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Ein Winterlied

Teil 2 - Brich mir die Flügel, dann brech ich dir deine

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Informationen

Vorwort

GANZ WICHTIG: ich weiß nicht genau, wie man einen Kommi-kasten einfügt, aber ich wollte hier noch eins gesagt haben... und da ich bei Teil 1 halt nicht wusste wie, schreib ich’s einfach hier mit rein: DAS IST NICHT VON MIR ALLEINE!!!! Das ist ein Rollenspiel. Ich habe nur den Part aus Alains Sicht geschrieben, und die Grundstory bis... *überleg* na ja, relativ weit ^^... der Rest ist von Absolutely Black Rain.

-2: Brich mir die Flügel, dann brech ich dir deine–

Als er die Dusche nach mindestens einer Stunde wieder verließ, schlug ihm sofort ein eisigkalter Wind entgegen. Caspar erschauerte, flüchtete sich mit einem Handtuch schnell in sein warmes Zimmer und, als er sich abgetrocknet hatte, unter die Bettdecke.

Die Augen fest zusammengepresst zog er sich die Decke über den Kopf.

Doch sofort erschien das Bild eines jungen Engels vor seinem geistigen Auge. Wie vom Blitz getroffen öffnete er die Augen wieder.

Warum? Womit hatte er das verdient?

Reichte es denn nicht, dass die Drogen ihn seines Vaters beraubt hatten, als er gerade mal elf gewesen war? War es nicht genug, dass sie den Sohn eines gut verdienenden, allerdings auch immer sehr gestressten Managers zur Halbwaise gemacht hatten? Mit Tränen in den Augen starrte er auf das alte Familienfoto auf seinem Schreibtisch.

Nie hatte er es vollständig begreifen können. Noch heute ertappte er sich bei dem Gedanken, seinen Vater Zeitung lesend im Sessel zu erwarten, wenn er seine Mutter besuchte.

Fröstelnd hörte er, wie der Wind aus dem Bad unter seiner Zimmertür hindurch pfiff.

Und wieder stieg die Sorge in ihm auf. Er dachte an die Jeans mit den vielen Löchern und dünnen Stellen und das Sommerhemd.

Verwirrt kämpfte er sich unter der Decke hervor und zog sich unwillkürlich an, suchte dabei einen warmen schwarzen Pullover und eine ebenso schwarze Jeans heraus. Dann trat er, mit vor Sorge gerunzelter Stirn ans Fenster und blickte hinaus in das kalte Dunkelgrau, welches sich über die Welt gelegt hatte.

Caspar biss sich auf die Lippen.

Hatte er überreagiert? Was konnte er schließlich von dem Jungen erwarten? Hätte Caspar seinen Körper verkaufen müssen, hätte er sicherlich auch nach etwas gesucht, um seine Empfindungen abzutöten oder wenigstens zu ändern.

„Scheiße!“, schrie Caspar verzweifelt auf.

Dann schnappte er sich Schlüssel und Mantel und war kaum eine dreiviertel Minute später schon dabei, den Motor zu starten.

---

Er war den gleichen Weg zurückgefahren, den sie gekommen waren, aber der Junge konnte überall sein – er hatte ja auf dem Hinweg geschlafen und solange er sich nicht in der Gegend auskannte – was Caspar wirklich stark bezweifelte – konnte er jeden Weg genommen haben. Und wer sagte ihm, dass „Rocco“ wieder dorthin zurück wollte, wo Caspar ihn gefunden hatte?

Jedenfalls war er nicht dort und keiner von Caspars Kollegen konnte ihm sagen wo der Kleine sich befand – nicht einmal für eine hübsche Summe Geld...

Irgend ein zwielichtiger Drogendealer hatte ihm dann schließlich doch im Tausch gegen einen 50-Dollar-Schein erklären können, wo er ihn vermutlich finden würde und nun war er ganz in der Nähe des U-Bahnhofs, den ihm der Typ genannt hatte, doch von Rocco war noch immer nichts zu sehen.

Plötzlich machte der Wagen vor ihm eine Vollbremsung und Caspar konnte sich gerade noch so retten, in dem er schnell auf die andere Fahrbahn schwenkte und dann ebenfalls scharf bremste. Er konnte von Glück reden, dass er keinen Gegenverkehr hatte...

Einen Moment konnte er nur erschrocken auf sein Lenkrad blicken, dann hörte er, wie heftig an sein Beifahrerfenster geklopft wurde. Er blickte langsam auf und sah das vor Angst verzerrte Gesicht der Frau, die so eben diese grandiose Vollbremsung hingelegt hatte.

Hastig ließ Caspar das Fenster herunter und sofort wurde er panisch angeschrieen: „Verdammt, fahren Sie zur Seite, ich komme nicht aus dem Auto!!!“

Tatsächlich waren ihre beiden Autotüren zwischen Caspars BMW und einem Halteverbotsschild eingeklemmt, aber Caspar war sich nicht ganz klar, warum die Frau überhaupt aus ihrem Auto wollte.

„Hören Sie nicht? Mein Gott, der Junge! Er ist plötzlich aufgetaucht. Ich konnte nicht mehr schnell genug bremsen. Nun machen Sie schon“, rief sie völlig durcheinander.

Caspars Kopf ruckte auf die Straße. Im Halbdunkel zwischen zwei Laternen konnte er eine reglose Gestalt ausmachen.

Erschrocken setzte er zurück und sprang dann selbst aus dem Auto.

Die Frau kniete bereits panisch vor dem Jungen den Caspar im nebligen Dunkel nur schemenhaft erkennen konnte und machte im Moment so ziemlich alles falsch was man bei einem Unfallopfer falsch machen konnte.

„Lassen Sie mich mal – ich bin Medizinstudent“, sagte Caspar tief durchatmend und schob die Frau mit sanfter Gewalt zur Seite.

„Ich... ich...“, machte die Frau aufgelöst.

„Sie können nichts dafür“, bestätigte Caspar und sah ihr fest in die Augen. „Es ist viel zu dunkel, Sie konnten ihn unmöglich sehen – machen Sie sich keine Sorgen... Und nun lassen Sie mich bitte...“

Die Frau gab es auf, sich an ihn zu klammern und machte ihm nun tatsächlich Platz, so dass sich der Medizinstudent endlich dem Jungen widmen konnte.

Erstarrt blickte Caspar auf das Gesicht des leblos da liegenden Körpers; alles in ihm schien mit einem Mal zu gefrieren.


Er spürte nichts. Es war, als würde er von weitem zusehen, wie er überfahren wurde, und doch brannte sich jedes einzelne Bild in sein Gedächtnis ein; das Gesicht der Frau, panisch verzerrt, wie sie verkrampft versuchte noch rechtzeitig abzubremsen; die blockierenden Reifen die, vom Schwung der Fahrt nach vorne gerissen, über das Eis auf ihn zuschlingerten; der kurze und doch zugleich endlos scheinende Moment, als er durch die Luft geschleudert wurde und dann... nichts mehr.


„Rocco...“, hauchte er betäubt und sank auf die Knie.

„Sie... Sie kennen ihn?“

„Rocco... Mein Gott, ja ich kenne ihn...“ Sein Hals war wie zugeschnürt und die Angst, schon wieder jemanden zu verlieren den er mochte, stieg in ihm auf, während er automatisch versuchte, festzustellen, wie viel der Kleine abgekriegt hatte.

