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Vom anderen Ufer

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Inhaltsverzeichnis

 

Teil 1

Ich blieb stehen und sah auf zum Himmel. Hinter einer Wolke kam der Mond hervor und tauchte den Weg und die Landschaft um mich herum in ein fahles Licht. In der Ferne sah ich die bunten Lichter der Stadt, die sich im Wasser des Flusses widerspiegelten. Von der nahen Bundesstraße drangen die gedämpften Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos herüber. Weit und breit kein Mensch zu sehen.

Ich setzte meinen Weg fort und ging auf ein kleines Wäldchen zu. Es war ein warmer Freitagabend Ende August, vielleicht einer der letzten Sommertage in diesem Jahr. Noch einmal waren in der Stadt die Biergärten, Kneipen und Cafés bis zum letzten Platz besetzt. Die meisten Jugendlichen in meinem Alter zogen jetzt wohl durch die Discos und Clubs. Wohin man sah Leute, die sich unterhielten, tranken, lachten. Aber nach Lachen war mir heute nicht zumute.

Was macht ein 19jähriger Auszubildender – ich heiße übrigens Andy – an so einem Abend allein auf einem Feldweg am Rande der Stadt, werdet Ihr Euch wahrscheinlich fragen. Naja, das ist auch nicht einfach zu verstehen. Schon den ganzen Sommer über hatte ich diese melancholischen Gefühle gehabt und es war nicht das erste Mal, dass ich um diese Zeit stundenlang durch die Stadt und die Umgebung streifte. Schlafen hätte ich sowieso nicht gekonnt, ich lag immer nur todtraurig auf meinem Bett, starrte ins Dunkel und drückte mein Kopfkissen an mich. Eigentlich ist der Sommer nicht ja gerade die Jahreszeit der Melancholie - überall sieht man glückliche Paare, die Arm in Arm durch die Fußgängerzonen schlendern oder auf Parkbänken und in Cafés sitzen. Und doch war es genau das, was mir fehlte: Ich sehnte mich nach einem Freund - jemandem, mit dem man über all das reden konnte, an den man sich an so einem Sommerabend kuscheln und mit ihm durch die nächtlichen Straßen gehen konnte. Doch als ungeouteter Schwuler ist es fast unmöglich, so jemanden zu finden. Klar, Selbstmitleid brachte mich auch nicht weiter und eigentlich liegt es ja nur an einem selbst, nur man selbst kann es ändern.

Mittlerweile war ich in dem Wäldchen angekommen. Unter dem dichten, rauschenden Blätterdach wurde es plötzlich kälter und je weiter ich in den Wald hineinkam, desto weniger sah ich. Jetzt war nur noch das Rauschen der Bäume zu hören. Ich war allein. Ich schloss die Augen und summte leise vor mich hin. Jetzt jemanden haben, der einen im Arm hält, sich an ihn kuscheln, seine Wärme spüren … Nein, ich wollte gar keine großen philosophischen Gespräche führen, es ging auch nicht so sehr darum, Sex zu haben, ich wollte nur einen Freund, der genauso fühlt wie ich und mich verstehen kann.

Seit zweieinhalb Monaten wohnte ich jetzt in dieser Stadt, seit ich bei meinen Eltern ausgezogen war und hier eine Ausbildung als Schriftsetzer angefangen hatte. Zwar gab es in dem Betrieb noch mehr Lehrlinge, die in meinem Alter waren, aber außer während der Arbeit hatte ich noch zu keinem richtigen Kontakt. Klar, ich könnte ich hingehen und sagen: »Hey, ich bin schwul«. Aber womöglich würde ich dann erst Recht niemanden finden. Außerdem - den Mut dazu hatte ich einfach nicht.

So wurde dieser Sommer für mich zur einer Qual. Bei jedem Hetero-Pärchen, das ich beobachtete, in den Cafés oder auf Parkbänken, spürte ich einen Stich im Herz. Überall sah ich gutaussehende Boys, in den Fußgängerzonen, im Freibad. Nur ich war immer noch einsam.

Als ich aus dem Wäldchen heraustrat, war ich überrascht, wie warm doch die Luft in dieser Nacht war. Ich sah in den Himmel, wo zwischen den wenigen Wolken die Sterne funkelten. Einige leuchteten nur ganz schwach, andere strahlten groß und hell. Ob es da draußen irgendwo jemanden gab, der genauso fühlte? Jemand, der vielleicht genau jetzt in den Himmel blickte und dasselbe dachte? Wie viele junge Schwule mochte es wohl auf dieser Welt geben, die sich auch in meiner Situation befanden?

Ich kam an eine Straße und schlug den Weg zur Stadt ein. Hinter mir hörte ich ein Motorengeräusch, das näher kam. Ich ging so dicht am Straßenrand wie möglich. Das Auto kam heran, die Scheinwerfer blendeten mich, für einen Moment konnte ich nichts mehr sehen. Der Wagen überholte mich und fuhr weiter. Das Geräusch wurde leiser, dann war wieder Stille. Ich war wieder allein.

Schließlich erreichte ich den Fluss. An dieser Stelle hatte er eine beachtliche Breite. Auf der anderen Seite lag eine Wohnsiedlung, nicht gerade ein Schmuckstück am Rande der Stadt. Mehrere quaderförmige Plattenbauten, noch aus DDR-Zeit, erhoben sich tiefschwarz in den Nachthimmel. Hinter manchen Fenstern brannte Licht, in einigen Wohnungen sah ich das bläuliche Flimmern von laufenden Fernsehern.

Eine breite Brücke führte zum anderen Ufer. Die Brückenbeleuchtung war zum größten Teil ausgefallen, aber meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Etwa in der Mitte blieb ich stehen und stützte mich auf das Geländer. Durch den Stoff meines T-Shirts spürte ich einen angenehmen, kühlen Wind, der hier wehte. Tief unter mir rauschte laut der schwarze Fluss, auf der Wasserfläche tanzten die Reflexionen der Lichter und des Mondes.

