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Ordinary Life

Kapitel 5 und 6

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Inhaltsverzeichnis

---Fünf---

Inzwischen lebe ich schon etwas über einen Monat bei Milena. Wir haben uns aneinander gewöhnt, denke ich. An die lauten Partys, die sie so oft schmeißt, und an die Stille, die ich manchmal sehr gern habe. Daran, dass wir wegen ihrem Job nicht oft zusammen essen, was mir schon ein bisschen fehlt. Aber uns geht es gut.

Mein Zimmer ist so gut wie fertig: Sogar im Möbelhaus mit dem gelben Logo waren wir schon und haben »Schnuckelzeug«, wie Milena das nennt, gekauft. Gardinen, Bettwäsche, Schreibtisch, Stuhl, Lampen, Krimskrams. Meinen neunzehnten Geburtstag habe ich auch hinter mir, er wurde in aller Stille mit einem Bier begangen. Traute Zweisamkeit, quasi.

Außerdem habe ich aus Milena herausbekommen, was Pascal mit »in fünf Wochen« gemeint hat: Er heiratet. Also er geht eine Lebensgemeinschaft ein. Heute. Zu diesem -ähem- feierlichen Anlass hat Milena mich eingeladen, als ihre Begleitung. Toll, nicht?

Ich habe abgelehnt.

Nicht, um Pascal eine gewisse Genugtuung zu verschaffen. Dass er durch meine Abwesenheit keine Schuldgefühle verspüren wird, stört mich auch nicht. Soll er doch glücklich werden mit seinem Volker. Wenn der so tolerant ist und ihm jeden Seitensprung durchgehen lässt – bitte.

Milena habe ich gesagt, dass ich keinen Anzug habe und die ganzen Feierlichkeiten mit meinem Schmuddel-Look versauen würde. Außerdem kann ich mich ja prima um David kümmern, der würde dem glücklichen Paar auch nur die Stimmung vermiesen.

Sie hat schließlich zugestimmt und ist ohne uns gefahren. In einem Traum von einem Kleid, dunkelrote Seide. Mit Hochzeitsgeschenk und allem. Vor einer Stunde ist sie losgefahren, Männer allein zu Haus.

Im Kühlschrank herrscht gähnende Leere, wenn man von einer angebrochenen Flasche Sekt absieht. Deshalb schnappe ich mir ein Fläschchen und zwei Windeln für den Kleinen und meinen Geldbeutel und verstaue die eben genannten Sachen in einer etwas aus der Mode gekommenen, aber sehr geräumigen Stofftasche. Für das bisschen, das 2,5 Menschen brauchen, wird es wohl reichen. Dann schnalle ich David mittels Tragetuch vor mich und stecke mein Handy in die Hosentasche meiner abgewetzten Jeans. Auf in den Kampf!

Die Straßen sind heute dicht bevölkert, vor allem in den kleinen Cafés und Eisdielen herrscht Hochkonjunktur. Ja, bei einem nicht enden wollenden Rekordsommer ist eine Erfrischung schon was feines und auch der Grund, warum ich mit dem Kleinen nicht allzu lange unterwegs sein möchte. Wenn die Sonne so vom Himmel brennt... das ist ja nicht gerade gut.

Ich beschließe also, den Bus zu nehmen. Mit der Monatskarte ist das ja relativ einfach, obwohl ich es ein wenig teuer finde. Wahrscheinlich ist es für Großstadtverhältnisse billig, aber ich bin ein Landei, durch und durch.

Die leicht bekleideten Besucher des »Dolce Vita« sehen gerade einen abgehetzten, Baby tragenden Kerl an sich vorbei rennen: Mich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mittlerweile einen ziemlich guten Blick auf meine Boxershorts und/oder meine Beine hat. Nicht, weil meine Hose sich selbstständig macht, nein. Sie ist einfach schon ziemlich kaputt. Immerhin werde ich hier nicht wegen Erregen öffentlichen Ärgernisses eingekerkert.

Zu meinem persönlichen Erstaunen schaffe ich es noch rechtzeitig zur Haltestelle – nun ja, der Fahrer will gerade die Türen schließen, aber es ist schon eine Glanzleistung. Dafür, dass es nicht geplant war, meine ich. Ich halte dem Kaugummi kauenden Herrn mit der schwarzen Sonnenbrille meine Monatskarte hin und werde durchgewinkt. Viel ist ja nicht mehr frei an Plätzen – heutzutage steht man einfach nicht mehr auf, wenn beispielsweise eine alte Dame einsteigt. Nicht allen, aber vielen ist die eigene Bequemlichkeit wichtiger.

So gesehen muss ich ja gar nicht sitzen.

Meine Tasche ist noch weitgehend leer und so lange trage ich David auch noch nicht, dass er mir schon schwer würde. Die Fahrt wird für uns nicht allzu lange dauern, erträglich. Ich postiere mich in der Nähe der hinteren Türen und beobachte die Leute. Direkt hinter mir sitzen zwei Mädels in Lisas Kaliber. Ich drehe mich schnell wieder weg.

„Und dann hat er gesagt, dass er mich nett findet. Einfach nur nett, verstehst du? Nicht geil oder so. Ich sag’s dir, der Steve ist schwuler als 'ne Puderquaste! Ich hab es ja von Anfang an gewusst, aber ein bisschen Hoffnung hatte ich ja schon... Ey, Bitch, hörst du mir überhaupt zu?“

Hust.

Ja nee, ist klar.

Jeder Mann ist schwul, der einen einfach nur »nett« findet. Ich bin zwar keine Hete, aber trotzdem sicher, dass beispielsweise Thomas nicht auf jedes weibliche Wesen auf Erden abfährt.

Der ist natürlich auch eine verkappte Schwuchtel, wir haben es schon immer gewusst!

Ich sollte aufhören zu lauschen. Aber die reden auch verboten laut! Hmpf.

„Türlich hör ich dir zu, Babe! Du, ich hab im Moment aber echt wichtigeres zu tun... Babe, es geht um Leben und Tod!“

Okay, jetzt bin ich aber mal gespannt. Sie ist von dem vermeintlich schwulen Steve schwanger? Ich drehe den Kopf wieder zu ihnen rüber.

„Sag schon, Bitch!“

Ähm... ja. Sehr nette Art seine Freundin anzusprechen, muss ich schon sagen. Werde ich gleich mal bei Milena ausprobieren, wenn sie nach Hause kommt. Anschließend werde ich im Uniklinikum aufwachen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

„Soll ich meine Nägel in rot oder in rosa lackieren?“

Argh! Um ein Haar hätte es mich umgehauen. Leben und Tod, soso. Ich wusste schon immer, dass die Inhaltsstoffe von Nagellacken nicht die gesündesten sind, aber dass es so dramatisch ist?

Spontan hätte ich gerne die Probleme von den Mädels. Mann, wäre ich glücklich!

Unsere Haltestelle, endlich! Noch eine Minute mehr und ich hätte den Damen ein paar Takte erzählt. Ich tröste mich damit, dass sie eines Tages mit ihren hohen Absätzen im Gitter der U-Bahn hängend zu Grunde gehen werden.

Kaum bin ich aus dem Bus ausgestiegen, fängt auch schon mein altertümliches Handy an zu klingeln. Wer kann denn das sein? Milena ja wohl kaum, sie ist sicher schon zum Sekt trinken übergegangen, oder so. Ich krame das altertümliche Teil aus meiner Hosentasche und schiele aufs Display.

Thomas.

Scheiße aber auch.

Was will der denn plötzlich? Hat sich die ganze Zeit nicht gemeldet. Aber... hey, er ist mein Freund! Ich gehe also dran.

„Bauer. Hallo?“, frage ich und tue erstmal unwissend.

„Sebastian? Hier ist Thomas. Ähm... hi. Wo bist du denn abgeblieben?“, bringt er hervor. „Aus deinen Eltern war ja gar nichts rauszukriegen!“

Sehr schön. Will er mich verpfeifen? Wenn ich ihm sage, wo ich bin, hetzt er mir doch sicher die Schläger aus dem Dorf auf den Hals. Oder meine Erzeuger, was noch eine Ecke schlimmer wäre. Thomas bemerkt mein Zögern.