„Ich... wollte es doch nicht, bitte, Sie müssen mir glauben, ich...“

„JA, VERDAMMT! DAS SAGTE ICH DOCH BEREITS!“, schrie Caspar wutentbrannt und stieß die aufgelöste Frau von sich.

Die Frau verstummte und hockte sich stumm weinend auf die andere Seite, hatte Roccos zierliche Hand ergriffen, als wolle sie ihn trösten, brauchte im Moment vermutlich aber eher selbst Trost.

Zehn Minuten später sank Caspar erleichtert aufseufzend zurück. Einen Moment konnte er nicht anders, als die Augen schließen und Roccos Schutzengelarmee danken.

„Er hat eine Platzwunde am Hinterkopf und vermutlich eine gehörige Gehirnerschütterung. Innere Verletzung hat er, soweit ich das sagen kann, nicht. Jedoch eine gebrochene Rippe, aber ansonsten ist es wohl noch mal gut gegangen.

Sie sind ja wegen des Eises Gott sei Dank nicht allzu schnell gefahren...“, erklärte er leise und schob Rocco mit feuchten Augen eine der langen schwarzen Strähnen aus dem bleichen Gesicht.

Ja, er hatte eindeutig die Angst, jemanden zu verlieren den er MOCHTE, gespürt... Etwas war an diesem Jungen, etwas verband sie beide und das Gefühl wurde nur stärker, je weniger er es sich erklären konnte...

„Sollten wir nicht einen Krankenwagen rufen?“, fragte die Frau schüchtern und reichte ihm ein Taschentuch von der Packung, von der auch sie schon Gebrauch gemacht hatte.

Er nahm es dankbar an, wischte sich verstohlen einige Tränen aus den Augenwinkeln, bevor er sich schnäuzte.

„Nein, das ist in Ordnung. Ich werde ihn mitnehmen“, sagte er leise und schob vorsichtig seine Unterarme unter den schmalen Körper, hob „Rocco“ dann behutsam hoch und trug ihn zu seinem Auto.

Hilflos hielt ihm die Frau die Tür auf, so dass Caspar ihn umständlich auf die Rückbank betten konnte.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte er noch einmal. Sie nickte verstört.

Dann zog Caspar die Autotür zu und fuhr schnurstracks zurück nach Hause.


Alain erwachte und starrte entsetzt auf den Autositz und den Hinterkopf, dessen Umrisse er im ersten Licht des Tages ausmachen konnte. Schmerzen, die von keiner bestimmen Wunde auszugehen schienen, durchzogen seinen ganzen Körper, nahmen ihm den Atem. Er mochte Schmerzen. Sie vertrieben die Leere in ihm, - doch nun zeigten sie ihm nur gnadenlos, dass er noch immer am Leben war.

Er schloss verzweifelt die Augen und spürte, wie wieder Tränen seine eingefallenen Wangen hinab in seinen kalten Nacken liefen und seine Haut kitzelten. Erst einzeln, doch dann in unaufhaltsamen Sturzbächen rannen sie lautlos weiter, als er die Stimme des Mannes erkannte, der leise fluchend das Auto fuhr.

Erst nach einigen Minuten fiel er in die gnädige Schwärze zurück, aus der er nie mehr zurückzukommen hoffte.


Müde betrachtete er die leicht zitternde, gerade eben medizinisch versorgte Gestalt, die in den geliehenen Shorts und einem für „Rocco“ viel zu großen schwarzen Hemd auf dem „Bett“ lag und deckte sie dabei sorgfältig zu. Ein letztes Mal wischte er dem Jungen kalten Schweiß von der Stirn, dann brachte er den Verbandkasten und alle anderen Utensilien die er benutzt hatte zurück.

So unglaublich es auch schien, aber entweder studierte er den völlig falschen Beruf oder seine „Diagnose“ stimmte tatsächlich...

Er hatte sich gesagt, dass bis morgen schon nichts passieren würde und dann konnte er weiter sehen.

Für einen Moment hockte er sich einfach nur völlig fertig auf einen Küchenstuhl, legte das Gesicht in seine Hände.

Dann stand er vor Müdigkeit leicht wankend auf und schloss die Haustür ab. Er erwartete für heute keinen seiner Mitbewohner mehr zurück und falls sich doch einer von ihnen nach Hause verirren sollte hatten sie ja selbst Schlüssel.

Es war völlig lächerlich, da der Junge, wenn er aufwachte, kaum die Kraft haben würde seine Augen zu öffnen, und doch befürchtete er, „Rocco“ könne versuchen sich davonzustehlen während Caspar schlief.

Und dieser Gedanke machte Caspar nicht nur wegen der Verletzungen und der sehr wahrscheinlichen Gehirnerschütterung des Jungen Angst...

Er starrte in den mit Sprüngen durchzogenen Spiegel im Flur.

/Bin das wirklich ich?/, dachte er betäubt. Er wusste es nicht zu sagen...

Auf den niedrigen japanischen Tisch neben seinem Bett legte er einen kleinen Zettel („Weck mich, wenn du wach bist! Caspar“) für den Fall dass Rocco aufwachte, lesen konnte und auch genug Kraft hatte um sich den Zettel anzusehen. Darauf stellte er noch ein Glas Wasser. Bestimmt würde er, wenn nicht Hunger so doch zumindest großen Durst haben.

Er war sehr müde, doch er wusste, er war noch immer viel zu aufgeregt, zu mitgenommen von dem Anblick der leblosen schmalen Gestalt auf dem feuchtkalten Asphalt und so suchte er sein Notizbuch und einen Bleistift, begann fast völlig unbewusst den Jüngeren zu zeichnen und während er über diesen nachdachte, formten sich nach und nach Gedanken in seinem Kopf die ihren Weg schließlich auch auf das Papier fanden.

Dann zog sich Caspar erschöpft bis auf seine Unterhosen aus und legte sich zu der schmalen Gestalt. Sanft zog er den von Schüttelfrost geplagten Jungen in seine Arme, um ihn so ein wenig zu wärmen, strich vorsichtig über die trockenen Lippen, die heißen Wangen, die geschlossenen, leicht flatternden Lider.

„Schlaf gut“, hauchte Caspar und war einen Moment später selbst eingeschlafen.


Als Alain das nächste Mal erwachte spürte er sofort, dass er nicht mehr fuhr oder im Wagen lag. Vorsichtig öffnete er die Augen. Sein Blick fiel auf einige erloschene Kerzen und schlagartig wurde ihm klar, wo er sich befand. Mit einem Satz sprang er aus dem Liegen auf die Füße, bereute dies aber sofort wieder als sich alles wild um ihn drehte und Übelkeit in ihm aufstieg. Seine Beine gaben nach und er fiel auf die Knie. Fast eine Minute lag er auf den Knien, bis der Schwindelanfall abflaute. Langsam, diesmal vorsichtiger, richtete er sich wieder auf, sich diesmal am Couchtisch abstützend. Sein getrübter Blick fiel dabei auf ein Glas Wasser und einen Zettel. Das Wasser ignorierte er, obwohl ihm die Kehle brannte und er griff nach dem Papier, sich auf den Tisch setzend. Langsam und unsicher buchstabierend entzifferte er die Worte, bis sein Kopf zu zerspringen drohte: „Weck mich, wenn du wach bist! Caspar“

Das Lesen hatte er sich selber beigebracht, in dem er die Leute auf der Straße gefragt hatte, was auf Werbeschildern stand.

