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Seit meinem 9. Geburtstag...

Herzlos

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Heute ist mein Geburtstag. Wir fahren in die Stadt, um etwas zu erledigen. So sagt es mein Papa. Es sei eine Überraschung. Doch ich merke, wie nervös er umher läuft. Ist es denn keine schöne Überraschung? Die meisten Jungs in meinem Alter mögen Überraschungen, ich aber nicht. Wahrscheinlich weil ich ebenso nervös werde, wie mein Vater. Nicht zu wissen, was mich erwartet, kann schnell zu einer Qual werden. Wenn ich wenigstens wüsste, ob ich mich darüber freuen werde. Aber Papa macht nicht den Eindruck, als ob er mir dies beantworten könnte.

Wir fahren mit dem roten Mustang etwa fünf Minuten bis zur Innenstadt. Warum nehmen wir nicht einfach die Straßenbahn, fahren mit dem Fahrrad oder gehen zu Fuß?

Wohl weil wir dann nicht mit offenem Dach und lauter Musik auf uns aufmerksam machen können. Mir ist das gar nicht so wichtig. Vielleicht will er jemanden beeindrucken. Eine Frau?

Papa und ich leben schon lange alleine. Meine Freunde haben richtige Eltern. Einen Papa und eine Mama. Ist das etwa die Überraschung? Ich gebe zu, dass ich mir oft eine Mama gewünscht habe, doch fällt es mir schwer zu glauben, dass Papa mir eine Frau vorstellen möchte.

Ich kann mich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit einer Frau ausgegangen ist.

Eine Frau in unserem Leben gibt es aber schon. Ihr Name ist Nina. Papa nennt sie seine beste Freundin und vergleicht deren Beziehung mit der von mir und Max, meinem besten Freund.

Max findet es aber komisch, dass mein Vater eine beste Freundin hat und keinen besten Freund.

Doch das ist nicht wahr. Papa hat oft Männerbesuch. Sie treffen sich zum Fernsehen gucken, gehen ins Kino, in Kneipen oder auch auf Partys. Ab und zu übernachtet auch mal einer seiner Freunde bei uns, wenn es doch mal spät wird.

Jetzt sind wir in der Stadt und mein Herz pocht. Wohlmöglich stehe ich kurz vor der Überraschung. Man sagte mir, dass jeder einen Papa und eine Mama hat, sonst würde man gar nicht existieren. Aber ich habe keine Mama. Warum existiere ich dann? Habe ich doch eine Mama? Wartet sie irgendwo hier auf mich? Mein Herz schlägt schneller.

„Was hast du mein Kleiner?“, mein Papa schaut mich besorgt an: „Wir sind gleich da“.

Ich bin wirklich sehr angespannt. Wenn ich die Leute in der Stadt so beobachte dann sehe ich wie verschieden die Menschen doch sind. Kinder, die noch jünger sind als ich, laufen auf Tauben zu bis diese vor den Kindern flüchten, Jungs in meinem Alter klettern auf Mülltonnen und springen auf diesen als würden sie diese klein treten wollen. Jugendliche sitzen auf einer Bank, rauchen und trinken bei lauter Musik. Erwachsene versuchen sie dabei zu stören und müssen ohne Erfolg, kopfschüttelnd, ihren Weg weiter gehen. Andere wiederum stört es nicht, da sie viel mehr mit sich selbst beschäftig sind. Die Einen haben ein Telefon am Ohr und brüllen hinein, so dass jeder mithören kann was denn gerade so zum Schreien ist, oder wischen wütend über die gerade bekleckerte Hose. Die Anderen dagegen genießen einfach das schöne Wetter bei einem Eis oder Kaffee.

Nur ein Mann fällt mir besonders auf. Er sitzt allein in einer Ecke, die Menschen machen einen großen Bogen um ihn. Mit dem Kopf nach unten gebeugt, so dass er sein Gesicht nicht zu erkennen gibt, macht er einen sehr traurigen Eindruck. Keine Spur von Glück und Freude.

Ich zerre am Shirt meines Vaters und zeige auf den Mann. Er nickt nur und sagt: „Ja mein Kleiner. Das ist ein Mann ohne Herz“.

Für einen kurzen Moment weiß ich nicht was ich sagen oder denken soll. Ich sehe diesen Mann an, dann meinen Vater: „Ein Mann ohne Herz? Aber wie ist das möglich? Er lebt doch oder nicht?“. Mein Vater lächelt und sagt: „Ja natürlich lebt er. Du darfst das nicht wörtlich nehmen. Es ist eher symbolisch“.

Mein Vater zeigt mir die Menschen in der Stadt so wie ich sie vorher nie beobachtet habe: „Schau dir die Menschen an mein Kleiner. Viele sind alleine, einige sind in einer Gruppe und manche sind verliebt als Paar unterwegs. Es gibt schon junge Menschen, die sich in einen anderen Menschen verlieben. Manche erfahren dieses Gefühl auch erst viel später“, erklärt mir mein Vater. Während er mir von der Liebe erzählt beobachten wir einige Paare. Wir sehen Männer und Frauen zusammen. Sie küssen, umarmen sich und halten ihre Hände.

Sie sehen alle so glücklich aus. So wie ich den Mann ohne Herz nicht sehe.

Dann zeigt mir Papa eine andere Gruppe. Es sind zwei Männer, die sich küssen und zwei Frauen, die ihre Hände zusammen greifen.

„Siehst du, Männer können auch andere Männer lieben und Frauen können andere Frauen lieben“.

Ich bin sehr verwundert und schaue zu meinem Vater, der sehr zufrieden zu diesen zwei Paaren rüber schaut: „Aber Papa das ist doch nicht richtig, oder?“.