„Hey, was ist denn los? Weißt du, was ich für einen Schock bekommen hab, als ich vom Klo kam? Alles leer, du weg... Dachte noch, dass du vielleicht keinen Bock mehr hattest und einfach heimgegangen bist. Nächsten Morgen frag ich deine Alten und die erzählen mir, dass du durch Abwesenheit glänzt. Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht hab?“

Ich zucke mit den Schultern, aber das kann er natürlich nicht sehen. Hat er denn nichts davon gehört? Gab es keinen Dorfklatsch über mich? Wird die Gärtnerei meiner Eltern nicht boykottiert?

„Haben die anderen es dir nicht gesagt?“, frage ich zögernd.

„Was denn?“

„Na... dass ich schwul bin eben“, murmle ich in mein Handy. „Ich dachte, es würde die Runde machen.“

Thomas lacht. Was soll das jetzt wieder bedeuten?

„Ach, das meinst du!“, sagt er leichthin. „Natürlich habe ich davon gehört. Deshalb bist du weg?“

„Ja.“

David macht ein gurgelndes Geräusch.

„Wasti, was war denn das eben?“

„Nur David. Es macht dir also nichts aus, dass ich schwul bin?“

„Nein, macht es nicht. Wer ist David? Dein Hasi-Schnucki?“

Ich verdrehe die Augen und angle in der Tasche nach der Nuckelflasche. War ja wieder klar, dass er gleich denkt, ich hätte mir jemanden aufgerissen! Aber immerhin findet er es okay, dass ich so bin, wie ich bin. Yay! Warum tanze ich eigentlich nicht durch die Gegend?

Ach ja, hier ist ja ein kleines Etwas, das auf Nahrung wartet.

„Da wäre der Gute aber etwas frühreif! Der Kleine ist erst fünf Monate alt und genau genommen mein Job. Du bist also nicht sauer auf mich?“, frage ich vorsichtig.

„Nicht die Spur! Ich meine... Veronika ist ja auch Grund genug, schwul zu werden!“, kichert er. „Spaß bei Seite: Wo steckst du gerade?“

Ich atme tief durch.

„Ich stehe gerade vor einem Supermarkt, in dem ich einkaufen will“, weiche ich aus.

So einfach bekommt man meinen Aufenthaltsort nicht – selbst wenn ich mich dumm stellen muss.

„Wasti, jetzt tu doch nicht so! Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst!“, grummelt Thomas.

Tief durchatmen.

„Ich bin in... in München.“

„Wow, ist doch toll! Du scheinst ja da das tollste Leben zu haben. Kann ich mal vorbeikommen?“

„Denk schon, aber ich muss vorher mit Milena sprechen. Du, ich leg jetzt auf. Bye!“, würge ich ihn ab.

„Jo, schönen Tag noch!“

Uff. Ungefähr tausend Findlinge purzeln von meinen Schultern. Es geht bergauf! Mit einem Freund im Rücken ist alles leichter, vermute ich. Thomas hat mir gefehlt, die fünf Wochen hindurch. Wir haben noch nie so lange nicht miteinander geredet, trotz Urlaub und Streit nicht. Dennoch war ich nie in ihn verschossen. Bester Freund und so. Aber was denke ich so ewig vor mich hin?

Einkaufen soll ich schließlich! Von Luft und Liebe lässt es sich nicht so ganz leben. Vor allem, wenn letzteres nicht in Sicht ist. Ich stapfe also entschlossen auf die automatischen Türen zu und betrete den Laden. Es sieht aus wie in jedem Geschäft dieser Kette. Zwecks Wiedererkennungswert, wie ich mal gehört habe. Damit sich jeder auskennt.

Was braucht unser kleiner Haushalt alles?

Ja, ich weiß. Was man zum Überleben braucht. Als Mann von Welt findet auch Obst den Weg in meine Tasche, ebenso Marmelade, Butter, Käse und abgepackte Wurst. Naturjoghurt für Milena darf auch nicht fehlen, sonst lyncht sie mich wieder. Habe ich etwas vergessen? Brot ist noch im Gefrierfach. Seltsam? Nein, ganz und gar nicht! Da nimmt man einmal fünf Brote aus der Bäckerei mit und frostet sie – werden ja sonst schlecht. Schon wieder ein Einkauf gespart.

Und David schläft.

Der Kleine hat ein Katzenleben, so ist das! Essen, schlafen, essen, sonst nichts. Schreien vielleicht noch. Ich will auch einen Tagesablauf dieser Art!

Momentan scheint das eher unmöglich. Wir reihen uns in die relativ kurze Kassenschlange ein und ich packe den Tascheninhalt aufs Band, wobei ein kleines Kind ganz schön hinderlich ist. Vor allem, wenn es schläft und man es nicht aufwecken möchte.

Einen unglaublichen Vorteil hat David-dabei-haben ja, wie ich in den letzten Wochen feststellen durfte: Alle Welt reagiert super freundlich und lässt einen an der Kasse sogar mit relativ vielen Trümmern vor. Man wird angelächelt und – ja, das tut meinem Ego schon sehr gut.

Natürlich gibt es auch Leute, die einen herablassend ansehen. Von wegen »So jung und schon ein Kind, da hat aber wer nicht aufgepasst!« und so. Denken ja viele, dass man, wenn man so jung ist, nicht mit Kindern umgehen kann. Aber was soll ich sagen? Ich kenne sehr viele ältere Herrschaften, die viel schlimmer mit ihrem Nachwuchs umgehen – allen voran mein Vater.

Die Verkäuferin zieht inzwischen meine Waren über den Scanner, ich packe so vorsichtig wie möglich ein.

„Neunzehn dreiundneunzig, bitte!“, verlangt die etwas müde aussehende Kassiererin.

War wohl etwas lang, der gestrige Abend. Ich sollte mir solche gedanklichen Kommentare verkneifen, ich weiß. Sie sind halt einfach da – und ich spreche sie ja nicht aus. Brav reiche ich der Dame einen Zwanziger, Kleingeld lohnt sich da ja wirklich nicht. Weil ich heute einen ausgesprochen guten Tag habe, was wahrscheinlich mit der Versöhnung mit Thomas zusammenhängt, schenke ich ihr die sieben Cent.

„Das brauchen Sie wirklich nicht!“, murmelt sie und wird rot. „Das ist doch kein Glückscent oder so!“

Sie will mir »mein« Geld in die Hand drücken, aber ich weiche schnell aus und verlasse den Laden. Darf ich das als gute Tat aufführen? Hm... vielleicht. Aber wo ich so ein -ähm- Badboy bin, hat das sowieso sehr wenig Gewicht, vermute ich. Draußen ist es ziemlich warm, Pascal hat sich einen netten Tag ausgesucht. Oder Volker, je nach dem. Milena wird sich jedenfalls blendend amüsieren und vermutlich allen die Show stehlen, obwohl sie es nicht beabsichtigt.

Noch zwei Minuten bis zum nächsten Bus. Ich trabe gemächlich Richtung Haltestelle, mein so genanntes Gepäck wird mir langsam aber sicher zu schwer. Die Hitze flimmert und ich frage mich, warum ich nichts zu trinken mitgenommen habe, als ich eben im Supermarkt war. Richtig: Davon würden mir auch nach kürzester Zeit die Arme lang werden. Vielleicht kommt der Bus ja ein paar Sekunden früher. Sind fünf Monate alte Erdenbürger immer so schwer? Und der Einkauf, ist der nicht sonst immer leichter?

Ich wische mir fahrig den Schweiß von der Stirn und trete von einem Fuß auf den anderen. Seltsamer Weise komme ich mir gerade ziemlich bescheuert vor... gut, das passiert mir ziemlich oft. Endlich kommen die großen Reifen vor mir zum Stehen, die Türen schwingen auf. Der Bus!

Hastig steige ich ein, wühle ewig nach meiner Monatskarte – nur um ein gelangweiltes Nicken zu bekommen. Da hat sich der ganze Aufwand ja gar nicht gelohnt! Egal, immerhin ist noch ein Platz frei. Genau, ein einziger! Ich habe schwere Lasten zu tragen, da nehme ich einen Sitznachbar in Kauf.

„Ist hier noch frei?“, frage ich den erstbesten allein sitzenden Typen.

