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Super Sweet Sixteen

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Sechzehntens

„Hey du...eh, Raphael. Kann ich das Zeug hier abstellen?“, fragt Lukas irgendwo hinter mir ein wenig schwer atmend, wie es klingt.

Ich wirble herum und sehe – seinen Arsch, hübsch verpackt in eine karierte Boxer, die Hose irgendwo kurz vom Runterrutschen. Heiliger Bimbam, wer hätte gedacht, dass der so viele Muskeln hat? Also dass der trainiert ist, das war mir ja klar. Aber so?

Hmpf.

Reiß dich zusammen, Raphael. Dein Single-Dasein ist seit zwei Monaten vorbei, denk da gefälligst dran. Ist ja nicht so, dass es eine Last für dich ist, oder?

Nee.

Ich bin wirklich gerne mit ihm zusammen und alles an ihm ist toll. Sogar seine SMS, wenn er kurzfristig ein Treffen absagen muss. Was in letzter Zeit irgendwie öfter vorkommt, naja. Er ist eben ein vielbeschäftigter Mann, oder wie sagt man da? Ansonsten passt ja alles.

Übrigens bin ich umgezogen, gestern war es endlich soweit. Oma ist gerade mal zwei Kilometer weg, super Dachterrasse und Blick äh... auf Fabrikgebäude, hihi. Aber das ist doch genau das, auf das junge Leute abfahren: Ein bisschen gammelig und schon gar nicht so, wie die Spießer-Eltern sich das vorstellen. Dazu habe ich noch die passenden Mitbewohner, drei an der Zahl:

Da hätten wir Michelle, die sich nur Mimi nennt, weil es ja viel geheimnisvoller klingt, wie sie sagt. Fragt mich nicht. Sie ist so ziemlich die Amy Winehouse unserer WG, hat man mir gesagt. Von den Tattoos kann sie auf jeden Fall mithalten... und gepierct ist die auch. Ein richtiger Elternschreck, aber irgendwie auch Garant für gewisse Unruhen.

Dann wäre da noch Paul, unser Nerd. Hängt fast die ganze Zeit am PC rum und verdient sein Geld neben dem Studium mit irgendwelchem Web-Zeugs, keine Ahnung. Jedenfalls kann er sich nach eigenen Angaben vor Aufträgen gar nicht retten. Ein Wunder, dass er Zeit für seine großartige, superschöne, supererfolgreiche Freundin hat – die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe. Na ja, ist ja auch egal.

Zuletzt ist da noch Lukas. Der Lukas, der gerade mit seinem Arsch vor meiner Nase herumwedelt. Macht gerade eine Lehre als... hm, Elektroniker und den Rest seiner Zeit verbringt er im Fitnessstudio, so scheint es mir. Stockhetero ist er, das musste er gleich mal loswerden. Gerade dass er nicht hergegangen ist und gesagt hat »Ich stehe auf Frauen. Ach ja, fast hätt´ ich es vergessen... ich bin der Lukas.«, ja. Da hätte ich ihm am liebsten seine hübsche Visage poliert. Erstmal will ich das gar nicht wissen und zweitens gehe ich doch auch nicht mit meiner Orientierung hausieren. So ein Dummdepp.

Deshalb ist es mir jetzt auch scheißegal, ob der jetzt gerade -huh?- provokant die Hüften kreisen lässt oder in China ein Sack Reis umfällt. Wobei der Sack Reis wahrscheinlich sehr interessant wäre, weil die Arbeiter, die ihn da hingestellt haben, bestimmt keinen Mindestlohn bekommen und überhaupt keine Menschenrechte haben. Aber gut, so politisch engagiert bin ich auch wieder nicht.

„Schieb mal ans Fenster, da stört er nicht“, murmle ich und reiße mich von dem Arsch los. „Du, das war’s. Alles ausgeladen, ich brauch dich nicht mehr. Aber danke, ne?“

Lukas bekommt das Hula-Hula-Problem scheinbar auch wieder in den Griff und schafft es doch prompt, ohne einen auf Hüftschäden hinweisenden Gang das Zimmer zu verlassen. Ich bin baff, ohne Scheiß. Als ich die Leute hier kennen gelernt habe, da hat der sich noch ganz normal aufgeführt. Ehrlich. Aber jetzt? Seit gestern führt der sich auf wie eine rollige Katze. Seltsam, dass er sich noch nicht nackt auf meinen Schlafsack drapiert hat, aber wahrscheinlich war ihm das nicht gut genug. Mein Bett habe ich nämlich erst halb aufgebaut... war gestern doch ein bisschen spät. Der Einzug musste ja schon mal gebührend gefeiert werden, wenn auch nur im kleinen Kreis. Und mit ordentlich billigem Rotwein, hust. Ich bin immer noch froh, dass es mir meinen Schädel nicht davongehauen hat.

Bwah, nie wieder.

Dafür bin ich jetzt um eine Erfahrung reicher: Die des Im-Schlafsack-Fickens. Das klingt jetzt schrecklich unromantisch und sehr prollig, aber eigentlich meine ich das gar nicht so. Es war toll, wie immer mit Kim. Aber da muss man ja schon einiges beachten, in so einem Teil. Die Idee, dass er hier übernachtet, war nämlich etwas kurzfristig und deshalb hatte ich auch nur einen Schlafsack da, in den wir uns dann gekuschelt haben. Jaaa, gekuschelt. Wir beide, die immer so unüberlegt und wild und äh... was rede ich für ne Scheiße? Egal. Wir, die es überall wie liebestolle Karnickel treiben, haben Blümchensex. Ist es denn die Möglichkeit?

Und noch eine erschreckende Wahrheit: Ich li-la-liebe es!

Es ist nämlich festzustellen, dass ich ein sehr seltsamer Mensch bin. Vor einem Monat hab ich ständig irgendwas Neues, Aufregendes gesucht. Die Orte konnten mir nicht abstrakt, verboten oder absurd genug sein, ja. Da war ich ja fast der Meinung, dass es ein bisschen langweilig ist, so im Bett.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Ein Liebhaber ausgefallener Plätze bin ich immer noch, das hat sich nicht so mir nichts, dir nichts geändert. Aber irgendwie bin ich in den letzten vier Wochen viel zahmer geworden und kuscheliger und... ich habe gemerkt, dass das auch ganz toll und prickelnd und keinesfalls langweilig sein kann. Vor allem nicht mit Kim. Jaaa, ich bin wohl head over heals. Und stolz drauf, damit das gleich mal klar ist.

Der sollte eigentlich auch gleich da sein. Also Kim. Jedenfalls wollte er nur schnell Essen holen, im WG-Kühlschrank herrscht nämlich Ebbe. Oder eher Gammel, ihh. In der Hinsicht sind wir wohl sehr Klischee. Oder eher meine Mitbewohner, ich habe schließlich noch nichts dazu besteuern können bei den paar Stunden, die ich hier wohne. Jedenfalls stand mir nicht so der Sinn nach bepelztem Käse und Wurst, die schon wieder zu leben anfängt. Dann waren da noch die obligatorischen Dosen-Ravioli, die irgendein Depp in denn Kühlschrank gestellt hat, und sogar die haben es geschafft Botulismus zu bekommen, da habe ich ein Auge für. Der Deckel hat sich auf jeden Fall schon bedrohlich gewölbt. Und das genau um die Mittagszeit, das hätte dem Scheißteil ja auch wann anders einfallen können. Ich weiß, dass ich gerade kindisch bin. Who cares?

Ich schnappe mir das Teppichmesser, das seit gestern mein bester Freund ist, und mache mich daran, die fiesen Klebebandstreifen durchzusäbeln. Oma meinte nämlich, dass es bei so einem Umzug sehr, sehr wichtig ist, alles richtig zu verpackten. Deshalb sind trotz der geringen Distanz alle Kartons komplett in den Mist eingewickelt, als ob sie nach Übersee verschifft werden müssten. Herrlich. Na ja, so ein großes Problem ist es nicht. Nur stressig, weil es ohne so viel schneller gegangen wäre. Gott, ich hör mich an wie ein Kerl aus einem Bareback-Porno!

So langsam drehe ich wohl wieder durch.