Eine Weile starrte er nur unschlüssig auf die schlafende Gestalt auf dem Bett, stand dann jedoch schwankend und viel vorsichtiger als zuvor auf und stolperte, sich an der Wand abstützend, auf die Tür zu. Jeder Schritt bereitete ihm Mühe, sein Herz raste und er keuchte schon, kaum dass er die Tür erreicht hatte, als wäre er meilenweit gerannt.

Jede einzelne der Treppenstufen verursachte einen stechenden Schmerz in seiner Brust und er atmete erleichtert auf, als er endlich vor der Haustür stand. Zu früh, wie er enttäuscht feststellen musste: sie war verschlossen.

Wütend ließ er sich auf den Boden sinken und lehnte sich erschöpft gegen die Tür.

Er spürte einen eisigen Luftzug und schloss daraus, dass irgendwo ein Fenster offen stehen musste, doch er hatte nicht die Kraft der Kälte zu folgen und so rollte er sich, dort wo er gesessen hatte einfach zusammen und schlief fast sofort wieder ein.

Eine Stimme drang in sein Bewusstsein. „Caspar?“

Eine Hand berührte seine Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Widerwillig schlug er die Augen wieder auf. Über ihm stand ein dunkelhaariger Mann mit besorgtem Blick. Alain murmelte nur leise „Geh weg!“ und wollte sich wieder zusammenrollen doch der Mann hielt seine Schulter eisern fest. Ein stechender Schmerz fuhr, von seiner Brust ausgehend, durch seinen ganzen Körper als er alle Muskeln anspannte, bereit sich zu verteidigen wenn er es musste. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Der Andere sprach mit ihm, doch er konnte den Sinn der Worte nicht begreifen. Bis auf die Hand, die sich durch die Falten des viel zu großen, schwarzen Hemdes in sein Fleisch krallte nahm er nichts mehr von seiner Umgebung war. Lange, sehnige Finger griffen nun auch in sein Haar und zwangen ihn, den Fremden anzusehen.

Der Fremde zog ihn auf die Füße und fing ihn auf, als er sofort zurückfiel. Übelkeit stieg in ihm auf und er übergab sich, würgte bittere Galle hervor, während die Arme des Anderen, wie in einer Umarmung von hinten um ihn geschlungen ihn am Fallen hinderten. Er lies sich widerstandslos von ihm hochheben und nach oben tragen. Der Mann sprach weiter zu ihm, doch er begriff die Bedeutung der Worte nicht. Das nächste, das er wieder bewusst wahrnahm war, wie er in das Bett zurückgelegt wurde aus dem er geflohen war und sich der Fremde über Caspar beugte und ihn wild schüttelte.


Caspar schreckte auf und sah blinzelnd in das Gesicht einer seiner Mitbewohner: Jake.

„Was...?“, machte er verschlafen.

„Würdest du mir freundlicher weise verraten wer das ist, Caspar? Da er dein Hemd trägt, nehme ich doch mal an du kennst ihn... Was ist mit dem Kleinen? Sieht ja aus wie von `nem Zug überfahren... Und was zum Teufel macht er hier??“, rief Jake aufgebracht. Er war wohl wirklich sehr besorgt.

Müde sah Caspar zur Seite und erkannte Alain, der ein wenig Mühe zu haben schien, ihn zu fokussieren. Allerdings lag er nicht mehr dort, wo er ihn hingelegt hatte und der Zettel, den er geschrieben hatte lag auf dem Boden.

„Schrei nicht so rum, Jake! Das ist... „Rocco“. Er hatte heute einen Unfall – nichts Schlimmes, aber auch nicht ohne weiteres wegzustecken. Und da hab’ ich ihn eben mit zu mir genommen. Er wird nichts anstellen, keine Sorge. Ich pass schon auf ihn auf... So wie er jetzt ist, kommt er ohnehin keinen Meter weit...“, erwiderte Caspar gähnend und richtete sich auf.

Besorgt musterte er Rocco. Wach war er schon einmal – gut.

Aber sein Blick verriet auch, dass er große Schmerzen haben musste.

„Wieso habe ich ihn dann vor der Haustür wieder gefunden? Mein Gott, du bist Medizinstudent, okay, du wirst es wohl wissen, aber er ist ja nicht mal ansprechbar und versucht, nur mit einem Hemd und Shorts bekleidet, abzuhauen?!“

Caspar seufzte. „Nun beruhige dich doch erst Mal, Jake...“

/Er hat versucht abzuhauen?/, dachte er jedoch – sehr beunruhigt.

Doch Jake hatte nicht vor, sich zu beruhigen. „Du kannst doch nicht einfach wildfremde Leute herschleppen! Außerdem gehört der Kleine ins Krankenhaus! Gerade als Medizinstudent müsstest du das doch wissen!“

Caspar sah aus den Augenwinkeln wie Rocco zusammenzuckte als Jake das Krankenhaus ansprach. „Er ist nicht wildfremd. Ich kenne ihn. Noch nicht lange, aber gut genug, damit ich mir Sorgen um ihn mache, okay? Wenn du was Nützliches tun willst, dann hör auf so rumzubrüllen! Das Einzige was du damit bewirkst, ist uns allen hier Kopfschmerzen zu machen!“

Verdattert starrte Jake ihn an. Dann fasste er sich langsam wieder. „Sorry, Caspar... Ich bin wohl einfach ausgetickt als ich den Kleinen so gesehen habe... Und es ist wirklich nichts Schlimmes? Und du kennst ihn?“

Beruhigend nickte Caspar und klopfte Jake auf die Schulter. „Schon okay. Rocco wird schon wieder. Wie wär’s, wenn du schon mal Brötchen fürs Frühstück holen gehst, hm?“

Jake sah ihn ein wenig ratlos an, nickte dann aber langsam. Jedoch, bevor er ging, beugte sich Jake zu seinem Ohr hinunter und flüsterte leise: „Ich hoffe du weißt, was du da tust... Er ist noch ziemlich jung, oder...“

„Was?“, machte Caspar verblüfft, doch Jake lächelte nur und ging mit einem betont fröhlichen „Ich geh dann mal die Brötchen holen...“

Stirn runzelnd blickte Caspar ihm nach, wurde nicht schlau aus der Sache und zuckte deswegen nur mit den Achseln. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Rocco zu.

„Hey... Wie geht es dir? Soweit alles in Ordnung? Du bist angefahren worden – erinnerst du dich? Glücklicherweise war ich zufällig gerade da... Da es nichts Lebensgefährliches ist, habe ich dich erst einmal wieder mit zu mir genommen... Wie... wie fühlst du dich?“

Und während er auf eine Antwort wartete, fragte er sich selbst: /Wieso fällt es mir so schwer, zuzugeben, dass ich ihn gesucht habe?/


Alain wollte Jake bitten, ihn nicht mit Caspar allein zu lassen, doch schon seine Umgebung nicht doppelt und verschwommen wahrzunehmen überstieg im Augenblick seine Kräfte. Wie aus weiter Ferne drangen die Fragen des Anderen an sein Ohr, doch wie schon bei Jake begriff er den Sinn der Worte nicht.