Ich sah auf und blickte in den Himmel. Ob es da oben einen Gott gab? Einen, der in dem Moment auf mich herabblickte und meine Gedanken lesen konnte? Warum erhörte er mich dann nicht? Und warum musste ausgerechnet ich schwul sein? Ich, der sowieso ziemlich schüchtern war, der nie im Leben einen Jungen einfach so ansprechen konnte. Es wäre alles so einfach, wenn ich mich für Mädchen interessieren würde, wie alle anderen auch. Ja, sicher, irgendwie hat alles seinen Sinn, wohl auch meine Situation, aber …

War das gerade eine Stimme? Ich wandte mich ab und sah in Richtung der Plattenbauten. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Ich lauschte. Hatte ich mir nur etwas eingebildet?

Ich ging weiter in Richtung des anderen Ufers, von wo ich glaubte, etwas gehört zu haben. Jetzt hörte ich es wieder ganz deutlich, trotz des tosenden Flusses. »Lass mich los!«, hörte ich jemanden rufen. Und dann noch lauter: »Hilfe!«

Ich erreichte das andere Ende der Brücke. Hinter einer Biegung flackerte eine kaputte Straßenlaterne. Nach links ging von der Straße ein unbeleuchteter Weg ab und führte am Ufer entlang. Ich folgte ihm und ließ die Plattenbauten hinter mir. Immer deutlicher konnte ich nun auch andere Stimmen hören, offenbar von jungen Männern, die schon etwas betrunken herum grölten. Hinter einer Biegung kamen vier Gestalten zum Vorschein, die in einer kleinen Einbuchtung am Flussufer standen. An den kahlgeschorenen Köpfen, dunklen Bomberjacken und Springerstiefeln erkannte ich gleich, dass es sich bei dreien von ihnen um Skin¬heads handeln musste. Mir zugewandt stand offenbar ihr Anführer. Er war nicht sehr groß, hatte im Gesicht ein Piercing und auf dem Ärmel seiner schwarzen Jacke erkannte ich ein aufge¬nähtes Hakenkreuz. Der daneben hatte seinen Kopf nicht ganz kahl geschoren, er hatte kurze blonde Haare und trug einen Ohrring. Von dem dritten konnte ich nicht viel mehr als seine dunkelgrüne Jacke erkennen, da er mit dem Rücken zu mir stand. In der Hand hielt er eine Bierflasche. Sie standen um einen Jungen herum, der ungefähr in meinem Alter sein mochte. Er sah nicht besonders kräftig aus und atmete schwer, offenbar war der Szene einer Verfolgungsjagd vorausgegangen. Sein Blick war zu Boden gerichtet, ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.

Gerade raunzte ihn der Anführer an: »Glotz nicht so blöde! Du willst wohl was von mir, kleine Schwuchtel, hä? He, guck mich an, wenn ich mit die rede!« Er packte ihn an den Haaren und riss seinen Kopf hoch. »Na, soll ich dir mal was in den Arsch stecken, kleiner Schwanzlutscher?«

Jetzt übernahm der Blonde das Wort. »Hörst du nicht, du sollst antworten, wenn er dich was fragt.« Der Junge schwieg. »Na, was ist, dich muss man wohl erst zum Reden bringen?«

Während einer der drei den Jungen an den Haaren festhielt, versetzte ihm der Blonde einen Kinnhaken.

»Lasst mich in Ruhe, ich habe euch nichts getan.«

»Weißt du was, Kleiner, ihr Schwuchteln seid alle krank. Ihr seid keine richtigen Menschen, ihr seid Parasiten, solche wie euch können wir hier in Deutschland nicht gebrauchen. Und weißt du, was wir mit solchen Kranken machen, die wir nicht gebrauchen können? He, guck mich an!«

Wieder landete die Faust des Blonden im Gesicht des Jungen. Aus seiner Nase quoll Blut. Ich hockte hinter einem Busch und überlegte, was ich tun sollte. Hilfe holen würde wohl zu lange dauern, wenn ich zu dieser Zeit überhaupt jemanden finden würde. Eigentlich müsste ich selbst eingreifen, aber meine Angst war zu groß. Früher hatte ich mal eine Kampfsportart gelernt, aber ich war mir nicht sicher, ob ich gegen die drei ankommen würde.

»Wie wär's, mein Kleiner, willst du nicht ein bisschen schwimmen gehen? Dazu brauchst du aber die Jacke nicht …« Während einer den Jungen festhielt, zog ihm der mit dem Piercing die Jacke aus. »Toll, so eine wollte ich schon immer haben. Was haben wir denn hier?« Mit einem triumphierenden Grinsen zog er die Geldbörse des Jungen hervor. Dieser war den Tränen nahe.

»Bitte, ihr könnt alles behalten, aber lasst mich in Ruhe. Ich habe euch nichts getan«, stammelte er.

Der mit dem Piercing durchsuchte das Portemonnaie, trat an den Jungen heran und hielt ihm den Inhalt vor die Nase. »Das ist aber nicht viel, mein Lieber. Reicht ja gerade für ein Bier für jeden. Wenn du geglaubt hast, das ist genug, muss ich dich leider enttäuschen.« Er griff nach dem Handgelenk des Jungen. Mit einem zufriedenen Grinsen löste er den Verschluss seiner Uhr. Dann gab der Blonde gab dem Jungen einen Stoß in den Rücken, so dass er nach vorne stolperte und gegen den mit der grünen Jacke prallte. Der hielt ihn fest und schüttelte ihn. »Willst du Ärger?«, fuhr er ihn an, ließ ihn aber wieder los.

»Hey, Kleiner!« Der Kleine mit dem Piercing hielt jetzt das Portemonnaie hoch und ließ es fallen. »Aufheben«, befahl er.

Der Junge ging langsam einen Schritt nach vorne. Als er sich bückte, rammte ihm der Blonde brutal seinen rechten Fuß in den Unterleib. Der Junge schrie auf und ging zu Boden. Er krümmte sich, als Schläge und Tritte ihn trafen.

Jetzt konnte ich nicht länger zusehen. Obwohl ich furchtbare Angst hatte, kam ich aus meinem Versteck hervor und ging auf die Gruppe zu.