Egal, ist ja keiner so ganz richtig im Kopf.

Sekunden nachdem ich mein Werk begonnen habe, verfängt sich der erste widerspenstige Streifen Klebeband in meinen Haaren. Oh Gott, ich glaub ich muss von der Welt! Schon bei einem kurzen, probenden Anzupfen habe ich das Gefühl, dass ich auf dem besten Weg bin mich zu Skalpieren. Es geht mir hier wirklich nicht darum, dass wahrscheinlich und sogar ziemlich sicher ein Teil meiner Haarpracht dabei draufgeht, nein. So tuntig bin ich jetzt auch wieder nicht. Es tut einfach höllisch weh und ziept und – bestimmt kann man das nur noch raus schneiden, ohne dass ich wegen der Schmerzen in ein künstliches Koma versetzt werden muss.

Sind ja nur die Spitzen, da fällt das bestimmt gar nicht so auf. Ich wollte eh mal wieder zum Friseur gehen... wollte ich?

Na ja, spielt ja jetzt wirklich keine Rolle.

Hier geht es darum mein Leben zu retten. Da muss man schon mal zu außergewöhnlichen Mitteln greifen, Punkt, aus, Basta. Nämlich zu der wundervollen Haushaltsschere, die ganz unschuldig auf der Fensterbank liegt. Brauche ich einen Spiegel? Nein, ein Meister kann sein Werk auch so vollbringen. Kann ja nicht so schwer sein, wenn das das erklärte Berufsziel sämtlicher Blondinen ist. Zack, schon ist der Störfaktor weg. Hoffen wir mal, dass mir das heute nicht noch öfter passiert. Sonst darf ich mich nämlich demnächst auf der Straße als Skinhead beschimpfen lassen und... tut mir Leid, das strebe ich dann doch nicht wirklich an. Nicht ganz meine Gesinnung. Jaaa... ich weiß, dass man zwischen Skins und Nazis unterscheiden muss und welche Websites sich mit dem Thema beschäftigen, aber der deutsche Durchschnittsbürger eben nicht. Und im Endeffekt ist es das, was zählt. Ich möchte nämlich nicht von einer aufgescheuchten alten Dame mit dem Regenschirm krankenhausreif geschlagen werden, oh nein.

„Hallo Schatz!“, ruft Kim enthusiastisch und umarmt mich von hinten.

Dabei schlägt er mir, versehentlich, wie ich hoffe, die Jute-Tasche mit dem Einkauf vor den Latz. Dies wiederum hat zur Folge, dass ich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schere fallen lasse, die mit einem lauten Scheppern ungefähr einen tausendstel Millimeter oder so neben meinem großen Zeh aufkommt. Puh, noch mal Glück im Unglück. Oder wie man das sehen mag, sicher bin ich mir da ja nicht. Vorsichtshalber reibe ich mir erstmal meinen Magen. Hunger hab ich irgendwie nicht mehr so wirklich, wer hätte es gedacht?

„Ohhhh... sorry Schatz! Ich wollt echt nur ganz lieb sein, wirklich. Tut’s doll weh? Ich meine... wenn’s schlimmer ist, könnte ich ja blasen oder so?“, fragt er mit Dackelblick.

Ha!

Davon lasse ich mich nicht mehr täuschen, sollte ich das jemals getan haben. Kim hat es faustdick hinter den Ohren. Und eins ist klar: Dieses leicht zweideutige Wort, was ihm da über die Lippen gekommen ist, war nicht so unschuldig gemeint, wie es scheinen soll. Das war pures Kalkül!

Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Erst haut er mir die Tasche rein und dann denkt er gleich wieder an Sex. Na ja, vielleicht waren die ominösen sechs Minuten um, nach denen ein Mann wieder ans Vögeln denkt oder so. Ich tippe ja mal drauf, dass Kim noch ein bisschen öfter mit seinen Gedanken bei dem Thema ist, so oft wie der will... äh ja. Zurück zum Thema, immerhin stehe ich hier vor einer wichtigen Entscheidung.

...die mir gerade dadurch abgenommen wird, dass sich ein gewisser Herr schon mit laszivem Blick an meiner Hose zu schaffen macht, hm. Man will sich ja auch nicht beschweren, oder?

Außerdem gehe ich anschließend viel beschwingter ans Werk uns ein bescheidenes Mahl zu zaubern – bestehend aus Billig-Tütensuppe und Aufback-Brötchen. Ich glaube, den Held schicke ich nicht mehr zum Einkaufen, da sind wir bis zum Monatsende verhungert. Kann mir keiner sagen, dass man mit Luft, Liebe und Tütensuppe überleben kann. Jedenfalls nicht, wenn man vorher mal bei Oma Adelgunde gegessen hat. Immerhin hat der Held schon den Tisch fertig gedeckt, ganz romantisch für zwei.

„Ihr habt doch sicher noch was übrig, oder?“, fragt Lukas, wobei ich mir sehr sicher bin, dass es eine rein rhetorische Frage ist, und lässt sich auf einen kippeligen Stuhl fallen.

Meinen, um genau zu sein.

Gott, ich wohne nicht mal eine Woche hier, prompt möchte ich diesem Wichser die Visage polieren für sein beschissenes Verhalten. Das sind bestimmt die Hormone. Weil wenn man viel Sex hat, dann hat man bestimmt mehr Testosteron. Und Testosteron ist ja bekanntermaßen der Neurotransmitter, der Aggressivität auslöst. Hmpf, ich denke schon wieder Mist.

„Das ist Raphaels Platz“, sagt Kim nüchtern.

Lukas zuckt nur mit den Schultern, während ich immer noch hilflos versuche mich aus der Küchenschürze zu kämpfen. Na bravo. Am zweiten Tag hier kann ich unmöglich was sagen, da schmeißen die mich doch gleich wieder hochkant raus. Also verkneife ich mir den dummen Kommentar, nehme mir einen neuen Teller und Besteck und setze mich auf Mimis Stuhl. Die ist ja eh nicht da. Kim guckt ein bissen angesäuert aus der Wäsche, als er vorsichtig das gar romantische Teelicht auspustet.

Irgendwie hatten wir uns das wohl beide ein bisschen anders vorgestellt.

Aber erstens kommt ja immer alles anders und zweitens als man denkt.

Und dann muss man die Suppe eben auslöffeln... im wahrsten Sinne des Wortes.

„Na, was macht ihr nachher noch so?“, fragt Lukas mit vollem Mund. „Das Bett einweihen? Ward ja ganz schön laut gestern Nacht.“

Kim prustet kurz vor einem Hustenanfall in seine Suppe, klingt richtig ungesund. Allerdings nicht vor Scham oder so, sondern eher vor Lachen.

Weil wir nämlich echt superleise waren und wenn Lukas nicht heute Morgen sehr ungünstig ins Zimmer gelatscht wäre und das Kondom nicht gefunden hätte – tja, dann wüsste er nicht mal, dass wir es gestern miteinander getrieben haben. So sieht’s aus in Deutschland. Aber das ist ja irgendwie egal, bloß nicht provozieren lassen.

„Das ist doch noch gar nicht aufgebaut. Nee, ich denke wir werden eher in deinem Bett proberammeln“, antwortet Kim schlagfertig. „N paar Flecken auf dem Laken stören dich doch nicht, oder?“

Lukas' Gesicht wird schneeweiß, hihi.

Damit hat er wohl nicht gerechnet, dass ihm hier einer Paroli bietet. Wer sollte das auch außer uns?

Paul ist mit seinem PC verheiratet oder verwachsen, was auch immer. Jedenfalls kommt er nicht gerade oft aus seinem Zimmer, weil das ja heißen würde, dass er seinen geliebten Rechner verlassen muss. Und ICQ, nicht zu vergessen den Editor und den Compiler, oder wie der Schnickschnack heißt. Der hat sogar einen USB betriebenen Kaffeekocher, damit er dafür nicht aufstehen muss. Sagt das nicht alles?