„Warum soll das denn nicht richtig sein? Die Liebe kommt oft, wenn man sie nicht erwartet. Und dabei kommt es vor, dass es einen trifft, wenn man gerade mit einem Menschen des gleichen Geschlechts zusammen ist. Ein Mann verliebt sich nicht in eine Frau und auch keine Frau verliebt sich in einen Mann. Es sollte eher heißen ein Mensch verliebt sich in einen Menschen“.

„Aber was hat dies alles mit diesem herzlosen Mann zu tun?“.

„Wie ich dir schon sagte, es ist symbolisch gemeint. Wenn ein Mensch sich in einen anderen Menschen verliebt, dann verschenkt der Verliebte sein Herz symbolisch an den anderen Menschen. Beruht dies auf Gegenseitigkeit, so hat jeder das Herz des anderen.

Leider hält nicht jede Liebe ewig. Wenn die Liebe des Einen verschwindet, dann holt sich dieser sein Herz wieder zurück. Auch in diesem Fall wäre es nicht schlimm, wenn es auf Gegenseitigkeit beruhe, denn dann hätten beide ihr Herz wieder zurück, auch wenn das Herz des Verlassenen meist gebrochen ist. Nach einer Zeit wird es aber wieder heilen und bereit sein für einen anderen Menschen.

Ach mein Sohn es ist so schön das Herz eines anderen Menschen zu haben, aber nicht immer beruht Liebe auf Gegenseitigkeit. Der Verliebte verschenkt sein Herz und ist dadurch herzlos, aber nur solange er kein anderes Herz bekommt oder sein eigenes wieder besorgt“.

Mein Vater verstummt und blickt nicht mehr so zufrieden dahin. Ich verstehe aber was er mir sagen will. Dieser Mann ist herzlos, weil er sein Herz verschenkt hat, an einen Menschen den er liebt, doch er hat kein Herz stattdessen bekommen. In mir kommt ein schauriges Gefühl auf. Ich möchte ihm so gerne helfen.

„Woher weißt du, dass dieser Mann herzlos ist?“, frage ich Papa und er spricht weiter: „Weil ich ihn kenne mein Sohn. Dieser Mann hat sich vor einigen Jahren in einen Menschen verliebt. Und ja es beruhte sogar auf Gegenseitigkeit. Beide hatten das Herz des anderen. Sie waren sehr glücklich. Die Beiden haben so viel zusammen erlebt. Gemütliche Abende unter den Sternen oder auch abenteuerliche Ausflüge in Australien. Nach vielen Reisen und Partys wollten sie es aber ruhiger angehen. So entstanden Pläne für die Zukunft. Sie wollten leben, wie viele andere Paare auch. Der Mann machte seinem Geliebten einen Heiratsantrag, den er sofort annahm. Die Hochzeit fand eher im kleinen Kreis statt, doch wunderschön war sie trotzdem. Zum perfekten Familienleben fehlten nur noch ein Eigenheim mit Garten und auch ein Kind. Es war für die beiden aber nicht möglich ein eigenes Kind zu bekommen, also haben sie einen Jungen adoptiert. Aber es war nicht so einfach, wie ich es dir hier so kurz erzähle. Sie haben diesen Jungen bekommen, weil sie beide eine besondere Verbindung zu dem Jungen spürten und alles getan haben um mit ihm eine Familie zu gründen.

Die zuständige Behörde war so angetan von dem Engagement der beiden, dass sie keine Steine in den Weg legen wollten. Aus zwei wurden drei. Und man konnte sich nicht vorstellen, dass diese jemals getrennt werden sollten.

Doch es kam alles ganz anders.

Der Mensch in den er sich verliebte, nahm ihm das Herz wieder weg. Sie haben sich also getrennt, und der Geliebte hat den Jungen mit sich genommen, weil er für ihn besser sorgen konnte. Seitdem ist der Mann ohne Herz und ganz allein“.

Ich bin erschrocken und werde laut: „Wieso? Was ist passiert?“.

Der Mann ohne Herz schaut auf, so dass man zum ersten Mal sein Gesicht sehen kann. Er schaut direkt zu uns rüber. Mein Geschrei hat ihn wohl auf uns aufmerksam gemacht.

Seine Augen öffnen sich nur sehr langsam. Ich glaube sogar Tränen zu erkennen. Diesen Gesichtsausdruck werde ich mir bestimmt noch lange einprägen. Ein wenig Trauer, aber auch Hoffnung kann ich von ihm ablesen.

Papa erzählt weiter: „Der Geliebte hat sein Herz wieder genommen, weil er es einer anderen Person schenken wollte. Seitdem findet der Mann ohne Herz kein Glück und keine Freude im Leben. Die Menschen spüren es und machen einen Bogen um ihn. Bestimmt weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind oder aber weil sie einen schlechten Menschen in ihm sehen. Das ist er aber nicht. Er ist ein Mann, der sein Herz verschenkt hat und dieses nie zurück verlangt hat. Er ist ein guter Mensch, und er hat dieses Leid nicht verdient“.

„Papa, warum holt er sein Herz nicht einfach zurück?“.

Als ich diese Frage stelle, steht der Mann plötzlich auf und kommt langsam zu uns herüber.

„Ben, dieser Mann will sein Herz nicht zurück, weil er noch immer verliebt ist.

Hier an dieser Stelle, an der sie sich damals das erste Mal gesehen hatten, wartet er immer am gleichen Tag des Jahres.

Er wartet seit sieben Jahren mit der Hoffnung, dass ich ihm mein Herz wieder gebe.

Deswegen sind wir hier. Das ist die Überraschung“.

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