehen von dieser Unordnung war das Zimmer sehr ordentlich und sauber. Dann gab es noch einen zweiten Raum, vermutlich das Schlafzimmer, was ich aber nicht weiter ergründete. Etwa 15 Minuten später konnten wir aufbrechen. Michi hatte sich umgezogen und wohl auch kurz geduscht. Jedenfalls roch er sehr gut.
Michi schnallte sich einen Rucksack um und wir begaben uns also zu meinem Auto. Ich startete den Motor, wir fuhren ab, und wenig später waren wir bei mir daheim angekommen.
»So, hier sind wir. Das ist Michi. Michi das sind meine Eltern.«
Wir befanden uns in der Küche, da das Wohnzimmer mehr oder weniger Sperrgebiet war. Auch wenn ich schon groß war, so haben wir diese Tradition doch beibehalten. Nachdem sich die drei bekannt gemacht hatten, meldete ich mich wieder zu Wort.
»Darf ich dich kurz bei meiner Mutter lassen, ich muss noch kurz was mit Paps besprechen.«
»Klar, aber nicht, dass du mich hier aussetzt.«
»Keine Angst, wobei du sicher nicht verhungern würdest«, grinste ich Michi an.
Ich begab mich also mit meinem Vater nach draußen zu meinem Auto, öffnete den Kofferraum und reichte ihm das gut hüfthohe Geschenk, das ich zuvor im Kaufhaus für Michi gekauft hatte. Den Rest der Geschenke hatte ich schon in Köln besorgt. Mein Vater verstand, was er damit zu tun hatte und beförderte es ins Wohnzimmer, während ich zurück in die Küche ging.
»Schon wieder da?«
»Das ging ja schnell.«
»Klar, hab ich ja gesagt. Aber was anderes. Mama, ist Thilo schon da? Ich hab ihn noch gar nicht gesehen.«
»Jo, der ist vor einer guten Stunde gekommen und oben in seinem Zimmer.«
»Weiß er schon etwas?«
»Nur, dass wir Besuch haben, mehr nicht. Den Rest solltest du selbst ihm erklären.«
»Dann schau ich da mal hoch. Kommst du mit Michi, oder willst du lieber nen Tee.«
»Ein Tee wäre sehr schön, aber dein Zimmer sehen auch.«
»Na, dann nimm dir eine Tasse mit hoch«, meinte Mutter, indem sie Michi und mir zwei Tassen Tee reichte. »Und in einer guten Stunde gibt es Essen.«
Wir nahmen ihr die Getränke ab, und gingen nach oben. Ich führte Michi in mein Zimmer, erklärte ihm kurz die Stereoanlage und entschuldigte mich noch einmal, da ich zu meinem Bruder wollte. Ich ging zu seinem Zimmer und klopfte an seine Tür. Nach dem mir der Eintritt gewährt worden war, öffnete ich die Tür.
»Hi Thilo.«
»Bist du auch mal wieder hier? Freut mich, dich zu sehen.«
»Jo, und alles klar bei dir?«
»Alles prima, hast du deinen Besuch mitgebracht?«
»Klar hab ich das. Er ist in meinem Zimmer und hört gerade etwas Musik. Aber ich wollte kurz mit dir was bereden.«
»Dann schieß los.«
»Also, kurz und schmerzlos: Ich bin schwul.«
»Erzähl mir was neues.«
Der also auch. Aber mittlerweile war ich es gewohnt.
