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Schwester Matti und die Liebe

Kapitel 7-16

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Inhaltsverzeichnis

+++Sieben+++

*-*-*MATTI*-*-*

Leon hat heute einen schlechten Tag, glaube ich. Jedenfalls sieht er alles andere als wach aus, hat richtig verquollene Augen. Von seinem Bedhead möchte ich mal gar nicht anfangen, aber ich wage zu behaupten, dass der weibliche Teil der Bevölkerung drauf abfährt. Hmmm... der kann echt alles machen und wird noch angehimmelt. Aber das muss ich doch klären, was mit dem los ist. Nicht, dass der mir unter den Fittichen wegstirbt und ich nichts davon mitbekomme. Es wird doch nicht wegen gestern sein? Hmpf.

"Hey... was ist los?", frage ich ihn reichlich einfallsreich auf dem Weg zwischen zwei Zimmern.

Leon bleibt stehen und fährt sich über die Augen. Verdammt lässig und würde sich gerade ein Mädel auf dem Gang aufhalten, wäre ich mir sicher, dass er sie gerade beflirtet. Also dass er jemanden beflirtet quasi. Aber außer mir ist ja niemand da.

"Nichts, nichts. Julia hat nur ein bisschen Stress und das macht mich halt auch fertig", murmelt er in seinen imaginären Bart. "Brauchst dir echt keinen Kopp machen."

Aha, Julia. Höchstwahrscheinlich seine Freundin. Die hat er bis jetzt gar nicht erwähnt, hm. Scheint gerade wohl nicht ganz so zu laufen, wie es sollte. Dunkle Wolken im Paradies und so. Man will ja nicht nachhaken. Nicke lieber mal pseudo-verständnisvoll. Habs ja mit den Frauen nicht so. Jedenfalls nicht, was Beziehungen angeht.

"Was steht denn jetzt an?", versuche ich so geschickt wie bei meinem Talent nur möglich das Thema zu wechseln.

"Die List", informiert er mich und öffnet die Tür, nachdem er angeklopft hat.

Toll.

Der scheint seine Zähne heute ja gar nicht auseinander bringen zu wollen, nett. Allein der Name der Dame sagt mir natürlich sofort, mit was ich es hier gleich zu tun haben werde, ja klar. Ich hab keinen Plan von nichts und ehrlich gesagt finde ich das ziemlich scheiße. Vor allem, weil Leon mich auch noch vorschiebt. Ins Zimmer meine ich. Und ich kann es nicht verhindern, weil ich ja so schrecklich klein bin und überhaupt – eine Runde Mitleid!

"Ich bins noch mal, Frau List! Diesmal mit Verstärkung, den Matti kennen Sie ja schon. Marsch, Marsch ins Bad zum Ladyshaven!", posaunt Leon extrem überdreht und meiner Meinung nach aufgesetzt bis zum geht nicht mehr.

Aber vielleicht bekomme auch nur ich das mit, weil er vorhin ja noch so übel niedergeschmettert war. Im Moment stört mich allerdings mehr der Begriff »Ladyshaven«. Was darf ich mir denn bitte darunter vorstellen?

Doch bitte, bitte nicht das, was gerade durch mein Hirn geistert. Iiiih. Dann geh ich echt raus vor die Tür, das muss ja wohl nicht sein, wenn man nur Praktikant ist. Ich bin hier nicht das Mädchen für alles und schon gar nicht für die widerlichsten Aufgaben, das macht man nicht mit mir. Schon gar nicht, wo ich nicht direkt freiwillig hier bin. Ja, ich zicke. Na und? Ich stehe jedenfalls dazu.

Zum Beschweren komme ich aber gar nicht, weil Leon mich schon wieder mitschleift. Ja hallo? Ich mag vielleicht klein sein und scheinbar über ungewöhnlich leichte Knochen verfügen, aber das ist kein Grund, mich die ganze Zeit rumzuschubsen, als ob ich eine verdammte Puppe wäre. Nein, ich habe nicht meine Tage. Ich darf ja wohl auch mal so angepisst sein. Und überhaupt habe ich jetzt genauso eine Scheißlaune wie Leon, der ist Schuld. Der hätte sich ja wie jeder Ottonormalmensch nichts anmerken lassen können. Allein mein überaus mitfühlendes Wesen auszunützen, pfff... Gott, bin ich melodramatisch.

Frau List hat es sich inzwischen lässig auf dem Klodeckel bequem gemacht und blinzelt uns herausfordernd an. Hm, immerhin wohl nicht das, mit dem ich gerechnet habe. Ein Glück, ja. Leon kramt in dem Beauty-Köfferchen herum und brabbelt vor sich hin, awww.

Nee, wir sind alle ganz normal hier.

Ehrlich.

Endlich richtet er sich wieder auf und... fuchtelt triumphierend mit einem knallpinken Nassrasierer vor meinem Gesicht herum. Ich fall vom Glauben ab.

"Ich hab ihn!", sagt Leon stolz und klopft auf den Koffer. "Da drin was zu finden ist echt wahnsinnig schwierig und überhaupt...das Teil ist ja soooo unscheinbar!"

Ähm ja. Das erste Adjektiv, dass ich mit knallpink verbinde, natürlich. Also manchmal hat der schon nen leichten Hau weg, wenn ich das mal so sagen darf. Oder er ist doch ein bisschen blind. Obwohl... wichsen muss der ja nicht, bei der Horde williger Mädels, die sich ihm in die Arme schmeißt. Tja.

Nur kein Neid, Matti.

Aber ich bin ja gar nicht neidisch. Jedenfalls nicht in dem Sinne. Mir wäre es schrecklich unangenehm, wenn mir ständig unmoralische Angebote gemacht werden würden. Das Ganze geht doch auch dezent, will man meinen. In der Hinsicht bin ich jedenfalls totaler Fan der leisen Töne, glaube ich. So genau kann ich das natürlich nicht sagen. Bin ja kein Player oder so.

Leon kniet derweil höchst konzentriert vor Frau List. Ungefähr so, als wolle er ihr einen Antrag machen – was doch sehr abstrus aussieht. Vor allem, weil sie ihren Kopf jetzt noch ein Stück weiter nach vorne beugt. Aber ich kann mich selbst beruhigen: Der Herr ist nur, ich betone nur, dabei einen Damenbart zu entfernen. Und zwar sehr vorsichtig, wie süß.

Nein, das habe ich gerade nicht gedacht. Was soll bitte toll daran sein, eine alte Dame zu rasieren? Da muss man sich ja fast vor sich selbst ekeln, wenn einem das durch den Kopf geht. Aber so Vorsicht ist schon irgendwie sehr nett. Wünscht man sich doch. Also in einer Beziehung.

Wieder ein unglaublicher Pluspunkt für Leon.

Vielleicht sollte ich ihn ernsthaft mit Motte verkuppeln.

Dann hat sie endlich mal einen Freund, den sie verdient. Nach den ganzen Arschlöchern, die nichts gebacken gekriegt haben. Aber... das würde ja besondere Fähigkeiten auf dem Gebiet »Amor spielen« voraussetzen und da sieht es bei mir doch sehr, sehr düster aus. Um nicht zu sagen finsterste Nacht. Absolutes Untalent und so. Muss ich mich wohl aufs Schicksal verlassen. Aber wer sich auf was verlässt, ist ja bekanntlich verlassen.

Scheiße aber auch.

"Heute so still?", nuschelt Frau List und sieht mich fragend um nicht zu sagen bohrend an.

"Och... nur in Gedanken", wiegele ich schnell ab. "Tschuldigung."

"Ha! Wie heißt sie denn?"

Äh? Tja lieber Matti, was will uns die Dame damit sagen? Man weiß es nicht. Und man will es wahrscheinlich gar nicht so genau wissen. Indiskretion muss ja nicht sein, nein.

"Wie bitte?", fragt Leon galant.

Wow, noch einer, der nichts versteht. Da fühle ich mich doch gleich ein Stück besser. Vielleicht hat er aber auch nur nachgefragt, weil mein Gesichtsausdruck so selten dämlich und Mitleid erregend verständnislos war. Ich werde es wohl nie erfahren. Frau List rollt mit den Augen, als könnte ihr Pflegepersonal nicht bis drei zählen. Akustisch untermalt von einem abgrundtiefen, leicht pfeifend klingenden Seufzen.

"An welches Mädel er gedacht hat will ich natürlich wissen. Also die Jugend von heute ist schon schwer von Begriff, muss man schon sagen! Man sollte doch annehmen, dass jeder weiß, dass eine Tüdeloma wie ich für jeden Klatsch und jede News zu haben ist, ehrlich. Musst doch wissen, dass du auf der ganzen Etage das Gesprächsthema Nummer eins bist. Ist doch ganz klar, dass die ganzen Ladies nur eins wissen wollen: Ist dieser Schnuckel noch zu haben?"

Oh. Mein Gott!

So was darf einfach nicht in den Köpfen alter Leute vorgehen, nein, nein, nein. Die haben gefälligst asexuell zu sein. Zumindest sollen sie nicht so über mich reden. An mir ist doch eh nichts dran, ein unterdurchschnittlicher Teenager eben. Noch dazu weit vom Mainstream entfernt und quasi total entartet. Keinesfalls Großmutters Liebling. Schon gar nicht in der Beziehung, wäh. Der Spruch reicht aber aus, um mich mächtig rot werden zu lassen. Wie scheiß peinlich und überaus kindisch, ich will hier weg. Was macht das denn für einen Eindruck auf Leon?

Ich will gar nicht drüber nachdenken.

Erstmal räuspern.

"Um es mal... relativ kurz und knapp zusammenzufassen: »Dieser Schnuckel« ist noch zu haben und hat in dem Moment nicht an ein Mädchen gedacht, jedenfalls an keine potentielle Freundin oder wie man es auch immer nennen will."

So. Ich hoffe, das lässt jetzt nicht allzu viel Raum für Spekulationen, die kann ich wirklich nicht gebrauchen. Schon gar nicht, wenn es um so ein Thema geht. Da bewegt man sich bei mir praktisch immer auf sehr dünnem Eis. Ja... ich bin eine Mimose.

Leons Miene verdüstert sich schlagartig, keine Ahnung warum. Frau List ist jedenfalls begeistert, wunderbar. Fehlt gerade noch, dass ihre Augen die klassische Herzchenform annehmen. In ihrem Kopf scheint sich eine hochgradig dramatische, übelst schnulzige und für Heimatsender typische Romanze abzuspielen. Als ob so was jemals in der Wirklichkeit passieren würde. Nein, die Realität bietet keine Vorlagen für Drehbücher solcher Art. Viel mehr für Beziehungsdramen, Eifersuchtsmorde und was weiß ich nicht alles.

"Bahnt sich da etwa was an?", fragt sie hoffnungsvoll.

Ich schüttle den Kopf.

Mit Motte doch nicht. Wie kommt man den bitte darauf? Wir kennen uns doch schon immer und ewig, außerdem quasi in- und auswendig. Das wäre ja nahezu langweilig in einer Beziehung. Außerdem ist Seraphina wie eine Schwester für mich und... auf Inzucht stehe ich nicht allzu sehr, gestehe ich. Schlimm, ne?

"Nee, sie ist einfach nur meine beste Freundin", bekräftige ich noch mal, weil Frau Lists entrückter Gesichtsausdruck noch immer sehr präsent ist. "Und wir wollen heute Nachmittag mal wieder was machen."

Das muss ja wohl reichen, eh schon viel zu viel Information. Was geht die das denn bitte an? Die Neugier brachte die Katze um, aber das kann ich ihr ja schlecht sagen. Wenn man so alt ist, verkraftet man solche Aussagen bestimmt nicht und am Ende stimmt der Spruch dann doch noch. Ganz ehrlich: Ich möchte die Dame nicht auf dem Gewissen haben. Tut mir Leid, ja.

Frau List nickt bedächtig und fängt sich einen Mini-Schnitt ein, was Leon zum Seufzen veranlasst.

"Wunderbar! Jetzt darf ich mir wieder anhören, dass ich Sie verunstaltet habe und eine Gefahr für die Patienten darstelle", grummelt er und packt den Rasierer weg. "Und dann schmeißt sie mich aus dem Praktikum, die Leitung."

Mann, theatralisch sind wir aber nicht, oder?

Der hat heute wirklich einen ganz schlechten Tag, wenn ihm das schon an die Nieren geht beziehungsweise aufregt. Und ich weiß nicht wieso. Ich könnte jetzt mit dem dämlichen »ich dachte, wir wären Freunde und Freunde erzählen sich alles« anfangen, aber dafür kennen wir uns wohl noch nicht lange genug. Außerdem nervt mich so was auch. Wenn es einen selbst schon stört, sollte man keine anderen Leute damit zutexten.

Frau List tätschelt Leons Arm.

"Mach dir man keine Sorgen, junger Mann. Davon hast du eh schon genug, hm? Also wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ja sagen, dass du deine Tage hast..."

Uha.

Die Mundwinkel meines neuen Freundes sinken in Rekordgeschwindigkeit in utopische Tiefen und zwischen seine Augenbrauen passt bestimmt nicht mal mehr eine Stecknadel. Was das später mal für Falten gibt, wenn der so weitermacht! Da ist sein ganzer Womanizer-Charme dahin. Aber Recht hat sie ja, die gute Frau List. Würde ich aber niemals laut sagen. Manche Sachen behält man eben besser für sich.

"Nun ja. Ich denke wir sind hier dann fertig, war ja heute schon mal da. Viel Spaß noch mit den Klatschblättern", zischt Leon frostig, dreht sich um und geht.

Na toll, ich darf der alten Dame jetzt mutterseelenallein aus dem Bad helfen. Was denkt der eigentlich, wer er ist, hm? Das Arschloch vom Dienst? Vom Verhalten her würde ich es ihm ja glatt abkaufen. Der kann mich mal, ehrlich. Ein bisschen sollte man sich doch unter Kontrolle haben in dem Alter.

Hilft ja alles nichts, ich werde ihn später zur Rede stellen. In der Frühstückspause vermutlich, weil das vor den Patienten keinen guten Eindruck macht. Der zählt hier nämlich, der ist wichtiger als alles andere. Scheiße, jetzt habe ich auch schlechte Laune. Wie schnell man seine Stimmung an einer einzigen Person festmachen kann, entsetzlich.

Aber ich muss das ja nicht aller Welt zeigen.

Stattdessen schnappe ich mir mit einem zuckersüßen Lächeln Frau Lists Arm und bringe sie an ihren angestammten Ort zurück. Ihren Sessel. Sie will nämlich heute mal ganz entspannt einen Zeitschriften-Tag einlegen, sagt sie. Auch gut, mich soll es nicht stören. Aber dann greift sie noch mal nach meiner Hand, ich unterdrücke ein leichtes Zucken. Hat mich halt ein bisschen erschreckt.

"Kümmer dich bitte um Leon, ja? Der hat es nicht einfach gehabt und... ich hätte das nicht sagen sollen. Aber ich bin ja nicht gut zu Fuß, wie soll ich ihm das jetzt sagen?", sagt sie leise. "Ihr versteht euch doch so gut."