Michelle bekommt Lukas auch nicht oft zu Gesicht. Die ist ja ständig auf dem Sprung und kommt immer erst um tausend Uhr nach Hause, schläft dann den ganzen Tag oder so. Reden kann man mit der nicht wirklich und wenn man sie provozieren will, dann muss man aber schon größeres Geschütz auffahren. Dann sollte man aber wiederum Angst haben, dass sie sich einfach eine Tattoo-Nadel nimmt und einem bis zum Anschlag in den Unterarm rammt. Weiß ja nicht, ob er das so toll finden würde.

„Und du, was hast du heute so vor, während wir uns in deinem Bett vergnügen?“, fragt Kim zuckersüß.

„Mein Zimmer abschließen und trainieren gehen“, faucht Lukas mit funkelnden Augen. „Damit ich euch dann besser von Wolke sieben schubsen kann.“

Moment mal, das geht jetzt aber wirklich zu weit. Ich sehe es nicht ein, dass die jetzt einen handfesten Streit vom Zaun brechen und das auch noch beim Essen. Wenigstens da sollte Harmonie herrschen, wenn auch sonst alles eher in einem Kleinkrieg ausartet.

„Reißt euch mal n bisschen am Riemen“, murmle ich und kratze den Teller leer. „Wo liegt eigentlich das Problem? Lukas geht trainieren und Kim und ich bauen mein Bett auf. Passt doch alles. Will ja keiner, dass sich Vollblut-Heten mit dem Homo-Virus infizieren und bestimmt läuft das auch über äh... Matratzen oder so.“

„Ihr könnt mich doch alle mal“, brummt Lukas angenervt und schiebt den Teller weit von sich weg. „Ich war von Anfang an nicht dafür, dass hier n Schwuler wohnt. Aber es hört ja niemand auf mich.“

Und dann ist er weg.

Auch gut, dann haben wir ein bisschen Zeit für uns. Ich stehe auf und räume die Teller in die Mini-Geschirrspülmaschine, wobei ich mir Kims Blicke sehr bewusst bin. Bin halt ein toller Hecht, hihi. Hm, seine Hände sind schon wieder an meinen Hüften, ganz zu schweigen davon, wie er sich gerade an meinen Po drückt. Dabei haben wir doch erst... also irgendwie ist es mir ja fast zu viel. So oft kann man doch gar nicht wollen! Und das sage ich als hormongesteuerter Teenager, will also was heißen.

Aber zieren möchte ich mich auch nicht.

Welchen Grund habe ich denn bitte?

»Nein Schatz, jetzt nicht – ich habe Migräne«?

Geht ja wohl kaum. Kann man selbst als Frau nicht wirklich bringen, weil es einfach nicht stimmt. Im Gegenteil. Rammeln hilft gegen Kopfschmerzen aller Art. Und was sagt der Mensch von Welt dann?

„Mhhh... später Schatz. Lass uns erstmal das Bett aufbauen, ok?“, ringe ich mir so verführerisch wie möglich ab, quasi als Versprechen auf mehr. „Dann ist es eh gemütlicher. Ich will nicht wieder blaue Flecken an ungünstigen Stellen.“

Statt nachzugeben, macht er sich an meinem Nacken zu schaffen – einer meiner so genannten Hot Spots. Heute hat er es wohl besonders nötig, warum auch immer. Ich bin drauf und dran nachzugeben, als -

„Wenn du´s unbedingt weich magst, können wir doch wirklich Lukas' Bett nehmen, das merkt der eh nicht.“

Oh mein Gott, das meint er doch bitte, bitte nicht ernst.

„Willst du mich verarschen?“, frage ich betont ruhig.

Kim kichert und schüttelt den Kopf, während er provozierend seine Hüfte gegen meinen Arsch bewegt. Ähem. Das geht ja wohl gerade mal gar nicht. Trockenficken, wie Machomäßig ist das denn bitte? Kaum zum Aushalten.

„Wir, in Lukas' Bett?“, hake ich noch mal nach.

Eigentlich sollte er spätestens jetzt gemerkt haben, dass ich die Idee zumindest nicht wirklich berauschend finde. Dass es mich verstört, braucht er ja nicht gerade wissen.

„Ganz genau. Oder willst du lieber in Mimis Bett? Die ist ja auch nicht da. Aber vielleicht sind da irgendwo Spritzen im Laken oder so. Das wollte ich dir doch ersparen, dass so´n Teil in deinen süßen Arsch piekst.“

Er zwickt mich probeweise in eben genanntem Körperteil und ich bin kurz davor die Nerven zu verlieren. Und zwar nicht, weil ich gerade schrecklich geil bin, sondern weil mein Freund gerade scheinbar einen großen Teil seines Hirns eingebüßt hat und spontan schwachsinnig geworden ist.

Wie kommt man auf die Idee in einem Bett zu vögeln, dass einem Mitbewohner gehört, hm?

Wahrscheinlich macht das manche besonders rattig, man kann ja erwischt werden und ach wie toll. Außerdem tut man ja etwas Verbotenes, was für ein Kick. Mir gibt es jedenfalls nichts außer einer gewaltigen Panik. Ausgelöst aus genau den Gründen, die andere anmachen. Hmpf. Macht mich das zu einem unnormalen Menschen?

Ich glaube nicht.

„Lass das“, brumme ich leicht angepisst und schiebe seine Hände weg.

„Was hast´n jetzt auf ein Mal?“, fragt Kim laut. „Eben noch spitz wie Nachbars Lumpi und jetzt verklemmt wie ne alte Jungfer!“

Gott, das hat bestimmt Paul noch gehört, so wie der geschrieen hat. Wunderbar. Jetzt weiß der auch noch über unser Sexleben Bescheid, wer tut das eigentlich nicht? Vielleicht sollte ich in den Straßen Plakate mit den nötigen Infos aufhängen. Groß gedruckt, versteht sich, damit es auch die Senioren lesen können.

Oder ich kleb mir ein Schild mit meiner Schwanzlänge in Zentimeterangabe auf die Stirn. Das wäre doch mal ein echter Hingucker und informativ noch dazu. Klingt das nicht toll?

Ich könnte kotzen.

„Wie eine Jungfer, soso. Wenn du das so siehst, dann kannst du ja gleich mal gehen. Wo du es doch nicht mit Unerfahrenen treibst... die würden bestimmt auf deine Spielchen stehen und alles brav mitmachen. Ich ziehe es jedenfalls nicht vor, es in fremden Betten zu treiben. Du als mein Freund solltest das eigentlich raushören können“, kreische ich anklagend, wobei meine Stimme auf einmal viel zu hoch klingt, fast schrill.

„Ich kann dir aber nicht in den Kopf gucken, Raphael! Wenn dir was nicht passt, dann musst du es schon sagen und nicht dastehen, als hätteste deine Zunge verschluckt, aber mit nem Gesicht wie ne Zitrone. Und außerdem... was zum Teufel hast du mit deinen Haaren gemacht?“

Hä, wie kommt er jetzt darauf?

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen, oha. Die Sache mit dem Paketklebeband und der Schere. Ich hab seitdem nicht in den Spiegel geguckt...ob das alles so gut gelaufen ist?

Ist ja gerade auch egal, Haare wachsen nach. Jetzt muss ich mich erstmal um meine angestaute Wut kümmern, alles andere kommt später. So leicht lass ich mich nämlich nicht ablenken, nee.

„Das geht dich ja wohl mal gar nichts an, was ich mit meinen Haaren mache. Die wachsen immer noch auf meinem Kopf. Genauso wie meine Zunge – äh, die wächst natürlich nicht. Ich habe sie jedenfalls nicht verschluckt und ich kann sehr wohl meinen Mund aufmachen und dir die Meinung sagen, siehst du ja!“

Kim hat allen Ernstes die Nerven breit zu Grinsen.

„Also ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn du deinen Mund jetzt zu etwas anderem öffnen und den ganzen Knatsch hier vergessen würdest, wenn du schon nicht mit mir ins Bett steigst.“

Das ist ja wohl die Höhe! Also jetzt hat er endgültig bei mir verschissen. Sachen der Art kann man nur gutmachen, wenn man den, dem man solche Sprüche um die Ohren geknallt hat, mindestens eine Woche lang in Frieden lässt. Um dann mit etwas total romantischem anzukommen, vor ihm im Staube zu kriechen und um Vergebung zu betteln.

„Raus“, schnaufe ich wütend.