Nach einigen Minuten verließ Caspar den Raum und Alain rappelte sich mühsam hoch und trat, schwankend wie ein Betrunkener, an das Fenster.

Schon es zu öffnen war unendlich schwer. Er sah hinaus und nach unten. Selbst wenn er es schaffen sollte, auf den Fenstersims zu klettern, was er sich im Moment jedoch nicht zutraute, den Sturz hätte er in seinem derzeitigen Zustand nicht abfangen können. Leise seufzend ließ er sich neben dem Schreibtisch auf den Boden sinken und zog die Knie an die Brust. Er bereute dies sofort wieder und atmete scharf durch die schmale Lücke zwischen den Vorderzähnen ein, als ein scharfer Schmerz seine Brust durchzuckte.

Als sich der Nebel vor seinen Augen lichtete zog er die oberste Schublade des Schreibtisches heraus und wühlte gedankenverloren darin herum. Er fand ein Notizheft, alle Seiten mit Caspars eng verschlungener Handschrift vollgequetscht.

Einen Moment versuchte er darin zu lesen, gab es aber gleich wieder auf und steckte es einfach hinten in den Saum der Shorts. Der Rest des Inhalts sah so aus, als hätte Caspar einfach die Schublade geöffnet und alles von seinem Tisch aus dort hinein geschoben: Jede Menge Kleinkram wie Radiergummis, Kulis oder Merkzettel häuften sich mit halb heruntergebrannten Kerzen und Büchern unordentlich in dem Fach; das einzig Interessante was er noch fand war Caspars Spardose. Alain brauchte keine zwei Sekunden um das Vorhängeschloss zu öffnen.

In einer der anderen Schubladen, allesamt voller unordentlichem Kleinkram, fand er ein Jagdmesser, das er ebenfalls an sich nahm, zusammen mit einigen anderen kleinen Dingen wie Ringen oder ähnlichem.

Er betete, niemand möge ihn sehen, als er auf Händen und Knien zu der Stelle kroch, wo Caspar seine Sachen abgelegt hatte. Die Tatsache, dass die Sachen zerfetzt und dreckig waren störte ihn nicht weiter. Er schlüpfte in die Hose, Caspars Hemd behielt er an, steckte das Notizheft, Geld und seine andere Beute in die Taschen und legte sich auf den Boden, wo er sofort wieder einschlief und Caspars Rückkehr nicht bemerkte.


Als Alain ihm nicht antwortete, ihn nicht einmal zu verstehen schien, verließ er das Zimmer, um Tee zu kochen und dem Jungen ein wenig Zeit mit sich allein zu geben, damit er sich über seine Situation klar werden konnte.

Nach einiger Zeit kam Caspar mit zwei Tassen voll dampfendem grünem Tee wieder. Lächelnd bemerkte er, dass Rocco schon wieder schlief.

Dass sich der Kleine jedoch angezogen hatte, war ihm weniger recht. Im Moment war zuviel Bewegung pures Gift für ihn!

Leise stellte er die Tassen auf dem Tisch ab, schloss das Fenster wieder und hob Rocco dann so vorsichtig es ging zurück auf die Matratzen, deckte ihn gut zu, setzte sich dann neben ihn.

Schweigend betrachtete Caspar den blassen Jungen auf seinem Bett, dachte an die Einstiche in Roccos Arm. Das Gesicht des Strichjungen war nun völlig entspannt, bis auf die Nase, die leicht kraus war, weil eine lange Haarsträhne ihn kitzelte.

Behutsam strich er die Strähne aus Roccos Gesicht, streichelte über die weiche Wange.

Ja, im Schlaf war er wie ein Engel... doch wenn er wachte...

Nein, er konnte nicht mehr wütend auf Rocco sein weil er die Drogen genommen und ihm sein wahres Alter, sowie seinen wahren Namen verschwiegen hatte. Viel eher verspürte Caspar tiefes, aufrichtig empfundenes Mitleid für ihn und... Verbundenheit. Noch immer konnte er sich dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit nicht erklären, doch es war da und es ließ ihn nicht los.

Versuchte er instinktiv diese verirrte Seele, die ihm doch so sympathisch war, aus dem Drogensumpf zu ziehen vor dem er seinen Vater nicht hatte retten können? War es das? Dieses absurde Gefühl von Schuld, die wiedergutgemacht werden musste? Oder war es doch etwas ganz anderes... etwas wie...

All die widersprüchlichen Gefühle in ihm ließen seinen Geist taumeln und er verspürte den Drang, Ordnung in dieses Gefühlschaos zu bringen indem er das alles niederschrieb, wie er es so oft tat.

Leise stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen Stift und suchte dann nach seinem Notizbuch.

Doch er fand es nicht. Dabei war es immer an demselben Platz!

Ein Verdacht stieg in ihm auf und ließ ihn sein Sparschwein hervorholen. Das Schloss war geknackt, das Geld nicht mehr da.

Caspar wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich tat er nichts dergleichen, seufzte nur leise.

Das Notizbuch war ihm wichtig. Es war eine Art Tagebuch in dem er seine Gedanken festhielt. Das Geld wiederum war ein kleiner Notnagel, wenn er mal keine Zeit für die Bank hatte - nicht viel, da er das Meiste angelegt hatte, aber...

Überrascht stellte Caspar fest, dass es ihm nicht gleichgültig war, ihn jedoch auch nicht aufregte. Wenn Rocco das Notizbuch lesen würde, so würde er teilhaben an Caspars Gedanken, seinen Meinungen und Ansichten, und auf ihre eigene, nicht greifbare Weise gefiel Caspar diese Vorstellung.

Und das Geld... nun, solange es Rocco helfen und er es nicht für Drogen ausgeben würde...

/Seit wann lautet dein Nachname Samariter?/,

fragte eine spöttische Stimme in seinem Kopf.

Caspar blinzelte. Nun gut, er war ein allgemein sehr hilfsbereiter Mensch, aber das war selbst für ihn doch sehr extrem...

„Was ist es, was dich von den anderen Menschen unterscheidet? Welches sind deine Stärken und Schwächen, die nur du hast und kein anderer? Was macht dich so besonders? ...für mich?“, fragte Caspar selbstvergessen flüsternd.


Beim nächsten Erwachen spürte er, dass der Morgen schon lange vorüber war. Leise fluchend stemmte er sich hoch. Ihm fiel ein, dass er nicht von selber aufgewacht war und sah sich um. Jemand hatte an die Tür geklopft und trat nun ein.

Alains Magen meldete sich laut knurrend, als er das Tablett mit geschmierten Brötchen in der Hand des Mannes sah.

Der Fremde lächelte ihm kurz zu und sah dann stirnrunzelnd an ihm vorbei. Alain folgte seinem Blick und hätte fast gegrinst. Caspar würde fürchterliche Rückenschmerzen haben wenn er erwachte. Er war im Schneidersitz hockend eingeschlafen und nach vorne gesunken.

Versunken in diesen Anblick beobachtete er, wie Caspar sich im Traum bewegte bis die Stimme des Dritten ihn aufschreckte:

„Hast du Hunger? Wie geht’s dir?“

Alain zuckte die Schultern ohne damit auf eine bestimmte Frage zu antworten. Er starb vor Hunger doch er hätte sich eher die Zunge abgebissen als das zuzugeben.