Nicht, weil er männlich ist, sondern weil er in der Nähe des Eingangs sitzt und ich somit den kürzesten Weg habe. Er schreckt auf und sieht mich an. Für einen Moment kann ich Verwirrung in seinem Blick sehen, die genauso schnell verschwindet wie sie aufgetaucht ist.

„Klaro“, antwortet er mit tiefer Stimme und nimmt seine Umhängetasche von dem freien Stuhl, auf den ich mich sogleich sinken lasse.

Ich bin leicht benommen. Warum?

Nun ja, passiert einem ja nicht alle Tage, dass so eine Sahneschnitte neben einem sitzt! Inzwischen hat sich der Gute wieder von mir abgewandt und starrt wieder auf den Wälzer in seinen Händen. Andere Leute würden vermutlich sagen, dass er liest. Wenn er selbiges tut, fällt es ihm doch bestimmt nicht auf, wenn ich ihn ein wenig beobachte, oder? - Nein, selbstverständlich nicht. Deshalb hefte ich meine Augen ungeniert auf ihn.

Er streicht eine vorwitzige Haarsträhne aus seinem Gesicht, die ihm so gar nicht gehorchen will. Seufzt resigniert, weil es sich als Sisyphusarbeit herausstellt. Was er wohl denkt?

Seine Augen hetzen nur so über das Meer aus Buchstaben, ich kann ihnen kaum folgen. Er beißt sich auf die Unterlippe, vielleicht ist es gerade besonders spannend. Oder besonders trocken. Je nachdem, was er liest.

David beginnt sich zu regen und ich suche vorsichtshalber nach seiner Flasche, man kann ja nie wissen. Tatsächlich hat der Kleine Hunger und – ähm – nölt ein wenig rum. Normalerweise macht mir das nichts aus, aber neben dem, was man unter einem Traummann versteht... einfach nur peinlich. Warum kann sich kein Abgrund auftun?

Bevor er noch den ganzen Bus unterhalten kann, gebe ich David lieber schnell die Flasche. Er muss wohl bei der letzten Bremsung aufgewacht sein, der Fahrer ist etwas rabiat.

Mister ich-bin-absolut-anbetungswürdig schlägt mit einem lauten Knall seinen Wälzer zu, natürlich nicht ohne vorher einen Fetzen Papier eingelegt zu haben.

„Der ist ja total süß!“, bricht es aus ihm heraus. „Darf ich?“

Ich nicke perplex. Damit hätte ich jetzt, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. Ich meine... der ist heiß, skandalös gutes Aussehen, unnahbare Ausstrahlung – und mag David! Besser kann es ja eigentlich nicht sein.

Er fährt ganz vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Wange des Kleinen und streift meine Hand dabei ganz leicht. Seit wann fließt durch meinen Körper Strom? Kann man das abstellen? Mann, ist das alles peinlich! Da sitzt ein Mensch neben mir, den ich vergöttern könnte – und das vom ersten Eindruck an – was tue ich? Ich starre ihn an, als könnte ich nicht bis drei zählen und müsste meinen IQ inmitten der negativen Zahlen suchen. Mit Kuhaugen und verklärtem Blick und überhaupt allem, widerlich.

Endlich hat David genug und ich verstaue die Flasche wieder in den Untiefen meiner Tasche. Gab es eigentlich annähernd etwas wie Konversation zwischen diesem Überwesen und mir? Hm... nein, ich hab ja kein Wort herausgebracht. Stattdessen sitzen wir stillschweigend da und sehen den Kleinen an. Gut, einige meiner Blicke wandern verstohlen zu meinem Sitznachbarn, aber ich denke, ich bin unauffällig genug.

„Mei, Sie sann a so liab! So jung und scho a kloane Familie, des is schee, gell? Schaut ma Eana fei ganet oh, des Sie scho Ende zwanzig san. Ma kennt ja glatt moana, des des Ihr Kleins is, mechat na! Hams denn scho a – wie sagt ma etzat da?- Lebensgemeinschaft oder dan Sie in wilder Ehe leben?“, tönt es aus der Reihe hinter uns in tiefstem Bayerisch.

Unsere Köpfe rucken herum, sodass wir beinahe zusammenstoßen. Eine Dame um die siebzig lächelt uns aufmunternd zu, aber ihre Begeisterung gilt natürlich David. Sekunde. Die denkt doch nicht wirklich-?

Die Schönheit und ich, wo kämen wir denn da hin? Ich weiß ja nicht mal seinen Namen. Und David von uns adoptiert? Sachen gibt es, die gibt es nicht. Ich ringe mir ein Grinsen ab und sehe schockiert zu, wie mein Traummann nickt.

„Schön, nicht? Ist zwar kompliziert mit Studium und Baby, aber irgendwie bekommt man es unter einen Hut. Nicht schlafen zu können ist schon schlimm, aber... der Kleine gibt uns alles zurück, wissen Sie?“, redet er drauflos.

Im ersten Moment bin ich viel zu sehr beim Anbeten seiner Stimme als beim Begreifen seiner Worte. Stopp, stopp, stopp! Hat er gerade gesagt, dass wir zusammen sind? Hätte mich vorher ja mal fragen können! Außerdem ist die Antwort ja wohl voll 08/15 und aus dem nächstbesten Elternratgeber geklaut. Die alte Dame nickt verständnisvoll, als hätte sie das schon selbst durchgemacht. Gut, hat sie wahrscheinlich auch.

„Dafür schaun'S sehr ausgschlafen aus, muas I sogn. I hob mi damols wia daschlong gfühlt!“, gibt sie freimütig zu. „Dann gengan Sie goa ned af Partys?“

„Nein, meistens nicht. Ist ja viel zu laut da und den Kleinen können wir ja schlecht allein lassen. Heutzutage findet man ja so schlecht gute Babysitter!“, lügt der Kerl neben mir das blaue vom Himmel herab.

„Mei, des is mei Haltestelln, I mua naus! I winsch Eana wos, gell? So nette Leid hob I scho lang nimmer troffa. Bfiat Eana!“

Mit einem letzten breiten Lächeln verlässt die alte Dame uns – endlich, wie ich mir eingestehen muss. Ich atme tief durch. Noch eine Sekunde länger und ich wäre durchgedreht, ehrlich!

„Tut mir Leid, dass ich dich da einfach so mit reingezogen habe – Sophian“, entschuldigt sich mein Gegenüber und hält mir die Hand hin.

„Sebastian“, antworte ich zögernd und klammere mich ein wenig an David.

„Würdest du mir das eben verzeihen, wenn ich dich -ähm- auf einen Cappuccino oder so einladen würde?“, fragt Sophian und deutet auf die Eisdiele, an der wir gerade vorbeifahren.

Soll ich, soll ich nicht? Ich meine... der Kerl ist total geil, süß, was weiß ich nicht alles, aber ich hab schreckliche Angst, dass ich mich blamiere.

„Ja“, krächze ich nach mehrmaligem Räuspern.

Jetzt bin ich total unten durch bei ihm. Stell mich ja an wie ein totaler Dummkopf und das mit Abi. Gut, das sagt manchmal nichts, aber ich habe mich bis jetzt für -uhm- halbwegs intelligent gehalten.

„Dann müssen wir gleich raus“, erklärt er lächelnd.

Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, wie ich nach gefühlten tausend Sekunden Anstarren feststelle. Der hat aber auch tolle Augen! Es gibt da ja solche und solche. Manche sehen aus wie Matsch oder so, undefinierbar bis ausdruckslos eben. Aber da gibt es noch den anderen Teil: Ich-will-die-ganze-Zeit-sie-anstarren-und-in-ihnen-versinken-Augen. Sophians gehören definitiv zur letzten Kategorie.

So schnell, wie ich Blitzmerker es schaffe, erhebe ich mich von meinem Platz und steige über die im Gang verteilten Gepäckstücke weg zur Tür. David guckt mich etwas verwundert an, hält aber den Mund. Stelle erschrocken fest, dass der hinter mir gehende Sophian bestimmt wie die Besucher des »Dolce Vita« von vorhin einen ziemlich guten Blick auf meine Boxershorts oder aber meine Beine hat. Scheiße, damit wollte ich ihn nicht so früh konfrontieren!