Ich beiße mir auf die Unterlippe, nicke schließlich doch.

Einem Patienten kann man schließlich nichts abschlagen, man hat ihm stets zu Diensten zu sein und wenn er eine Aufgabe nicht selber ausführen kann, dann muss das nun mal der Pfleger machen, in diesem Fall ich. Na gut, machen wir uns nichts vor: Mir geht der Zoff mit Leon an die Nieren und ich mag es nicht, nicht mit ihm reden zu können.

Er ist eben mein Freund.

Wo könnte er also sein? Ich tippe ja mal schwer aufs Schwesternzimmer. So aufgewühlt, wie der ist, guckt der sich nicht irgendwelche Senioren an. Das erkennt Leon bestimmt auch in so einer Laune, dass das nicht gut ankommt, auch bei Gerda nicht. Ein Typ, der aus Wut alles kurz und klein haut, ist er bestimmt auch nicht, also keine Gefahr für mich. Auf in den Kampf. Oder wie man es auch immer nennen will.

Das Schwesternzimmer ist verwaist, ein leichter Geruch nach Rauch liegt in der Luft. Die Gardinen wehen sachte im Wind, ein kühler Luftzug streift mich. Da ist er also! Ich gehe so leise wie möglich, um Geräusche auf dem Linoleum zu vermeiden. Die Metalltür ist nur leicht angelehnt und da steht er tatsächlich. Ohne Jacke, ohne irgendwas Wärmendes mitten in der Kälte, die Zigarette fest umklammert, als müsste er sich daran festhalten. Lungenzüge, eindeutig. Er atmet schnell ein, viel zu schnell, als dass es gesund sein könnte. Hustet leicht. Grauer Rauch steigt aus seinem Mund.

Ich zögere.

Soll ich überhaupt was sagen? Ist es nicht vielleicht besser, ihn allein zu lassen?

Vielleicht wäre es das, ja. Aber ich bringe es nicht übers Herz, ihn mit all dem Ärger allein zu lassen. Vor allem, weil auch noch ein bisschen Traurigkeit dabei zu sein scheint, immerhin stehen wir hier auf einem Balkon in was weiß ich wie viel Metern Höhe. Das kann ich doch nicht verantworten!

Andererseits... wie verhält man sich in so einer Situation richtig, gibt es da eine Patentlösung?

Ich fürchte nicht und das macht mich unsicher. Dann muss ich wohl tun, was ein Mann tun muss. Was auch immer das sein mag. Nicht, dass Leon mich mit seiner Kippe niederbrennt und selber in die Tiefe springt. Kann doch sein.

Jedenfalls mache ich das einzige, was mir irgendwie richtig erscheint: Ich umarme ihn hinterrücks. Zuerst wehrt sich Leon ein bisschen, aber als er mich erkennt wird er ganz ruhig. Jedenfalls glaube ich, dass es an mir liegt. Er wirft seine Kippe über die Brüstung und starrt ihr nach. So richtig trostlos, die ganze Aktion. Und ich würde ihn jetzt gerne ganz und richtig umarmen, aber das mag er bestimmt nicht. Zu klein bin ich auch, das kann gar keine Hoffnung geben. Nicht mal einen Funken. Also schmiege ich mein Gesicht einfach an seinen Rücken. Leon ist ganz weich und kuschelig und sein Shirt riecht gut. Vielleicht nach irgendeinem Weichspüler, ich kenne mich da nicht so aus. Jedenfalls fühlt es sich toll an und ich atme erstmal tief ein. Nicht hörbar, das wäre ja peinlich. Ich will ja nur trösten. Ein bisschen Halt geben, oder wie man das nennen mag.

Leon dreht sich zu mir um und lächelt schwach. Und er sieht immer noch einfach nur gut aus, obwohl es ihm offensichtlich scheiße geht. Möchte ich auch gerne. Ich schaff das ja nicht mal unter normalen Bedingungen. Und jetzt komme ich mir dumm vor, weil ich ihn schon die ganze Zeit anstarre. Als hätte ich nicht mehr alle Latten auf dem Zaun, also wirklich. Aber wo soll ich denn sonst hinsehen?

Ich lehne instinktiv meinen Kopf an seine Brust und streichle geistesabwesend über seinen Rücken. Weiß die Katz, warum ich das mache. Jedenfalls fühlt es sich richtig an und Leon macht keine Anstalten mich wegzuschubsen oder andere dumme Sachen zu tun. Solche Menschen braucht das Land. Keine gefühllosen Idioten, die Rentner in der U-Bahn vermöbeln. Schlechtes Beispiel, ich weiß.

"Danke", murmelt Leon, seine Stimme klingt ein bisschen heiser.

Ich nicke schwach und frage in sein Shirt: "Wollen wir nicht wieder reingehen?"

Mich fröstelt nämlich ein bisschen, glaube ich. Jedenfalls kribbelt alles, ganz bestimmt habe ich Gänsehaut und zittrig bin ich auch. Am Ende werde ich noch krank und dann stecke ich hier alle an... meine Ausreden werden auch immer schlechter. Immerhin musste ich mich wegen einer popeligen Woche nicht gegen Hepatitis A und B impfen lassen, muss man sonst ja. Egal, Leon lässt sich ziemlich leicht zurück ins Schwesternzimmer manövrieren, er hat also scheinbar nicht so schrecklich viel dagegen ins Warme zu gehen.

Hm, gerade ist eh nicht viel los, nur der allgemeine Kaffeeklatsch. Da macht es bestimmt nichts, wenn wir hier reden. Ist ja auch wichtig, gerade in so einem sozialen Beruf. Ich bin ja so scheinheilig... tja.

Wir sitzen uns also gegenüber, Leon ringt mit den Händen. Tut alles, aber sieht mich nicht an. Ist nicht wirklich ein angenehmes Gefühl, kann ich sagen. So gemieden werden. Aber ich bin ja selber nicht anders, wenn jemand versucht Sachen aus mir herauszukriegen: Verschließe mich eine Auster und man kommt nur noch mit viel gutem Willen und Geduld an mich heran.

"Erzähl mal", sage ich aufmunternd und nicke ihm mit dem Anflug eines Lächelns zu.

Leon zuckt mit den Schultern, windet sich auf seinem Stuhl, zerstrubbelt sich die Haare. Räuspert sich vernehmlich und beißt sich dann auf die Unterlippe. Senkt betreten die Lider.

"Weiß eigentlich auch nicht, warum mich so Kleinigkeiten plötzlich aus der Bahn werfen", murmelt er verlegen in seine Hand. "Vielleicht eine miniwinzige Herbstdepression, oder so."

Ich sage erstmal nichts.

Über Depressionen macht man keine Witze und vorschnell sollte man das auch nicht sagen. Wenn ich ihm das jetzt um die Ohren brate, kriegt er den Mund aber gar nicht mehr auf und das will ich ja auch nicht. Seine Hände krauchen unruhig über die Tischplatte, können nicht still bleiben.

"Ist gerade einfach ein bisschen viel. Auch, wenn ich nicht mal weiß, was das denn sein soll. Schließlich hatte ich schon mehr Probleme. Viel mehr", den letzten Teil flüstert er nur noch.

Seine Unterlippe merklich, als ich mich auf den Tisch lehne und ihn locker umarme. Ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Verdammt. Aber Nähe kann doch nicht so falsch sein, oder?

"Möchtest du... möchtest duŽs erzählen?"

Er macht eine nicht definierbare Geste und zieht leicht die Nase hoch.

"Hm... weiß nicht. Also eigentlich habe ich das noch niemandem gesagt."

Oh scheiße, was kommt jetzt wohl?

+++Acht+++

Wir haben noch fast eine Stunde im Schwesternzimmer gesessen, bis die Oberschwester in den Raum geplatzt ist. Zum Glück hatte Leon da schon wieder aufgehört zu heulen. Das hat er nämlich, als er erzählt hat. Ich weiß gar nicht, was ich an seiner Stelle gemacht hätte. Aber ich wäre bestimmt nicht still dagesessen und hätte abgesehen von ein paar Tränen seelenruhig berichtet. Direkt nüchtern. Und das, wo ich doch der erste bin, der es aus erster Hand erfährt.

Leon muss sich nämlich ein bisschen um seine Schwester kümmern... Julia. Die hat fremd-kaffeegetrunken und ihr Herzallerliebster hat sie deswegen in die Wüste geschickt. Nicht gerade ungewöhnlich und eigentlich nichts, worum sich ein kleiner Bruder zu kümmern hat. Eigentlich.

Wäre da nicht der höchst dramatische Autounfall gewesen, der vor ein paar Jahren tagelang durch alle Medien ging. Herbst, nebeliges Wetter, nasse Fahrbahn. Sichtweite unter zwanzig Meter, schon ziemlich dunkel. Und mittendrin die Wocheslanders in ihrem superteuren Mercedes. Gerade auf der Rückfahrt von einem Geschäftsessen, exquisites Restaurant. Nicht, dass ich je da gewesen wäre. Und dann... dann war da der LKW. Fahrer übermüdet, das kennt man ja. Ist auf die Gegenfahrbahn gekommen und weil er nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte, hatten die Wocheslanders keine Chance. Beide sofort tot.

Seitdem helfen sich die Geschwister so gut es geht selbst, finanziell gesehen gibt es ja keine Probleme. Natürlich hatten sie anfangs einen Psychologen, aber jetzt sind sie doch sehr auf sich gestellt. Verwandtschaft? Fehlanzeige.

Und Leon ging es scheinbar in letzter Zeit nicht so wunderprächtig, da hat Julias Break-up das ganze wohl zum Überlaufen gebracht. Man kennt das ja: Plötzlich wird einem auf ein mal alles zu viel.

Also saßen wir letztendlich auf dem grünlichen Linoleum-Boden des Schwesternzimmers und umarmten uns schweigend. Und ich hoffte einfach nur, dass es ihm irgendwie half. Jedenfalls hat er sich danach ziemlich am Riemen gerissen und... eigentlich dürfte er gleich hier sein.

So konnte ich ihn natürlich nicht nach Hause zu seinen Problemen lassen, deshalb habe ich ihn eingeladen. Wir machen momentan eh viel miteinander, da gehört das doch dazu. Motte hat heute Ballett, aber dann machen wir eben alleine was. Uns wird schon was einfallen.

Ich zupfe noch mal schnell meine Haare, auf die ich wenig stolz bin, zu Recht. Na ja. An Leons Aussehen werde ich wohl nie herankommen, aber das würde ich gar nicht erst versuchen. Wir sind ja nicht mal der gleiche Typ Mann. Was ihm super steht, ist an mir total lächerlich. Eigentlich sehe ich ja immer aus, als ob ich will und kann nicht. Ändern ist aber auch nicht drin.

Es klingelt und ich haste so schnell wie möglich zur Tür, was eine Kollision meines Ellbogens mit der Klinke einschließt. Wunderbar, ich wollte ja schon immer mal die Englein singen hören. Jetzt weiß ich endlich, warum das Teil Musikantenknochen heißt.

"Hi", stammle ich atemlos, als ich endlich öffne. "Komm doch rein!"

Mann, bin ich heute wieder geschickt. Ist ja auch klar, dass Leon vorbeikommt, um vor der Tür zu stehen. Manchmal frage ich mich echt, ob ich bis drei zählen kann. Heute scheinbar nicht. Immerhin nimmt mein werter Gast es mir nicht übel und quetscht sich an mir vorbei ins Haus. Scheiße, nicht mal das bekomme ich hin. Stehe ich einfach nur auf dem Schlauch? Was ist denn bitte mit mir los?

"Uhm... sorry, bin wohl ein bisschen verpeilt", entschuldige ich mich leise.

Leon zuckt nur lächelnd mit den Schultern, scheint ihm nicht viel auszumachen. Ich finde es jedenfalls megapeinlich, bestimmt bin ich schrecklich rot im Gesicht und schwitze wie ein Vieh kurz vorm Schlachthof. Wische mir über die Stirn, was auch nicht so viel bringt.

"Kaba?", frage ich ein bisschen zu überschwänglich und schwenke die Kanne demonstrativ hin und her. "Hab ich gerade frisch gemacht. Mit extra viel Pulver."

"Warm oder kalt?", fragt Leon und wirft seine Jacke über den Stuhl.

"Erm... kalt", antworte ich unsicher. "Scheiße! Wo es draußen so kalt ist, willst du bestimmt lieber Heißen trinken, ich bin ja so doof. Soll ich dir schnell noch welchen kochen?"

Wieso verhalte ich mich bitte wie der letzte Depp?

Es hätte mir ja wohl locker auffallen können, dass man bei so einem Wetter nicht gerade wohl temperierten sechs Grad kalten Kakao trinken will. Selbst sonst bin ich nicht so dämlich und ich stelle mich auch so schon sehr blöd an. Aaaah!

"Nee, lass mal. Kalt ist eigentlich so ziemlich perfekt, schätze ich. Ich hasse es, wenn sich da dann so ne eklige Haut auf der Milch bildet – total widerlich!", sagt Leon gelassen und schenkt mir das wahrscheinlich süßeste Lächeln ever.

Halt, Stopp!

Jungs lächeln nicht süß.

Überhaupt sind Jungs nicht süß, ganz und gar nicht.

Jungs dürfen nicht süß sein.

Mädchen mit Hello Kitty-Schnickschnack, dezentem Make-Up und Natürlichkeit sind süß.

Das hab ich ganz einfach nicht gedacht, Punkt.

Während Leon sich häuslich niederlässt, kippe ich so ruhig wie nur gerade möglich Kakao in die XXL-Tassen. Wenn, dann muss man das Zeug ja auch genießen. Bei so Mini-Bechern geht das ja gar nicht, finde ich. Schwupps ist man fertig.

Ihhh, meine Hände sind ganz zitterig. Bestimmt kippt mir gleich irgendwas um, vorzugsweise über meine Klamotten. Oder eben sonst etwas, was mich absolut dumm dastehen lässt, wird passieren – es liegt quasi in der Luft.

"Wo isn Motte?", fragt Leon und knabbert an einem selbst gebackenen Schoko-Cookie.

War ja klar, dass er nach ihr fragt. Ich glaube, ich bin gar nicht so wichtig für ihn. Als Tröster wollte er mich ja auch nicht so wirklich, so wie der sich gesträubt hat.

"Die hat Ballett", murmle ich und setze mich ihm gegenüber.

"Hätt ich nicht gedacht, dass die da macht."

"Hmm."

Toll, jetzt herrscht wieder ein schrecklich unangenehmes Schweigen. Bei Freunden sollte das nicht so sein. Da sollte man sich auch wohlfühlen, wenn es mal still ist. Egal, ob man sich schon lange kennt oder nicht. Ich knibble nervös an meiner Nagelhaut herum, die schon ganz ungesund rot ist.