„Hä?“

„Du... du hast schon verstanden. Ich setze dich an die frische Luft. Vielleicht hilft dir das ja, deine Gehirnwindungen wieder in Betrieb zu nehmen. So eine Scheiße lass ich mir jedenfalls nicht an den Kopf werfen!“

Kim runzelt nur die Stirn und tritt gehen die Türleiste. Dann verlässt er polternd die Wohnung. Ich glaube, das war’s. Verdammt, verdammt, verdammt.

Immer muss alles kaputtgehen.

Siebzehntens

Ich kann immer noch nicht fassen, was Kim mir da gesagt hat. Dachte immer, er hätte wenigstens einen Funken Einfühlungsvermögen. Aber scheinbar hat der sich zu Beginn unserer Beziehung verkrümelt. Und zurückgeblieben ist ein verblödeter Typ, der nichts als Ficken im Kopf hat, traumhaft.

An mir und meiner Einstellung kann das ja wohl nicht liegen, ich bin ja nicht prüde oder so. Eigentlich bin ich sogar schwer liberal und was wir alles gemacht haben... puh.

Ist jetzt scheinbar auch nicht mehr wichtig. Der Arsch hat sich nämlich seit dem denkwürdigen Tag nicht mehr blicken lassen und angerufen hat er auch nicht. Also ist er abgehakt, muss ich mal ganz cool feststellen. Um mich dann wieder in meinem neuen Zimmer zu vergraben und mir die Augen aus dem Kopf zu heulen.

Ich bin schon eine ziemliche Memme. Und das, wo ich doch immer dachte, dass ich voll tough bin und mit allen Lebenslagen super gelassen umgehen kann. Von wegen, ha.

Ich vermisse den Scheißkerl auch noch.

Das Leben ist unfair, wirklich. Mein Umfeld schert sich direkt einen feuchten Kehricht darum, das zwischen Kim und mir offenbar Schluss ist. Also von Mimi hätte ich es ja nicht wirklich erwartet, die kriegt eh gar nichts vom normalen Alltag mit. Paul ist mal kurz aus seinem Zimmer gekommen und hat ein bisschen betreten geguckt, aber das war es dann auch schon. Für ihn wahrscheinlich das höchste der Gefühle. Und Lukas? Der macht weiter mit seinem komischen Gehabe. Weiß nicht, ob der sich einen Ruf als Obertucke erwerben will, oder so. Hat aber schwer den Anschein. Jetzt trinkt er sogar seinen Kaffee mit abgespreiztem kleinem Finger. Wohl doch nicht so hetero, wie er immer tut. Ist mir egal, mein Typ wäre er auf keinen Fall.

Schon gar nicht in diesem labilen Zustand.

Wobei man sich mit einem neuen Aufriss bestimmt ganz toll trösten kann. Möchte ich aber nicht, bevor ich nicht weiß, dass unsere Beziehung sicher zu Ende ist. Sonst bin ich ja quasi fremdgegangen oder wie man das dann nennt. Ich schätze, Kim und ich müssen noch mal reden. Und wenn es nur ist, um offiziell und endgültig Schluss zu machen.

Scheiße, jetzt bin ich schon wieder am Flennen.

Ich hänge eben an ihm, irgendwie. Vielleicht war es ja auch schrecklich voreilig von mir, ihn einfach so vor die Tür zu setzen, ich weiß es nicht. Welchen Grund hatte ich denn bitte, hm?

Gut, er wollte in den Betten meiner Mitbewohner vögeln. Was ich wiederum nicht wollte, ist ja wohl zu verstehen. Er wollte überhaupt viel. Und oft. Zu oft.

Wenn er da war, konnte man davon ausgehen, dass wir es gerade treiben. Oder ein bisschen kuscheln, um fit für die nächste Runde zu sein. Muss man schon sagen, er war ein ziemliches Karnickel. Es ist besser so. Soll er sich doch wen suchen, der ständig und immer kann. Eigentlich kann ich ja auch immer und ständig. Das ist eine Sache des Wollens, basta.

Ich friemle energisch an meiner Zigarettenschachtel herum. Ist mal wieder höchste Zeit für eine Kippe, ganz klar. Mit schlurfigen Schritten mache ich mich auf den Weg zur Dachterrasse – nein, ich möchte mich nicht hinunter stürzen. Die Höhe ist zwar verlockend, aber so durchgeknallt und fertig bin ich dann ja doch nicht. Außerdem habe ich mich schon ein bisschen bei Daniel ausgeheult. Was mir nicht so viel bringt, weil der ja immer noch auf Wolke 7 schwebt, mit seiner Denise.

Seit Kim weg ist, rauche ich schlimmer als jeder Fabrikschlot. Bestimmt sieht man mir das bald an, meine Zähne sind sicher schon gelber geworden. Egal, ich brauche das jetzt. Gerade jetzt. Meine Finger fischen in meiner Hosentasche nach dem Handy, ich suche nach seiner Nummer. Man muss die Sache zum Ende bringen. Wie auch immer es ausgehen mag.

Ich lasse es geduldig klingeln. Zweimal, viermal... weggedrückt. Plötzlich ist besetzt. Der Arsch hat mich einfach so aus der Leitung gedrückt. Und zwar mit Absicht, schließlich hat er meine Nummer. Ich könnte ihn umbringen.

Ich inhaliere noch mehr Rauch. Mir doch egal, ob ich krepiere.

Bin mir sicher, dass ich damit vielen Leuten einen Gefallen tue.

Als ich den Kippenstummel frustriert über die Brüstung auf den Gehsteig werfe, klingelt mein Handy. Zwei Minuten nachdem ich angerufen habe bei ihm. Wer das wohl ist, haha.

„Raphael Heller?“, melde ich mich so ruhig wie möglich und zwinge mich zum durchatmen.

„Kim hier. Ich hab n Anruf in Abwesenheit von dir“, sagt er lässig. „Kann das sein?“

Pah, in Abwesenheit. Das ist doch Verschleiern von Tatsachen, sonst nichts. Ich schließe die Augen und zähle im Kopf bis drei.

„Das ist ziemlich gut möglich. Ich... Kim, ich wollte fragen, wie das jetzt mit uns ist.“

Scheiße, jetzt hat meine Stimme doch gezittert. Ganz deutlich und bestimmt für alle Welt erkennbar. Und vermutlich hat man auch rausgehört, dass ich geheult habe wie ein Blöder. Ich bin so unfähig.

Am anderen Ende der Leitung herrscht eisiges Schweigen.

Ich spiele nervös mit meiner Kippenschachtel herum, sie fällt mir aus der Hand. Sehe zu, wie sich der Inhalt auf dem Boden verteilt und fröhlich durch die Gegend rollt. Scheiß drauf. Mir wächst das Geld ja aus dem Arsch. Korrigiere: Meinen Eltern. Aber auf die darf ich in nächster Zeit wohl nicht zählen. Ein Wunder, dass sie mein Konto nicht leer geräumt haben.

Kim räuspert sich, nach der Stille klingt es schrecklich. Ich zucke ein bisschen zusammen.

„Mit uns, soso. Raphael, ich würde sagen, es gibt nicht mehr so viel uns“, sagt er leise. „Tut mir Leid.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um die Tränen wenigstens bis zum Ende des Gesprächs aufzuhalten. Mann, seit wann bin ich so verweichlicht? Ein leises Wimmern entschlüpft meinem Mund, ich haue mit der Faust gegen die Brüstung. Peinlich bin ich, einfach nur peinlich.

„Wenn du nicht so ein Tamtam gemacht hättest... ach, vergiss es.“

Ich würge ihn ab, indem ich einfach auf den roten Hörer drücke. Jetzt bin ich also noch Schuld. Super, vielleicht reicht er mir durchs Handy noch einen Strick, hm? So als dezenter Wink mit dem Zaunpfahl. Das muss ich mir nicht antun, das, was der da redet.

Oh verdammt.

Ich bin ein Wrack, da haben wir´s.