Jetzt hält er mich bestimmt für total aufdringlich und überlegt sich das mit dem Cappuccino nochmal. Ich spüre, wie mir ganz warm im Gesicht wird und bin mir sofort bewusst, dass ich die Farbe einer reifen Tomate angenommen habe. Dass ausgerechnet der heißeste Kerl des Universums hinter mir geht, macht die Sache nicht gerade leichter. Warum immer ich?

Aussteigen ist die Lösung aller meiner Probleme. Zumindest rede ich mir das gerade krampfhaft ein und verlasse den Bus -wie ich hoffe- halbwegs elegant. Was nur heißt, dass ich nicht sofort den Boden geknutscht habe.

Obwohl... dann hätte ich die mir-geht-es-so-dreckig-und-ich-werde-sterben-tröste-mich-Masche abziehen können. Zu spät!

„Wie kommen wir jetzt dahin?“, frage ich gewohnt dämlich.

Man entferne das überdimensionale Brett von meinem Kopf und vertrimme mich damit solange, bis ich zu ein wenig Intelligenz gekommen bin! Ich meine... an der Eisdiele sind wir doch gerade erst vorbei gelaufen, da werde ich doch wohl ungefähr wissen... brain, please.

„Immer geradeaus, denk ich“, antwortet das Überwesen an meiner Seite. „Es sei denn, du willst woanders hin?“

Scheiße, ist der rücksichtsvoll! Da könnt ich mir glatt eine Scheibe von abschneiden. Moment, der will eine Antwort, oder? Sehr gut erkannt, Sir. Nur ungefähr tausend Stunden zu spät.

„Ja, nein, ich meine... es ist okay, wenn wir dahin gehen!“, stammle ich.

Sophian lächelt mich an und deutet auf meine Tasche.

„Soll ich die nehmen?“

Ich nicke dankbar. Gleichzeitig ist es mir ein bisschen peinlich, schließlich habe ich ihn somit zum Packesel gemacht. Mann, Sebastian, er hat es dir doch selbst angeboten! Manchmal könnte ich mich selbst verdreschen. Dann bin ich immer etwas sauer, weil Tests ergeben haben, dass meine Arme nur mäßig starke Schläge zusammenbringen, wenn es um den eigenen Körper geht. Aus tiefster Überzeugung empfehle ich daher: Die Wand. Einfach frisch, fromm, fröhlich, frei dagegen rennen und die Wirkung setzt sofort ein.

Allerdings ist es hier doch ein wenig auffällig zum Sprint anzusetzen und dann den Putz zu knutschen. Unelegant, you know? Außerdem megapeinlich, ich meine... Sophian! Ich schäme mich einfach viel zu schnell für mich.

Nach zwei Minuten Fußmarsch erreichen wir die Eisdiele endlich. Nur noch wenige Tische unter den riesigen, bunten Schirmen sind noch frei – aber immerhin. Ich wische mir den Schweiß von meiner Stirn und sehe zu Sophian. Seine malachitfarbenen Haare schimmern im Sonnenlicht und wenn man genau hinsieht, schimmert die Blondierung ein wenig durch. Ich möchte ihn auf der Stelle niederknutschen und festhalten und überhaupt... böse Gedanken!

Ich kenne den doch erst seit eben, der ist total das Überwesen – und bei meinem Glück so straight wie ein Lineal.

„Drinnen oder draußen?“, fragt Sophian ziemlich nah bei mir.

Ich zucke zusammen und sehe ihn etwas verwirrt an. Der Geruch! Himmel, wie soll ich denn da meinen Verstand behalten? So abartig gut. Ob er mir wohl sein T-Shirt überlässt? Vergiss es, Sebastian!

„Drinnen ist es kühler, oder? Und mehr Plätze frei“, antworte ich unsicher. „Bin nicht so ein Sonnenanbeter.“

„Some like it hot – and some like it cold“, zitiert Sophian lächelnd und zieht mich in die Eisdiele.

Schock! Woher kennt der denn bitte DAS Lied, hm? Gut, er trägt schwarze Klamotten und er -seufz- hat einen keltischen Ring am Finger, aber deshalb muss er ja lange nicht in Richtung Gothic gehen und ausgerechnet »Xandria« hören.

Verdammt! Warum klinge ich so nach verknalltem Schulmädchen?

Nein, sagt es mir nicht, ich weiß es selbst: Weil ich eins bin.

Wir setzen uns an einen der schnuckeligen Tische und ich spiele nervös mit einem Zipfel der meerblauen Decke aus Wachstuch. Beobachtet der mich? Ich kann seinen Blick doch spüren, menno! Irgendwie ist mir das unangenehm. Nachdem meine Augen das auf Toiletten hinweisende Schild gefunden haben, springe ich auf. Sophian sieht mich verwundert an.

„David, der Kleine – ich muss ihm die Windel wechseln!“, bringe ich hervor und schnappe mir noch eine Windel, bevor ich mich auf dem Damenklo verschanze.

Nicht, weil ich das brauche. Himmel, nein, soweit ist es noch nicht. Aber bei den Herren gibt es keinen Wickeltisch, wie fies! Alle Welt geht also davon aus, dass nur Frauen Windeln wechseln können/müssen/sollen, total rückständig. Ich lege also David trocken – ja, er braucht wirklich was Frisches. Genau jetzt muss natürlich eine Frau die Kabine verlassen und stakst auf mich zu. Wieder so eine von der perfekten Sorte: Makellose Haut, strahlend weiße Zähne, leuchtend blaue Augen und schicke Klamotten. Bwah!

„Was machen Sie denn hier? Spanner! Raus, gehen Sie! Dass man solche wie Sie überhaupt hier reinlässt!“, kreischt sie drauflos.

Ich knöpfe Davids Body seelenruhig zu und setze ihn zurück ins Tragetuch. Ehe ich mich versehen kann, hat mir die Furie mit ihrer tonnenschweren Designer-Handtasche eins übergezogen. Au, au, au!

Torkelnder Weise entferne ich mich so schnell wie möglich aus der Toilette und rette mich in Sophians Arme.

Wortwörtlich. Angst. Egal.

Die Furie ist mir nachgelaufen. Ihre Handtasche hat sie immer noch hoch erhoben, mit zielsicheren, aber trotzdem Stöckelschuh-bedingt damenhaften Schritten kommt sie auf mich zu. Ich verberge mein Gesicht in Sophians Shirt und warte einfach nur ab, die Arme schützend um David gelegt.

„Dass Sie sich nicht schämen! Bestimmt sind Sie ein genauso widerlicher Spanner wie der Kerl da! Einsperren sollte man Sie, jawohl!“, keift sie in einer unglaublichen Lautstärke, so dass ich mich noch enger an Sophian drücke.

„Ihr überaus egoistisches Verhalten scheint Sie davon abzuhalten, sich umzusehen und nachzudenken, bevor Sie voreilige Schlüsse ziehen. Mein Freund hielt sich nur in der Damentoilette auf, um sein Kind zu wickeln, wie einem gesunden Mensch aufgefallen sein dürfte. Keinesfalls würde er Spannen – das hat er nämlich nicht nötig. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Aufmerksamkeit einzelne Personen für sich beanspruchen“, antwortet Sophian so kühl, dass die Hölle bestimmt zufriert.

Mein Retter! Wenn ich wüsste, dass er schwul ist, würde ich mir eine überdimensionale Schleife umbinden, an seiner Tür klingeln und mich auf den Fußabstreifer legen. Als Geschenk. Obwohl natürlich niemand den gleichen Geschmack hat und er mich vermutlich trotzdem nicht wollen würde. Langsam richte ich mich auf und sehe die Furie an – ich will ihren fassungslosen Blick und den Triumph genießen. Auch, wenn ich selber ein jämmerliches Bild abgebe mit den geröteten Augen, den verräterisch zuckenden Mundwinkeln und einem Säugling auf dem Arm.

„Ich glaube es ist besser, wenn Sie gehen“, sagt Sophian distanziert. „Oder wollen Sie sich noch lächerlicher machen?“

Die Furie presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und sie sieht aus, als würde sie mich am liebsten erdolchen. Vermutlich halten sie nicht die Zeugen, sondern die Blutflecken, die ihre Klamotten bekommen könnten, davon ab. Widerliche Person! Sie wirft mir einen letzten hasserfüllten Blick zu, bevor sie auf dem Absatz kehrt macht und mit einem ordentlichen Hüftschwung die Eisdiele verlässt. Scheinbar habe ich bei Frauen kein Glück.