"Hat Julia noch irgendwas zu dir gesagt?", frage ich in die Leere hinein, es klingt viel zu laut.

Leon nimmt einen großen Schluck Kakao und um seinen Mund rum bildet sich ein Milchbart. Er leckt ihn genüsslich weg und... wo gucke ich denn schon wieder hin?

Konzentrier dich, Matti, konzentrier dich!

Wenn dein IQ noch um zwei Punkte sinkt, kannst du nicht mal mehr deinen eigenen Namen schreiben.

"Joah. Hab mir mal wieder viel zu viel Stress gemacht, für sie ist das ganze schon wieder Schnee von gestern", seufzt Leon. "Sie sagt, dass er s eh nicht wert war. Hat ja immer gearbeitet. War aber n netter Kerl, finde ich. Sonst hat sie ja immer nur so Karussellbremser."

Ich kichere bei dem letzten Wort – wie mädchenhaft. Aber es passt so schön, auch zu Mottes Arschlöchern, die sie wer weiß wo aufgegabelt hat. Ich werde es mir jedenfalls merken.

"Na ja, vielleicht steht sie ja drauf. Kann ja sein, dass er ihr einfach zu langweilig oder zu normal war. Sie hat ihn immerhin betrogen und – macht man das aus Langeweile?", frage ich ernsthaft interessiert.

Ich bin noch nie fremdgegangen, woher sollte ich das also wissen. Muss einem Dummen doch mal erklärt werden, oder? Heutzutage ist es doch eh so, dass keiner niemandem treu ist. Ist eben in Mode, chic, en vogue oder wie man auch immer sagen will. Ich bin mal wieder einfach nicht up to date, schrecklich altmodisch. Treue, pah!

Leon schiebt seine Unterlippe vor und zuckt mit den Schultern.

"Du, da musst du mich nicht fragen! Ich bin da äh... ein Mann der alten Schule, oder wie man da sagt. Außerdem wär mir das auch viel zu stressig. Da musste ja immer aufpassen, wer was weiß und wer wann bei dir aufkreuzt, sonst gibt das ja nen Interessenkonflikt."

Das denke ich aber auch. Auf einmal stehen beide dann vor deiner Tür und du darfst die ganze Scheiße beichten, was für ein Horrorszenario. Da kann man sich ja gleich einen Strick nehmen, lebend kommt man sowieso nicht mehr aus der Geschichte raus. Am Ende verschwestern die sich nämlich noch und dann hat man den Salat: Aus Rache niedergemetzelt. Ich kann mir ja Schöneres vorstellen.

"Seh ich auch so."

Ich nehme einen Schluck aus meiner Tasse. Eigentlich schlürfe ich mehr, weil das für mich ein bisschen zum Genießen dazugehört. Allerdings... womöglich bin ich gerade schrecklich unhöflich, prollig und abartig. In Gesellschaft verhält man sich doch bestmöglich... hmpf.

"Errr... stört dich das, wenn ich schlürfe?", frage ich ein wenig kleinlaut.

"Nö", sagt Leon schlicht und beißt geräuschvoll in einen weiteren Cookie.

Seine Geschwindigkeit ist echt bemerkenswert, der ist jetzt schon beim vierten Keks. Ich hab ja noch gar keine gegessen. Nicht, dass ich die Teile nicht mag, aber irgendwie will ich ihn bei seinem Eifer gar nicht stören. Sieht einfach nur hinreißend nett aus. Was sage ich da?

Natürlich ist es ein absolut männlicher Anblick. An Maskulinität kaum zu überbieten, ja. Gut, ich rede gerade von einem Kekse essenden Kerl! Cookies sprechen nicht gerade für sehr viel Testosteron oder gar Ästhetik. Im Gegenteil.

Egal, bei ihm sieht es irgendwie gut bis süß aus. Ich rege mich schon gar nicht mehr über meine Wortwahl auf, die ist eh der größte Mist. Mein Hirn muss heute irgendwie im Bett geblieben sein, macht es ja öfter.

Ich schlürfe brav meinen Kaba und tue so, als wären meine Gedanken die intelligentesten und am besten strukturierten auf der ganzen Welt – oder zumindest die eines zurechungsfähigen Menschen.

Draußen pisst es inzwischen wieder wie aus Kübeln, ist direkt finster geworden. Normalerweise sollte ein Wolkenbruch nur kurzzeitig sein, aber momentan scheint das ja ein regelrechter Dauerzustand zu sein, durchbrochen von kurzfristigen Trockenperioden. Zum Depressionen kriegen, ehrlich. Da sieht man ja die Hand nicht mehr vor Augen. Besagte tastet deshalb fröhlich und sehr blind über die Tischplatte und zwar nach der Suche nach einem Feuerzeug. Das muss doch irgendwo hier liegen! Ah, da haben wir ja... äh, das fühlt sich nicht gerade nach etwas an, mit dem man Teelichter anzünden kann. Eher nach – Leons Fingern!

Gott steh mir bei.

Ich halte gerade Händchen mit meinem Freund. Einem Freund meine ich.

Unwillkürlich, unabsichtlich, klar?

Bewusst würde mir ein solcher Fauxpas ja nie unterlaufen, versteht sich ganz von selbst. Aber wie komme ich aus diesem Schlamassel wieder heraus, ohne dass ich mich zum Horst mache?

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Leon sieht mich ein bisschen seltsam an, so irgendwie von unten her und – Gott hat der lange Wimpern! Und unglaublich dunkelblaue Augen, ich glaube ich muss in Ohnmacht fallen. Toll, jetzt starre ich ihn an wie ein hypnotisiertes Karnickel.

Zum verrückt werden, ehrlich.

Ich räuspere mich nervös und rutsche ein wenig auf meinem Stuhl rum, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Meine Hand kann ich trotzdem nicht wegnehmen. Scheint festgeklebt zu sein oder so.

"Leon, ich", setze ich an.

Aber da ist es schon passiert: Er hat sich über den Tisch gebeugt und küsst mich mitten auf den Mund. Leon. Küsst. Mich. Oh mein Gott, wo ich so drüber nachdenke... scheiß drauf, meine Augen sind längst zugefallen und ich knutsche zurück. Weiß eigentlich gar nicht, was ich da genau tue. Jedenfalls fühlen sich seine Lippen ganz toll an. Und ehe ich mich versehe, liege ich auf dem Tisch und Leon halb auf mir. Huch, das ging jetzt aber schnell. Was nicht heißt, dass es schlecht ist. Fühlt sich sogar gut an und... hm, warm.

"Hallo Matti-Häschen, da bin ich wieder! Hast du die Zeit ohne mich gut rumbekommen?", trällert es auf ein Mal aus dem Flur und das Licht geht an, wir fahren panisch auseinander.

Oh mein Gott, Motte. Was machen wir denn jetzt?

"Scheiße, offensichtlich schon", sagt sie trocken und stürzt den Rest meines Kakaos runter. "Wärt ihr so höflich mich wenigstens zu begrüßen? Übrigens ist es nicht gerade en vogue auf dem Tisch rumzugammeln. Manieren, Jungs, Manieren."

Uff, sie geht drüber weg. Einfach so.

Eigentlich wundervoll, aber ich weiß echt nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Ich rutsche verlegen von der Tischplatte und lasse mich sittsam auf einem Stuhl nieder.

"Wie war Ballett?", fragt Leon mit einem matten Lächeln.

"Wie immer. Soll ich Paradiescreme machen?"

+++Neun+++

Ich liege im Bett und kann nicht einschlafen, inzwischen ist es nach halb sechs. Eigentlich bin ich müde, meine Augenlider sind tonnenschwer. Aber immer, wenn ich gerade am Wegnicken bin, muss ich an ihn denken.

Leon.

Daran, wie wir uns geküsst haben. Und dass es mir gefallen hat.

Dabei hätte ich das doch schrecklich doof finden, seine Hand wegstoßen und ihn als »Schwuchtel« beschimpfen sollen, wie man das immer so sieht. Ist doch widerlich, zwei Jungs. Ich brauche wohl wirklich mal wieder ein bisschen Ablenkung, ein Mädchen. Vielleicht auf einer Party – Himmel, wie das wieder klingt!

Als wäre ich absolut notgeil und würde mir alles nehmen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Bin ich doch aber gar nicht.

Jahaaaa... so gesehen war ich schon ziemlich rattig, als Leon da so ziemlich auf mir drauf lag und mich geküsst hat, als gäbe es kein Morgen mehr. Altmodische Formulierung, ich weiß. Kann eigentlich nur froh sein, dass Motte mir nicht auch noch direkt in den Schritt gestarrt hat, hui. Da hätte ich dann schon ein bisschen was über mich ergehen lassen dürfen, denke ich. Obwohl... bei Seraphina, der Klassefrau, kann es auch sein, dass sie Vorkommnisse dezent übergeht. Möglicherweise hat sie es also mitgekriegt. Scheiße, wieso kann sich nicht einfach ein Abgrund auftun und mich verschlucken?

Ich bin mir sicher, dass es für alle das Beste wäre.

Aber mich fragt ja mal wieder keiner und gehört wird auf mich schon gleich dreimal nicht.

Na ja, das bringt mich im Moment nicht weiter.

Mich beschäftigt vielmehr, wie ich mich morgen – heute im Altenheim verhalten soll. Wie immer? Ihn drauf ansprechen? Alles klein reden?

Ich weiß es nicht.

Eigentlich fand ich es ja schrecklich toll, ihn zu küssen. Alles war irgendwie perfekt, ich hatte ein gutes Gefühl und fallen lassen konnte ich mich auch. Bis jetzt war das eher selten der Fall, vielleicht in der Grundschule mal mit der Sandkastenliebe. Aber danach... wüsste ich nicht.

Bin ich jetzt schwul, weil es mir gefallen hat?

Geht das so schnell, so »Schwupps, ein Kuss und du bist ein Homo!«?

Ich bin überfordert, ganz ehrlich. Und ich kann nicht anders reagieren, als mich in meinem Bett umher zu wälzen und mich einem ganz üblen Magengrummeln hinzugeben, so eine Scheiße.

Am liebsten würde ich ja krank machen, aber so einfach geht das ja nicht. Praktikum ist Praktikum, das ist wichtig. In der Schule kann man einfach so mal fehlen, gerade wenn der Tag eh nur mit Nebenfächern gepflastert ist. Da gibt es schon ein paar Leute, die nicht antanzen, wenn ihre »Lieblingsfächer« auf dem Plan stehen. Und natürlich die chronische Montagskrankheit, die darf man nicht vergessen.

Aber beim Praktikum ist das alles andere als einfach. Da fließt ja jeder Fitzel in die Bewertung mit ein und mit dem Wirtschaftslehrer stehen die Firmen, Betriebe und wasweißichnichtwas auch alle in Verbindung. Und im Handumdrehen hat man eine Art peinliche Befragung vor versammelter Mannschaft durchzustehen, der man irgendwie nicht entkommen kann. Außerdem muss man sich doppelt entschuldigen und... bwah. Meine Mutter würde mir sowieso keine Befreiung schreiben.

Ich muss da also hin.

Könnte höchstens direkt im Altenheim zusammenbrechen, aber dann wäre vermutlich Leon zur Stelle, um mir eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu verpassen. An dem Schock würde ich dann endgültig krepieren und... ähm ja. Ich geh ihm wohl besser einfach aus dem Weg. Am besten benutze ich etwas wie eine Tarnkappe oder einen Tarnumhang. Nur schade, dass ich nicht Harry Potter und deshalb nicht im Besitz von letzterem bin.

Hach ja, das Leben ist scheiße.

Hm, schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr, also brauche ich auch nicht mehr sinnlos rumliegen und erwarten, dass dadurch alles ins Lot kommt. Ich schwinge mich so behände wie um diese unchristliche Uhrzeit möglich aus meinem Bett. Selbstverständlich nicht ohne mir vorher ordentlich den Fuß am Nachttisch anzuhauen, wäre ja auch zu schön gewesen. Hoffentlich ist sonst keiner wach geworden, mein Schmerzensschrei war bestimmt bis zu Motte zu hören. Dummes Ich.

Nun denn... auf ins Bad. Wenn man schon mal zeitig wach ist – äh wach geblieben ist-, dann kann man ja mal was aus dem Tag machen. Zum Beispiel sich richtig aufstylen. Haha, der war gut, oder? Nein. Ich werde versuchen, halbwegs passabel und nicht wie frisch ausgekotzt auszusehen. Meine Schritte hallen auf dem leeren Flur, patsch, patsch, patsch.

Gut, dass es bis zum Bad nicht weit ist. Ich hasse die gespenstische Stille nachts, wenn man nur meine Geräusche hört. Da fühlt man sich noch einsamer und irgendwie... verlassen.

Mit einem leisen Surren geht das Licht an, beißt in meinen Augen. Ich hasse Neonröhren, aber die sind ja so wunderbar praktisch. Sagen jedenfalls die, die was zu sagen haben.

Also nicht ich.

Ich schließe die Tür hinter mir und blinzle noch etwas irritiert in den Spiegel über dem Waschbecken. Himmelherrgott, sehe ich scheiße aus. Eben genau wie nicht geschlafen und viel zu viel um die Ohren. Meine Augen sind so zugeschwollen, wie nur gerade möglich, meine Haut hat die Konsistenz von gegerbtem Pergament und vom Rest möchte ich gar nicht reden. Körperbau gewohnt unmuskulös, mickerig und leichenblass, Haar-Check: Iiih. Verwuschelt, verschwitzt und absolut unansehnlich. Um nicht zu sagen... einfach ich. Nein, ich finde mich nicht hübsch.

Da kommt viel Arbeit auf mich zu.

Ob Mamas Concealer wohl die Augenringe wegkriegt?

Scheiße, jetzt werde ich auch noch zur Tucke. Das kann doch alles nicht normal sein, ich bin nicht normal. Was geht denn bitte hier ab?

Ich bin im falschen Film, ganz klar.

Oh Mann, ich weiß echt nicht mehr, was ich tun soll. Aber Pulsadern Aufschlitzen aus lauter Verzweiflung ist ja irgendwie auch einfallslos. Vor allem bezweifle ich, dass ich das mit Mamis Ladyshave überhaupt fertig bringe. Bei den ganzen du-schneidest-dich-garantiert-nicht-mehr-Pölsterchen und super-duper-Klingen. Da kann ich ja schon stolz sein, wenn ich mir mit Hängen und Würgen ein Tröpfchen Blut rausquetsche. Hey, dann kann ich die Hersteller verklagen!

Gott, ich bin gänzlich amerikanisiert. Ich bin ein Teen, holt mich hier raus!

Ganz ruhig, Matti. Das ist alles ganz einfach und du wirst das prima meistern. Schaffen andere ja auch und die sind direkt manchmal in auswegsloseren Situationen. Immerhin ist dein Leben von nichts anderem als einem dämlichen Nassrasierer bedroht und das auch eher, weil es dir gerade im Sinn steht. Scheiße, jetzt denke ich wie in Latein! Bitte, bitte bring mich irgendwer ins Bezirkskrankenhaus. Schnell.