Achtzehntens

Okay, es ist jetzt zwei Wochen her, seit Kim und ich Schluss gemacht haben. Besser gesagt, als er das in die Hand genommen hat. So langsam wird es Zeit, sich ganz vorsichtig nach etwas Neuem umzusehen. Nichts Dauerhaftes oder so, bloß nicht. Aber ich gerate schon wieder in eine Art notgeilen Zustand, was wirklich nicht das Beste ist. Also hab ich mal ganz vorsichtig bei meinen Mitbewohnern angefragt, ob nicht irgendwas machbar wäre, was weggehen angeht. Zusammen.

Mimi war natürlich hellauf begeistert und wollte uns alle in wasweißich für eine Drogenhölle schleppen, wo man bestimmt schon vom Einatmen der Dämpfe abhängig wird. Paul wollte gar nicht raus und Lukas war der Meinung, es wäre an der Zeit mal wieder ein paar Schnecken aufzureißen. Perfekt.

Irgendwie haben wir es alle geschafft, unsere Vorstellungen unter einen Hut zu bekommen und jetzt sitzen wir in einem der angesagtesten Clubs der Gegend – mit Shisha-Café. Mimi rollt nur mit den Augen und murmelt etwas von Kinderkram. Aber als die Bedienung mit dem Doppelapfel-Tabak ankommt, lächelt sie selig und ihre Augen fangen an zu glänzen. Gut, kann auch sein, dass sie sich vorher etwas eingeworfen hat. Geht mich nichts an.

Ich lasse meinen Blick langsam über die Menge schweifen. Der Dancefloor scheidet schon mal aus für potentielle Lover. Zu solchen Verrenkungen bringt einen überzeugten Metaller nichts und niemand, schon gar kein Fick für eine läppische Nacht. Ich bin so egoistisch, ich weiß.

Hey, ich bin gerade verlassen worden. Ich darf das. Okay?

In der Shisha-Lounge lässt sich schon eher was finden, denke ich. Da, der ist sicher schwul. Welcher Kerl färbt sich sonst die Haare blond-rosa und... oh Gott, ist das Mascara? Eine Klischeetucke. Bestimmt alles andere als gut fürs Image. Was ich brauche, ist ein richtiger Mann. Gott, klinge ich lächerlich. Und schon beinahe wie normal, also nicht schwul – ach, egal.

Vielleicht ist mein GayDar oder wie die das immer nennen einfach zu schlecht ausgebildet. Oder eher zurückgebildet, vor Kim ging das immer noch ganz annehmbar. Gut, da war ich auch öfter in Szene-Lokalitäten unterwegs.

„Hi. Was möchtet ihr trinken?“, fragt die extra Lounge-Bedienung, ein durchtrainierter Sunnyboy mit raspelkurzen Haaren.

Hm, nicht mal so übel.

Mimi scheint das auch zu finden, denn sie leckt sich kokett über die Lippen.

„Ein Sex on the Beach“, haucht sie und ich habe ein schrecklich schlimmes Deja-vu.

Nadja beim Geburtstag von Prinzessin Diana. Wo der ganze Scheiß zwischen Kim und mir angefangen hat. Da hat sie den gleichen Mist bestellt, um ihn anzugraben. Scheint zu meinem neuen meistgehassten Drink zu avancieren. Und nebenbei ist es ein verdammt schlechtes Omen, von dem Kellner lass ich lieber die Finger.

Nicht, dass ich sie mir wieder verbrenne.

„Einen Wodka-O für mich“, sage ich tonlos und schicke ein sehr angestrengtes Lächeln hinterher. „Bitte.“

Oh Gott, bei dieser Grabesstimme checkt doch jeder, was mit mir los ist. Und dann noch die Mimik, die gibt doch jedem paarungswilligen Kerl, der mich anschaut, den Rest. Abstoßend, ja wohl.

Lukas bestellt irgendetwas schrecklich männliches, Asbach-Cola oder so. Allein bei dem Gedanken an das Gesöff rollt es mir schon die Fußnägel hoch, ihh. Von meinem Magen ganz zu schweigen, der fühlt sich gerade wie nach drei Runden Karussell im Vollrausch an. Vielleicht sollte ich das Klo aufsuchen, rein prophylaktisch versteht sich. Aber das gehört sich nicht. Also dass man sich aufs stille Örtchen zurückzieht, bevor die Bestellung gekommen ist.

Folglich sitze ich da wie ein Schluck Wasser in der Kurve und versuche mich zusammenzureißen. Mimi labert etwas von ihrem neuen Stecher, anders kann man es nicht nennen. Jedenfalls höre ich raus, dass es eine super Zweckgemeinschaft ist: Er darf mal ran und sie kriegt dafür ihre Drogen. Uärks. Leute gibt es, die gibt es gar nicht. Meinem Bauch geht es deshalb nicht zwangsläufig besser.

Ich ziehe an der Shisha und hoffe nur, dass ich von dem Rauch nicht auch noch Kopfschmerzen kriege. Bis zum Lungenkrebs will ich gar nicht mehr denken, Bollern im Schädel würde mir im Moment schon vollkommen den Rest geben. Bei mir muss man eben keine schweren Geschütze auffahren.

„Und, was für dich dabei, Raphi?“, fragt Lukas breit grinsend und lehnt sich so weit über den kippeligen Mini-Tisch, dass es sehr verwunderlich ist, dass sein T-Shirt noch nicht ankokelt. „Bist du eigentlich eher aktiv oder passiv?“

Schluck.

Gott, wie kommt der dazu, mir eine solche Frage um die Ohren zu ballern? Noch dazu in aller Öffentlichkeit. So offenherzig bin ich dann doch nicht, außerdem geht das wirklich niemandem außer mir was an.

„Wieso?“, frage ich brüsk.

Mimi giggelt irgendwo zwischen viel blauem Rauch, bevor sie von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wird. Ob die die Fünfundzwanzig noch erlebt?

Lukas grinst lässig und schnippst einen Fitzel Alufolie von der Shisha durch die Gegend. Ich kann vor meinem inneren Auge sehen, wie die Mädels um uns rum zu geifern anfangen. So was kommt immer gut an. Und er weiß es.

„Och. Nur so interessehalber. Damit ich weiß, ob ich auf dem Bauch schlafen kann oder nicht.“

So ein Arschloch!

Aber das ist ja mal wieder typisch für die supercoolen Typen. Vor den Weibern den Starken markieren und einen raushängen lassen – aber dann Angst haben, wenn ein Schwuler auch nur in ihre Nähe kommt. Pah, das nenne ich Weichei!

Außerdem ist es ja nun wirklich nicht so, dass wir sofort jeden bespringen, ob der das will oder nicht. Ganz fieses Klischee, auf jeden Fall. Aber ein hartnäckiges. Ich hab ja zum Beispiel auch Ewigkeiten bei Daniel geschlafen und das ganz ohne sexuelle Handlungen, wenn ich das mal so sagen darf. Egal, Lukas interessiert das eh nicht. Der glaubt doch nur das, was er glauben will. Wie so viele.

„Ich denke schon, dass du das kannst. Jedenfalls weiß ich nichts von irgendeinem Handicap, das dir das verbietet. Aber eigentlich solltest du das selber am besten wissen“, zische ich in seine Richtung.

Lukas guckt ein bisschen angesäuert und ich sehe haargenau, dass er schon wieder zum Gegenschlag ausholt – aber zum Glück kommen gerade unsere Getränke. Vor der Bedienung will er natürlich nichts sagen. Leere meinen Wodka-O zügig, um nicht zu sagen in einem Schluck. Schätze, dass das hier ein einziges Saufgelage für mich wird. Hier findet man ja doch nichts für eine Nacht. Absturz also vorprogrammiert. Ich darf das, ich bin immerhin frisch getrennt.

Mimi schnüffelt kurz an ihrem Sex on the Beach, bevor sie beschließt, sich mit mir zusammen abzuschießen. Nicht, dass das bei ihr was Neues wäre. Sie kehrt so ziemlich immer zu nachtschlafender Zeit heim – mit einer Fahne, die man ewig weit riecht und einem Gang, der jeden Seemann neidisch macht. Trotzdem konnte ich sie bis jetzt nie live dabei beobachten.