»Hey!«, rief ich. »Laßt ihn in Ruhe!«

Der Anführer fuhr herum. »Wer ist das denn? Du bist wohl ein Freund von solchen Schwuchteln, hä?«

Ich versuchte, halbwegs selbstsicher auszusehen, und trat mutig auf ihn zu. »Er hat euch nichts getan!«

»Willst du dir ein paar abholen?« Der Blonde trat von hinten an mich heran und versuchte, mich festzuhalten. Ich konnte seinem Griff entkommen und versetzte stattdessen dem Anführer, der vor mir stand, mit aller Kraft einen Tritt in den Bauch. Er taumelte und stürzte stöhnend ins Gebüsch. Die anderen sahen sich an. Ich war selbst etwas überrascht über meine Kräfte, und die Angst war plötzlich verflogen.

»Na, was ist?« Ich trat auf die anderen beiden zu. Die wichen zurück.

»Was soll's, die Schwuchtel ist uns eh egal«, sagte der Blonde noch, dann drehten sie sich um und fingen an zu laufen. Sie sahen noch einmal zurück und riefen uns hinterher: »Euch kriegen wir auch noch, ihr schwulen Säue!« Auch der Anführer rappelte sich auf und verschwand wortlos in der Dunkelheit.

Ich atmete auf und drehte mich um. Der Junge lag immer noch zusammengekrümmt auf dem Boden und ich sah, dass er zitterte. Ich kniete mich neben ihm in den Kies.

»Alles klar?«, fragte ich unsicher. Der Junge blickte mich. Er hatte kurzes, schwarzes Haar und braune Augen, sein hübsches Gesicht war tränenverschmiert. Seine Nase blutete immer noch. Ich wühlte in meinen Sachen nach einem Taschentuch, konnte aber keins finden.

»Brauchst du einen Arzt?«, fragte ich.

»Nein, ist schon in Ordnung.«

»Kannst du aufstehen?«

»Es geht schon«, antwortete er und stützte sich auf, sank aber gleich wieder auf den Boden. Ich setzte mich zu ihm und legte seinen Kopf in meinen Schoß.

»Wie heißt du?«

»Roland.«

»Willst du wirklich keinen Arzt?« Er schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich und blickte auf die schwarze Wasserfläche. Wir blieben eine Zeit lang so sitzen, ohne zu reden, ich weiß nicht, wie lange. Langsam fröstelte es mich, vom Fluss her kam ein kühler Wind auf. Meine Glieder wurden steif. Nach einer Weile richtete sich der Junge vorsichtig auf.

»Geht's?«, fragte ich ihn. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Lass mich, es geht schon«, antwortete er und stand ganz auf.

»Ich kann dich doch so nicht alleine lassen! Du kannst doch kaum laufen«, wandte ich ein und wollte ihm helfen.

»Fass mich nicht an!«, fuhr er mich schroff an. Überrascht ließ ich ihn los. »Du kannst mir nicht helfen.« Damit entfernte er sich in Richtung Wohnsiedlung, ohne sich noch einmal umzudrehen. Verwundert blieb ich am Flussufer zurück.

Teil 2

Am nächsten Morgen wachte ich spät auf. Die Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Jalousien in mein Schlafzimmer, und es sollte noch einmal ein richtig warmer Tag werden. Ich duschte und zog mich an. Die Uhr zeigte kurz vor elf, so dass mein Frühstück und Mittagessen ineinander übergingen. Kein Wunder, war es schließlich gestern zwei Uhr geworden, bis ich endlich in mein Bett gesunken war. Ach ja, gestern. Jetzt fiel mir alles wieder ein. Der Junge. Der Überfall der Skin¬heads. Mein heldenhaftes Einschreiten. Und dann … Warum war er auf einmal so aggressiv geworden, als ich ihm helfen wollte? Warum war er einfach davongelaufen? »Du kannst mir nicht helfen«, die Worte klangen mir im Ohr.

Nachdem ich etwas gegessen hatte, setzte mich ich an meinen Computer. Ich wollte ein bisschen im Internet surfen, aber meine Gedanken schweiften immer ab. Roland hieß er also. Und er war schwul - mehr wusste ich nicht über ihn. War es nur Neugierde, oder empfand ich mehr für ihn?

Am Nachmittag fuhr ich zu meinen Eltern. Mein Vater feierte seinen Geburtstag, der schon einige Tage vorher gewesen war und meine Großeltern, Tanten und Onkel waren eingeladen. Ich muss sagen, ich bin nicht gerade ein Fan von solchen Familienfeiern, aber sie sind wohl unausweichlich. Am frühen Abend gingen unsere Verwandten nach Hause. Meine Eltern fragten, ob ich noch etwas bleiben wollte, aber ich sagte, dass ich heute noch lernen müsste und fuhr ebenfalls. In meinen vier Wänden angekommen, stellte ich eine CD an und legte mich auf mein Bett. Mir gingen die Bilder des vergangenen Abends nicht aus dem Sinn. Als er gestern dort neben mir gelegen hatte, seinen Kopf in meinem Schoß, da hatte ich zum ersten Mal etwas gespürt, etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Immer wieder sah ich sein Gesicht vor mir. Wer war er wohl? Was machte er gerade?

Ich saß noch eine ganze Weile so da. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich verließ das Haus und ging durch die Stadt. Automatisch schlug ich bald den Weg ein, der an den Fluss führte, zu der Stelle, an der ich gestern Abend auf die Skinheads gestoßen war. Es war noch hell, als ich die Brücke erreichte. Auf der wenig befahrenen Straße davor spielten Kinder. Ich ging den kleinen Weg am Ufer entlang, kam an das Gebüsch, hinter dem ich mich versteckt hatte. Bei Tageslicht sah die Bucht ganz anders aus. Ich weiß nicht, was ich dort eigentlich suchte. Ich ging weiter zu der Stelle, wo wir gesessen hatten. In dem feinen Kies war noch eine Kuhle zu erkennen. Ein paar Meter weiter lag eine Bierflasche. Einer der Skinheads musste sie wohl weggeworfen haben. Ich blickte mich um. Niemand war in der Nähe. Naja, wen hatte ich denn erwartet? Hatte ich geglaubt, Roland hier zu sehen?