„Ich heiße Jake, und du?“ sagte Jake, drückte ihm zwei Nutellabrötchen in die Hand und stellte eine Tasse Kaffee neben ihn auf den Boden, ehe er sich neben ihm auf die Matratze setzte. Eine Weile schaffte er es, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, doch schon nach dem ersten Biss erwachte seine Gier und er schlug die Zähne in das Brötchen um ein riesiges Stück herauszureißen.

Sein Mund war zwar so voll, dass er ihn nicht länger als zwei Sekunden geschlossen halten konnte, doch er schaffte es trotzdem um das Brötchen herum zu nuscheln:

„Nathanael!“

Jake zog die Augenbrauen hoch.

„Caspar hat behauptet du würdest Rocco heißen.“ Alain schluckte den ganzen Batzen auf einmal herunter und sah den Mann einige endlose Sekunden schweigend an.

„Dann hab ich wohl gelogen.“

Mit einem Schluck trank er den Kaffee aus und hätte ihn fast wieder ausgespuckt, als ihm die heiße Flüssigkeit den Mund verbrühte. Er ließ bewusst offen, welcher Name nun stimmte.

Jake versuchte weiterhin, ihn in ein Gespräch zu verwickeln doch Alain zog sich in sich zurück um über seine derzeitige Situation nachzudenken. Wenn er überhaupt auf Fragen antwortete, dann meist unzusammenhängend oder in so komplizierten Erklärungen, dass er selber nicht in der Lage war dem Gespräch zu folgen. Nach einer Weile verließ Jake den Raum und überließ den abwesend vor sich hin stierenden Alain sich selbst.

Dieser merkte fast nicht, wie der Mann aufstand und das Zimmer verließ und schreckte erst aus seinen Gedanken, als der die Tür mit dem Fuß wohl etwas wuchtiger schloss als geplant, da er das Tablett mit der leeren Kaffeekanne und Caspars Brötchen in den Händen hielt. Alain ließ sich zurück auf die Matte sinken und schloss die Augen. Sonnenlicht flimmerte durch die Lider. Das einzig wahrzunehmende Geräusch waren die langsamen, gleichmäßigen Atemzüge des jungen Mannes neben ihm. Sein rastloses Wesen erlaubte es ihm jedoch weder einzuschlafen noch tatenlos herumzuliegen, und so zog er, mit einem Anflug von schlechtem Gewissen Caspars Notizheft aus der Tasche und blätterte darin. Eine anatomisch korrekte Zeichnung von einem jungen Mann erweckte seine Aufmerksamkeit. „Samuel“ stand in Caspars geschwungener Handschrift daneben. Der Mann war nackt, hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte.

Alain hob den Kopf und sah zu Caspar, der noch immer in derselben Haltung saß, wie er eingeschlafen war. Seufzend richtete Alain sich auf, beugte sich zu ihm und legte beide Arme von hinten um Caspars Brust.

So vorsichtig wie möglich zog er ihn mit sich, die stechenden Schmerzen in seiner Brust ignorierend, bis er in gesünderer Haltung als zuvor neben ihm lag. Mit einem Finger strich er sanft über sein Gesicht. Dann, in einem plötzlichen Gedankenumschwung wieder von dem Mann angeekelt der seinen Körper hatte kaufen wollen, stand er auf und trat langsam ans Fenster. Er weigerte sich, sich selbst einzugestehen, dass er nicht genug Kraft hatte um auch nur wenige Schritte zu gehen. Zu seiner eigenen Überraschung schaffte er es sogar das Fenster zu erreichen, doch dort angekommen knickten ihm die Beine weg. Sein Kopf schlug gegen das Fenster als er zusammensackte.

Als er das nächste Mal die Augen aufschlug war das Erste das er sah Caspars Augen.


Als Caspar die Augen öffnete, fand er sich zu seiner Verwirrung nicht nur auf seinem „Bett“ wieder, sondern auch _allein_ auf seinem Bett. Unsicher blinzelnd fuhr er sich durch die Haare, die in sein Gesicht gerutscht waren. Anscheinend hatte der Gummi während des Schlafens seinen Geist aufgegeben...

Noch ziemlich durcheinander tastete er nach seinem Haargummi und wollte sich dabei aufrichten. Leise stöhnend verzog er das Gesicht. Sein Nacken und Rücken waren völlig verspannt. Er musste wohl im Sitzen eingenickt sein...

Ob „Rocco“ ihn wohl aufs Bett gelegt hatte?

Mit einem Blick auf das Tablett, dass dann wohl doch eher Jake hereingebracht hatte, überlegte er kurz, entschied dann aber, dass Jake eindeutig zu sehr der Schadenfreude frönte als dass er Caspar ins Bett gelegt hätte...

Was wiederum nur bedeuten konnte, dass Rocco der „Schuldige“ war, was Caspar gar nicht gefallen mochte.

Leise fluchend stand er auf. Rocco konnte als Straßenkind noch so viel gewöhnt und sicherlich nicht soo „verweichlicht“ sein, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er deshalb die Narrenfreiheit hatte, zu tun und zu lassen was er wollte – jedenfalls _N.I.C.H.T._ in diesem Zustand!

Caspar hatte zwar noch nicht seine Scheine, aber selbst ein Baby wusste doch, dass man beim Onkel Doktor lieb und artig zu sein hatte!

Grummelnd streckte er den protestierend knackenden Rücken durch, drehte sich suchend um und fing zielsicher Roccos Anblick mit den Augen ein. Diese himmelwärts drehend und etwas saftiges fluchend das nicht einmal er selbst verstand, überbrückte er die wenigen Meter zu dem ziemlich verdreht liegenden Jungen und beugte sich nun doch besorgt über ihn.

Auf der schönen glatten Stirn des Kleineren prangte ein hübsches Hörnchen...

/Passt zu ihm/, dachte Caspar innerlich doch irgendwie amüsiert und strich sanft darüber.

Sofort blickten ihn nachtschwarze Augen an.

„Du gibst wohl nie auf, deinen Willen durchzusetzen, oder?“, fragte Caspar leise seufzend, erwartete aber auch gar keine Antwort.

Diverse Proteste und einen deftigen Boxhieb in seine Magengegend nicht beachtend trug er Rocco zurück zum Bett.

„Hey!“, machte Caspar dabei. „Sei doch froh, wenn du jemanden hast, der dich auf Händen trägt!“

Bei dem darauf folgenden verdutzten Gesicht lachend, bettete er Rocco wieder auf die Matratzen und warf ihm einen strengen Blick zu.

„Liegen bleiben, Soldat Rocco!“, befahl er streng, dann suchte er aus den (chaotischen) Untiefen seines Zimmers sein Stövchen und ein neues Teelicht hervor, brachte den kalten Kaffee wieder zum Erwärmen während er sich eines der übrig gebliebenen, dick mit (wie könnte es bei Jake auch anders sein) Nutella bestrichenen Brötchen schnappte und ein wenig daran rumknabberte, während er Rocco beobachtete.

„Gegessen hast du schon, nehme ich an...“, stellte er fest und zuckte nur mit den Achseln, als Rocco nicht antwortete.