Okay, da innerhalb von einer geschlagenen Minute keine weiß gekleideten Herrschaften auftauchen, muss ich mich wohl selber therapieren... mit einer ordentlichen Dusche. Ich bezweifle zwar, dass es viel bringt, aber besser als apathisch auf Psychopharmaka rumzusitzen ist es allemal. Weiß man ja alles aus »Living Hell« von den Ärzten. Nach zehn Minuten in der engen Kabine ist es mir immer noch nicht gelungen mich zu ertränken, ich muss mich wohl damit abfinden. Dafür sehe ich jetzt sogar schon ziemlich aus wie nach vier Tagen aus dem Kanal gefischt, soweit ich das bei dem beschlagenen Spiegel erkennen kann. Dermaßen aufgebaut schmeiße ich mich in die geilsten Klamotten, wo mein Kleiderschrank zu bieten hat – ja, das ist Jugendsprache. Und ja, meine Nackenhaare stehen zu berge, wenn ich nur an solche Grammatikvergewaltigungen denke. Okay, ich schlüpfe also in ein schnuckeliges, relativ figurbetontes apfelgrünes T-Shirt und meine stinknormale lädierte Alltagsjeans und hoffe, umwerfend zu wirken. Wie naiv, hm?

Ich könnte mir einen Kartoffelsack über den Kopf ziehen, das würde mir vermutlich mehr bringen, haha. Aber ob Leon Jute so sexy findet, wage ich zu bezweifeln. Wäre doch ein sehr, sehr abstrakter Fetisch – okay, das habe ich gerade nicht gedacht. Es ist mir eigentlich voll egal, was Leon in seinem Bettchen macht oder nicht macht und ich finde es ganz toll, wenn ich das nicht zu Ohren bekomme.

Allerdings ist da eine gewisse nicht außer Acht zu lassende Beule in meiner Hose. Ganz klar eine Morgenlatte, diagnostiziere ich sofort. Schließlich ist es noch ganz, ganz früh und unter normalen Umständen würde ich mich jetzt noch mal genüsslich im Bett umdrehen. In einer Nacht macht der kleine Mann da unten ja etliche Funktionstests und das hat gar nichts mit akuter Geilheit zu tun. Also bloß keine Panik auf der Titanic, ist doch alles in Butter.

"Oh fuck", seufze ich leise und versuche an irgendwas Abartiges zu denken.

Die Leute im Altersheim in Reizunterwäsche. Mit hübschen Strapsen, Korsagen, unzähligen Reißverschlüssen und ganz vielen Falten. Aber wenn ich an meinen Praktikumsplatz denke, fällt mir leider auch ein gewisser faltenloser, schwarzhaariger Jüngling von Wohlgestalt ein, der es sich in meinem Kopf leider ein bisschen zu gemütlich gemacht hat. Hmpf, ich gebe es auf.

Frustriert binde ich meine Haare zurück, zupfe hier und da noch etwas zurecht und schreibe Mama einen Zettel, dass ich schon eher los bin. Vielleicht lenkt die Arbeit mich ja ein bisschen von dem leidigen Thema ab.

+++Zehn+++

Im Heim geht es zu wie im Bienenstock, weil ja alle erstmal aus den Betten müssen. Also wecken, aufstehen helfen, ins Bad führen, hübsch machen, über den Gang zum Frühstückstisch bringen. Der will natürlich auch ordentlich gedeckt sein, da steht Gerda sehr dahinter. Mich soll es nicht stören, denn meine Rechnung geht auf. Ich bin gut beschäftigt, da bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. Man muss einfach nur funktionieren und aus.

Ich weiß gar nicht, wie viele Leute ich heute Morgen schon abgefertigt habe, jedenfalls steht mir der Schweiß so ziemlich auf der Stirn und das bei der Schweinekälte.

Hier hat sich keiner aufgeregt, dass ich schon so früh da war. Im Gegenteil, gelobt haben sie mich wie die blöden. Ich bin mir ja fast schon verarscht vorgekommen, vor allem, als Gerda gesagt hat, dass das mit dem besonderen Engagement unbedingt in meine Beurteilung mit rein muss. Rot geworden bin ich noch dazu, wie peinlich. Aber daran dürfte sich ja schon jeder gewöhnt haben, passiert mir ja ständig und anderen angeblich auch. Ich prüfe das jetzt nicht so nach, muss ich gestehen.

Ich reibe mir fahrig über die Augen. Es ist acht, und so langsam merke ich die Müdigkeit schon. Jetzt, wo ich ganz gerne mal ein Stündchen schlafen möchte, geht es natürlich absolut nicht. Vielleicht kann ich mir im Schwesternzimmer schnell einen Kaffee hinter die Binde kippen, das sollte mich wohl wieder auf die Beine bringen.

Mein Partner ist übrigens stur alleine durch die Gänge gezogen und zwar ohne mich eines Blickes zu würdigen. Okay, das könnte auch daran liegen, dass ich mich immer in den Zimmereingängen versteckt habe, aber das halte ich für ein Gerücht. Vielleicht denkt er ja, dass ich mich krank gemeldet habe. So ein Kuss kann einen ja schon ganz schön aus den Latschen hauen, wie man an mir ganz gut sehen kann.

Ich schlurfe also so unauffällig wie möglich Richtung Schwesternzimmer. Das heißt relativ langsam, mit möglichst entspanntem Gesichtsausdruck und mit einer Gestik, als wüsste man genau, was man da gerade macht. Hilft garantiert immer.

"Junge Dame, ich hätte da eine Frage..."

Jemand klopft mir auf die Schulter und ich wirble herum. Soll etwa ich damit gemeint sein? Also jung bin ich ja eigentlich schon mit meinen süßen sechzehn Lenzen, aber doch wohl definitiv nicht weiblich. Nach letztem Stand der Überlegungen vielleicht ein bisschen feminin und ein bisschen Leon verfallen, aber immer noch sehr männlich und vor Testosteron nur so strotzend. Ich funkle den alten Herrn so grimmig wie nur möglich an und bereue es sofort wieder, als er in sich zusammen sinkt.

"Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte, Sie seien eine von den Schwestern", murmelt er ein wenig hilflos und ringt mit den Händen. "Ihre Frisur, wissen Sie?"

Ich lächle schmal und reiche ihm höflich meine Hand.

"Matti Lürsen, ich mache gerade mein Praktikum hier. Kein Problem, das kann ja mal passieren. Kann ich etwas für Sie tun?"

Hach, ich kann ja so nett sein! Hätte man gar nicht von mir gedacht. Und das, wo ich kurz davor bin durchzudrehen. Respekt, Respekt. Aber man soll sich ja nicht selbst loben.

"Angenehm, Müller. Ja... also ich bräuchte eine Vase. Für die Blumen. Also für meine Frau, die hab ich ihr mitgebracht. Und da muss man doch immer erst beim Personal fragen. Dürfen Sie das überhaupt, wenn Sie Praktikant sind?"

Ich grinse.

"Natürlich. Wenn Sie ganz kurz hier warten? Ich gehe schnell ins Schwesternzimmer und hole Ihnen eine Vase."

Ich frag mich echt, warum die die Teile nicht auf den Gang stellen können. Alle Nase lang kommt jemand vorbei und hält das Personal wegen so einer Lappalie von der Arbeit ab. So oft wird da schon nichts zu Bruch gehen, wenn man Vasen frei zugänglich aufbewahrt. Und suizidgefährdete Patienten haben wir auf unserer Station auch nicht. Wenn man mal von mir absieht, haha.

Ich lächle Herrn Müller noch mal zu, bevor ich mich ins Schwesternzimmer verkrümle. Die Tür schlägt einen Tick zu laut hinter mir zu und ich lehne mich an die Wand, nur für einen Augenblick. Jemand kichert, ich reiße die Augen auf.

"Alles okay?", fragt Leon amüsiert und beißt zufrieden in ein Stück Kuchen.

Ich nicke schwach.

Oh Gott, ich stehe kurz vor einer ernstzunehmenden Herzattacke. Warum muss der Idiot mich so erschrecken, wo ich doch sowieso schon so angeschlagen bin?

Na gut, davon weiß er ja nicht wirklich, ich will ihm mal verzeihen.

"Klar, ich brauch nur ne Vase. Fürn Müller. Wo stehen die denn?"

Leon steht ganz lässig auf und geht zu einer hübschen Glasvitrine. Gut, das hätte ich mir auch denken können, dass die Dinger da drin stehen. Sieht man ja auch. Nur ich nicht. Weil meine Augen immer auf ihm kleben, weiß der Himmel warum. Obwohl, vermutlich weiß ich es auch. So im Hinterkopf.

Unsere Hände berühren sich kurz, als er mir die Vase gibt und ich zucke fast zurück. Es ist so ungewohnt und doch vertraut, ach Scheiße. Jetzt werde ich auch noch rot, das darf er auf keinen Fall sehen. Bloß nicht.

"Kommste dann gleich wieder? Ist ja nichts los um die Zeit", fragt Leon.

Ich zögere. Eigentlich wollte ich ja bleiben, aber wo er da ist? Andererseits kann ich ihm nicht ewig aus de Weg gehen, auf keinen Fall.

"Ja klar. Bis gleich."

Jetzt muss ich aber wirklich dringend zu Herrn Müller. Der denkt bestimmt ich bin unterwegs verschütt gegangen, war ja quasi eine kleine Ewigkeit weg. Für die kleine Tour jedenfalls. Und wieder bin ich froh, als die Tür hinter mir zufällt.

"Herr Müller? Bitteschön, Ihre Vase."

"Vielen Dank, Sie sind ja ganz schön auf Trab. Die Schwestern haben sich da immer ganz schön Zeit gelassen, haben wahrscheinlich noch schnell eine Kaffeepause eingelegt", freut sich der alte Mann. "Hier, kaufen Sie sich was Schönes."

Und mit diesen Worten drückt er mir einen Schein in die Hand, fünf Euro. Nicht schlecht, immerhin habe ich nur eine läppische Vase geholt und dafür fast fünf Minuten gebraucht. Keine wirkliche Glanzleistung und garantiert kein Geld wert, aber man will sich ja nicht beschweren. Da wäre ich ja schön doof.

Also bedanke ich mich artig und verabschiede mich von Herrn Müller. Um wieder in die Höhle des Löwen zu gehen, na bravo. Wie manövriere ich mich eigentlich immer wieder in solch auswegslose Situationen, hm? An mir selber kann es doch nicht immer liegen. Egal, ändern kann ich es ja doch nicht.

Leon hat schon zwei Tassen auf den kippeligen Resopaltisch gestellt und... oh mein, Gott, er hat Kakao gemacht. Ich liebe ihn!

Scheiße, was habe ich da gerade gedacht? Ich liebe ihn natürlich auf keinen Fall. Ich finde es nur sehr nett, dass er das für mich macht. Ist auf die kurze Zeit halt ein supertoller Freund von mir geworden, der Junge. Was macht er denn jetzt?

Er holt eine Frühstücksbox aus seiner Tasche, wie süß. Da steht sein Name mit Window Color drauf, das war bestimmt noch seine Mama. Vielleicht hebt er sie deswegen noch auf, ich weiß es nicht.

"Auch ein Stück?", fragt er unschuldig und friemelt am Deckel rum. "Schokokuchen. Von Julia und mir, mit viel Liebe gebacken."

Ich werde schon wieder ein bisschen rot um die Nase und nicke verlegen.

"Kakao hab ich auch schon gemacht, Teller stehen auf dem Tisch, Gabeln hab ich auch... ist irgendwas, Matti?", fragt Leon vorsichtig und legt eine Hand auf meine Schulter.

Ich kriege einen spontanen Anfall von Schüttelfrost und habe keinen blassen Schimmer, wie ich das vor ihm verheimlichen soll. Außerdem steht mir bestimmt gleich der Schweiß auf der Stirn, weil ich mich ja angestrengt vom Weghalten aufhalten muss. So ein Stress aber auch! Nervös versuche ich, überall hinzusehen, außer in sein Gesicht.

"Nein, nein, alles bestens", antworte ich fahrig und setze mich schnell auf einen Kippel-Stuhl. "Wirklich."

"Das kannste meiner Oma erzählen", erwidert Leon und klatscht mir ein Stück Kuchen auf den Teller. "Also, spucks schon aus."

Ich rutsche unwohl auf meinem Stuhl herum und beruhige mich mit einem großzügigen Schluck Kakao. Meine ganz persönliche Droge.

"Nichts... ich fühl mich einfach nicht. Vielleicht werde ich krank oder so."

Das hätte ich besser nicht gesagt, denn Leon ist sofort zur Stelle und tastet Stirn, Wagen und Ohren ab – mir wird ganz schwummrig.

"Also Fieber hast du schon mal nicht. Und sonst siehst du eigentlich auch nicht so gebrechlich aus", stellt er kurz drauf fest, ich zucke nur mit den Schultern.

Man gut, dass jetzt keiner meinen Blutdruck misst. Sämtliche Instrumente würden in die ewigen Jagdgründe eingehen, sollten sie die Marathon-Übungen von meinem Herz aufzeichnen. Aber sofort.

Kann der nicht wenigstens ein Stück weggehen?

Nein, er muss mir auch noch immer näher auf die Pelle rücken. Wenn ich könnte, würde ich jetzt gerne in Ohnmacht fallen. Wenn es geht nicht so, dass man mich anschließend wachküssen muss. Das wäre, nehme ich mal an, eher kontraproduktiv.

Leons Augen funkeln ganz komisch, als hätte er etwas besonders Hinterhältiges vor. Ich habe Angst, ganz ehrlich. Würde ich nicht sitzen, würde ich laufen. Ganz, ganz weit weg. Oder zu Motte, das weiß ich noch nicht so genau.

"Hm... vielleicht-", wispert Leon nachdenklich.

Und bevor ich nachfragen kann, was er denn bitte mit dieser doch sehr sinnlosen Aussage meint, hat er das letzte Bisschen Abstand zwischen uns überbrückt und küsst mich. Im Schwesternzimmer. Da, wo uns jeder sehen kann. Herzattacke Nummer zwei an diesem Tag. Warum kann ich nicht einfach sterben oder so?

Und dann macht es endlich klick, ich schubse ihn weg.

"Lass das, Leon. Das ist nicht witzig, hörst du?", rufe ich empört und wische mir mit dem Ärmel hastig über die Lippen. "Hörst du?"

Er sieht mich an, als verstünde er die Welt nicht mehr. Mit Dackelblick, Schmollmund und allem drum und dran. Ich bin kurz davor schwach zu werden. Aber nicht mit mir, ich bleibe standhaft. Er zupft betreten an seinem Oberteil herum, ich reiße mich zusammen. Er ist nicht süß, nein.

"Ich dachte nur..."

"Was?", frage ich viel zu kühl und nippe an meinem Kakao.