„Alles okay?“, fragt Sophian besorgt und streicht mir eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht.

Scheiß auf Frauen, wenn es Kerle wie ihn gibt!

„Ich... ich denke schon. Nur etwas... perplex“, murmle ich fahrig.

„Cappuccino können wir wohl vergessen, hm?“

Ich nicke betroffen. So, wie die uns hier alle anstarren? Da ist nichts von wegen Gemütlichkeit angesagt. Eine bleischwere Traurigkeit breitet sich mit ungeahnter Geschwindigkeit in mir aus. Heißt das, dass ich ihn gehen lassen muss? Auf nimmer Wiedersehen und so?

„Ich wohne nicht weit weg von hier. Wenn du mal in der Nähe bist, kannst du ja auf nen Sprung vorbeikommen“, traue ich mich zu sagen.

Yay! Heute sammeln wir Selbstvertrauen für Sebastian, und das auch noch erfolgreich!

„Gerne!“, antwortet er strahlend und kramt seinen Wälzer und einen Füller aus der Tasche. „Kannst du deine Adresse bitte aufschreiben?“

Ich zögere. In ein Buch, einfach so? Das verschandelt doch alles und Tinte bekommt man nicht so leicht wieder raus. Sophian deutet auf das Vorsatzpapier.

„Da hin, ja?“

Wenn er es unbedingt so möchte... »Des Menschen Willen ist sein Himmelreich«, hat meine Oma -Gott hab sie selig- immer gesagt. Die muss es ja gewusst haben, oder? So selbstsicher wie nur möglich schnappe ich mir den Füller und streife dabei Sophians Hand. Sofort ist meine frisch erworbene Kraft wieder verschwunden, ich halte für einen Moment die Luft an. Reiß dich am Riemen, Sebastian!

Ich trage mit Sonntagsschrift meine Adresse in sein Buch und schiebe es ihm wieder zu.

„Danke“, murmelt Sophian und spielt mit seinem Ring. „Bis irgendwann mal, ja?“

Scheiße, ist das endgültig. Außerdem erinnert es an Pascal. Den konnte ich ja »nur« gut leiden, aber Sophian... Ich will nicht, dass er geht, verdammt!

„Tschüss“, antworte ich und zwinge meine Lippen zu einem Lächeln.

Und dann gehe ich. Irgendwer muss ja den ersten Schritt machen.

---Sechs---

Ich hasse mich, ehrlich. Da treffe ich den Kerl meiner Träume und unternehme, ja, ganz genau: Nichts! Das ist so typisch für mich, dass ich mir selbst einen Tritt in den Allerwertesten verpassen möchte. Habe ich auch vorhin schon ausprobiert. Bin aber kläglich gescheitert, weil nach hinten umgefallen.

Wir schreiben »den Tag danach«, drei Uhr dreißig p.m.

Ich liege mit äußerst guter Laune auf meinem Bett und rede mir ein, dass ich mit dem Atmen einfach so aufhören kann, wenn ich es mir nur fest vornehme. Auf dem Fußboden steht ein quietschbuntes Tablett mit einer halb leeren Tasse Kakao und einem Teller Cookies, das ja wohl gar nicht zur Stimmung passt. Milena hat es mir nach einer ausführlichen Lagebesprechung vorbeigebracht, zusammen mit einem Kuscheltier von David. Das verbreitet alles so ein wir-haben-dich-lieb-Gefühl, das ich nicht verdiene. Um den Kleinen muss ich mich heute auch nicht kümmern, das Mädel ist echt ein Schatz.

Es klingelt an der Wohnungstür, ich drehe mich im Bett um und ziehe mir die Decke über den Kopf. Damit schlage ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, das böse Licht ist nämlich auch verschwunden. Dann ist es eben viel zu warm, egal!

Nee, es ist wirklich zu viel. Ich lasse einen Fuß raus baumeln und vergrabe mich im Kopfkissen. Kann man sich selbst eigentlich ersticken?

Hoffentlich.

Ich bin jedenfalls auf dem besten Wege. Ohnmacht, pah! Irgendwie werde ich schon umgehen, dass meine Arme schlaff werden. Handschellen? Aaargh! Das klingt nach Porno.

Meine Zimmertür wird aufgestoßen, ich kann es dumpf hören. Scheiße, wer lässt sich denn bitteschön heute bei mir blicken?

„Besuch für dich, Wasti!“, sagt Milena fröhlich, ich kann sie förmlich im Türrahmen lehnen sehen. „Kannst dich ruhig aufs Bett setzen, er ist heute nur ein bisschen mufflig. Aufgeschäumten Kakao, Cappuccino, Latte Macchiato, Espresso?“

„Cappuccino, wenn es dir nichts ausmacht... Milena“, antwortet -Oh mein Gott!- Sophian.

Ausgerechnet jetzt, wo ich absolut ausgekotzt und noch unansehnlicher als sonst daherkomme und mich total beschissen fühle, muss er aufkreuzen! Warum hat das mit dem Ersticken nicht geklappt, verdammt? Meine Mitbewohnerin stößt sich mit einem leisen Seufzen vom Türrahmen ab und verlässt -so hoffe ich- das Zimmer. Wenigstens eine Beteiligte weniger!

Ich ziehe die Decke von meinem Kopf und drehe mich auf die Seite. Fötushaltung, perfekt. Es kann nur schlimmer kommen, da kann ein bisschen Schutz nicht schaden. Die Welt ist grausam! Sophian sitzt total aus dem Ei gepellt neben meinem halb gegessenen »Frühstück« und sieht mich mit großen Augen an. Warum ich?

„Hi“, nuschle ich und reibe mir fahrig den Schlaf aus den Augen.

Bestimmt sehe ich aus wie Frankensteins Darling und er starrt nur deshalb so. Oder man sieht mir an, wie viel ich geweint habe. Ich werde noch zu einer richtigen Heulsuse, iih! Langsam aber sicher ekle ich mich vor mir selbst – sollte ich das nicht schon längst unbewusst getan haben. Und warum sagt der Kerl nichts? Ich komm mir ja minderbemittelt vor. Sitzt seelenruhig da und ergötzt sich an meinem Elend.

„Ist was?“, frage ich mit schwächelnder Stimme.

Ausgerechnet jetzt muss die mich auch noch verlassen, Verrat!

Sophian beugt sich etwas vor und streichelt mit dem Zeigefinger über meinen Nasenrücken. Hey, was soll das? Nein, der darf nicht sagen, dass es mir ja offensichtlich gefällt. Ein breites Grinsen und geschlossene Augen gelten nicht als Beweis, basta.

„Du bist einfach nur süß“, murmelt er. „Total verschlafen und noch ganz bettwarm!“

Verlegen fahre ich mir über den Hals und versuche, die aufkommende Röte zu unterdrücken. Wie immer ohne die geringste Chance. Natürlich liegt das diesmal nur daran, dass ich exzessiv nachdenke. Meint Sophian das ernst?

Findet er mich wirklich -nun ja- niedlich im Sinne von »dich würde ich nicht von der Bettkante stoßen«? Oder doch eher nur »du erinnerst mich an meinen 3-jährigen Neffen«-mäßig?

Ich bin am Verzweifeln.

Warum werde ich immer vor unlösbare Aufgaben gestellt? Mein Mathelehrer hat immer zu uns gesagt, dass man jedes Problem mit einer Gleichung lösen könnte. Bitteschön, soll er doch mal eine für mich aufstellen! Ich weiß ja jetzt schon, dass er sich doof und dämlich rechnen würde.

„Ga... gar nicht!“, gähne ich und deute aufs Bett. „Willste dich setzen? Hierhin, meine ich.“

Der Dorftrottel hat gesprochen. Und natürlich auch gezeigt, dass er keinerlei Manieren hat, ein Trampel eben. Zu meiner Verwunderung lächelt Sophian dankbar und pflanzt sich neben mich. Nein, eigentlich sitzt er einfach nur hinter meinem Rücken und das ist ein verdammt unangenehmes Gefühl. Ich liefere mich nicht gerne so aus.