Ja, das war es wohl, gestand ich mir ein. Ich hatte gehofft, ihn wiederzusehen, auch wenn es völlig naiv war. Ich wollte wissen wer er war. Weshalb er einfach weggelaufen war … Was war das, was ich fühlte? Ich hatte noch nie solche Gefühle für einen Menschen verspürt.

Ich ging den Weg zurück. Es war ein warmer, angenehmer Sommerabend, der langsam in die Nacht überging. Die Sonne war fast ganz hinter den Wohnblocks verschwunden, sie warfen lange Schatten auf die Straßen. Zwischen den Gebäuden spielten noch einige Kinder, die Erwachsenen saßen auf den Balkons, ich hörte Gelächter. Der Geruch von Gegrilltem drang mir in die Nase. Ich streifte durch das Viertel. Die Wohnungen waren von der billigen Sorte, viele Häuser warteten schon seit Jahren auf eine Sanierung. Die Arbeitslosenquote in solchen Gebieten lag über 40 Prozent. Eine besonders sichere Gegend war es nicht, in ein paar Stunden würden die Straßen dunkel und menschenleer sein - von einigen lichtscheuen Gestalten abgesehen. Ob er hier wohnte?

Am Ende der Siedlung traf ich auf eine verlassene Tankstelle. Von den Zapfsäulen war nichts mehr zu sehen, nur noch das Dach und eine Baracke standen da und wuchsen langsam zu. Solche verfallenen Ruinen fand man hier überall. Ich drehte mich um und ging den gleichen Weg noch einmal zurück. Die Sonne war nun ganz verschwunden, am wolkenlosen Himmel kam schon schwach der Mond hervor. Irgendwo weinte ein Kind, ein Hund bellte. Glaubte ich, ihn hier zu finden?

Als ich um die Ecke eines Gebäudes bog, sah ich auf der anderen Straßenseite eine Gruppe junger Männer. Sie waren ähnlich gekleidet wie die Skinheads gestern Abend. Ich erkannte jedoch niemanden von ihnen. Sie schienen schon stark betrunken zu sein und grölten laut, Rufe wie »Sieg Heil!« waren zu hören. Ich hielt mich im Schatten des Wohnhauses, und sie gingen vorbei. Aus einem Fenster beschwerte sich eine Frau laut über die Ruhestörung. Dann waren sie wieder verschwunden. Ich sah mich um. Auf einmal war es still geworden in dem Viertel. Nur von einem entfernten Balkon schallte gedämpft Gelächter herüber. Ich sah auf die Uhr. Gleich halb elf.

Eigentlich müsste ich langsam zurückgehen. Der Rückweg würde mich wohl mindestens eine halbe Stunde kosten. Ich war wieder am anderen Ende der Siedlung, nach links ging die Straße zur Brücke. Ich atmete tief die warme Nachtluft ein. Der Mond war nun vollständig aufgegangen, die Sterne strahlten hell.

Jetzt stand ich wieder unter der flackernden Laterne. Obwohl es das Vernünftigste wäre, den Rückweg anzutreten, zog mich irgendetwas noch einmal auf den kleinen Weg am Ufer entlang. Im fahlen Mondlicht ging ich langsam voran. Ich musste aufpassen, nicht über eine Wurzel zu stolpern. Einige Meter weiter rauschte der schwarze Fluss neben mir her. Im Gebüsch vor mir raschelte es, ich konnte aber nichts erkennen. Als ich weiterging, hörte ich weiter vorne ein Platschen. Es war, als ob ein kleiner Stein ins Wasser geworfen wird. Ich blieb stehen und lauschte. Kurz darauf hörte ich es noch ein zweites Mal, dann war es wieder still. Ich wartete noch etwas, dann ging ich weiter. Als ich mich der Bucht näherte, hörte ich wieder etwas. Es klang nach einem Menschen. Jemand weinte. Hinter den Bäumen sah ich eine Gestalt am Wasser sitzen. In der Hand glimmte eine Zigarette. Als ich näher kam, konnte ich im hellen Mondschein das Gesicht erkennen. Es war das Gesicht, das mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf ging.

Leise trat ich aus dem Gebüsch heraus und stand noch etwa drei Meter von ihm entfernt. Er hatte mich noch nicht bemerkt.

»Hey.«, sagte ich leise. Erschrocken fuhr er herum. Ich ging auf ihn zu und setzte mich neben ihn auf den Kies.

Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte mich an. »Was machst du hier?«

»Ich habe dich gesucht.«, antwortete ich

»Mich? Warum?«

»Du bist einfach weggelaufen gestern.«

»Du kannst mir eh nicht helfen. Keiner kann mir helfen … Lass mich in Ruhe.«, sagte er und wandte sich ab.

»Was hast du denn, warum hast du geweint?« Ich bekam keine Antwort. Er zog an seiner Zigarette und sah aufs Wasser, seine Augen waren wieder feucht.

»Du bist schwul?«, fragte ich vorsichtig. Er nickte, ohne mich anzusehen.

»Ich auch.« Ich sagte das einfach so, ohne dabei Hemmungen zu haben. Dabei war es das erste Mal, dass ich es jemandem anvertraute. Roland sah mich überrascht an.

»Ja?«

»Hmm.«

»Tut mir leid für dich. Wir Schwule haben es nicht leicht auf dieser beschissenen Welt. Hast du ja gesehen. Sie werden uns immer verfolgen, überall.«

Ich schwieg. Dann fragte ich: »Woher wissen die, dass du schwul bist?«

»Ach, das ist 'ne lange Geschichte …«, sagte er.

»Es interessiert mich, ehrlich.«

Er nahm noch einen Zug von seiner Zigarette und warf den Stummel ins Wasser. Dann streckte er seine Beine aus und begann, zu erzählen.