Schließlich seufzte er ergeben, legte das Brötchen unschlüssig von der einen Hand in die andere und sah dann ernst zu Rocco. „Hör mal... Auch wenn es dir vielleicht nicht gefällt, du darfst dich in nächster Zeit _nicht_ anstrengen und auch _keine_ „anstrengenden Bewegungen“ machen, wenn du weißt was ich meine... Es tut mir wirklich Leid für dich, wenn du mich nicht leiden kannst, aber ich bin Medizinstudent und weiß wovon ich rede! Und mit einer Gehirnerschütterung und gebrochenen Knochen ist nun mal nicht zu spaßen, in Ordnung?“

Er setzte sich vorsichtig neben Rocco, immer darauf bedacht, genug Abstand zwischen ihnen zu lassen um nicht in Roccos Intimsphäre zu dringen.

„Ich weiß nicht, wo du normalerweise schläfst, aber vielleicht wäre es das Beste, wenn du die nächsten Tage hier bleibst. Ich nehme ja nicht an, dass du ein Krankenhaus bevorzugen würdest... Wie dem auch sei... Wenn es dir lieber ist, kannst du auch das Gästezimmer haben. Oder du kriegst mein Zimmer und ich campiere derweil dort – ist mir egal.“, er lachte leise. „Aber meine Mom würde einen Anfall kriegen, wenn ich dich – noch dazu als Medizinstudent – so auf die Straße lassen würde. Und eigentlich hatte ich vor, noch ein bisschen das Leben zu genießen...“


Einige Zeit starrte er den munter drauf los plappernden Caspar einfach nur an. Dann nahm er ihm blitzschnell das Brötchen aus der Hand, biss hinein und legte es dann wieder auf den Teller.

„Das war meins!“ sagte er trotzig.

Caspar grinste kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Die Stille zwischen ihnen schien Alain immer vertrauter zu werden. „Meine Eltern werden sich schon Sorgen machen. Als ich das letzte Mal einfach so über Nacht weg war, haben sie alle meine Brüder losgeschickt um mich zu suchen. Und meine Großmutter hat sogar die Polizei angerufen!“

Ein Teil von ihm hoffte, dass Caspar das glaubte, doch eine hartnäckige Stimme in seinem Hinterkopf wollte, dass dieser die lahme Lüge durchschaute und nach der Wahrheit fragte. Es entstand ein langes, unangenehmes Schweigen. Alain beobachtete, wie sich das Gesicht des vor sich hin starrenden Studenten fast unmerklich bewegte, wie einer seiner Gedanken ihn leicht die Stirn runzeln ließ, seine Zunge über die trockenen Lippen fuhr.

„Wer ist Samuel?“ fragte Alain in fast beiläufigem Ton und freute sich, als Caspar erschrocken zusammenzuckte. Der Blick der braunen Augen bohrte sich in seinen, als suche er nach etwas. Alain sah schnell weg und wandte sich ab. Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, doch er bekam sie:

„Samuel war mein Freund. Aber wir trennten uns im Streit und er zog in eine andere Stadt.“, erklärte Caspar leise. „Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen. Nein... nie wieder“, wiederholte er versonnen „Doch ich hab ihn nie vergessen, wie du ja gesehen hast!“

„Dann hol dir den zurück und lass mich gehen!“


„Nein, mit Samuel ist es aus und vorbei und das habe ich akzeptiert. Aber was dich anbetrifft... Es steht dir frei zu gehen. Ich werde dich ganz sicher nicht zwingen, hier zu bleiben. Um Menschen, die ich mag, mache ich mir Sorgen, und auch wenn du es mir kaum glauben magst – ich _mag_ dich und alles was ich möchte, ist, dir zu helfen... Aber wenn du diese Hilfe nicht willst... Dann geh“, sagte er und wurde immer leiser während er sprach, konnte dabei aber nicht ganz den verletzten Ton in seiner Stimme verbergen. Dann ging er ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer und versuchte, sein Herz und seine Lungen dazu zu bewegen, ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen und zu schmerzen aufzuhören.


Seit einer Stunde saß er nun in Caspars Zimmer auf dem Fenstersims und ließ den kalten Winterwind durch seine verfilzten Haare streichen. Das letzte Mal waren sie gekämmt worden, als er von einem Friseur gekauft worden war, der sich als erstes hingesetzt und mit Engelsgeduld die einzelnen Strähnen entwirrt, die Spitzen abgeschnitten, und seine Haare fünf mal gewaschen hatte, ehe er sich das nahm, wofür er bezahlt hatte. Alain dachte nicht gerne an ihn. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mann, der sich mit solcher Liebe seinem Handwerk widmete, in der Liebe selbst so brutal sein konnte.

Seine Gedanken wanderten zurück zu Caspar. Er war aufgestanden, hatte das Zimmer verlassen; wohl um dem verstörten Alain Zeit zu geben, über seine Worte nachzudenken.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür wieder, die Caspar sorgsam abgeschlossen hatte, doch es war Jake, der Alain mit aufmunterndem Lächeln eine Tasse heißen Tee brachte.

Als Jake nach einem weiteren erfolglosen Versuch ein Gespräch zu entwickeln ging, setzte sich Alain wieder auf seine Fensterbank und holte wieder das Notizheft hervor.

Besonders ein Gedicht erregte seine Aufmerksamkeit. Er las es zweimal bis er sicher war, alle Wörter richtig entziffert zu haben. Es handelte von Liebe und Schmerz. Daneben war wieder eine Zeichnung von Samuel. Diesmal einfach sein Gesicht im Profil. Caspar war ein sehr guter Zeichner. Ein eisiger Luftzug streifte seine Wange und lies die feuchte Spur von Alains Tränen kalt werden. Er hatte nicht gemerkt dass er geweint hatte. Rasch blätterte er weiter... und erstarrte. Auf der letzten Seite fand er ein weiteres Gedicht und eine Zeichnung von sich, wie er zusammengerollt schlief.

Als hätte Caspar sein Entsetzen gespürt, betrat er genau in diesem Augenblick das Zimmer, in der Hand einige zusammengerollte Verbände, Pflaster und Schere.

Sprachlos starrte Alain ihn an.

„Es handelt vom Tod“, sagte der Blonde ruhig, nahm ihm das Heft aus der Hand, legte es neben ihn auf die Fensterbank und zog ihm das Hemd aus. Das Schweigen wurde unangenehm während er, Alains stumme Proteste ignorierend, die durchgeschwitzten Druckverbände wechselte. Alain biss sich auf die Zunge um nicht zu schreien, als Caspar die Platzwunde mit Alkohol desinfizierte.

Die Binde, die Caspar um seinen Kopf geschlungen hatte, nahm er sofort wieder ab und hockte sich, beide Beine aus dem Fenster baumeln lassend mit dem Rücken zu dem Studenten.