Lukas beobachtet uns nur kopfschüttelnd, bevor er sich ganz und gar der Shisha widmet. Und natürlich den Frauen, aber das war sowieso selbstverständlich. Wie könnte er, der vor Testosteron nur so strotzende Mann, es nur eine Nacht lang ohne eine Bettwärmerin aushalten?

Ganz klar ein Unding.

„Und, haste dir schon eine ausgeguckt?“, frage ich langsam.

Lukas lässt kurz vom Schlauch ab und schüttelt nachdenklich den Kopf. Lässt seinen Blick noch mal fachmännisch über die Mädels wandern. Nippt an seinem ekligen Gesöff, ich bin nebensächlich.

„Nee. Oder siehst du hier ne hübsche, die keine sechzehn mehr ist? Wir sind einfach viel zu früh da, aber das habe ich schon von Anfang an gesagt, hört ja keiner auf mich. Vor zwölf braucht man hier gar nicht erst aufkreuzen, nur junges Gemüse da. Mit denen kann man nicht mal reden.“

Wow, er hat sich zu einem Kommentar herabgelassen!

Gut, das begeistert mich auch nicht mehr wirklich. Wäre ich nicht kürzlich achtzehn geworden, dürfte ich mich nämlich auch nur bis um zwölf in dem Schuppen aufhalten, was mir im Augenblick auch ganz recht wäre. Somit bin ich auch nur junges Gemüse, jaja.

„Kann man mit mir ja auch nicht“, sage ich und sehe zu, wie Mimi Richtung Klo verschwindet.

Lukas bedenkt mich mit einem ratlosen Blick, der peilt ja auch wieder gar nichts. Oder sind meine Gedankengänge so abstrus? Wahrscheinlich hat er sich nicht mal einen Kopf gemacht, bevor er das gesagt hat. Wie immer halt.

„Reden.“

„Wie meinst du das?“, fragt er und zwinkert ganz nebenbei einer Blondine zu, die sich scheinbar seiner Kriterien als würdig erwiesen hat. „Das versteh ich jetzt mal so gar nicht.“

„Schon gut“, murmle ich in meinen unsichtbaren Bart. „Schon gut.“

Und dann kippe ich meinen nächsten Wodka-O. Nicht, dass dadurch alles besser werden würde. Nicht besser, aber wattiger. Die Mischung ist gut. Und ich merke, wie ich mich immer weiter entspanne, dass ich lockerer werde, als ich es in den letzten Wochen überhaupt war. Wenn das nicht toll ist.

Lukas schüttelt nur den Kopf, bevor er sich ganz dem superduper Flirt mit der Blondine widmet. Sehr schön, wie er sich um seine Begleitung kümmert. Und wo ist bitteschön die Bedienung, wenn man sie braucht?

Ah, da haben wir ihn ja. Irgendwie kommt er mir fast ein bisschen attraktiver vor als vorhin. Muss am Alkohol liegen, na ja. Ob ich es bei ihm versuche? Mehr als schief laufen kann es ja gar nicht. Außerdem hab ich inzwischen total die Erfahrung was Quickies auf dem Klo angeht. Glaub ich, hoff ich.

Also plänkle ich ein wenig herum, flirten möchte ich es jetzt mal nicht nennen. Lukas rollt genervt mit den Augen, pfeift sich seinen Asbach-Cola rein und trommelt mit den Fingern auf dem Tischchen herum. Das kommt bei der Blondine bestimmt nicht so gut an. Habe erfahren, dass der sympathische Herr Tim heißt, aha. Mimi kehrt zurück und zwar mit Pupillen so groß wie Stecknadelköpfen. Na, was war es denn heute?

Ich will es gar nicht wissen. Ist mir auch scheißegal, ja wohl.

Mich interessiert nur der süße, süße Tim. Und natürlich, was man so mit ihm anstellen könnte. Mimi lacht schrill über irgendwas, was ich nicht mitbekommen habe oder was sich nur gerade in ihrem Kopf abspielt, ich weiß es nicht. Lukas schnaubt irgendwo im Hintergrund.

„Sorry, ich muss jetzt leider wieder arbeiten. Die drehen total ab, wenn mal ein Sekündchen keiner bedient. Aber Moment...“, und dann kritzelt Tim mir seine Handynummer auf einen Bierdeckel, grinst dazu. „Kannst dich ja mal melden.“

Jetzt bin ich derjenige, der zwinkert. Lukas macht jedenfalls gute Miene zum bösen Spiel, die Blondine ist er durch meine Baggerei nämlich zackig losgeworden. Hat wohl den Eindruck vermittelt, dass er auch schwul ist. Tja, so kann es einem gehen. Ist doch mal eine gerechte Strafe für einen homophoben Kerl wie ihn.

„Hab ich was verpasst?“, fragt Mimi und hat dabei nur Augen für die Kohle, die langsam aber Sicher zu Asche zerfällt. „Während ich weg war, meine ich.“

„Nee“, kommt es von uns Männern unisono und ein bisschen zu patzig.

Neunzehntens

Ich wache davon auf, dass ein Schlüssel im Schloss knackt. Das hört man bei uns durch die ganze Wohnung, schrecklich. Versuche vorsichtig meine Augen zu öffnen. Igitt! Das bloße Blinzeln ist schon die Hölle auf Erden und das Sonnenlicht brennt sich bestimmt ganz fies und hinterhältig in meine Netzhaut. Mein Hals ist ganz trocken und von dem Geschmack in meinem Mund will ich gar nicht erst anfangen.

Wer könnte jetzt nach Hause kommen?

Sind wir gestern denn nicht alle zusammen zurückgegangen? Oh Fuck, ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern. Überhaupt kann ich gerade sehr wenig. Scheiße.

Nach ewigem Blinzeln konnte ich feststellen, dass... Tja, dass neben mir ein ziemlich unbekleideter Kerl liegt. Um genau zu sein ein sehr nackiger Lukas, der sich genüsslich umdreht.

„Morgen, Raphael! Ich hab Frühstück für dich geholt“, schallt es über den Flur und schwuppsdiwupps wird die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen.

Oma Adelgunde, Mist.

Und ihre Augen werden immer größer, als sie so dasteht mit ihrer randvollen Tasche. Wandern von mir zu dem Nackedei und wieder zurück. Ich friemle schuldbewusst an der Decke herum und ziehe sie so weit wie möglich über mich drüber, als könnte ich damit noch etwas verbessern. Mein Blick ist mehr als schuldbewusst und mein Kopfschmerz unbeschreiblich.

„Ich... ich warte in der Küche“, sagt Oma Adelgunde langsam.

Oh mein Gott. Bitte lass mich noch schlafen und dies einfach nur meinen schlimmsten Albtraum ever sein. So etwas Grausames darf es doch selbst in der Realität gar nicht geben. Und von allen Personen dieser Erde muss ausgerechnet Oma hier reinplatzen.

Nicht, dass ich sie nicht da haben möchte.

Seit dem Umzug haben wir uns faktisch nicht mehr gesehen. Ich hab ihr ihren Schlüssel überreicht und dann... hatte ich auf ein Mal keine Zeit mehr für sie, ich unemotionales Arschloch vom Dienst. Da war der ganze Terz mit Kim und irgendwie habe ich sie ein kleines bisschen vergessen. Ich bin so unsensibel!

Und wie kommt Lukas überhaupt in mein Bett, verflixt!

Ich fahre mir durchs schlaftrunkene Gesicht und stöhne frustriert auf. Die Kacke ist mal wieder ordentlich am Dampfen. Raphael Heller konnte sich im Suff mal wieder nicht beherrschen und hat seinen Stock-Hetero Mitbewohner verführt, na super.

Wieso nehme ich mir nicht gleich einen Strick?

Ich wollte zwar jemanden aufreißen, aber ganz sicher nicht... so einen. Lukas hat zwar Anspielungen gemacht und irgendwie klang es für mich schon so, als hätte er Lust, ein paar schwule Erfahrungen zu machen. Aber als er das ganz beiläufig mal erwähnte, hab ich nicht wirklich an mich gedacht. Eigentlich hab ich eher gemeint, ich lass ihn mal reden. Das war dem doch nicht ernst!

Und jetzt liegt er neben mir und schnarcht leise vor sich hin, bravo.