»Ach, das ist schon fast 'n Jahr her, als ich noch zur Schule ging. Einer von denen gestern, Kevin heißt er, war damals in meiner Klasse. Ich hatte da irgendwie schon immer den Ruf gehabt, dass ich schwul war … Lag wohl daran, dass ich immer 'n ziemlicher Außenseiter war und keine Freundin hatte. Und dann einmal, als wir nach dem Sport geduscht haben, hab' ich 'nen Steifen gehabt. Du weißt ja, wie das ist, wenn man mit allen anderen zusammen duscht … Ich hab' natürlich versucht, das zu verstecken, aber sie haben's natürlich gesehen und die ganze Zeit gerufen, dass ich schwul bin und so. Naja, war natürlich total peinlich. Ich hab' mich noch nie so blamiert gefühlt wie dann. Und so sind dann die ganzen Gerüchte entstanden.

Und dann irgendwann hatten wir nachmittags noch Sport, und ich hatte mir gerade vorher eins von diesen Schwulenheften gekauft. Normalerweise war ich immer vorsichtig und hätte das nie mitgenommen, aber an dem Tag ging's nicht anders, und ich hab's in meiner Tasche versteckt. Tja, und dann hatten wir Sport, und als ich hinterher zu Hause in die Tasche guckte, war das Heft weg. Klar, das muss mir auch immer passieren. Ein paar Tage später kam Kevin nach der Schule auf mich zu, ob ich nicht was vermissen würde und so. War natürlich klar, wie er da drangekommen war. Und dann hat's nicht mehr lange gedauert, bis es alle wussten. Manche haben mich ganz offen auf dem Schulhof angemacht, bei anderen habe ich's auch so gemerkt. Haben plötzlich nicht mehr mit mir geredet, oder wollten sich nicht mehr neben mich setzen. Auf unserer Abschlussfahrt wollte keiner mehr mit mir auf ein Zimmer. Das war echt eine Scheiß Zeit … Ich hab' die Schule gehasst, kannst du mir glauben. Gott sei Dank ist das jetzt vorbei.» Er machte eine Pause. «Naja, und seit Kevin bei den Skins ist, sind die halt hinter mir her.» Er hob einen kleinen Stein auf und warf ihn ins Wasser.

»Aber am meisten habe ich noch Angst davor, dass mein Vater was erfährt. Der ist ein echter Schwulenhasser. Er hasst mich sowieso, das weiß ich. Den ganzen Tag säuft er, und dann brüllt er rum und schlägt um sich …« Er schniefte. Diesmal hatte ich ein Taschentuch dabei und streckte es ihm hin.

»Schlägt er dich?«, fragte ich.

»Was denkst du denn? Früher hat er mich öfter geschlagen. Jetzt nicht mehr so viel, meistens droht er nur noch damit. Aber meine Mutter schlägt er dauernd. Ich weiß, wenn er rauskriegt, dass ich schwul bin, schlägt er mich tot. Aber soweit wird es nicht kommen. Ich werde ihm zuvorkommen.«

»Was meinst du damit? Du willst dich umbringen?«, fragte ich entsetzt.

Er zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sonst machen? Ich kann sowieso kein normales Leben führen. Wenn mich nicht mein Vater umbringt, dann die Skins. Sie werden die Schwulen immer verfolgen.«

»Du kannst doch von hier wegziehen.«

»Du hast doch keine Ahnung!«, erwiderte er. »Die finden einen überall. Und wo soll ich denn hin? Arbeit finde ich nirgendwo, nur mit Hauptschulabschluss, und von meinen Eltern kriege ich keinen Pfennig. Aus dieser Scheiß Stadt komme ich nie raus.« Ich schwieg. Was sollte ich sagen? Ich wollte ihn davon abbringen, auch wenn ich nicht sicher war, ob er das wirklich ernst meinte. Aber was er sagte, stimmte ein bisschen.

Er zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche, steckte sich eine in den Mund und zündete sie an. Er hielt mir die Packung hin, aber ich lehnte ab.

Er deutete mit der Zigarette auf die Brücke. »Ich steig' über's Geländer und springe runter, und dann mach' ich einfach gar nichts mehr. Nicht bewegen, nicht atmen, nichts. Und das war's.« Er machte eine Pause. »Aber was soll's, ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Interessiert dich doch eh nicht …«

Wir schwiegen wieder. Das Rauschen des Wassers kam mir jetzt viel lauter vor als bei Tage. Ich blickte auf den schwarzen Fluss. Die Mondsichel spiegelte sich im Wasser wider. Es war angenehm, ihm zuzuhören. Er hatte eine sanfte, ruhige Stimme. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er sich fühlte. Er hatte Recht, mit arbeitslosen Eltern und ohne Job war es nicht leicht, von hier wegzukommen. Aber war das das einzige, was ihn so traurig machte?

»Hast du einen Freund?«, fragte ich vorsichtig.

Er schüttelte den Kopf. »Du?«

»Nein.«

Er hielt mir seine Zigarette hin. »Willst du wirklich nicht?« Ich nahm einen kurzen Zug und gab sie ihm zurück. Gleich darauf musste ich husten. Oft hatte ich noch nicht geraucht.

»Wie viele Leute wissen, dass du schwul bist?«, fragte er

»Du.«

»Sonst keiner?«

»Nein.«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Andy.«

»Ich muss dir noch Danke sagen, Andy. Für gestern … Das war sehr mutig.«

»Naja, ich hatte schon ziemliche Angst … Wie geht's dir denn?«

»Ist schon OK.«

»Du wolltest nicht zum Arzt, damit dein Vater nichts erfährt, stimmt's?«

Er nickte. Dann sahen wir wieder eine Weile auf den Fluss. Die Reflexionen der Sterne tanzten wie kleine Lichter auf den Wellen. Nahe am Ufer, wenige Meter vor unseren Füßen, plätscherte das Wasser gleichmäßig. Wir waren völlig allein. Roland rückte näher an mich heran und legte seinen Arm um meine Schultern.

»Hattest du schon mal einen Freund?«, fragte er mich leise.

»Nein.«

»Es tut mir leid, dass ich gestern so unhöflich war. Ich wollte das nicht … Ich habe den ganzen Tag an dich gedacht …« Er sah mich an. Er hatte wunderschöne braune Augen. Ich konnte seinen Atem im Gesicht spüren. »Als ich hier eben gesessen habe, hab' ich an dich gedacht. Ich habe gehofft, dass du hier vorbeikommen würdest. Es war völlig unsinnig, ich weiß nicht, warum ich sowas gedacht habe. Und dann standst du plötzlich da …«, sagte er und machte eine Pause.