»Woher weißt du es denn?«
»Von deinem Studienkollegen Frank.«
»Woher kennst du denn Frank?«
»Ganz einfach. Du weißt doch, dass seine Eltern in die Nähe von München gezogen sind?« Ich nickte. »Und seine Schwester geht zufällig in meine Klasse.«
»Und jetzt weiß es die ganze Schule, oder?«
»Nein, bestimmt nicht. Karin ist da recht verschwiegen, und hat irgendwann mal erwähnt, dass du schwul bist, als wir zusammen für ein Referat gearbeitet haben. Sie meinte, dein Freund hätte dich verlassen, dieser Arsch. So zumindest ihre Worte.«
»Womit sie allerdings Recht hatte, also mit dem Arsch. Und was sagst du dazu?«
»Muss ich noch was sagen? Du bist in meinem Zimmer, ich rede mit dir. Oder was willst du hören?«
»Stimmt, nichts mehr. Hab ich mich also doch nicht in dir getäuscht.«
»Hey, ich bin dein Bruder, und jetzt lass dich erst mal knuddeln.«
Und noch eine Runde, aber es tat gut. Danach setzte ich Thilo noch etwas über Michis Vergangenheit in Kenntnis, damit er sich beim Essen nicht versehentlich daneben benahm. Etwas später ging ich wieder in mein Zimmer. Dort saß Michi auf meinem Schreibtischstuhl, wanderte anscheinend gerade mit seinem Blick durch meine CD-Sammlung und schien mich nicht bemerkt zu haben.
»So, da bin ich wieder.«
Er zuckte leicht zusammen.
»Musst du mich so erschrecken?«
»Nein, aber du musst ja auch nicht so gebannt meine CD-Sammlung hypnotisieren.«
Er grinste mich an, und ich ihn. Ich setzte mich auf mein Bett und wir unterhielten uns. Hauptsächlich ging es um Musik und Filme, und etwas Literatur. Ich musste feststellen, dass Michi einen sehr außergewöhnlichen, aber guten Geschmack hatte. Er hatte auch bei seiner Kleidungsauswahl einen guten Geschmack, nur seine anscheinende Vorliebe für weiße Sportsocken zu einer schwarzen Jeans musste ich ihm wohl noch austreiben. Mittlerweile war er zu mir auf das Bett gekommen und saß mir im Schneidersitz gegenüber. Unser Gespräch war abgeebbt und wir sahen uns an.
Ich sah ihn an. Klick! Er sah mich an. Klick! Wir sahen uns an. Klick! Da war es geschehen und wir mussten beide loslachen. Einfach so. Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, musste ich mal wieder etwas fragen.
»Was war das?«
»Das weißt du genauso gut wie ich«, grinste er mich frech an. Ich grinste nur zurück.
Unsere Köpfe bewegten sich aufeinander zu. Langsam, ganz langsam, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen uns waren. Und dann geschah es. Wir küssten uns. Innig, sehr innig. Ohne unsere Lippen zu trennen brachten wir uns in eine angenehmere Position. Soll heißen, wir legten uns auf mein Bett. Sanft legte ich meinen Arm um Michi und er seinen um mich. So lagen wir dann da, küssten uns und streichelten uns gegenseitig über den Rücken. Mehr geschah nicht, nur intensive Küsse. Mehr wollten wir auch nicht. Jetzt zumindest nicht.
»Jungs kommt runter, es gibt gleich Essen.«
Nach einem letzten Kuss lösten wir uns voneinander, brachten unsere Kleidung in Ordnung und machten uns auf den Weg ins Esszimmer. Der Tisch war schon feierlich gedeckt und in der Mitte stand ein großer Fondue-Topf. Michi setzte sich neben mich an den Tisch und schon begann es, in dem Topf zu brutzeln und rauschen, während das Fleisch in den Töpfen einen letzten vergeblichen Kampf gegen die Hitze focht. Nach über einer Stunde waren wir dann auch mehr oder weniger fertig mit dem Essen und stöhnten.
»Das war wirklich sehr gut, aber ich glaube ich platze gleich, Frau Huber.«
»Da bist du nicht der einzige, wenn ich mir meine drei Männer so ansehe. Aber sag bitte Inge zu mir.«
»Gerne doch, aber platzen tu ich so oder so.«
»Da hilft nur eines. Ein Verdauungs-Schnaps. Willst du auch einen, Michi?«
»Gerne, Herr Huber.«
»Bei mir gilt das gleiche wie bei meiner Frau.«
»Gerne Inge«, grinste er meinen Vater an.