Wo auch immer sich eine Katastrophe anbahnte, ich finde sie und stolpere hinein. Aber jetzt stolpere ich erstmal in ein paar Boxershorts, schließlich möchte ich meiner Oma angemessen gekleidet unter die Augen treten. Obwohl das die Stimmung wohl auch nicht mehr heben kann, tja. Hab ich noch irgendwo ein T-Shirt? Ach ja, Jeans wären auch nicht so schlecht. Fahre mir noch mal schnell durchs Haar, damit es nicht ganz so zerknautscht aussieht, wie der Rest meiner Erscheinung und schlurfe dann langsam in die Küche. Zu meiner Hinrichtung oder so.

Aber nein, Oma steht seelenruhig da und arrangiert den Inhalt unseres Kühlschranks zusammen mit ihrem Einkauf stilvoll auf dem Tisch. Teller stehen schon und das Besteck liegt in Reih und Glied, ich brauche mich um nichts mehr kümmern. Und Oma kümmert es scheinbar auch nicht, dass sie mich gerade mit irgendeinem dahergelaufenen Kerl im Bett erwischt hat. Wenn auch nicht in Aktion.

„Oma, ich-“, fange ich schuldbewusst an, aber sie bringt mich mit einer wirschen Handbewegung zum Schweigen und bedeutet mir mich zu setzen.

Ich tue brav wie mir geheißen und warte darauf, dass sie mir gleich den Kopf abhackt und zwar mit einem unserer stumpfen Brotmesser.

„Erzähl“, sagt sie schlicht und bestreicht ihr Brot mit einer dicken Schicht Honig. „Das da eben war ja wohl nicht Kim, oder hat er sich operieren lassen?“

Ich schaue betreten auf meinen Teller und spüre, wie mein Gesicht zu glühen beginnt. Langsam schüttle ich den Kopf.

„Nee, war er nicht“, sage ich leise und schaffe es nicht meine Finger ruhig zu halten.

„Dann hast du ihn betrogen“, sagt Oma und es klingt nicht nach einer Frage, sondern nach einer Aussage.

„Ja, nein. Ich weiß auch nicht“, murmle ich und halte mir den Kopf. „Oma, wir sind nicht mehr zusammen. Also Kim und ich. Er... er hat Schluss gemacht.“

Ich schniefe schon wieder vor mich hin und wische mir fahrig die ersten Tränen aus dem Gesicht.

„Wegen etwas ganz Sinnlosem. Und ich hab ihn nicht aufgehalten, ich hab ihn nicht aufgehalten.“

„Und statt ihn zurückzuerobern, hast du dir diesen kleinen Vorstadt-Casanova zugelegt. Wo hast du den überhaupt aufgegabelt? Und wozu, meinst du, der kann dich trösten?“, fragt Oma forsch.

„Nee, kann er nicht. Weil er nämlich eigentlich nur mein Mitbewohner mit übergroßem Ego ist, der sich beweisen musste, dass er wirklich jeden haben kann. Weiß der Himmel, wie wir gestern Abend im Bett gelandet sind. Gott, ich war so schrecklich betrunken...“

Oma nickt verständnisvoll und wendet sich gelassen ihrem Brot zu. Sie ist scheinbar wieder die Ruhe selbst, warum auch immer. Irgendwas muss mir entgangen sein. Mir geht es jedenfalls nur ein kleines bisschen besser und das liegt daran, dass ich endlich mal wieder mit ihr geredet und ihr alles erzählt habe.

„Na dann überlegen wir uns doch mal einen Schlachtplan, wie du Kim zurückerobern kannst“, sagt Oma zufrieden und macht es sich auf ihrem Stuhl so gemütlich, wie es eben geht.

Oh mein Gott. Was hat sie sich denn da schon wieder in den Kopf gesetzt? Also es ist ja nicht so, dass ich Kim nicht wiederhaben will. Eigentlich vermisse ich ihn ganz furchtbar kräftig und tänzle irgendwo am Rande der Depression entlang. Aber für mich war das Ende einer Beziehung auch immer endgültig, egal, wie sehr ich noch an dem Typ gehangen habe. Diesmal ist es sowieso alles ganz anders und noch viel schmerzhafter als sonst. Dabei waren wir gar nicht lange zusammen, da dürfte einem das Vergessen doch gar nicht schwer fallen, sollte man meinen. Pustekuchen.

Ich puste mir eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht und fahre damit fort, meine Oma entgeistert anzustarren. Die Frau hat es in sich, Halleluja.

„Na los, ein bisschen Initiative muss auch von dir kommen“, meint sie locker und macht sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. „Soll ja nicht alles auf meinem Mist wachsen. Ich will den guten Kim zwar auch wieder zurück, aber das Hauptaugenmerk sollte ja wohl auf dir liegen. Kaffee?“

Ich schüttle schnell den Kopf, was ich nur allzu bald bereue, nämlich sofort. Scheiß Kater. Wenn ich nicht so viel gesoffen hätte, wäre mir das alles nicht passiert. Dann wäre das mit Kim aber auch nicht passiert. Oh Mann, was denke ich da für einen Scheiß zusammen?

„Ich will ihn wieder“, murmle ich abwesend.

„Ich denke, so weit waren wir schon“, sagt Oma ungeduldig und trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte. „Es geht jetzt eher darum, wie wir dieses hoch gesteckte Ziel erreichen.“

Ich lächle verlegen und stürze ein Glas Wasser hinunter. Scheint, als hätte der Kater mich noch dümmer gemacht, als ich vorher schon war. Dürften nicht mehr viele Hirnzellen übrig sein da oben.

„Das schaff ich eh nie.“

Oh ja, das denke ich wirklich. Ich hab es verkackt, auf immer und ewig. Das sieht ja wohl ein Blinder mit Krückstock. Da ist nicht mal eine klitzekleine Chance, dass ich mein Sahneschnittchen wiederbekomme. Zum Glück hat er das Wort der Wörter nicht gehört, puh. Er hasst es, wenn ich ihn so nenne. Aber das wird Kim nie wieder hören. Nicht, wenn ich mich wieder wie der letzte Trottel anstelle.

Oma lässt sich nicht einschüchtern.

„Papperlapapp. Wo geht er denn immer so hin? Ist in der nächsten Zeit irgendein Event, auf dem man als junger Hüpfer deines Alters unbedingt sein muss? Streng deinen Kopf ein bisschen an, Raphael! Du warst immerhin mit ihm zusammen, ja.“

Oh Gott, so viel Zermartern am frühen Morgen hält mein Hirn doch unmöglich aus, das sollte sie eigentlich wissen. Aber hey... es geht um die Wiedereroberung von Kim. Vielleicht sollte ich meine Birne doch mal anstrengen. Ziemlich sicher sogar. Mal überlegen...

„Laras Party, auf Laras Party.“

Zwanzigstens

So, da bin ich nun. Auf Laras Party, wo es jetzt schon nur so vor besoffenen Leuten wimmelt. Ehrlich. Da macht man die Tür auf und schon sieht man Typen, die sich an der Wand oder sogar am Fußboden festhalten müssen und das um neun. Da fragt man sich schon, was die so zum Vorglühen nehmen.

Das hab ich heute weggelassen, ja. Ich will nämlich einen klaren Kopf haben, wenn ich Kim gegenüberstehe und ihn auf Knien anflehe, mich zurück zu nehmen. Aufgebrezelt habe ich mich auch ganz toll, schließlich will ich einen guten Eindruck machen und... oh Gott. Ich bin einfach nur super nervös.

Lara umarmt mich so stürmisch, dass ich kaum Luft bekomme. Ja, das Mädel haut einen wirklich um. Ich tätschle hilflos ihren Rücken, bis sie mich wieder loslässt.

„Ähm...hi“, stammle ich ein bisschen baff und halte ihr eine Flasche Sekt hin. „Hier, für dich.“

Lara kichert ein bisschen, bevor sie sich artig bedankt und wirft ihre lange Mähne zurück. Ein paar der besoffenen Idioten fangen auf der Stelle das Sabbern an und würden sie noch einen hochkriegen – dann wären sie wohl dabei die Gute zu bespringen und ich müsste den Held spielen und sie retten.