Leon zuckt leicht zusammen, wie ein geschlagener Hund. Mir tut sofort Leid, dass ich so forsch war. Und dass ich ihn weggeschubst habe. Weil ich eigentlich gerade nicht an der Tasse, sondern an seinen Lippen hängen möchte. Aber das kann ich natürlich nicht.

"Ich dachte nur, dass du auch schwul bist."

Ich reiße entsetzt die Augen auf und gucke ihn an, als hätte ich ihn noch nie vorher gesehen. Mein Mund formt sich zu einem überraschten Oh und mir entschlüpft ein entsetztes Kieksen. Oh mein Gott, was hat er da gerade gesagt?

"Wie bitte?", frage ich schrill.

"Schrei doch nicht so, Mensch", grummelt Leon. "konnte ja nicht ahnen, dass du einer von der verklemmten Sorte bist. Oder wolltest du nur experimentieren? Sags ruhig."

Von einer Sekunde zur anderen ist aus dem verletzlichen ein unantastbarer, unglaublich frostiger Leon geworden, der absolut nichts an sich heran lässt. Mich schaudert es. Und denken muss ich auch noch, der wartet auf eine Antwort.

War es für mich denn Ausprobieren?

Einfach nur ein Versuch, nur testen, wie das so ist?

Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich ein bisschen überrumpelt, vielleicht ist mein Hirn so ziemlich Matsch, vielleicht hat mir der ständige Misserfolg bei den Mädels den Rest gegeben. Weiß der Geier was. Ich zucke mit den Schultern.

"Weiß ich nicht."

Leon setzt ein schmieriges Grinsen auf und tätschelt meine Schulter, ich fühle mich unwohl. Wie ist er auf die kurze Zeit so eklig geworden? Wie konnte ich ihn jemals küssen?

"Kannst es Onkel Leon ruhig sagen. Kannst ihm ruhig sagen, dass du eine Story für deine beschissenen Freunde brauchst, damit sie sich den Arsch ablachen. Über den Deppen, der mit dir rumgemacht hat. Bist sogar um den Arschfick rumgekommen."

Ohne dass ich es will, steigen mir Tränen in die Augen. Am liebsten möchte ich ihm eine kleben, fünf Finger in seinem hübschen Gesicht. Ein roter Handabdruck auf seiner perfekten Wange. Ich spüre jetzt schon, dass meine Stimme zittern wird.

"Fick dich, du verdammter Wichser."

+++Elf+++

*-*-*LEON*-*-*

Wie konnte ich Vollidiot mich nur so täuschen?

War ja wohl klar, dass Matti nicht schwul ist. Bei der Freundin, ich habe es ja gleich gesagt. Wahrscheinlich habe ich ihn einfach nur überrumpelt, als wir uns das erste Mal geküsst haben. Er war einfach nur nett zu mir und ich habe mir eingebildet, dass da mehr wäre. Wie töricht. Ein Kuss lässt doch keinen zum anderen Ufer überlaufen, wenn er auch noch so gut ist. Das muss selbst ich zugeben. Ich kann ihn nicht ändern, vor allem nicht seine sexuellen Präferenzen. Im Gegenteil. Ich kann verdammt froh sein, wenn er überhaupt noch mit mir spricht.

Bei dem Scheiß, den ich ihm an den Kopf geworfen habe, kann ich schon mal beim Bestatter anrufen und Frühbucherrabatt bestellen. Wobei fraglich ist, ob ich den bekomme. Wenn ich an gebrochenem Herzen sterbe, dann wohl eher zügig und nicht erst in zwei Jahren.

Bestimmt kann ich mich auch gar nicht mehr in irgendeinen Typen vergucken und sterbe als armer, alter, einsamer Mann. Natürlich findet man mich erst nach einer halben Dekade, weil mich ja niemand leiden kann und mich niemand vermisst. Auf den Plan gerufen werden die Anwohner wegen des seltsamen Geruchs, der aus meiner Wohnung kommt. Gesehen hat mich nie einer. Mein Gott, bin ich depressiv.

Und das alles wegen einem verdammten Kerl.

Ich war doch früher nicht so. Ein bisschen Spaß, ein bisschen Rummachen, du hast einen anderen? Na ja, gut. Warst eh nicht mein Traumtyp. Und überhaupt, du warst mir eh zu langweilig. Auf Nimmerwiedersehen.

Aber auf einmal ist da Matti und plötzlich ist alles anders. Auf einmal kümmere ich mich um jemanden, mache mir einen Kopf, fühle etwas... und werde verletzt. Das ist doch nicht fair, auf keinen Fall.

Da trifft man seine einzig wahre Jugendliebe und die hat nichts Besseres zu tun, als einem einen Arschtritt zu verpassen. Willkommen in der Realität, Leon Wocheslander.

Und aufregen brauchst du dich auch nicht. Schließlich warst du anderen gegenüber nicht anders, erinner dich mal. Selber das Arschloch vom Dienst, was war denn mit Samuel? Eiskalt abserviert hast du den und Spaß hat es dir auch noch gemacht. Es kommt alles irgendwann zurück. Geschieht dir ganz Recht.

Ich weiß nicht, ob es nicht bessere Wege gäbe, über ihn hinweg zu kommen, als Selbstmitleid. Aber es ist immerhin ein Anfang. Der Fernseher läuft schon seit einer Stunde ununterbrochen, irgendeine dieser dämlichen Gerichtsshows oder so. Ach nee, wir sind schon wieder bei unsere-kaputte-Familie TV.

Was, schwanger mit sechzehn?

Da fragt man sich doch echt. Was macht die denn bitte in der Sendung, heutzutage darf man doch höchstens dreizehn sein, um es mit dem Thema noch irgendwie ins Fernsehen zu schaffen. Da spielen sich dann schon mal dramatische Szenen ab. Bestimmt sind die Mädels ganz verzweifelt beim Casting.

»Bitte nehmen Sie mich! Ich bin nicht nur schwanger, ich habe auch noch mit meinem Mathelehrer geschlafen. Und mit dem Postboten, aber das ist jetzt nicht so die Sensation. Bitte, bitte!« oder so ähnlich. Jaaah, da hat man schon viel zu tun als Juror. Könnte ich ja nie machen, den Job. Wegen dem ganzen Test-Geheule, damit das Ganze auf der Mattscheibe auch schön authentisch wirkt. Da faulen einem nach drei Wochen bestimmt die Ohren ab und deshalb wechseln die Jurymitglieder in Castingshows so schnell.

Egal, das ist ja im Moment vollkommen nebensächlich.

Was jetzt zählt ist, möglichst wenig an sich ran kommen zu lassen. Sich in Watte zu packen und einen auf dumm machen. Was würde ich nur für einen Dornröschenschlaf geben. Hundert Jahre relaxen und alle deine Probleme haben sich in Luft aufgelöst. Beziehungsweise gammeln auf dem städtischen Friedhof fröhlich vor sich hin, aber das zu sagen wäre ja pietätlos. Das kann man sich bei meinem derzeitigen Schaffen im Altenheim wohl kaum erlauben. Also: Bis dahin ist alles wieder in Butter und die liebe Seele hat ihre Ruhe.

Ich darf stattdessen mit einem Eimer voll pappigem Popcorn darauf warten, dass mein Hintern nach zwei Jahren oder so am Sofa festwächst, ist das nicht toll?

Nee, ist es nicht.

Und selbst in all meinem Elend würde ich das nie fertig bringen. Allein schon wegen der Tatsache, dass ich nun mal ein schwanzgesteuerter Mann vom Dienst bin, hindert mich. Da kann ich noch so sehr in den süßen kleinen und vor allem unschuldigen Matti verschossen sein, an meinem Hormonhaushalt ändert das nichts. Außer, dass die Verliebtheitsendorphine vor ein paar Stunden das Weite gesucht haben vielleicht.

Fakt ist, dass ich wen fürs Bett brauche. Ob da jetzt Gefühle im Spiel sind oder nicht, ist mir in dem Moment eher Wurst. Dann bin ich eben primitiv, ist mir doch egal. Ich habe nie Gegenteiliges von mir behauptet. Ich wiederhole: Nie.

Ein emotionales Arschloch, wie es im Buche steht.

Gut, im Augenblick nicht gerade in Topform und ganz bestimmt nicht sexy. Aber gerade bin ich ja nicht auf Beutefang, sondern pflege meine Wunden. In Wirklichkeit hat mir Matti bestimmt gar nicht das Herz gebrochen – ich habe einfach nur Frust, weil ich eine Niederlage erlitten habe. Das wird es wohl sein.

Fuck, träum weiter.

In diesem Sinne erhebe ich meinen Hintern, der garantiert schon angefangen hat Fett anzusetzen, und bewege mich schlurfender Weise Richtig Küche. Das Ziel: Eine schon angebrochene Flasche Whisky, die ich mit Cola aufzufüllen gedenke.

Bei der Mischung sollte es selbst einen geübten Trinker komplett aus den Latschen hauen. Vergessen werde ich dadurch sicher nicht, aber es wird mich zumindest kurze Zeit außer Gefecht setzen. Und morgen werde ich viel zu sehr mit meinem Kater beschäftigt sein, als dass ich mich um einen gewissen blonden Jüngling sorgen könnte.

Zurück auf dem Sofa werfe ich einen flüchtigen Blick auf den Fernseher. Eine Mittvierzigerin mit schlechten Zähnen und zahlreichen Tattoos, schrabbelt gerade irgendetwas von ihrer beschissenen Tochter, deren Gewicht sich derzeit irgendwo zwischen einem Pottwahl und einem Dinosaurier bewegt. Sehr interessant, muss ich schon sagen. Gähn. Die deutsche Fernsehlandschaft, wie sie leibt und lebt.

Darauf muss getrunken werden!

Irgendwas wird sich schon immer finden, worauf man anstoßen kann. Ich bin ja nicht anspruchsvoll oder so. Um nicht zu sagen: Ziemlich niveaulos und heute auch noch asozial. Eben genauso, wie man sich die Jugend vorstellt. Ich bin so unglaublich stolz auf mich!

Je später der Abend, desto leerer die Flasche. Philosophie mit Leon Wocheslander. Danke, danke, danke! So langsam merke ich es auch ganz schön ordentlich. Möchte gar nicht wissen, was passiert, wenn ich jetzt aufstehe. Vielleicht kippe ich einfach nur zur Seite weg. Bevor ich testen kann, welches Horrorszenario das Schicksal nun für mich bereithält, steht Julia in der Tür.

Oh mein Gott. Sie sieht aus wie das blühende Leben und ich... wahrscheinlich so, als würde ich gleich das ganze Wohnzimmer voll kotzen. Und im Hintergrund der Fernseher.

"Hallo Leon! Ähm... ist alles okay?", fragt sie vorsichtig und wirft ihre Handtasche achtlos in die Ecke. "Scheiße, du hast gesoffen."

Mit einem Satz ist sie bei mir, ich überreiche ihr freiwillig die Flasche.

"Hauch mich mal an", befielt sie und lehnt sich zu mir runter.

Gott, das kann ich ihr nicht antun. Ich muss schlimmer riechen als die hinterletzte Kaschemme, außerdem schäme ich mich ja selbst schon für die Aktion. Widerstrebend atme ich so dezent wie möglich in ihre Richtung, sie rümpft die Nase.

"Die ganze Flasche?", fragt sie skeptisch.

Ich schüttle schnell den Kopf und bereue es zügig. Popcorn und Whisky-Cola sind scheinbar nicht so das Dreamteam, jedenfalls geht es in meinem Magen gerade ziemlich ab. Ich seufze gequält.

"Leon? Ist dir schlecht? Soll ich dir nen Eimer bringen?"

Ich blinzle sie an, sie sieht ein bisschen verschwommen aus. Vielleicht ist es auch neblig in unserem Wohnzimmer, das weiß ich nicht so genau.

"Nee. Ich bin... bin nur müde."

Julia überlegt einen Moment, ist ein bisschen unsicher. Mit ihren perfekten Klamotten wirkt sie vollkommen fehl am Platz in dem ganzen Chaos, das ich angerichtet habe. Sie tut mir Leid, glaube ich. Oder ich ihr.

"Okay, ich bring dich ins Bett", murmelt sie abwesend. "Aber keine Sauforgien unter der Woche mehr, versprochen?"

Ich brabble etwas, das sich mit viel gutem Willen wie eine Zustimmung anhört. Hoffentlich versteht sie das auch. Jetzt muss sie mich erstmal irgendwie aus diesem beknackten Sofa raus bekommen. Ich bin viel zu schwer für sie, ist doch klar. Julia zerrt ein bisschen an mir, ich gebe mein Bestes und irgendwann stehe ich dann wacklig auf meinen Beinen, ihr Arm liegt um meine Schulter. Die Übelkeit kommt wieder in mir hoch, bestimmt bin ich weiß wie eine Wand. Oder grün.

Sie redet beruhigend auf mich ein und wir wanken langsam zu meinem Zimmer. Ein Wunder, dass ich sie nicht über den Haufen renne. Ich lege mich brav und so, wie ich bin ins Bett. Julia seufzt und deckt mich zu. Dann schlafe ich endlich ein.

+++Zwölf+++

Na super, Matti ignoriert mich komplett.

Das muss doch nicht gleich sein. Da erlaubt man sich nur einen klitzekleinen Fehltritt, indem man den neu erworbenen Kumpel küsst, und schon spielt er beleidigte Leberwurst. Ein Kindergarten ist das, ehrlich.

Ist ja schon schlimm genug, dass ich mich so getäuscht habe.

Ich war mir wirklich sicher, dass der Junge schwul ist. Bisher habe ich quasi nie daneben gelegen... er ist die bittere Ausnahme. Mein Gott, dann ist er eben hetero.

Da muss er doch aber nicht so ein Geschiss draus machen. Ich renne ja auch nicht rum und schreie Frauen an, dass sie mich gefälligst nicht anfassen sollen, weil ich ja schwul bin.

Vielleicht ist es eine Frage des Alters und der Reife, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass drei Jahre da so viel ausmachen. Wenn dem so wäre, könnte ich ja direkt froh sein, dass Matti und ich nie irgendwas miteinander haben werden. Wäre ja schrecklich mit einem so impertinenten Kerl.

Ich reibe mir meine schmerzenden Schläfen, bevor ich mir eine weitere Zigarette anstecke. Wir haben es gerade mal zehn und das ist schon meine fünfte Kippe heute... bestimmt rieche ich wie ein Aschenbecher. Widerlich! Kein Wunder, dass mich keiner küssen will. Gut, meine Patienten sollten das auch nicht wirklich tun – uäh! Ich finde es nicht sonderlich erotisch von einer Achtzigjährigen geküsst zu werden. Ist das seltsam? Nein.

"Leon, ist bei dir alles in Ordnung?", fragt Kathrin besorgt.

Habe gar nicht gehört, dass sie ins Schwesternzimmer gekommen ist, geschweige denn raus auf den Balkon. Ich war halt in Gedanken versunken.

"Ja klar. Ist bloß gerade nichts los und da dachte ich, ich rauche mal schnell eine. Tut mir Leid", erkläre ich so reuevoll wie nur gerade möglich und drücke hastig die Kippe aus.