„So, dein Cappuccino!“, trällert Milena fröhlich, während sie sich mit einer vollen Tasse in der Hand durch den Dschungel aus herumliegenden Utensilien kämpft. „Ich hoffe, ich störe nicht?“

Ich richte mich auf und schüttle den Kopf. Nein, sie doch nicht. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich eh fast einen Herzkasper bekommen, also sollte ich mich wohl bei ihr bedanken. Sophian kratzt sich beschämt am Kopf und starrt meine Decke an. Oh Mann, ich will ihn herzen, küssen und sonst noch nicht ganz jugendfreie Dinge mit ihm anstellen!

Aufgrund des letzten Gedankenganges erreiche ich endlich mein hoch gestecktes Ziel: Mein Gesicht gewinnt die Wahl zum knalligsten Rot des Jahres und verdrängt somit den Feuermelder auf Platz zwei! Was will ich eigentlich mehr?

„Ihr seid ja sowas von schnuckelig! Hättet ihr Lust, in einem meiner Filme mitzuspielen? Ich schneide die Charaktere auch genau auf euch zu, nur ein bisschen nackte Haut und garantiert keine »Wieso liegt hier Heu? - Weiß nicht. Lass uns ficken!«-Dialoge! Bitte, bitte!“, bettelt sie und sinkt, nachdem sie die Tasse aufs Tablett gestellt hat, vor uns auf die Knie.

Irgendwie glaube ich eher, dass ich im falschen Film bin. Hat die uns gerade gefragt, ob wir in ihrem hauseigenen Porno mitspielen würden? Ich revidiere alle meine vorigen Aussagen bezüglich Milena und ersetze sie durch eine neue: Ich will sie vierteilen!

„Jetzt seid doch nicht gleich eingeschüchtert, war doch nur ein Scherz! Ich würde euch ja nie etwas derart billiges anbieten, aber jetzt sagt mal: Habt ihr euch endlich ’n Ruck gegeben?“

Sophian und ich sehen uns verständnislos an. Was meint die denn? Alle Klarheiten beseitigt, wie immer. Zum Glück weiß nicht nur ich nicht, worum es geht.

„Na, sagt schon! Geknutscht, gefummelt, zusammen, whatever!“, informiert sie uns.

Okay. War ich eben noch puterrot, gehe ich jetzt jede Wette ein, dass ich kalkweiß im Gesicht bin. Wie kann man nur so... so indiskret und taktlos sein? Ich meine... wir kennen uns erst seit gestern und ich weiß nicht mal, ob mein Traumtyp mich mag, geschweige denn, ob er schwul ist, und sie fängt gleich damit an! Wie stehe ich denn jetzt da? Er muss mich hassen!

„Ähm... nichts dergleichen“, antwortet Sophian scheinheilig. „Eigentlich wollten wir gerade kuscheln!“

Was? Himmel, was erzählt der denn da! Erdboden, tu dich doch mal eben auf. Ich meine... der lügt schon wieder und überhaupt komm ich mir verarscht vor! Womöglich haben die beiden sich abgesprochen. Halt, nein. Sophian wird von Milena bezahlt, die mich aus der Wohnung raus haben will. Da ich aber anhänglicher als eine Klette bin und sie von meinen Neigungen weiß, hat sie diesen Traum von einem Kerl arrangiert, um mich ins Jenseits zu befördern. So sieht es doch aus!

„Ihr seid so schnuffig! Und du bist abgrundtief süß, wenn du rot wirst, Wasti! Fast schnitzeliger als beim Schmollen! Hat er schon für dich geschmollt, Sophian?“, fragt Milena begeistert.

Hallo? Darf ich vielleicht auch noch mitreden? Ich bin kein Kuscheltier, verdammt. Obwohl ich zur Zeit wenig intelligent handle, besitze ich doch etwas, das sich Hirn schimpft und erstaunlicher Weise sogar um Kommunizieren ausreicht. Aber nein, das muss ja übergangen werden. Sophian schüttelt grinsend den Kopf. Muss der sich auch noch gegen mich stellen?

Unbewusst schiebe ich meine Unterlippe vor und starre angestrengt auf meine Bettwäsche. Oh ja, blau-geblümte Oma-Bettwäsche ist sehr interessant, wirklich. Wenn man einmal nicht aufpasst! Hat sich der Kerl doch einfach rüber gelehnt und küsst mich auf die Wange, tze. Aber niedlich ist es ja schon. Himmel, wie rede ich denn?

„Kamera, ich brauch ne Kamera! Bewegt euch bloß nicht und Wasti: Schmoll brav weiter, das ist Zucker!“, ruft Milena hysterisch.

Ist sie jetzt total gaga? Ich meine... sobald ich auf einem Foto bin, ist doch alles im Eimer. Außerdem habe ich gerade einen klein-Mädchen-Gesichtsausdruck drauf und lasse mich von meinem Herz auf die Wange küssen, wie gestört muss ich erst sein? Verdammt, wie habe ich ihn eben genannt? Nein, Sebastian nimmt nie Spitznamen für seine Angebeteten her, ehrlich. Wie, Ironie? Nein, noch nie was davon gehört. Danke der Nachfrage.

Warum sitze ich eigentlich immer noch so dämlich da? Ach ja, Milena plus Kamera. Plus Sophian, der gerade seine Arme um meine Schultern legt. Besitzergreifend sind wir ja nicht. Schon ist meine Mitbewohnerin zur Stelle und knippst zwischen all den »süß«-Rufen massenhaft Bilder mit ihrer uralten Spiegelreflex. Ich. Will. Hier. Weg! Film voll, na Gott sei Dank. Waren ja nur 36 Aufnahmen, die gegen mich verwendet werden können.

„Wundervoll!“, freut sich Milena. „Ein Lob an dich, Sophian. Seit du da bist, blüht Wasti richtig auf!“

„Der Wasti blüht jetzt erstmal Duschen“, brummle ich mufflig und schüttle anderer Leute Arme ab. „Wenn ihr wieder zurechnungsfähig seid, könnt ihr mich rufen – aber wehe, ihr kommt ins Bad!“

Ich bin eklig, ich weiß.

Aber wie soll ich das bitteschön sonst aushalten?

Ich knalle die Tür des Badezimmers hinter mir zu und schließe vorsorglich ab. Ein bisschen Privatsphäre muss doch drin sein, wenn man schon nicht allein deprimiert sein darf. Eigentlich sollte ich jetzt total gute Laune haben, schließlich ist Sophian da. Gleich am nächsten Tag vorbeigekommen, wider aller Erwartungen. So egal kann ich ihm ja nicht sein. Vielleicht habe ich einen schlechten Tag, das wird es wohl sein. Eher nicht, aber man kann sich Sachen ja auch einreden. Ich bin erbärmlich. Der Spiegel zeigt mir, dass ich mit der Befürchtung mein Aussehen betreffend recht hatte. Fertiger als ich kann man gar nicht aussehen!

Augenringe bis zum Kinn, die sich nicht gerade vorteilhaft auf meine Erscheinung auswirken. Haare wie nach einem mittelschweren Stromschlag und ein Zittern, dass es nicht mehr feierlich ist. Als Gott die Schönheit verteilt hat, war ich wohl gerade auf dem Klo.

Alles wie immer also.


Mit tropfnassen Haaren und einzig einer Jeans bekleidet schleiche ich zurück in mein Zimmer und hoffe, dass mich keiner bemerkt. Hat ja die letzten Jahre auch wunderbar funktioniert, bis zum Tag X. Milena und Sophian unterhalten sich angeregt. Ich bin gewillt zu glauben, dass sie jeden Augenblick Brüderschaft trinken. Mit meiner Mitbewohnerin würde ich das aber kein zweites Mal tun, einmal Bechern mit ihr hat gereicht. Sie hat mich gnadenlos unter den Tisch getrunken, am nächsten Morgen war ich bar jeder Erinnerung.

„Da ist unser Schnuckel ja wieder“, giggelt Milena und wedelt mit ihren perfekten Händen durch die Luft. „Wir haben dich schon vermisst!“

Ich verdrehe die Augen und nippe an meinem schon leicht betagten Kakao. Ein Cookie kann auch nicht schaden... obwohl ich mehr auf meine Figur achten sollte. Seit ich meinen Zigarettenkonsum dezimiert habe, fresse ich noch viel mehr als sonst. Man erwischt mich quasi nie ohne was Essbares in der Pfote, ich sollte mich schämen. Wenn ich so weiter mache, will mich gar keiner mehr. Sophian kichert ganz unmännlich und robbt zu mir rüber.