»Ich glaube ich liebe dich, Andy«, flüsterte er.

Er zog mich an sich, ich schloss die Augen, und wir gaben uns einen innigen Kuss. Ich hielt ihn umschlungen und wollte ihn nie mehr loslassen. Die ganze Zeit hatte ich mich nach nichts anderem gesehnt. Ich spürte die Wärme seines Körpers und roch seinen Duft.

»Ich dich auch.« Ich griff in seinen Nacken und kraulte durch seine Haare. Er legte seinen Kopf in meinen Schoß. Ich spürte seinen gleichmäßigen Atem auf meiner Brust. Schweigend lagen wir da und genossen die Nähe des anderen. Es gibt keinen Platz auf der Welt, an dem ich in diesem Moment lieber gewesen wäre als hier in dieser kleinen Bucht.

Irgendwann merkte ich, dass Roland eingeschlafen war.

Teil 3

Ein Geräusch weckte mich aus dem Schlaf. Ein Vogel rief, ganz in der Nähe. Nein, nicht einer, es müssen hunderte gewesen sein, sie machten einen Heidenlärm. Die ersten Sonnenstrahlen kamen hinter den Baumwipfeln hervor. Roland lag noch immer mit seinem Kopf auf meiner Brust. Er hatte einen Arm um mich gelegt. Meine Glieder schmerzten, und ich musste aufstehen. Dabei wurde er auch wach und blinzelte. Mit einem Stöhnen setzte er sich auf und streckte sich.

»Habe ich die ganze Zeit geschlafen?«, fragte er ungläubig.

Ich bejahte. Plötzlich durchfuhr es ihn. »Scheiße! Wie spät ist es?«

Ich sah auf meine Uhr. »Kurz nach sechs.«

»Ich muss nach Hause, verdammt!«, sagte er hastig und sprang auf. »Mein Vater darf nicht merken, dass ich die ganze Nacht weg war.«

»Warte!«, rief ich. »Ich bring dich nach Hause.«

»Nein, lass mal. Es ist besser für dich, wenn du dich hier nicht mit mir sehen lässt«, sagte er und rannte schon los. Ich lief hinterher und hielt ihn fest.

»Moment! Wann sehen wir uns wieder?«

»Das geht frühestens heute Abend.«

»Ich lade dich ein. Ich habe eine kleine Wohnung. Um acht Uhr, OK?« Ich nannte ihm meine Adresse und wir küssten uns kurz zum Abschied. Dann machte er sich los und hastete davon. Schon war er zwischen den Wohnblocks verschwunden.

An diesem Sonntag verging die Zeit für mich langsamer als sonst. Den ganzen Tag dachte ich an nichts anderes als an Roland. Den Vormittag verbrachte ich auf meinem Bett sitzend, die Augen an die Decke gerichtet. Ich war unfähig, irgendetwas zu tun, und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Die Zeiger schienen sich überhaupt nicht fortzubewegen, bis zum Abend war es noch eine Ewigkeit. Ich konnte es nicht erwarten, ihn wiederzusehen.

Immer wieder sah ich sein Gesicht vor mir. Ich musste nicht lange an ihn denken, schon machte sich ein gewisses Körperteil bemerkbar. Ich öffnete meine Hose und massierte besagtes Körperteil, dabei dachte ich immer an ihn, bis ich mit einem Stöhnen abspritzte. Erschöpft blieb ich noch eine Weile liegen.

Irgendwann stand ich auf und machte mir etwas zu essen. Als ich dabei in den Kühlschrank sah, stellte ich entsetzt fest, dass es um meine Vorräte für den Abend mal wieder nicht besonders gut bestellt war. Und die Geschäfte hatten heute natürlich auch geschlossen. Also würde das Essen wohl etwas einfacher ausfallen. Ich fuhr zur nächsten Tankstelle und kaufte zwei Tiefkühlpizzas.

Dann fing ich an, meine Wohnung etwas aufzuräumen. Konnte ja nichts schaden, und so war ich wenigstens abgelenkt. Um die Sauberkeit in der Wohnung war es auch nicht besonders gut bestellt, und so hatte ich erst mal genug zu tun. Natürlich machte ich auch im Schlafzimmer Ordnung und mit dem kribbelnden Gefühl der Vorfreude im Bauch bezog ich das Bett neu.

Es war halb sieben, als ich endlich fertig war. Ich stieg noch einmal unter die Dusche und zog mir frische Sachen an. Dann war es sieben Uhr. Noch eine Stunde. Nervös lief ich auf und ab.

Ich schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Nichts, was meine Aufmerksamkeit hätte erregen können. Ich konnte nicht still sitzen und stand wieder auf. Halb acht. Die Zeit wollte nicht vergehen.

Ich ging heraus auf den Balkon. Es war ein heißer Tag gewesen, und jetzt gegen Abend wurde die Luft ziemlich schwül. Am Himmel sah ich von Westen dunkle Wolken heranziehen. Das schöne Sommerwetter würde wohl nicht mehr lange anhalten.

Ich ging wieder nach drinnen, stellte einige Kerzen auf und zündete sie an. Ich liebte es, im Kerzenlicht zu sitzen, obwohl es jetzt noch hell war.

Jetzt ertappte ich mich schon wieder dabei, die Sekunden zu zählen. Zehn vor acht. Sollte ich vielleicht etwas Musik anstellen? Oder doch lieber nicht? Schließlich ging ich doch zur Stereo-Anlage und kramte eine CD hervor. Mein Gott, war ich nervös, meine Hände zitterten schon.

Der Zeiger meiner Uhr schritt unendlich langsam vorwärts. Schließlich war es acht Uhr. Jetzt musste er jeden Moment kommen …

Ich setzte mich hin. Seit ich hier wohnte, hatte ich eigentlich nur selten Besuch bekommen. Eigentlich gar nicht, bis auf meine Eltern manchmal. Nein, ich konnte jetzt einfach nicht still sitzen, nervös sprang ich wieder auf und ging im Zimmer auf und ab. Ich trat ans Fenster. Dunkle Wolken zogen heran, es sah nach einem Gewitter aus.