Wieder langes Schweigen. Dann brach Alain die ihm unerträglich gewordene Stille:

„Lies es mir vor!“


„Hörst du dann auf, mich anzulügen und dich ständig in Gefahr zu bringen... _Rocco_?“, fragte er traurig, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Statt dessen schlang er seine Arme von hinten um Roccos Oberkörper und zog ihn vorsichtig wieder ins Zimmer, ließ ihn jedoch, sobald er wieder auf festen Füßen stand, gleich wieder los um dem Jüngeren nicht etwa zu nahe zu kommen. Und während er sein Notizbuch nahm und sich damit auf seinen Bürostuhl setzte, sagte er leise und den Kleineren ernst dabei anblickend: „Wenn ich ehrlich bin, nehme ich dir das mit deiner Familie nämlich nicht ab. Oder nennt man bei euch die „Arbeitskollegen“ Brüder? Hättest du tatsächlich eine Familie, die sich so sehr um dich sorgt dass sie die Polizei ruft wenn du auch nur eine Nacht wegbleibst, würden deine Eltern sicherlich nicht zulassen dass du auf den Strich gehst. Besonders nicht in deinem Alter... Viel eher glaube ich, dass du einsam bist... sehr einsam...“, sagte er leise und begann dann sein Gedicht vorzulesen als wäre nichts geschehen, weil er plötzlich Angst hatte, dem Jüngeren nun endgültig zu nahe getreten zu sein.

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Beweis für das Leben

Ich zünde eine weitre Kerze für mich an

Und tauche meinen Finger in das Feuer

Es bleibt stumm, das brennend’ Ungeheuer

Leckt nur die Luft zum Brennen an.

Sie ignoriert mich ganz und gar

Als wäre ich in Wirklichkeit nicht da

Ich ignoriere die Schmerzen -

All die brennenden Kerzen.

Schon bald wirft meine Haut die ersten Blasen

Bis die Finger so rabenschwarz wie Kohle sind

War es einst nur Schmerz, was sie in meinen Augen lasen

So ist’s nun mein einziger Beweis, dass ich noch bin.

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Als er geendet hatte sah er, zugegebener Maßen doch sehr auf die Reaktion des Jüngeren gespannt, zu jenem hinunter. Während er aus seinem Notizbuch vorgelesen hatte, hatte sein Herz ruhig und gleichmäßig das Blut durch seine Adern gepumpt – jetzt jedoch schlug es so aufgeregt als wolle es aus seiner Brust springen und er sah den Jüngeren unsicher an. „Na ja... ist nichts Besonderes“, rechtfertigte Caspar sich schon einmal im Voraus. „Bin halt kein Dichter oder so... normaler Weise schreib ich sie ja sowieso nur für mich und nicht, damit sie jemand liest...“

Verlegen räusperte er sich, schloss das Notizbuch wieder und warf es dem Schwarzhaarigen zu, um mit leerem Blick, aber sehr aufmerksamen Ohren, auf eine Erwiderung zu lauschen und unsicher die Hände in seinem Schoß zu winden.


Panik schnürte Alains Kehle zu, als die Arme Caspars sich um seine bloße Brust legten und er den muskulösen Körper hinter sich spüren konnte. Er war froh, dass Caspar dies zu akzeptieren schien, und ihn sofort wieder los ließ. Unsicher sah er in die braunen Augen des Mannes, als dieser zu ihm sprach. Seine Gefühle versteckte er gut hinter seiner Maske, doch er konnte nicht verhindern dass ein leichter Schauder, wie wenn kalte Finger seinen Rücken entlang strichen, ihn erfasste, als Caspar von seiner Einsamkeit sprach.

Er selber versuchte nie darüber nachzudenken, wie das Leben mit anderen Menschen, einer Familie oder wenigstens Freunden sein könnte, und er hatte auch nicht geglaubt, dass er sich je danach sehnen würde. Doch diesen Mann, der für ihn eigentlich ein Fremder war, darüber sprechen zu hören, schmerzte ihn.

Nur um dessen Blicken auszuweichen drehte er sich um, setzte sich neben das Bett vor die Wand und hörte zu, den Blick nun wieder wie gebannt an das Gesicht des Blonden geheftet, als dieser das Gedicht leise vorlas.

Der unsichere Blick des Mannes überraschte ihn, wie auch das ihm zugeworfene Heft. Dessen letzte Worte ließen Alains verräterischen Mund die Worte formen: ´Heißt „Normalerweise“, dass du wolltest, dass ich es lese?´

Alles in ihm drängte darauf, diese Worte hinaus zu schreien, doch er konnte sich im letzten Moment beherrschen und ließ sie, wie so vieles, unausgesprochen.

„So siehst du mich?“ fragte er stattdessen leise.

Mit der Hand wollte er sich durch die Haare fahren, doch an einer besonders verfilzten Stelle blieben seine Finger stecken und er gab es auf.

„Ich kann mich einfach nicht entschließen sie abzuschneiden“ sagte er aufgesetzt fröhlich, doch an Caspars Blick erkannte er sofort, dass ihn dieser unbekümmerte Tonfall ebenso wenig überzeugte wie Alain selbst.

„Vielleicht hast du recht mit deinem Gedicht“, sagte er, nachdem er begriffen hatte, dass Caspar nichts erwidern würde, „Vielleicht fehlt mir wirklich einfach nur der Mut, alles zu beenden. Ich traue mich nicht, ohne die Mittel, die du so hasst, zu leben, oder ohne sie meinem Leben ein Ende zu setzen, obwohl ich weiß, dass ich nicht das Recht habe zu existieren.“

Er griff in seine Tasche, zog die Geldscheine, die er aus Caspars Sparbüchse genommen hatte hervor und ging damit auf Caspar, der an seinem Schreibtisch lehnte, zu. Zwei Schritte vor ihm blieb er stehen und warf das Geld auf den Tisch.

„Ich habe einen Vater, der liebevoll für mich sorgt!“ Seine Stimme zitterte leicht.

Er legte den Kopf schief als würde er auf etwas lauschen, oder in sich hinein, schüttelte dann den Kopf und zuckte die Achseln.

Sein Blick war auf den Boden geheftet als er erneut leise zu sprechen ansetzte:

„Du hast gesagt, ich darf gehen?!“ Er drehte sich um und ging unendlich erschöpft von seinen Worten, langsam und unschlüssig zur Tür. Als er sie fast erreicht hatte blieb er noch einmal stehen und sagte leise, schon fast flüsternd: „Du hast Recht! Ich werde nicht aufhören dich anzulügen.“


„So siehst du mich?“, hörte er den Schwarzhaarigen fragen und kehrte den Blick wieder nach außen, während Rocco sich durch sein Haar fuhr – oder es zumindest wollte –, seine Finger sich jedoch schnell in den langen Strähnen verfingen.

Am liebsten hätte er sich hingesetzt, die Haare entwirrt und wenigstens einmal gekämmt, da allzu groß angesetzte Waschaktionen im Moment wohl doch eher nichts für den Jüngeren waren, und er schüttelte beinahe entsetzt den Kopf, als der Schwarzäugige mit wenig überzeugender Fröhlichkeit das Wort „abschneiden“ in den Mund nahm, wo er doch so wunderschönes, langes Haar hatte.

Caspar wollte etwas sagen, doch der Kleine kam ihm zuvor und er ließ ihn reden, war froh über jedes Wort, das Rocco freiwillig von sich gab... – bis jener anfing von Selbstmord zu reden...

Beunruhigt stand er auf, wollte auf Rocco zugehen, besorgt etwas erwidern, doch der Jüngere kam von selbst auf ihn zu und... gab Caspar das Geld zurück, dass sich eigentlich in seiner Sparbüchse hätte befinden sollen...