„Allerdings haben wir das“, flüstert er und küsst mich blitzschnell aufs Ohrläppchen.

Ähm... haben die sich in meiner Abwesenheit vielleicht ein kleines Theaterstück ausgedacht? »Heute verarschen wir den Sebastian« oder so? Verunsichert klammere ich mich an meine Tasse. Sophian streichelt schon wieder über meine Nase und so langsam reicht es mir.

„Habt ihr sie noch alle?“, rufe ich empört. „Ich bin doch kein Teddybär für einsame Stündchen!“

Milena lächelt weiter unerschütterlich und in Zahnpasta-Manier. Hallo, rede ich chinesisch oder was? Scheinbar bin ich der Grund allgemeiner Belustigung. Ich kreuze die Arme trotzig vor meiner Brust. Wenn mich noch einer verarscht, bekommt derjenige was auf die Nase! Und es wird mir sowas von an meinem Hintern vorbeigehen, ob die Nase hübsch ist oder nicht.

„Hab dich nicht so, Schnuckel! Der Sophian will sich doch nur bei dir beliebt machen, nicht wahr?“, versucht Milena mich zu beruhigen. „Weil der dich nämlich ganz toll findet, hat er mir erzählt!“

Ich schiele zu meinem Traumprinzen, dessen Gesicht mittlerweile ein satter Rotton ziert. Oh mein Gott, sieht das knuffig aus! Will haben! Jetzt fang ich schon genauso an, Mist. Ich halte meine Rechte krampfhaft davon ab, ihm durchs Haar zu flauschen. Erfolglos.

„Nun küsst euch doch endlich!“, klingt es da aus dem Off. „Küssen, küssen, küssen!“

Bringt. Sie. Um. Verdammt! Und heute neu in unserem Sortiment: Der Stimmungskiller Nummer 1, wunderbar geeignet für romantische Momente, traute Zweisamkeit und Ähnliches. Gerne auch an homosexuelle Paare abzugeben, da höhere Erfolgsquote beim Grad der Zerstörung. Kaufen Sie Milena!

Sophian guckt sie irritiert an und sogar dabei sieht er einfach nur zum Anbeißen aus. Dann zuckt er mit den Schultern, zieht mich etwas näher zu sich und haucht mir einen Kuss auf die Stirn.

„So, das muss für die Voyeurin vom Dienst reichen“, erklärt er kichernd. „Für mehr musst du dir nen Porno kaufen!“

Milena schaut etwas überrascht aus der Wäsche, lässt sich dann aber zu einem enttäuschten Gesichtsausdruck breitschlagen. Haben wir da etwa einen kleinen Makel an der Hochglanzschönheit entdeckt? Ich könnte mal eben zur Presse laufen und denen ein paar Takte erzählen... über gewisse Präferenzen auf einer ganz bestimmten Ebene. Aber dann würde sie mich vierteilen, durch den Mixer jagen und meine kläglichen Überreste verbrennen, vermute ich. Lieber nicht. Da strecke ich ihr lieber nur schnell die Zunge raus.

Bin ich eben ein Kleinkind. Na und?

„Ihr nützt meine Gastfreundschaft nur aus, tze! Da will man doch auch mal was sehen für den ganzen Aufwand, oder? Ich bringe euch Cookies, was zu trinken und dann das!“, zetert Milena.

Scheinbar hat sie so etwas wie schauspielerisches Talent. Versteckt, versteht sich. Allein die Gesten sind Gold wert, ich möchte sie filmen. Sie kriegt ihren Porno und ich ein ich-rege-mich-schrecklich-auf-Video, dann ist der Deal perfekt.

„Was willst du denn so sehen? Vielleicht liegt ein Teil ja im Bereich des Machbaren“, fragt Sophian neugierig und streichelt über meine Wange.

Wieso fühle ich mich nur so übergangen? Muss an mir liegen. So langsam dürfte ich es ja gewohnt sein, eventuell gehört es auch einfach zum Erwachsenenleben dazu. Ist in dem kleinen Kaff sicher an mir vorbeigegangen.

„Oooch... ein bisschen Rumknutschen wäre nicht so schlecht, denke ich. Nach oben setze ich jetzt mal keine Grenze“, bestimmt Milena fachmännisch und wirft sich ein letztes Mal in Pose.

Ich kichere ein bisschen, obwohl die Forderung natürlich total überzogen ist. Sophian und ich, rumhauend auf meinem Bett – das ist doch utopisch. Wird nicht vorkommen, da bin ich mir ganz sicher. Pech, Milena. Liegt ja nicht an mir, musst du den da schlagen.

Sophian legt den Kopf schief und knibbelt auf seiner Unterlippe rum. Oh. Mein. Gott, es ward ein Tagebuch-Blick!

„Was hältst du davon?“, fragt er gedämpft und sieht mir in die Augen.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Soll ich, soll ich nicht? Ist doch ein bisschen billig, ich kenne ihn doch erst seit gestern. Meinen ersten wirklichen Kuss mit ihm will ich doch nicht so erleben, auf Drängen einer Freundin. Ich bin romantisch, ja? Ich kann es nur sehr gut verstecken.

„Dafür bin ich vermutlich noch zu nüchtern“, murmle ich abwesend.

„Ich geh mal eben den Fusel holen“, macht sich Milena sofort davon.

„Aber... wir können doch nicht am hellerlichten Tag saufen!“, protestiere ich schwach.

„Du glaubst gar nicht, was wir alles können!“, schallt es aus dem Wohnzimmer.

Oha. Wie ich die kenne, fährt sie gleich harte Geschütze auf. Unter vierzig Volt geht bei ihr fast nichts, habe ich den Verdacht. Da bin ich ja vom Riechen schon total beschickert – nun, heute werde ich es brauchen. Meine Hände krampfen sich um meine Bettdecke. Verdammt.

„Aufgeregt?“

Ich schüttle den Kopf.

„Kannst mir ruhig sagen wenn... wenn du das nicht machen willst“, sagt Sophian tonlos, während Milena mit klirrenden Flaschen zurückkehrt.

„Vodka“, erklärt sie stolz. „Hat meine Oma noch gemacht!“

Morgen werde ich einen Schädel haben wie noch nie zuvor, bestimmt. Trotzdem greife ich mit zitternden Händen nach einer Buddel. Wieso hat die eigentlich mehrere mitgebracht? Solche Suffköpfe sind wir nicht. Ich zumindest. Todesmutig nehme ich einen Nipp, es schmeckt verdammt bitter. Beim Schlucken muss es natürlich auch brennen, dummes Zeug. Ich weiß, warum ich mich meist an Bier halte.

„Nicht so zaghaft!“, fordert Milena und nimmt selber einen großen Zug.

Ich ignoriere sie und reiche die Flasche an Sophian weiter, der sie sich gleich an den Hals setzt. Er ist längst nicht so zimperlich wie ich, trinkt zügig. Dann hustet er, hat es also doch nicht so gut verkraftet. Ich klopfe ihm auf den Rücken und lasse mich auf dem Fußboden häuslich nieder. Gut, eigentlich lasse ich mich aus dem Bett fallen, aber das ist nebensächlich.

„Nun kommt schon, oder muss ich erst noch »Flaschendrehen« spielen?“, fragt Milena kichernd.

Sie hat es sich schon bequem gemacht, fehlen nur noch die Chips. Das Leuchten in ihren Augen ist kaum noch zu übersehen, die Erwartung haut mich um. Und ich hab Muffensausen, verdammt. Sophians Finger zittern, streichen fahrig über meine Wange. Er ist auch aufgeregt, immerhin. Beruhigt doch ein bisschen. Er beugt sich ein Stück vom Bett runter. Ungefähr so weit, dass ich erstaunt bin, dass er nicht raus fällt. Um das zu verhindern, lege ich meinen Arm um seine Schulter.

„Macht schon!“, kreischt Milena drängend, ich sehe nicht zu ihr rüber.