Ich hörte Schritte auf der Treppe. Mein Herz schlug schneller, ich ging zur Tür, aber noch bevor ich öffnete, hörte ich, dass die Schritte an meiner Tür vorbei nach oben gingen. Klar, er würde ja auch unten an der Haustür klingeln.

Ich ging zurück, stellte die CD wieder ab und setzte mich auf mein Bett. Ich hasste es, zu warten. Zehn, jetzt elf Minuten nach acht. Na gut, er würde ein paar Minuten später kommen, das hieß nichts …

Entfernt hörte ich Donnergrollen. Es würde also bald ein Gewitter geben. Die Luft war drückend schwül, meine Hände klebten und ich schwitzte, aber das lag vielleicht nicht nur am Wetter.

Halb neun. Vor lauter Ungeduld ging ich hinaus auf den Flur und sah das Treppenhaus hinunter. Niemand kam herauf. Vielleicht hatte er die Adresse vergessen oder das Haus nicht gefunden?

Wieder setzte ich mich aufs Bett. Er hatte mich doch nicht vergessen?

Ich nahm eine Zeitschrift vom Regal und blätterte sie durch. Irgendwas musste ich ja tun. Ich schlug einen Artikel auf und zwang mich zu lesen, aber schon nach dem ersten Absatz feuerte ich das Heft wieder in die Ecke. Ich konnte jetzt nicht lesen. Ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte.

Draußen setzte jetzt der Regen ein. Innerhalb weniger Sekunden wurde ein wahrer Wolkenbruch daraus, bald folgten Donner und Blitz. Um nichts in der Welt hätte ich jetzt da draußen sein wollen. Ich stand auf und schloss alle Fenster. Dann drehte ich das Licht aus und setzte mich aufs Bett. Nur noch die flackernden Kerzen erhellten den Raum und warfen seltsame Schatten. Er würde mich nicht vergessen, dass wusste ich. Aber was war dann passiert? Ich kannte nicht einmal seinen Nachnamen, geschweige denn seine Adresse.

Fünf vor zehn. Das Gewitter erreichte seinen Höhepunkt. In immer schnellerer Folge knallte der Donner und Blitze erhellten die Wände meines Zimmers. Die Dachrinne lief über, und das Wasser prasselte laut auf die Fliesen des Balkons. Das Zentrum des Gewitters musste ganz in der Nähe sein. Ich zählte die Sekunden zwischen den Blitzen und dem folgenden Donner. Ob er jetzt irgendwo da draußen in diesem Unwetter war?

Die Stunden vergingen. Später ließ der Regen wieder nach. Ich trat ans Fenster und sah über die Stadt. Durch den Regen heulte ein Martinshorn. Irgendwo da draußen war er jetzt. Es donnerte wieder, diesmal aber schon leiser. Das Gewitter zog weiter.

Ich war völlig fertig. Wo war er nur? Ich setzte mich auf mein Bett. Draußen tröpfelte es nur noch. Die Kerzen flackerten und warfen ihre Schatten an die Wände um mich herum. Gegen sechs Uhr morgens übermannte mich der Schlaf.

Es war kurz nach neun Uhr, als ich aufwachte. Ich hatte einen unruhigen Schlaf gehabt, immer wieder die Bilder der letzten Abende vor mir gesehen. Die Skinheads. Was er erzählt hatte. Und sein Gesicht. Die Frage ließ mich nicht los: Warum war er nicht gekommen?

Ich richtete mich auf. Mein Kopf schmerzte, ich wollte mich waschen. Noch immer lag ich vollständig angezogen auf meinem Bett. Alles stand noch so da wie am letzten Abend. Nur die Kerzen waren heruntergebrannt. Ich ging ins Bad, ließ warmes Wasser in meine Hände laufen und wusch mein Gesicht. War ich das da im Spiegel?

Jetzt hielt ich es nicht mehr in meiner Wohnung aus. Eigentlich hätte ich längst zur Berufsschule fahren müssen, aber daran war nicht zu denken. Ohne zu frühstücken setzte ich mich in mein Auto und fuhr zu der Plattenbausiedlung am Rande der Stadt. Ein trüber, vernebelter Morgen, es war richtig kalt geworden. Der Sommer war endgültig vorbei. Ich stellte den Wagen am Rand der Siedlung ab und fing an zu suchen. Ich wusste noch ungefähr, in welche Richtung Roland gelaufen war. Ziellos lief ich zwischen den Wohnblocks hin und her. Ich kannte ja nicht mal seinen Nachnamen. Eine alte Frau kam mir entgegen, ich fragte sie nach Roland und beschrieb sein Äußeres. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.

Ich ging weiter die Straßen zwischen den Plattenbauten ab, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf ihn zu finden. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Mist, ich hatte mir nicht einmal eine Jacke übergezogen.

Ich bog um die nächste Hausecke. Eine junge Frau mit zwei Kindern kam mir entgegen. Ich sprach sie an.

»Entschuldigung, können Sie mir helfen? Ich suche einen Jungen, etwa in meinem Alter, schwarze Haare, eins siebzig groß. Roland heißt er. Der muss hier irgendwo wohnen.«

»Den Roland Bröger meinst du? Also der wohnt hier, da drüben irgendwo, bei Nummer 41.«

Ich bedankte mich eilig und lief zu dem Haus mit der Nummer 41. Neben einem der Klingelknöpfe fand ich tatsächlich den Namen Bröger. Ich klingelte, es rührte sich jedoch nichts. Ich wartete.

»Suchen Sie jemanden?«, fragte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen alten Mann mit einem Spazierstock in der Hand. Offenbar wohnte er auch in dem Haus.

»Ich möchte zu Familie Bröger«, antwortete ich.

»Hier klingeln bringt sowieso nichts«, sagte er und deutete auf die Klingelknöpfe. »Die sind alle kaputt. Warten Sie, kommen Sie mit mir rein.« Er suchte einen Schlüssel aus seiner Tasche, steckte ihn ins Schloss, und öffnete die Tür.