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung und zwinkert mir zu.

"Das habe ich nicht gesehen, keine Sorge. Hat doch jeder sein Laster, nicht? Außerdem qualmst du ja nicht vor den Patienten. Aber mal was anderes: Kann es sein, dass Matti und du euch gestritten habt?"

Oh Scheiße, jetzt hat Gerda also auch schon davon Wind bekommen. Scheint als hätten wir Tratschtanten auf der Station... oder Abhörgeräte, aber das will ich mal nicht hoffen. Ich weiche ihrem Blick aus.

"Ein bisschen vielleicht. Warum?"

Sie lehnt sich ans Geländer und steckt sich selber eine Zigarette an.

"Dachtest du etwa, dass man das nicht mitbekommt? Um genau zu sein merkt das sogar ein Blinder mit nem Krückstock. Ihr habt euch von Anfang an super verstanden, als ob ihr euch schon länger kennen würdet. Da fällt es natürlich auf, wenn ihr auf einmal nur noch das Nötigste sagt und euch Blicke zuwerft, dass einem ganz kalt wird."

Ich zucke hilflos mit den Schultern.

"Wir sind uns eben doch nicht so ähnlich, wie wir dachten."

"Dann schweigt euch zumindest so an, dass die Patienten davon nichts mitkriegen, das ist ja – Moment. Das klingt ja total nach Beziehungsende oder so. Los, spucks aus."

Ich winde mich ein bisschen. Ist schon ziemlich Scheiße, wenn einen seine derzeitige Vorgesetzte derartiges fragt. Um nicht zu sagen zum Kotzen. Aber eigentlich mag ich sie wirklich und sie weiß, dass ich schwul bin. Das ist aber eine andere Geschichte. Ehrlich.

"Lass mich raten: Du hast ihn angemacht und er ist durchgedreht."

"So ungefähr", antworte ich bitter. "Aber nicht so, wie du denkst."

Ich hatte mal was mit ihrem Sohn, vor einem Jahr oder so. Wie er heißt?

Samuel. Der Samuel, dem ich das Herz gebrochen habe. Man kann sich vorstellen, dass Kathrin nicht gerade Happy war.

Und jetzt denkt sie, dass ich Matti auch nur aufreißen wollte.

"Wie denn dann?", fragt sie und pustet mir den Rauch ins Gesicht.

Ich huste mir die Seele aus dem Leib wie ein Anfänger, Kathrin lacht leise.

"Anders eben."

Sie sieht mich fragend an und ich nehme allen Mut zusammen.

"Ich glaube... ich glaube ich habe mich in ihn verguckt", stammle ich betreten.

"Ach Leon. Irgendwann trifft es uns eben", murmelt sie und zu meiner Verwunderung umarmt sie mich. "Komm, lass uns drinnen besprechen, wie wir weitermachen."

Ich bin ganz fügsam, bleibt mir auch fast nichts anderes übrig. Die ganze Situation ist komplett neu für mich, immerhin war ich noch nie richtig verschossen. Ich weiß so gar nicht, was ich machen soll. Oder wie ich Matti dazu bringe auf mich zu stehen. Und, sollte letzteres scheitern: Wie ich es schaffe, von meiner Verliebtheit loszukommen.

Ich lasse mich auf einen der ewig alten Stühle sinken und knabbere geistesabwesend an meinem Ärmel herum – keine Sorge, ich sabbere nicht. Bin gespannt, was Kathrin für Tipps hat.

"Dann wollen wir mal", meint sie und rückt ihre Brille auf die Nasenspitze vor. "Standst du von Anfang an auf Matti? Also gleich, als er auf die Station kam, meine ich."

Ich schüttle den Kopf.

"Nee. Wir haben uns schon gut verstanden, aber eher auf freundschaftlicher Basis. Motte -das ist eine Freundin von ihm-, Matti und ich habe nachmittags was miteinander gemacht. War ganz nett. Und dann habe ich ihn irgendwann geküsst... als sie nicht da war."

"Das war gestern?"

"Schon länger her. Da hat es ihm nämlich gefallen, dem Idioten. Sieht so aus, als wollte er das nur mal ausprobieren", erwidere ich seufzend. "Gestern habe ich ihn noch mal geküsst. Hier, im Schwesternzimmer. Wir haben uns gestritten und-"

Kathrin nickt, sie weiß was gemeint ist.

"Ist ja wohl klar, dass jetzt nicht alles eitel Sonnenschein ist. Und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich ihm ein paar aufs Maul hauen und ihn nie wieder sehen will – oder ob ich ihn weiter aus sicherer Entfernung anhimmle."

"Mir ist das ehrlich gesagt ziemlich Wurst", meint Kathrin. "Aber wäre gut, wenn ihr wenigstens hier halbwegs harmonisch miteinander arbeitet. Ich werde noch mal mit Matti reden, okay? Und wenn nicht drohe ich ihm einfach mit seinem Wirtschaftslehrer."

Ich nicke tapfer.

+++Dreizehn+++

Nachdem Kathrin mit ihm geredet hat, ist Matti eigentlich wieder ganz gut drauf, wir rennen entspannt von Patient zu Patient und überhäufen sie mit witzigen Sprüchen. Haben ja sonst keinen Spaß, die Herrschaften.

Aber wenn wir mal gerade nichts zu tun haben, weiß ich, dass er mich anstarrt. Und dass in seinem Blick kein Funke Freundlichkeit ist. Er steht einfach nur da, guckt böse und manchmal weiß ich nicht mal, ob er mich ansieht oder durch mich durch schaut. Ich weiß überhaupt sehr wenig von ihm.

Motte hat er nichts von uns erzählt, da bin ich mir sicher. Von uns, dass ich nicht lache! Von zwei lächerlichen Küssen, die kaum der Rede wert waren. Sie weiß jedenfalls nichts und hat deshalb auch ganz naiv gefragt, ob ich nicht wieder vorbeikommen will. Wir verstehen uns ja so gut. Ich wäre ja kaum noch wegzudenken.

Ich bin mir ganz sicher, dass Matti mich ganz weit weg wünscht. Aber das kann ich ihr wohl kaum unter die Nase reiben und am Ende fühlt sie sich noch von ihrem besten Freund hintergangen. Nein Danke, dafür möchte ich unter keinen Umständen verantwortlich sein.

Pflichtschuldig habe ich natürlich zugestimmt.

Deswegen stehe ich jetzt vor Mattis schmucker Haustür. Meine Hände sind fest in eine riesige Tüte Vanillekipferln gekrallt, sodass die Knöchel ungesund blass aussehen. Ich bin nervös, ich hab Angst... ich bin ein Wrack, ein Schatten meiner selbst. Da Selbstmitleid nicht so wahnsinnig produktiv ist, drücke ich lieber auf die Klingel und warte seelenruhig auf meine Exekution.

Die lässt nicht lange auf sich warten. Aber zum Glück ist es Motte, die bestimmt schon hinter der Tür gelauert hat. So schnell kann man gar nicht öffnen, wenn man vorher ganz relaxt am Küchentisch gesessen ist. Sie stellt sich übertrieben auf die Zehenspitzen und umarmt mich herzlich.

"Der Stinkstiefel hat sich beruhigt", flüstert sie verschwörerisch grinsend in mein Ohr. "Wobei ich keine Ahnung habe, warum er so seltsam ist. So kenne ich ihn gar nicht."

Ich setze ein verständnisvolles Lächeln auf und nicke leicht. Vielleicht sollten wir ganz einfach nicht darüber reden. Vor allem nicht, wenn ein sehr unausgeglichener Kerl in der Höhle des Löwen auf einen wartet.

"Wir gehen wohl besser rein", murmelt Motte ganz in Gedanken und zupft an ihrem dummen Fummel herum. "Ist doch ganz schön kalt."

Ich nicke zustimmend und bin geistig schon ganz bei warmem Punsch, Kerzenschein, Zimtstangen und Vanillekipferl.

Tief in meinem Inneren bin ich nämlich ein totaler Weihnachtsfan, aber das darf natürlich keiner wissen. Nicht das Fest im Besonderen, sondern das ganze Drumherum macht doch einfach nur glücklich. Alles ist total gemütlich, die Menschen haben sich lieb und man darf sich ohne Gewissensbisse mit selbst gebackenem, leckerem Essen voll stopfen. Da kommt es mir nur zu gute, dass schon ab September Lebkuchen, Zimtsterne und Co. in den Regalen sämtlicher Supermärkte zu finden sind.

Matti sitzt betont desinteressiert da, die Füße hat er auf die Tischplatte gelegt und seine Arme vor der Brust gekreuzt. Na wenn das mal keine ablehnende Haltung ist. Man könnte ja fast meinen, dass er etwas gegen mich hat. So weit will ich mich dann aber doch nicht aus dem Fenster lehnen, nein.

Motte räuspert sich, ihr scheint das auch ein bisschen peinlich zu sein. Unser Freund zeigt keine Reaktion. Wenn man mal davon absieht, dass er den Anstand besitzt ein wenig rot zu werden. Gut so.

"Wir haben Besuch, Matti", sagt Motte nachdrücklich. "Könntest du vielleicht die Füße vom Tisch nehmen? Dafür hab ich den nämlich nicht dekoriert, weißt du."

Und endlich kommt der junge Herr etwas in Wallung. Betont langsam entfernt er seine mit grün-weißen Stricksocken angetanen Quanten aus der sichtbaren Ebene. Er lächelt sogar halbwegs freundlich, ich bin platt.

"Ähm... hi", sage ich ein bisschen schüchtern und weiß nicht, ob ich ihn auch noch umarmen soll – es scheint mir nicht so ratsam. "Soll ich die Kipferl gleich stilvoll anrichten?"

"Gib einfach her, ich hab da schon mal was vorbereitet", wirft Motte enthusiastisch ein, bevor Matti zu Wort kommen kann.

Ich schäle mich umständlich aus meiner Jacke und hänge sie über meinen Stuhl. So, jetzt soll ich mich also ganz ungezwungen mit ihm unterhalten. Irgendwie schätze ich meine Fähigkeiten auf dem Gebiet nicht allzu gut ein, aber es wird wohl von mir erwartet. Alles ein Mist.

"Was macht ihr so in den Ferien", frage ich zögerlich und reibe meine Hände umständlich aneinander. "Fahrt ihr weg?"

"Nee, kein Geld", antwortet Matti grinsend. "Und unsere gute Seraphina darf endlich, endlich auf die einzigartige Krippenausstellung in Hintertupfingen! Ich konnte ihr Betteln ja kaum mehr ertragen, wäre selber fast mit ihr hingefahren. Aber dann, dann hat sich ihre Mutter ihrer erbarmt."

Motte streckt ihm die Zunge raus.

"Ich kann ja wohl nichts dafür, dass meine Mutter voll den Schatten hat und mich da mit hin schleift, oder? Außerdem könntest du mal ein bisschen weniger

pampig sein, ehrlich. Wir haben dir nichts getan."

Sie stellt eine hübsch mit Servietten ausgelegte Schale, die randvoll mit Vanillekipferln, Zimtsternen und anderen Plätzchen ist, vorsichtig auf den Tisch. Matti starrt betreten auf seine Hände.

"Tut mir Leid", murmelt er in seinen imaginären Bart. "Ich weiß auch nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Vielleicht bin ich ein bisschen depressiv oder so."

Er versucht zu lächeln und es misslingt kläglich.

"Darüber macht man keine Witze", grummelt Motte, fährt ihm aber trotzdem durchs Haar. "Wirklich nicht, Matti."

Sie sehen so verdammt vertraut aus, dass ich mich ganz schrecklich fehl am Platze fühle. So, als wäre ich in etwas reingeplatzt oder als wäre ich eben nur der Beobachter. Vielleicht ist es auch genau so.

"Außerdem hast du ja uns", sagt Motte da und legt einen Arm um mich.

Mir ist wieder warm im Bauch und besser geht es mir auch schlagartig. Sie denkt, dass wir zusammengewachsen sind. Dass wir uns gegenseitig helfen können. Dass wir Freunde sind.

Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass genau das Matti schwer im Magen liegt. Er lächelt scheu und schnappt sich eins von meinen Kipferln. Im Hintergrund piepst ein Alarm.

"Oh Scheiße, das ist der Punsch! Den hab ich total vergessen. Dabei muss man den doch umrühren... hoffentlich ist er nicht angebrannt, deine Mutter bringt mich um!", schreit Motte hysterisch und wuselt zum Herd.

Matti kichert schon wieder und schiebt sich noch ein Kipferl in den Mund.

"Du, die sind gut", lobt er und tätschelt sein imaginäres Bäuchlein.

"Hat Julia gemacht", murmle ich mit einem Hauch Stolz in der Stimme. "Altes Familienrezept."

Klang das jetzt überheblich?

Ich hoffe doch, dass er es richtig auffasst. Dass ich einfach nur froh bin, eine so tolle Schwester zu haben. Dass ich mich über das Lob freue und es außerdem toll finde, dass das von ihm kommt. Wo er doch so kalt mir gegenüber ist.

Aber er lächelt nickend und fast könnte man meinen, dass er mit mir flirtet. Fast. Ich weiß es schließlich besser, hallt es bitter in meinem Kopf wider. Er will nichts von mir. Wird nie etwas von dir wollen. Merk es dir doch einfach mal.

"So, hier kommt der Punsch. Und ich konnte den Topf sogar noch retten", ruft Motte triumphierend. "Nennt mich Gott!"

Wir gucken sie verwundert an, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. Einen Moment lang sieht sie ein bisschen wütend aus, aber schließlich stimmt sie ein und wir sind sehr froh, dass wir nicht mit heißem Zeug übergossen werden. Motte schüttelt sich beim Lachen nämlich ziemlich und da hab ich schon ein bisschen Angst, dass etwas umkippt.

"Obwohl... die Weltherrschaft würde mir wahrscheinlich auch schon reichen", sagt sie dann ganz bescheiden. "So fürs Erste zumindest."

Matti zwinkert mir zu und gibt mir zu verstehen, dass seine beste Freundin seiner Meinung nach einen ziemlichen Schatten hat. Ich grinse still und heimlich in mich hinein. Wie ein altes Ehepaar sind die beiden, zu süß.

Und diesmal merke ich keinen Stich im Herz.

+++Vierzehn+++

*-*-*MATTI*-*-*

Leons Anwesenheit macht mich ganz bekloppt. Mein Hirn ist ein einziger Knoten, von klar Denken kann nicht im Entferntesten Sinne die Rede sein. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Und was mache ich Depp?

Mache meine ganze Umwelt ohne Rücksicht auf Verluste fertig, super. Ist ja nicht so, dass man seine Mitmenschen zu irgendwas brauchen könnte oder so. Nee. Ich verhalte mich wie die Axt im Walde. Obwohl ich es danach sofort wieder bereue, kann ich mich nicht davon abhalten.

Dabei brauche ich meine Freunde doch.