Mein Vater schaute etwas verdutzt drein und dachte wohl nochmal über diesen Dialog nach. Man sah deutlich, wie es in seinem Gehirn ratterte. Dann zogen sich seine Mundwinkel nach oben, brach in schallendes Gelächter aus und auch wir konnten unser Lachen nicht weiter unterdrücken. Nachdem wir uns alle wieder einigermaßen beruhigt hatten, schenke mein Vater allen einen Grappa ein und wandte sich an Michi.
»Also, dann hab ich jetzt nochmal was zu dir sagen. Erstens, ich bin nicht Inge für dich, sondern Karl, und zweitens, wenn ich mir euch zwei so anschaue: 'Willkommen in der Familie'.«
Zwei Köpfe wurden rot. War das so auffällig?
»Allerdings.«
Wie? Ich hatte doch gar nicht laut gesprochen, und ich hatte ja noch nicht mal von dem Schnaps getrunken.
»Hab ich jetzt laut gedacht, oder wie?« brachte ich meine Verwunderung zum Ausdruck.
»Nein, hast du nicht, aber Michi hat laut gefragt.«
Na, auch gut – ich denke, er redet.
»Und jetzt 'Prost'.«
Wir stießen mit unseren Gläsern an und kippten das Zeug runter. Und schüttelten uns erst mal. Aber es schien zu wirken. Schon kurz darauf fühlte ich mich schon nicht mehr ganz so voll.
»So, und jetzt wird der Tisch abgeräumt und das Zeug in die Spüle gestellt, und danach ist Bescherung.« Verlegen blickte Michi zum Boden.
»Hey, was ist los, Kleiner?«
»Ach nichts, nur ich hab gar keine Geschenke...«
»Na und? Du wusstest ja auch nicht, dass du mit uns feiern würdest. Also Kopf hoch. Der ist viel zu süß, als dass du ständig den Boden anstarren musst.«
»Ist ja ekelhaft, zwei so frisch Verliebte... Oder wollt ihr euch vorm Abräumen drücken?« grinste uns mein Bruder an.
»Wir machen ja schon, und außerdem ist es für fünf Leute doch etwas eng in der Küche.«
»Alles nur Ausreden. Also schwingt die Hufe.«
Also schnappten wir unsere Teller und brachten sie zu meiner Mutter, die den Geschirrspüler einräumte.
Nach einer knappen halben Stunde saßen wir alle im Wohnzimmer auf der Couch und rauchten noch eine Zigarette. Normalerweise wurde bei uns nur im Hobbyraum und im Arbeitszimmer meines Vater geraucht, aber bei Familienfesten wurde schon mal eine Ausnahme gemacht. Nachdem also alle Zigaretten aus waren, ging es an das Verteilen der Geschenke. Immer abwechselnd durfte einer zum Baum gehen und sich die Geschenke mit seinem Namensschild nehmen. Und wenn er mit dem Auspacken fertig war, durfte der nächste seine Geschenke abholen. Die Reihenfolge wurde dabei durch Streichhölzer ausgelost.
»Leider hab ich nur vier Streichhölzer, da ich mittlerweile ein eigenes Feuerzeug besitze. Tut mir Leid für dich, Michi«, sagte mein Vater theatralisch.
Er ging herum und reichte meiner Mutter die Hand, sie zog ein Streichholz, danach kamen ich und mein Bruder dran. Als erstes durfte mein Bruder, dann mein Vater, danach ich und zum Schluss meine Mutter. Mehr und mehr lichtete sich das Sammelsurium an Geschenken vor dem Baum. Ich beobachtete Michi sehr genau während der Bescherung. Er freute sich schon, dass wir uns so freuten. Aber gleichzeitig wirkte etwas traurig, dass er keine Geschenke hatte und bekam. Meine Mutter suchte sich gerade ihre Geschenke, und durch puren Zufall blieb natürlich ein großes Geschenk übrig. Nachdem meine Mutter fertig war mit Auspacken, fiel ihr Blick auf das einsame Geschenk.