Geht sowieso nicht mehr, ich habe die Augen geschlossen. Und dann sind sie da, seine Lippen. Streifen meine ganz kurz und entfernen sich dann wieder. Milena ist plötzlich ganz still, vermutlich hat sie die Luft angehalten. Ich lege den Kopf schief. Jetzt ist doch eh schon alles egal, oder?

Mit einem leisen Seufzen überbrücke ich die Distanz zwischen Sophian und mir, um an seiner Unterlippe zu saugen. Oh mein Gott!

Wer hätte gedacht, dass das so geil ist? Ich meine... Viola Küssen fand ich nie toll mit dem ganzen glitzernden Gloss, das so komisch geklebt hat. Pascal war, nun ja, schon sehr scharf, aber eben nur das. Mit Sophian knutschen ist einfach nur himmlisch, verdammt!

So mit rosarote Brille-Flair und so. Ich schlinge meine Hände um seinen Nacken und gebe ein hoch zufriedenes Brummen von mir. Gut, Vodka schmeckt nicht so atemberaubend, aber an Sophians Lippen merkt man eh nicht mehr viel davon. Ich meine... eigentlich bekomme ich überhaupt nichts mit. Zeitgefühl, Umgebung... pah, wer braucht das schon!

Ich jedenfalls nicht. Und schon gar nicht, wenn Sophian so wundervolle Seufzer von sich gibt und mit der Hand meinen Bauch... Moment, wann haben sich seine Fittiche unter mein T-Shirt geschlichen? Meine Augen haben sich dank meiner blitzschnellen Erkenntnis -oh Wunder, es hat nur tausend Stunden gedauert!- blitzschnell für Tageslicht und gegen weiteres Dahindämmern inklusive Farbexplosionen vor den Lidern entschieden, hm.

Ich löse mich langsam von Sophian und kehre in die Realität zurück. Die beinhaltet einen Kerl mit Rotkäppchen-Wangen und verschleiertem Blick, der mich schaudern lässt. Wieso muss der immer so lecker aussehen?

Milena fängt spontan an zu klatschen und die Stimmung geht den Bach runter. Danke vielmals! Naja, vielleicht ist es auch ganz gut, dass wir wieder einen klaren Kopf haben. Hätte ja beinahe vergessen, dass sie da ist. Meine Arbeitgeberin, hui. Die mich zu homoerotischen Sachen zwingt, oder eher mit Alkohol gefügig macht. Gut, ich habe mich nicht gerade unwillig gezeigt und das würde jeder Richter blind erkennen, aber... ja.

„Tschuldige“, nuschelt Sophian heiser. „Ich-“

„Nein, ist okay“, hauche ich und zupfe an einer grünen Haarsträhne, die ihm ins Gesicht gefallen ist. „Ich war nur -ähm- überrascht.“

Himmel, klingt das lahm! Ich hatte auch schon mal bessere Erklärungen, ehrlich. Früher, damals... als ich noch jung war. Aber lassen wir die alten Zeiten ruhen, in denen Milenas Oma munter selbst gebrannt hat, und wenden uns der grausamen Gegenwart zu. Die sieht so aus, dass vor mir der geilste Kerl des Universums thront, mit dem ich gerade geknutscht, aber ihm nicht die Zunge in den Hals gesteckt habe. Warum, zur Hölle, habe ich aufgehört ihn zu küssen?

Ich bin so verdammt hirnlos. Wenn Dummheit weh tun würde, würde ich den ganzen Tag schreien. Und das nicht gerade vor Wonne, weg mit den schmutzigen Gedanken. Idiot, Idiot, Idiot.

„Ich glaube, ich lass euch dann mal allein“, sagt Milena verschmitzt, rafft ihren Uralt-Vodka zusammen und verlässt das Schlachtfeld.

Ich drehe mich verlegen von meinem Traumtyp weg und schnappe mir einen Cookie. Warum muss die Dummtrine jetzt abhauen? Ich bekomme doch nicht das winzigste Wort raus, wenn ich mit dem hier... und überhaupt, zu zweit und so. Und jetzt? Vermutlich sollte ich mit ihm reden. Gepflegte Konversation, oder so.

„Das... das eben tut mir wirklich Leid, Sebastian“, sagt Sophian leise. „Ich hätte mich zurückhalten müssen und alles. Aber ich dachte mir... weil Milena doch so beharrlich war und von Anfang an so zweideutig – ach, vergiss es!“

Er schlägt mit der flachen Hand auf mein Kopfkissen, so richtig mit Schwung. Anschließend räuspert er sich, ist ihm wohl ein bisschen peinlich. So gar nicht distanziert und schutzlos, das geht ja heute gar nicht mehr. Ich lächle.

„Sag ruhig“, sage ich aufmunternd und trinke meinen Kakao aus.

Mausere ich mich gerade zur Psychotherapeutin? Hm, Psycho stimmt schon mal. Den Rest bekommen wir ein anderes Mal hin. Oder eben gar nicht, je nach Lust und Laune.

Sophian friemelt an dem Kissenbezug rum und seine Haare sind ihm schon wieder ins Gesicht gefallen, so dass ich seine Augen nicht sehen kann. Verdammt, dabei sind die doch so toll!

„Nun... Milena hat, sobald ich mich vorgestellt hatte, ziemliche -ähm- Andeutungen gemacht, ich muss sie wohl missverstanden haben. Ich... ich dachte, dass du schwul bist – sonst hätte ich das gar nicht gemacht, entschuldige.“

Ich möchte meine Arbeitgeberin mal eben mit einem Fleischklopfer niederstrecken, den dürften wir ja im Haus haben. Wie kommt sie denn dazu, meinem Traumtyp ausgerechnet das zu erzählen? Demnächst hängt sie sich noch ein rosa Schild um, auf dem mit weißer Zuckergussschrift »Hey, mein Freund hier ist übrigens schwul!« steht. Damit geht man nicht einfach so hausieren!

Mo-Moment! Wenn meine grauen Zellen nicht gerade auf Kurzschluss sind -was gut möglich wäre- dann... interpretiere ich da was fehl, oder hat Sophian indirekt gesagt, dass er schwul ist? Aaargh!

„Du hast das nicht falsch verstanden, weißt du? Also... du hast dir das schon sehr richtig zusammengereimt, ich bin schwul“, murmle ich ohne ihn anzusehen.

Sophian atmet geräuschvoll aus, ich werfe doch mal schnell einen Blick zu ihm rüber. Im Moment streicht er sich seine grüne Mähne aus dem Gesicht und grinst vor sich hin. Hat Milena noch ein paar Pillen in den Vodka getan? Hört man ja nicht gerade selten von Laufsteg-Schönheiten... Gras, Crystal Met, Heroin und die ganze Chose.

„Alles in Ordnung?“, frage ich vorsichtig.

„Bestens!“, kräht mein Angebeteter überdreht. „Hast du heute noch etwas vor?“

„Nicht, dass ich wüsste... warte mal eben, ich frag schnell Milena!“

Ich tapere also ins Wohnzimmer, wo die werte Dame zusammen mit ihrem Sohnemann rumfläzt. Natürlich das Handy in Reichweite und klassischer Musik im Hintergrund. Bäh.

„Na, genug geknutscht?“, fragt sie kichernd und richtet sich auf.

„Selbstverständlich nicht. Ich wollte nur fragen, ob du mich heute verplant hast.“

Ihr Kichern wird noch lauter und irgendwie fast hysterisch. Hallo? Habe ich einen dramatischen Unfall verpasst, bei dem Milena einen schweren Schock erlitten hat? Ich glaube es fast.

„Will dein Schatzi dich etwa entführen, Schnuckel? Kein Thema, ich pass auf David auf. Du bist den Rest des Tages entbunden – und selbstverständlich auch die Nacht!“, sagt sie mit einem Augenzwinkern.

Warum bringe ich sie nochmal nicht um? Ach ja, sie hat mir geholfen und irgendwie stehe ich in ihrer Schuld. Außerdem ist sie meine Arbeitgeberin und beste Freundin und... ja, es gibt genügend Gründe.

„Nun geh schon, lass ihn nicht zu lange warten!“, herrscht sie mich an und gibt mir einen Klaps auf den Po.

Was diese Frau sich immer alles rausnimmt, schrecklich!

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