Und wenn die dämliche Verwirrtheit endlich weg ist, dann haben wir bestimmt auch ganz viel Spaß miteinander, können uns vertrauen und ganz viel Mist machen. Motte, Leon und ich. Wenn es in meinem Kopf endlich wieder klar ist.

Wenn das jemals passiert.

Ich mümmle still und heimlich vor mich hin und weiß so gar nicht mehr, worum es gerade in der Unterhaltung geht. Genau, das Träumen sollte ich auch mal in den Griff kriegen. Bin ja schon ein großer Junge und die machen das nicht, die Großen.

"Kann ich ein paar Fotos von uns machen?", fragt Motte gerade und friemelt an einem schwarzen Täschchen herum. "Für meine Wand. Die wollte ich doch ganz bekleben. Und altmodisch soll es aussehen. Ich dachte so an Sepia- oder Schwarzweißfotos mit weißem Rahmen und Büttenschnitt und vielleicht ein paar Filmausschnitte aus der Zeit oder so. Wir können auch ein paar Szenen nachstellen."

Leon und ich sehen uns ein wenig ratlos an. Eigentlich schaut vielmehr er mich ratlos an, während ich ziemlich mit seinen Augen beschäftigt bin. Bestimmt wirke ich gerade wie ein schwärmendes Schulmädchen. Verdammt, ich schwärme nicht. Ich finde ihn nur toll. Da ist ein himmelweiter Unterschied.

Schließlich zucke ich mit den Schultern, damit Leon wenigstens einen winzigen Anhaltspunkt hat, was ich von der ganze Sache halte. Ich finde die Idee nicht schlecht, um ehrlich zu sein. Aber zu viel Begeisterung stößt meist eher auf Ablehnung.

"Klar machen wir das", sagt Leon grinsend. "Aber dann müssen wir uns doch auch so zurecht machen, oder? Sonst ist ja alles umsonst, wirkt doch gar nicht mehr echt."

"Da weiß ich jetzt schon, wie die Rollenverteilung wird", murre ich in meinen nicht vorhandenen Bart. "Motte macht die von vielen umgarnte Dame. Leon gibt den Mann von Welt, der die Herzen aller Frauen im Sturm gewinnt – und ich bin der Gauner, der es auf das Vermögen der Dame abgesehen hat."

"Wenn du so willst", sagt Motte nur und packt eine monströse Kamera aus. "Ich hoffe, deine Mutter hat ihren Kleiderschrank noch nicht ausgemistet."

"Nee, wartet mal schnell."

Ich tapse also gemächlich ins Schlafzimmer. Wollen wir doch mal sehen, was sich dort so alles findet. Früher, als Motte und ich noch klein waren, haben wir uns immer verkleidet. Entweder wir haben gegenseitig Klamotten getauscht, oder wir haben einfach mal rumgestöbert und geguckt, was so da war. Da ist eine alte Spitzengardine schon mal eben zur Schleppe der holden Königin umfunktioniert worden, klar. Ein bisschen vermisse ich diese Zeit, in der alles noch so einfach war. Aber wer sich nach der Kindheit sehnt, der bekommt schneller Alzheimer. Also lasse ich das besser lieber. Ein bisschen dement bin ich ja jetzt schon, das muss man nicht gerade fördern.

Und was haben wir da alles? Eine perlweiße Stola, mehrere Hüte, Schals, Kleider und Schuhe. Hauptsächlich Sachen für Motte, aber auch ein paar Accessoires für Leon und mich. Außerdem dürfte ich auch noch einiges in meinem Zimmer haben, das nützlich sein könnte. Das muss man eben genau in dem Moment entscheiden, dann kann ich ja immer noch gucken.

"Hier", sage ich und wuchte alles auf einen Stuhl. "Da wird schon was dabei sein, oder?"

Die beiden machen große Augen, haha. Ich dachte immer, dass jeder so ein kleines Sammelsurium zu Hause hat, aber wie es scheint habe ich mich wohl getäuscht. Vielleicht liegt es auch daran, dass meine Eltern sich von nichts trennen können. Wer weiß.

"Super! Ich hab auch ganz viel Schminke, Federn und so Krimskrams dabei, damit es schön dramatisch wirkt", bricht es aus Motte vor und sie ist gleich ganz in ihrem Element. "Setzt euch doch mal hin, damit wir anfangen können."

Und dann wuselt sie um uns herum. Trägt hier ein bisschen Puder auf, zeichnet da was nach, betont was auch immer. Von der ganzen Schminke ist mir schon ganz kribbelig in der Nase und ich befürchte, in absehbarer Zeit niesen zu müssen. Was das ganze Werk wieder kaputt macht, tja.

"Wofür müssen wir Jungs eigentlich so angemalt werden?", frage ich angestrengt an die Decke guckend, der Versuch nicht zu blinzeln bringt mich fast um. "Und wieso kitzelt das so?"

Motte ist gerade dabei mir einen... einen äh, Lidstrich zu ziehen. Weiß der Geier warum. Leon wirkt ein bisschen blass unter der Schminke, er lächelt mir schwach zu. So hat er sich das bestimmt auch nicht vorgestellt.

"Das kitzelt so, weil du ein kleines Sensibelchen bist, Hasenfüßchen. Es soll eben professionell aussehen und die ganzen männlichen Darsteller sind ja wohl auch alle geschminkt. Und nachbearbeitet, willst du das auch?"

Ich schüttle kaum merklich den Kopf, weil sie gerade mit einer Wimpernzange zu Gange ist. Bis vor einigen Minuten kannte ich eine solche Gerätschaft gar nicht und jetzt wird schon an mir damit herum gewerkelt. Ehrlich gesagt habe ich ein klitzekleines Bisschen Angst. Das Teil kommt meinen Augen viel zu nah, basta.

"Aber wenn wir uns jetzt umziehen, dann verwischen wir doch alles wieder", versuche ich es noch einmal.

"Papperlapapp, das ist das permanenteste Permanent-Make-Up."

Wenn sie meint... momentan bin ich nicht in der Verfassung, sie davon abzuhalten. Allein der Geruch von der ganzen Schminke ist nicht gerade das, was ich appetitlich finde. Vielleicht hätte ich vorhin nicht so viele Plätzchen in mich reinstopfen sollen, aber sie waren einfach zu lecker. Pech für mich.

Und Leon starrt mich schon seit geraumer Zeit ganz seltsam an, das spüre ich genau. Der ist auch erstaunlich ruhig gewesen, hm. Vielleicht denkt er genau in diesem Moment daran, wie er mich geküsst hat. Auf der Stelle wird mir ganz schwummerig in der Magengegend und ich schnappe ein bisschen nach Luft.

Er ist schwul, Leon ist schwul.

Ich hätte es nicht gedacht. Wenn man ihn so sieht, denkt man eher an den klassischen Womanizer, der jeden Tag eine andere haben kann. Nicht an den Klischeeschwulen, der so ungefähr alle Krankheiten hat, vor denen uns Mami mal ganz im Vertrauen gewarnt hat und der in spätestens fünf Jahren an Aids krepiert. Weil er natürlich in der Gegend rumvögelt und nie treu ist, weil Homosexuelle das ja nie können.

Gut, so tief habe ich nie in den Vorurteilen gesteckt und so radikal war ich nie. Aber wenn man in der heutigen Zeit Teenager ist, dann bekommt man ja doch einiges mit auf den Weg. Zum Beispiel dass »Schwuchtel« das ultimative Schimpfwort ist und dass man am besten einen großen Bogen um die Leute macht. Sonst ist der eigene Ruf auch dahin.

Mein Image war mir schon immer ziemlich egal, so wirklich cool war ich eh nie. Deshalb könnte ich mich selber in den Arsch treten dafür, dass ich so widerlich zu Leon war. Im Endeffekt habe ich es nicht mal so gemeint, es war wohl einfach die antrainierte Reaktion. Ich bin widerlich.

Zumal mir der Kuss wirklich gefallen hat.

Fand ich es nur schön, weil Leon gut küsst?

Oder fand ich es auch umwerfend, weil es gerade Leon war?

Wenn mir das mal wer verraten könnte, wäre ich schon einen Schritt weiter. Immerhin weiß ich, dass ich ihn mag und dass er mir fehlt, wenn er nicht da ist. Plus das seltsame Gefühl im Bauch... also Schmetterlinge sind das nicht. Die wären ja schrecklich leicht, ich hingegen fühle mich eher, als hätte ich einen Stein im Magen. So in die Richtung Findling.

"So, fertig", verkündet Motte triumphierend. "Wollt ihr euch denn nicht im Spiegel ansehen?"

Pflichtschuldig springen wir auf und rennen so erwartungsvoll wie möglich ins Badezimmer. Oh mein Gott, ich erkenne mich kaum wieder. Ich sehe geheimnisvoll und seltsamerweise auch irgendwie gut aus... wow. Ich will gar nicht zu Leon rüberschielen, da haut es mich bestimmt glatt um. Na gut, einen kleinen Blick riskiere ich doch. Oh mein Gott, ich will ihn auf der Stelle...

Und dann tue ich es.

Ich küsse ihn jegliche Vorwarnung mitten auf den Mund, halte ihn fest und will nicht, dass er diesmal derjenige ist, der mich wegschupst. Ein kleiner, überraschter Laut entschlüpft ihm, aber dann schließt er die Augen und ich bin glücklich.

Ungefähr solange, bis es Klick macht und wir in grelles Blitzlicht getaucht sind.

"Ein wahrer Schnappschuss! Die schmuddelige Klo-Atmosphäre, das schummrige Licht, zwei Männer – das passt einfach perfekt. Dieses Verzweifelte, das kommt einfach total gut rüber. Danke Jungs!", erklärt Motte begeistert.

Ich werde schrecklich rot im Gesicht und bin überhaupt vollkommen perplex.

"Hey, unser Badezimmer ist überhaupt und gar nicht schmuddelig!", motze ich drauflos. "Das ist... sehr stilvoll. Vielleicht ein bisschen chaotisch, aber sehr stilvoll."

Leon hebt eine Augenbraue, sagt aber nichts. Stattdessen legt er mir beschwichtigend einen Arm auf die Schulter und mir wird ganz warm ums Herz.

"Ist doch egal. Motte will nur ihre Wand voll kriegen. Nur möglichst viele Bilder, sonst nichts. Okay?"

Ich nicke schüchtern und zupfe an den Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben.

Vielleicht haben wir ein bisschen stürmisch geknutscht. Aber ich fand es gut so, wie es war und ich bin ein wenig sauer auf Motte, dass sie uns unterbrochen hat. Dass sie nicht gemerkt hat, wie besonders der Moment war und dass sie ihn mit ihrem Bild kaputt gemacht hat. Ich fürchte, ich bin verliebt.

Ein seliges Lächeln schleicht sich unbemerkt auf mein Gesicht. Verliebt.

"Schluss mit dem Rumgeturtel, Mädels. Ich brauch auch noch andere Szenen außer verbotener Liebe. Marsch, Marsch!"

+++Fünfzehn+++

Motte kuschelt sich tiefer in ihre Wolldecke und beobachtet mich beim Anzünden der Kerzen. Meine Finger zittern ein bisschen und ich bin froh, dass mir das Streichholz nicht aus der Hand fällt. Irgendwie gefällt mir ihr Blick nicht, er ist so durchleuchtend. Ich komme mir furchtbar transparent vor.

"Was ist jetzt eigentlich mit dir und Leon?", fragt sie geradeheraus und fischt ein übrig gebliebenes Vanillekipferl aus der Tüte.

"Was soll schon sein?"

"Hm, lass mich mal überlegen: Ihr starrt euch schon seit Tagen an. Ich erwische euch beide knutschend auf dem Küchentisch. Ihr schweigt euch auf einmal an und du hast furchtbar schlechte Laune, es ist kaum auszuhalten. Und dann finde ich euch hemmungslos rummachend im Bad. Was soll also sein?"

"Wir haben ja wohl nicht rumgemacht! Wir waren beide noch komplett bekleidet und so."

"Das ist ja jetzt auch egal. Außerdem lenkst du schon wieder vom Thema ab, Herzchen. Also... alle schmutzigen Details, schließlich habe ich als deine beste Freundin ein Anrecht darauf."

"Da gibt es nicht viel zu sagen", murmle ich. "Aber... hast du denn nichts dagegen?"

"Hä?"

"Tu doch nicht so verständnislos. Gegen uns."

"Wieso? Ihr seht eigentlich ziemlich in einander verschossen aus, was soll ich da schon groß haben."

"Na ja. Wir sind doch aber beide... Jungs."

"Soll vorkommen", sagt Motte schlicht. "Scheinbar stört dich das mehr als mich."

Ich zucke hilflos mit den Schultern. Das weiß ich ja gerade nicht, was ich davon halte. Dass Leon schwul ist, macht mir nichts aus. Dass ich vermutlich schwul bin, ist noch im Bereich des Ertragbaren. Aber dass aus uns etwas werden könnte, ist für mich nahezu unvorstellbar.

Vielleicht habe ich einfach Angst davor, mal richtig glücklich zu sein. Weil irgendwann ja mal der Moment kommen muss, in dem es nicht mehr so ist. Und dann steht man da, vom Glück verwöhnt und doch verlassen und hat keine Ahnung, was man jetzt mit seinem Leben anfangen soll. Ein Scherbenhaufen eben.

"So richtig nicht. Ich kann es mir eben nicht vorstellen", nuschle ich in meinen Ärmel. "Mensch Motte... ich hatte noch nie ne Freundin!"

"Kein Wunder, die Erklärung dafür haben wir ja gefunden, oder?", erwidert sie trocken.

"Ich weiß nicht."

"Du weißt nie, was du willst, Matti. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du mal eine Entscheidung triffst. Und ich will Leon als Kumpel behalten... falls du verstehst, was ich meine."

Ich nicke beklommen. Motte lehnt sich herüber und umarmt mich vorsichtig.

"Ich würde das nicht sagen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass es das absolut Richtige ist", wispert sie in mein Ohr und küsst mich auf die Wange. "Okay?"

"Ja... danke Motte", murmle ich erleichtert und wurstle mich unter die Decke.

Irgendwie werden wir das Kind schon schaukeln. Und wenn es nicht klappt, dann klappt es eben nicht. Davon geht die Welt nicht unter. Trotzdem möchte ich nicht gerne an den Worst Case denken, wenn ich ehrlich bin. Dann doch lieber ein Alpendoktor-würdiges Ende für Leon und mich.

"Keine Ursache. Außerdem hält das ja kein Mensch aus, euch Schnuckel so leiden zu sehen."

Ich schnaufe ein bisschen vor mich hin, bevor ich mich wieder beruhige.

"Also ein Schnuffel bin ich schon mal gar nicht, damit das klar ist."

Motte verdreht die Augen.

+++Sechzehn+++

So, mein Praktikum ist beendet und die Schule langweilig wie eh und je. In Mottes Zimmer hängen unsere tollen Fotos, ich stehe auf Leon und... ich habe es ihm immer noch nicht gesagt.