Überrascht und alarmiert zugleich wollte er die Hand nach dem Kleineren ausstrecken, erstarrte zugleich in der Bewegung als er ungläubig hörte wie Rocco ihn ein weiteres Mal anlog und dieses Mal so gründlich, aber auch so offensichtlich, dass es ihm schlichtweg die Sprache verschlug.

„Du hast gesagt, ich darf gehen?!“ Erschrocken hörte er die leisen, sonderbar erschöpft klingenden Worte aus dem Mund des Jüngeren, folgte dem anderen, wenn auch mit Verspätung und durch den Schock jeglicher Schnelligkeit beraubt.

/Das kann er nicht Ernst meinen!! Er... er _kann_ doch jetzt nicht einfach gehen!?/, dachte er hysterisch.

„Du hast Recht!“, sprach der schwarzäugige Junge leise weiter. „Ich werde nicht aufhören dich anzulügen.“

Und plötzlich wurde ihm klar, dass, wenn er nichts tat, dies vielleicht die letzten Worte waren, die er je von Rocco vernehmen würde.

Angst befiel ihn, eine irrationale Angst, die er nicht einmal auf den vielleicht in wenigen Sekunden kommenden Verlust zurückführen konnte, die viel umfassender, grundlegender... überwältigender war als alles was er je gespürt hatte.

Der Bann brach und mit einer Schnelligkeit, die er sich selbst nicht zugetraut hätte, griff er nach dem zierlichen Handgelenk so dass der Jüngere durch den plötzlichen Ruck zurückstolperte und mit schützend vorgestreckter Hand gegen Caspars Brust prallte. Doch der Blonde nahm den dumpfen Schmerz nicht einmal wirklich wahr, spürte nur noch blanke Panik durch seine Adern rasen und seinen Herzschlag bis an die Spitze treiben.

„Warte... ich... bitte, ich... ich weiß, ich habe gesagt, du... darfst gehen aber... ich...“, stammelte er verzweifelt, schloss seinen Griff unwillkürlich noch etwas fester um das schmale Handgelenk und suchte angsterfüllt nach den richtigen Worten die Rocco bei ihm bleiben lassen würden. „Ich... _es tut mir Leid_. Ich hätte dich gestern nicht so anbrüllen dürfen... es ist einfach...“, er holte tief Luft, sah fest und ängstlich zugleich in die schwarzen Augen, als er stockend weiter sprach: „Ich habe meinen Vater durch Drogen verloren... und ich... möchte so etwas... einfach nicht wieder erleben... verstehst du? Es tut mir Leid... ich... ich... habe nicht nachgedacht, wie schwer es für dich sein muss... jede Nacht mit einem anderen Mann zu... und fast hätte ich dich genauso benutzt wie all deine anderen Kunden, dabei... ist es nicht das, was ich will... bitte, das musst du mir glauben... ich... ich... es ist mir egal, ob du mich anlügst – ich mag dich trotzdem und ich will nicht... ich werde dich nicht noch einmal anfassen, wenn es das ist, was du befürchtest, ich... möchte dich nur... ein wenig näher kennen lernen, weil... ich dich mag und... ich will nicht, dass du gehst...“

Mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck senkte er den Kopf, konnte nicht länger in die scheinbar bodenlos schwarzen Tiefen blicken, wartete schmerzhaft hart schluckend und panisch-betäubt darauf, dass Rocco einfach ging, ihn hier völlig hilflos stehen ließ und für immer aus seinem Leben verschwand...


Wie versteinert hörte Alain die Worte des anderen an. „Ich mag dich trotzdem.“

Immer wieder hallten die Worte durch seinen Kopf, doch nichts reagierte _in_ ihm darauf.

„Nein, ich will das nicht!“, flüsterte er kraftlos. „Das mit deinem Vater tut mir leid; aber ich werde nicht warten, bis _mich_ die Mittel so weit gebracht haben!“

Caspars entsetzter Blick sagte ihm, dass er wohl die falschen Worte gewählt haben musste, doch eigentlich spielte das keine Rolle.

„Es ist auch nicht so schwer, jede Nacht mit einem anderen Freier aufs Zimmer zu gehen, wie du glaubst!“, log er „Ich hab mir diesen Beruf selbst ausgesucht und finde es OK!“

Trotz der Worte, die vor allem ihn selbst überzeugen sollten, schnürte ihm etwas die Kehle zu, als er sich Caspar näherte, der sein Handgelenk noch immer so krampfhaft umklammerte, dass es weh tat.

„Ich denke es wäre das Beste, wenn du es jetzt tust, mich dafür bezahlst und dann gehen lässt!“

Immer leiser werdend hatte er sich mit seiner freien Hand das Hemd von den Schultern gezogen, befreite nun seine andere Hand und lies dann das Kleidungsstück zu Boden fallen, während er seine Lippen auf die Caspars drückte.

Noch ehe dieser reagieren konnte, hatte Alain ihm das T-Shirt ausgezogen und ihn mit sich auf dessen Nachtlager sinken lassen. Seine Gedanken kreisten jedoch nicht um den Mann, sondern um die Frage, was nach dem Tod kommen würde. Er lies sich nach außen hin nichts anmerken und spielte den perfekten Liebhaber.

Sein Blick ruhte lange auf den feinen, fast unsichtbaren Narben an seinen Unterarmen. Sein Fleisch heilte sehr gut, doch diesmal würde er sich keinen Fehler erlauben

Als es vorbei war, raffte Alain seine Sachen auf, zog sich hastig wieder an, ergriff das Geld und verschwand schweigend aus dem Zimmer.

Er rannte fast die Treppe herunter und stockte erst, als er an der offen stehenden Küchentür vorbeikam.

Rasch schlüpfte er hinein, zog aus dem Messerblock eine der scharfen Stahlklingen, wobei er mit Daumen und Zeigefinger das metallische Geräusch dämpfte und verließ, leer und ausgebrannt das Haus, ehe ihn Caspar oder der überrascht aus dem Wohnzimmer kommende Jake aufhalten konnte.


Zu sagen, Caspar war schockiert, wäre mehr als nur untertrieben gewesen.

Er wusste nichts mehr zu sagen, ließ gefangen in der Betäubung seines Schocks alles mit sich geschehen, registrierte nicht einmal wirklich, dass er nun doch mit dem Schwarzhaarigen schlief und dass dieser durchaus Talent in sein Berufsleben mitgebracht hatte.

Nur ein einziger Gedanke hallte in seinem Kopf wider und zog ihn in eine endlose Spirale der Verzweiflung hinab: /Das meint er nicht Ernst.../

Betäubt und willenlos beobachtete er, wie Alain sich – wortwörtlich – nach getaner Arbeit hastig wieder anzog bis sich der Ton seiner zugeworfenen Zimmertür durch seinen Gehörgang fraß und durch seinen ganzen Körper schallte wie ein markerschütternder Gong der das Ende der Welt einleitete.

Caspar merkte weder, dass er eine Gänsehaut bekam weil ihm auf einmal sehr, sehr kalt war, noch spürte er die heißen Tränen die plötzlich und unaufhörlich über seine Wangen rannen - das Einzige was er sah, waren zwei tiefschwarze Augen, die ihm immer näher kamen, bis sie ihn ganz verschlangen und sich eisige Dunkelheit über sein Bewusstsein legte.

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