»Ich wohne hier im Dritten, unter den Brögers. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Wenn's nichts Eiliges ist, kommen Sie noch mal wieder. Im Moment ist da dicke Luft. Seit gestern Abend ist da Geschrei und Gepolter, unsereins kommt gar nicht mehr zur Ruhe. Ich hab' mich ja schon dran gewöhnt. Wissen Sie, in den letzten Jahren habe ich den alten Säufer nicht ein einziges Mal nüchtern gesehen. Wenn der getrunken hat, gibt's immer Krach. Der schlägt auf alles ein, was sich bewegt. Aber so wie gestern war's schon lange nicht mehr. So ein Geschrei! Möchte wissen, was da wieder los war. Naja, wollen Sie da wirklich jetzt hin?«

Ich bejahte und fragte nach dem Weg. »Na, Sie müssen's ja wissen. Also im vierten Stock, dann in den Flur nach rechts und die fünfte Wohnung rechts. Aber passen Sie auf. Der Mann ist manchmal unberechenbar.«

Ich bedankte mich und stieg die Treppe hoch. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Es roch, als ob das Treppenhaus das letzte Mal zu DDR-Zeiten gelüftet worden wäre. Im dritten Stock angekommen, ging ich nach rechts und kam in einen schlecht beleuchteten, engen Flur. Aus einer der Wohnungen drang lautes Gebrüll. Ich hörte eine Männerstimme: »Und was kann ich dafür, he? Von mir aus braucht er auch gar nicht mehr wiederzukommen, der Bengel!«

Ich zählte die Türen auf der rechten Seite. Der Lärm schien tatsächlich aus der fünften Wohnung zu kommen. Als ich mich der Tür näherte, stockte mir der Atem. Mit einer Spraydose hatte jemand in großen schwarzen Buschstaben etwas auf Tür und Wand geschrieben. »Schwule auf den Scheiterhaufen«, las ich, darunter ein Hakenkreuz. An der Tür ein verkratztes Schild: »Bröger«.

Wieder brüllte jemand in der Wohnung. »Das ist mir so egal! Er ist nicht mehr mein Sohn, verstanden?! Und das gilt auch für dich, dass das klar ist!« Jetzt hörte ich etwas, das sich wie eine Ohrfeige anhörte. Eine Frau weinte.

Ich wartete noch etwas. Jetzt war nur noch das Schluchzen der Frau zu hören. Ich atmete einmal tief durch, hob meine Hand und klopfte an die Wohnungstür. Es dauerte einige Zeit, dann öffnete sie sich einen Spalt. Ich sah das Gesicht einer Frau. Man sah, dass sie geweint hatte.

»Ja?«, fragte sie. »Was wollen Sie?«

»Wohnt Roland hier?«

»Roland … ja, der wohnt hier.«

»Kann ich ihn sehen?«

»Er ist weg … seit gestern. Jemand hat das hier an die Tür geschrieben, Sie sehen's ja. Und sie haben uns einen Brief unter die Tür gelegt, wo drinsteht, dass er …« Sie fing wieder an zu weinen. »Wer sind Sie eigentlich?«

»Ich war mit ihm in der Schule«, log ich. »Wo ist er denn hingegangen?«

»Ich weiß es nicht. Als mein Mann das gesehen hat, ist er durchgedreht. Als Roland dann nach Hause gekommen ist, hat er ihn verprügelt …«

»Wer ist denn da?«, rief die Stimme von Rolands Vater aus der Wohnung.

Die Frau senkte ihre Stimme. »Er hat gesagt, dass er jetzt nicht mehr sein Sohn sei. Roland ist dann weggelaufen. Er hat noch gesagt, er käme nicht mehr wieder …«

»He, Jutta, was ist?!«, kam es wieder aus der Wohnung.

»Ich habe keine Zeit mehr«, sagte die Frau. »Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie es mir, ja? Bitte.« Damit schloss sie die Tür vor mir.

Ich stieg langsam die Treppen nach draußen. Mein Kopf schmerzte wieder, und mein Magen knurrte. Als ich vor die Tür trat, war der Regen stärker geworden. Ohne Jacke würde ich mich bestimmt erkälten, aber das war jetzt auch egal. Wo war er? War er weggelaufen? War ihm etwas zugestoßen? War er den Skinheads wieder in die Arme gelaufen? »Euch kriegen wir auch noch.«, die Worte klangen mir noch im Ohr. Hatte er wahrgemacht, wovon er gesprochen hatte, sich umgebracht nach dem Streit mit seinem Vater? »Ich werde ihm zuvorkommen.«, hatte er gesagt.

Ich ging die Straße zum Fluss hinunter. Der Boden außerhalb der Straße war völlig aufgeweicht vom nassen Schlamm. Auf der Brücke, ziemlich in die Mitte, blieb ich stehen und stützte mich auf das Geländer. Der Regen lief mir über das Gesicht. Über dem Fluss stieg Nebel auf, ein kalter Wind wehte. Unten trafen die Regentropfen auf das Wasser. Ihre Kreise breiteten sich immer weiter aus.

Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.

Nachwort

Hi Junx,

ich hoffe, die Story hat Euch gefallen, trotz des traurigen Endes :-). Ich wollte mal etwas schreiben, das etwas anders ausgeht als die meisten Storys hier, das wirkliche Leben ist ja auch nicht immer so traumhaft. Schließlich ist Gewalt gegen Schwule leider immer noch Realität, auch in Deutschland.

Und ich glaube, so wie Andy am Anfang ist es wohl den meisten schwulen Jungs irgendwann auch schon mal gegangen. Vielleicht seid ihr gerade in der gleichen Situation. Gebt den Glauben nicht auf, es gibt andere da draußen, denen es genauso geht und irgendwann werdet auch ihr jemanden finden.

Das war mein erster Versuch einer Story, und ich würde mich freuen, wenn ihr mir eure Meinung schreiben oder sonst irgendwie Kontakt aufnehmen wollt (simonnrw@hotmail.com ). Ihr bekommt auch bestimmt eine Antwort.

Simon (20)

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