»Komisch, irgendwer hat wohl eines seiner Geschenke wohl vergessen. Wobei, ich hab niemandem so ein großes Geschenk gekauft, du auch nicht Karl, oder?«
»Nein, ich nicht, und du Thilo?«
»Ich auch nicht. Bleibt eigentlich nur noch Tom übrig.«
»Ach Mist, das hätte ich ja fast vergessen. Stimmt, gekauft hab ich das schon. Aber für wen war das nochmal.«
Ziemlich verwirrt sah Michi zwischen uns hin und her. Ich musste meine Familie echt loben, sie spielten ihre nicht abgesprochenen Rollen wirklich fabelhaft.
»Dann muss ich wohl noch mal nachsehen, wessen Name da drauf steht.«
Also ging ich zu dem Geschenk und betrachtete sehr intensiv den kleinen Namenszettel. Schaute in die Runde, blickte wieder den Zettel an, und noch einmal bedeutungsvoll in die Runde. Langsam brachte ich die folgenden Worte hervor.
»Heißt hier zufällig jemand Michi?«
»Ja, ich«, strahlte mich ein überglücklicher Kerl an.
»Na, dann ist das hier wohl deines. Und diese ganze Verwirrung nur wegen dir, Papa.«
»Ja, jetzt sind wieder die Alten Schuld«, lachte er mich an.
Mittlerweile war Michi aufgestanden und hievte sein Geschenk hoch. Er trug es zum Tisch, öffnete vorsichtig die große dunkelblaue Schleife, und das hellblaue Papier mit den Sternen darauf ging auf und zum Vorschein kam ein riesengroßer brauner Teddybär.
»Für dich, damit du was zum kuscheln hast, wenn ich nicht bei dir bin.«
»Danke, du spinnst.« Kleine Tränen kullerten seine Augen hinunter. Ich ließ es einfach geschehen. Es waren Freudentränen und auch meine Augen waren feucht. Ich freute mich, dass Michi sich freute. Und um seine Tränenflut etwas zu stoppen, gab ich ihm einen Kuss.
Danach setzten wir uns wieder hin und inspizierten unsere gerade erhaltenen Errungenschaften. Ich war gerade dabei, meinen neuen Drucker, den ich dringend benötigte, zu inspizieren, als Michi das Wort an uns alle richtete.
»Wenn ich kurz noch etwas sagen drüfte. Ich wollte mich eigentlich nur für dieses schöne Weihnachtsfest und das Essen bedanken. Das war das schönste Weihnachten seit einigen Jahren. Danke vielmals.« Und wieder bekam er feuchte Augen. Ich würde wohl einen besonders großen Vorrat an Tempos anschaffen müssen.
»Und vor allem möchte ich dir Danke sagen, Tom.«
»Das ist nicht nötig. Das haben deine Augen schon erledigt.«
»Schön gesprochen, mein Sohn.«
Ich war glücklich und mit mir und der Welt zufrieden. Ich stand auf, ging zur Stereoanlage und schaltete sie ein. Ich atmete einmal tief durch.
»Ja, jetzt ist Weihnachten.«
Sanfte Musik kam aus den Lautsprechern und ich setzte mich neben meinen Schatz und nahm ihn in den Arm.
»Have yourself a merry little Christmas
Let your heart be light
From now on our troubles will be out of sight
Have yourself a merry little Christmas
Make the Yule-tide gay
From now on our troubles will be miles away
Here we are as in golden days
Happy golden days
Of yore
Faithful friends who are dear to us
Gather near to us
Once more
Through the years, we all will be together if the fates allow
Hang a shining star upon the highest bough
And have yourself a merry little Christmas now»
(Lyrics by Ralph Blane)
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