Dass ich den ersten Schritt machen muss, ist ja Glasklar. Schließlich war ich derjenige, der ihn beschimpft hat, als er mir Avancen gemacht hat. Und ich habe gesagt, dass ich nie, nie schwul sein würde. Dabei war ich es längst, ganz unbemerkt. So kann man sich irren.

Ich will es ihm ja wirklich sagen. Aber immer, wenn ich denke, dass jetzt der richtige Moment ist... dann fangen meine Hände an ganz schrecklich zu zittern und meine Stimme wird ganz kieksig. Dann muss ich mich räuspern, meine Arme irgendwie verknoten und der schöne Moment geht natürlich dabei drauf.

Ich ruiniere einfach alles.

Selbst dass ich auch ganz schön viel Zeit ohne Motte, aber mit Leon verbringe, hilft gar nichts. Ich werde kein Stück gelassener und die kieksigen Momente beginnen sich zu häufen. So langsam könnte man sagen, dass ich eine gewisse Panik kriege. Dass ich mich so sehr reinsteigere, bis der Zug irgendwann abgefahren ist.

Wenn er das nicht schon ist.

Aber was grüble ich eigentlich vor mich hin, wenn die Person, um die sich alles dreht, mir genau gegenüber sitzt? Weil ich dumm und ignorant bin, genau. So werde ich wohl nie einen abbekommen. Schreiend werden sie mir davon laufen, ja.

"Ist alles okay?"

"Äh... ja klar, wieso?", stammle ich schuldbewusst und werde natürlich rot.

"Weiß nicht. Du hast gerade ein bisschen grimmig gewirkt."

"Tschuldigung, ich war wohl in Gedanken", murmle ich und lächle schwach.

Leon nickt zufrieden und schüttet Kakao nach.

"Du wolltest doch auch noch was", fragt er dann stirnrunzelnd. "Oder?"

"Ich als Schoko-Holic natürlich."

Er sieht mich mit einem Augenaufschlag an, der mich beinahe umkippen lässt. Und ich dachte immer, dass das ganze Tamtam um den Schlafzimmerblick eine Erfindung der Dessous-Industrie sei. Jetzt sitze ich da und fange gleich das Sabbern an. Ich glaube, ich habe ein bisschen Angst vor mir.

Leon beugt sich über die Tischplatte, sodass unsere Köpfe nur noch wenige Zentimeter von einander entfernt sind. Ich schlucke geräuschvoll und hoffe, dass mein Herz sich vor lauter Arbeit nicht in tausend Teile zerlegt. Das hatten wir doch alles schon mal. Küsst er mich?

Bitte, bitte, küss mich.

Er räuspert sich leise, streckt seine Hand aus und streicht eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich froh oder enttäuscht sein soll, dass er es nicht getan hat. Ich sehe ihn nur unverwandt an.

"Tut mir Leid... die ist dir in die Augen gefallen", murmelt Leon ein bisschen verlegen. "Ich wollte dich nicht anmachen oder so."

Verdammt, verdammt, verdammt! Der soll sich doch dafür nicht entschuldigen. Ich will, dass er mir den Hof macht. Ich will, dass er mich küsst. Ich will, dass er mich umarmt. Ich könnte schreien.

Stürze hastig meinen Kakao runter und versuche, Leon nicht großartig zu beachten. Was gewissermaßen schwer ist, weil er mich nicht aus den Augen lässt. Wahrscheinlich wartet er drauf, dass ich ihm eine aufs Maul haue und meine homophoben Freunde mit Totschläger sofort verständige. Wenn der wüsste.

"Ach... macht doch nichts", sage ich gespielt lässig. "Meine Haare können schon ziemlich nerven. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, sie abzuschneiden."

Leon sieht mich entgeistert an. Ungefähr so, als hätte ich gedroht, mich auf der Stelle und vor ihm zu erschießen oder so. Dabei geht es doch nur um das dämliche Kraut auf meinem Kopf, das mir jeden Morgen beim Kämmen die Tränen in die Augen treibt. Nichts Wichtiges.

"Mach das bloß nicht, das sieht doch voll gut aus", sagt er aufgebracht. "Super gepflegt, netter Schnitt und zu deiner Gesichtsform passt es doch auch. Lass dich doch nicht zu einem Kurzhaar-Einheitsmann machen."

"Du hast auch kurze Haare", antworte ich störrisch.

"Eben."

Ich verkneife mir den empörten Laut, aber tief in meinem Inneren protestiere ich heftig. Schließlich ist Leon der Traum meiner schlaflosen Nächte und, soweit ich das beurteilen kann, das Idealbild von einem Mann. Er muss doch auch mitbekommen haben, dass er super gut aussieht.

"Leon-"

"Darüber brauchen wir jetzt nicht diskutieren, Matti", sagt er grinsend. "Die Haare bleiben dran und die Sache hat sich."

Ich runzle zwar die Stirn, sage aber nichts mehr. Erstens habe ich indirekt ein Kompliment bekommen und zweitens möchte ich mich nicht mit ihm streiten.

"Kommt Motte noch nach?"

"Nee. Die proben gerade für eine Aufführung... man kann direkt froh sein, wenn man sie mal zu Gesicht bekommt", seufze ich.

Vielleicht ist es mir auch ein bisschen recht, dass sie nicht da ist. In ihrer Abwesenheit könnte ich mich ungestört an meinen Traumprinz heranmachen. Vorausgesetzt ich würde mich denn mal trauen, was so ungefähr in tausend Jahren der Fall sein dürfte.

Ich traue mich ja nicht mal, mit ihm zu flirten.

"Und Julia, wie geht es der?", frage ich, damit das Gespräch nicht zum Erliegen kommt. "Mit Freund, Seitensprung und dem Tamtam, meine ich."

Leons dunkelblaue Augen funkeln unglaublich, als er mich fixiert. Keine Chance, mich abzuwenden – ich bin wie hypnotisiert. Schlimmer als jedes Karnickel.

"Hat sich wieder gefangen. Bei ihr geht das irgendwie schneller als bei mir... die fällt um und steht sofort wieder auf. Wenn es um Herzschmerz geht, meine ich."

Oh Scheiße.

Ich sehe betreten zu Boden. Wenn er seine Annäherungsversuche ernst gemeint hat, dann bin ich der Grund, warum er seelisch gerade am Boden liegt. Und das alles nur, weil ich eine kleine Ewigkeit mit einem Brett vor meinem Kopf in der Weltgeschichte herum spaziert bin, sehr gut gemacht. Was bin ich nur für ein widerlicher, verbohrter Mensch.

"Du Leon... das tut mir Leid. Dass ich dich damals weggestoßen habe, meine ich. Ich wollte nicht-"

Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein nicht zu deutender Ausdruck über sein Gesicht, dann macht er eine wegwerfende Handbewegung.

"Ich weiß, ich weiß. Schnee von gestern", sagt er tonlos.

Ich schlucke schwer.

"Das meine ich nicht. Ich...", wispere ich. "Ich fand es eigentlich ganz schön."

Den letzten Teil sage ich so leise, dass ich es selbst kaum höre. Weil ich schrecklich viel Angst habe, dass er jetzt einfach aufspringt und mich auslacht. Haha, verarscht.

Obwohl ich ihn inzwischen so gut zu kennen glaube. Misstrauisch bleibt man ja doch immer. Weil die Gefahr verletzt zu werden bestimmt direkt proportional mit der Beziehung zu den Menschen ist.

Aber Leon sitzt ganz ruhig da, die Hände ordentlich gefaltet und sieht mich ohne mit der Wimper zu zucken an. Als hätte ich nie was gesagt. Vielleicht hat er es gar nicht gehört und ich kann unbehelligt in meinem Mauseloch, lieber aber im nächstbesten Abgrund verschwinden. Meine Wangen brennen und ich schlage den Blick nieder. Das ist alles so verdammt peinlich und ich bin so... unglaublich verletzlich in diesem Moment. Wenn man mich jetzt berührt, zerbreche ich bestimmt.

"Schön?", fragt Leon nachdenklich. "Wie definierst du schön?"

Ich zucke hilflos mit den Schultern. Der stellt vielleicht Fragen! Als ob man da einfach eine mathematische Gleichung parat hätte oder als ob es für »schön« eine Skala von eins bis zehn gäbe.

"Es hat mir halt gefallen."

"Hmmm."

"Herrgott noch mal! Ich fand es toll dich zu küssen. Ich kann nicht mehr still neben dir sitzen, weil mir total schwindelig wird und ich kann nichts essen, wenn du nicht da bist! Reicht dir das?", bricht es aus mir hervor.

Erschreckt halte ich die Hand vor meinen Mund. So viel wollte ich eigentlich nicht ausplaudern. Jetzt weiß er ja alles, bestimmt wird er mich gleich vor die Tür setzen. Vielleicht sollte ich schon mal meine Jacke holen. Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Die Situation ist ganz und gar nicht behaglich, nein. Der soll endlich mal was sagen, egal was. Das Schweigen erdrückt mich gleich.

"Sag was, bitte sag was", murmle ich nervös und knete meine Hände.

Ich bin ein nervliches Wrack, etwa drei Millisekunden vom ultimativen Zusammenbruch entfernt, und er sitzt da und lächelt. Ein bisschen schief, ein bisschen spöttisch, ja. Aber er lächelt.

"Im Ernst?"

Ich bin kurz davor, zu Hyperventilieren. Da lege ich ihm mein Herz zu Füßen, liefere mich ihm und seiner Willkür vollkommen aus, und ihm fällt nichts Besseres ein. Vielleicht habe ich mir doch denn falschen Kerl ausgesucht, für meine Verfassung ist er im Moment jedenfalls nicht gut.

"Ja", antworte ich zähneknirschend.

Leon sieht mich ein bisschen merkwürdig an. So als wüsste er nicht so recht, was er mit mir anfangen soll. Dabei ist ja wohl klar, was jetzt passieren muss. Zumindest, wenn er mich wirklich, wirklich gern hat. Oder?

Ich seufze tief und stehe geräuschvoll auf.

"Tja, das wars dann wohl."

"Hä?"

Ja ist der denn total kaputt im Kopf? Ich gestehe ihm meine Gefühle, er sagt ewig nichts – da ist es doch wohl klar, dass ich ihm so schnell wie möglich aus den Augen gehen soll. Und so langsam bin ich auch ganz froh drüber. Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, der Junge!

"Halt", ruft Leon plötzlich und versperrt mir den Weg, indem er sich in den Türrahmen lehnt. "Was soll das denn jetzt?"

Das gleiche könnte ich ihn fragen. Ich verschränke trotzig die Arme vor meinem Körper und trommle mit dem Fuß. Meine Geduld ist definitiv am Ende.

"Ich gehe."

"Und warum, wenn ich fragen darf?"

"Weil ich all meinen Mut zusammenkratze, zu dir hingehe, dir sage, was ich für dich empfinde und du... du hockst da und guckst blöd!", schnaufe ich.

Ich will hier weg und wenn er nicht sofort weggeht, dann bin ich gewillt mir den Weg frei zu boxen. Soll er doch sehen, was er dann macht. Wahrscheinlich steht er auch wieder nur sprachlos da.

"Könntest du mich jetzt bitte durchlassen?", frage ich leicht angefressen.

Er schüttelt nur den Kopf und grinst breit. Keinen Millimeter macht der Platz. Jetzt wird es mir natürlich zum Verhängnis, dass ich nicht superdünn bin. Sonst könnte ich mich blitzschnell zwischen seinen Armen durch schlängeln und wäre weitgehend in Sicherheit. Wenn man mal davon ausgeht, dass Leon keine Reflexe hat. Könnte ja sein, hust.

So, es ist jetzt Zeit für meine ultimative Angriffstaktik, die daraus besteht, sich auf den Kerl zu werfen und ein bisschen auf ihn ein zu hämmern. Sehr ausgefeilt, wie man sieht. Für eine genauere Planung war eben nicht die Zeit.

Ich nutze den Überraschungsmoment und stürze mich auf Leon, meine Fäuste trommeln auf ihn ein. Scheinbar habe ich aber einen Schlag wie ein Mädchen, weil er kurzerhand abblockt und meine Arme über meinem Kopf festhält. Autsch. Da ist gehörig was schief gelaufen. Nee, so war das ganz und gar nicht geplant.

Ich funkle ihn wütend an, mache aber keinerlei Anstalten, mich zu befreien. Bestimmt kann der noch viel fieser sein. Wie bin ich da nur reingeraten?

"Na du bist mir so ein Früchtchen", sagt Leon belustigt und fährt sich lässig durch die Haare. "Eine richtige kleine Raubkatze."

"Pfff."

"Guck mich nicht so böse an, das ist nur zu unserer Sicherheit. Stell dir mal vor, ich wäre ganz, ganz blöd auf die Vase da gefallen. Dann hätte ich ein gebrochenes Genick, und du ein gebrochenes Herz."

Oha. Da versucht aber einer mächtig lustig zu sein. Aber ein bisschen was bringt es schon: Ich entspanne mich ein wenig, ein Lächeln kann ich in letzter Sekunde noch aufhalten. Das käme ja schön doof, wenn ich versuche so richtig wütend auf ihn zu sein und meine Mimik mir einen Strich durch die Rechnung macht.

"Jetzt guck nicht so, Matti. Ich weiß doch auch nicht, was ich jetzt am besten tun soll", murmelt Leon verlegen und ich horche auf.

Meint er etwa? Meine Augen werden ganz groß, wo ich mir das so durch den Kopf gehen lasse. Er hat sich auch in mich verguckt, ich war nicht nur ein Zeitvertreib für ihn und... oh mein Gott. Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt sagen soll. Dass ich irgendwas sagen muss, steht ja nicht zur Debatte.

Aber Leon befreit mich sehr schnell aus meiner misslichen Lage, indem er mich schwuppdiwupp näher heranzieht und ganz schrecklich besinnungslos küsst. Hach, so schön sollte das Leben immer sein!

Ich bin schon ganz wuschig im Kopf.

"Mhh... ich glaube, du hast das Richtige getan", säusele ich schwer zufrieden und starte eine neue Knutschattacke.

Nach ungefähr tausend Stunden können wir uns endlich von einander lösen, das heißt eigentlich macht sich Leon eher los. Seine Haare sind ganz zerstrubbelt, seine Lippen leicht gerötet und seine Augen strahlen heller als jede Glühbirne. Irgendwie verdammt sexy. Ungefähr so toll, dass ich mich gleich wieder auf ihn stürzen will, was er aber verhindert.

"Stopp, stopp! So geht das doch nicht", stammelt Leon ein bisschen durch den Wind.

Aha, wie geht das denn bitteschön dann? Da bin ich aber mal gespannt. Der Herr greift jedenfalls erstmal nach meiner Hand.

"Matti... willst du mit mir gehen?", fragt er nervös.

Mein Gott, wie süß ist das denn bitte? Natürlich will ich.

"Jaaaaa!"

ENDE

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