„Toll, dass du gekommen bist. Und hey – du scheinst noch total nüchtern zu sein, das ist verdammt selten!“

Ich lächle matt und deute auf die Betrunkenen.

„Die sind schon so gekommen, nehm ich an?“

Sie nickt geknickt, beißt sich auf die Unterlippe und spielt an ihrer Kette. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass sie hier jemanden verführen will. Gut, dass ich so unwissend bin.

„Ja“, meint sie und seufzt theatralisch. „Macht ja heute quasi jeder. Und ich weiß nicht mal, wie ich sie jemals wieder aus der Wohnung bekomme. So wie die aussehen, können die doch gar nicht mehr gehen!“

Ich zucke mit den Schultern.

Was soll man schon dazu sagen?

Lara ist meine Antwort zum Glück egal, sie hakt sich spontan bei mir unter und führt mich direkt in den Mega-Trubel. Hab ich Halluzinationen, oder tanzt da eine spärlich bekleidete Frau auf dem Tisch? Oh mein Gott, wo bin ich da wieder hineingeraten.

Aber Recht hatte ich: Alles, was laufen kann, ist da.

Ein bunt gemischtes Partyfolk mit Zielgruppe zwischen 14 und 23 oder so ist gerade dabei, Laras Behausung in Schutt und Asche zu legen. Ich hasse solche Veranstaltungen, ihh. Am nächsten Tag bekommt man dann gleich noch die Rechnung fürs Inventar, na danke. Es gäbe einiges, worüber ich mich direkt mehr freuen könnte. Einen als Geschenk verpackten Kim zum Beispiel. In meinem Bett, das in letzter Zeit ziemlich vereinsamt ist. Wenn man mal von dem... Intermezzo mit Lukas absieht, aber daran kann ich mich sowieso nicht erinnern.

Hey, vielleicht hat er mich im Suff einfach entkleidet und sich nackig daneben gepackt und kein Schwein hat es gemerkt! Der wollte bloß cool tun und sagen, dass er sogar ne Schwuchtel rumkriegt und – egal. Ich schätze, es ist eine unumstößliche Tatsache, dass Lukas und ich gevögelt haben. Tja. Muss ich Kim das eigentlich auch beichten?

Das entscheide ich wohl lieber, wenn es akut ist.

Wenn es das überhaupt wird. Bis jetzt hab ich nämlich keinen Fitzel von meinem Angebeteten gesehen. Und um neun... na ja, die meisten sind da schon da. Mal abgesehen von den Diven, die ihren ganz spezialen Auftritt, das Bad in den Blicken der Menge brauchen. Eigentlich hab ich gedacht, dass er da nicht dazu gehört. Das würde dann aber heißen... das hieße, dass er nicht kommt. Und dann bin ich ziemlich im Arsch, schätze ich mal vorsichtig.

„Möchtest du?“, fragt Lara und hält mir mit einem strahlenden Lächeln einen quietschbunten Cocktail vor die Nase.

„Äh... nee. So wie der aussieht, mussten dafür drei Flaschen Schnaps für sterben und ich bin sehr für Artenschutz, tut mir Leid.“

Ich hoffe, das war jetzt nett genug. Mir ist gerade nicht wirklich nach Saufen. Dazu werde ich erst übergehen, wenn wirklich gar keine Hoffnung mehr besteht, dass Kim vorbeischaut. Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Lara reißt die Augen auf, als hätte ich ihr gerade verkündet, dass die Welt in weniger als sechzig Sekunden untergehen wird, und macht einen Schmollmund. Aha, was soll mir das jetzt sagen?

„Seit wann trinkst du denn keinen Alkohol mehr?“

„Oh... du, der letzte Absturz war einfach ein bisschen heftig. Ich will ne kleine Pause machen, man muss ja nicht immer dicht sein und so“, erkläre ich vage.

„Ach schade und ich dachte schon, ich könnte dich ein bisschen abfüllen...“

Oh mein Gott! Meint die damit – nein, das will ich mir gar nicht vorstellen, aus basta. Sonst muss ich noch meinen Mageninhalt preisgeben und ich glaube, dass ich irgendwann mal gehört habe, es ist nicht höflich den Gastgeber anzu- na ja, was auch immer.

Ich ringe mich zu einem bedauernden Lächeln durch und atme erleichtert auf, als sie endlich abschiebt. Zeit, sich eine Cola zu gönnen. Aber nicht light, Süßstoff ist schließlich auch ein Schweinemastmittel. Und ehrlich gesagt, sind das nicht so die Idealmaße, die mir vorschweben. Kim will mich dann bestimmt auch nicht mehr. Dann lieber Zucker, der mir die nötige Energie für meinen aktiven Lebensstil liefert, hihi.

Ich lasse mich auf ein ziemlich durchgesessenes Sofa fallen, wobei ich ein klitzekleines bisschen Cola über meine Hose kippe. So eine Scheiße. Solche Sachen passieren immer nur mir und zwar immer an den wichtigsten Tagen meines Lebens. Dabei habe ich mich extra ordentlich aufgebitcht und schicke Klamotten genommen: Eine supergut sitzende Cordhose, in der mein Arsch laut Mimi zum Anbeißen aussieht, schwarze Chucks, ein T-Shirt im topmodernen Knallgrün und ein schön theatralischer schwarzer Schal. Und ich muss mir was überschütten. Jetzt sehe ich doch aus wie der letzte Depp!

Ich bin so ein verdammter Trottel.

Schätze, ich muss jetzt aufs Klo und das retten, was zu retten ist.

Es sind zwar nur winzige Flecken, und überhaupt sind sie nur auf der Hose, aber was macht denn das für einen Eindruck? Jedenfalls keinen guten, da bin ich mir schon mal sicher. Man könnte ja meinen, ich wäre inkontinent. Ihh, wer will dann noch mit mir befreundet sein?

Also leere ich meine Cola betont cool in einem Zug und mache mich auf die beschwerliche Suche nach dem Klo. Das könnte ein bisschen länger dauern, weil ich vorher noch nie bei Lara zu Hause war. Ich schätze mal, dass ich da richtig sein werde, wo eine lange Schlage ist. Hat sich bis jetzt als sicherster Indikator für Toiletten bewiesen.

Oh mein Gott.

Das kann doch unmöglich sein, dass so viele Leute sich gleichzeitig entleeren müssen, nee. Oder sie haben sich auch so selten dämlich angestellt wie ich, aber das ist doch eher ungewöhnlich. Eventuell will auch wer eine schnelle Nummer auf dem Klo schieben, aber ich würde es mal nicht empfehlen. Zu unbequem, zu versifft und außerdem gibt es ja genügend andere Zimmer hier, Punkt aus. Also beeilt euch mal da vorne!

Ich könnte natürlich auch in die Küche und versuchen, diese Schmach zu beseitigen... aber das wäre wohl arg unhöflich Lara gegenüber, befürchte ich. Außerdem wuselt die bestimmt gerade da rum und kommt mal eben auf den Gedanken, dass mich so weit vom Partytrubel schon niemand hören wird. Also eine ganz schlechte Idee. Aber die Flecken müssen weg, eindeutig.

Ich tripple nervös von einem Fuß auf den anderen, in der Meute der Blasenschwachen fällt das gar nicht wirklich auf. Ungemein praktisch für einen Zappelphillip wie mich. Just in dem Moment geht die Haustür auf, ich hab einen wirklich guten Blick auf sie ergattert, muss man sagen, und... oh Gott. Da steht auf ein Mal Kim, in aller Pracht und wie immer super aussehend. Mit einem Strahlen im Gesicht, dass es mich bald von den Socken haut, ungelogen. Sofort muss ich ein dämliches Grinsen aufsetzen und vergesse für einen Moment sogar, dass ich zusammen mit einem Haufen Dummdeppen am Klo anstehe. Verdammt, das macht nicht gerade einen guten Eindruck. Und das, wo ich ihn doch zurückerobern will.

Ich werfe mich also schlagartig in die Pose, von der ich denke, dass ich am besten wie nur eben möglich aussehe und versuche mich an einem charmanten Lächeln, das den kältesten Eisberg in Hundertstelsekunden zu einer Aggregatszustandsänderung bringen würde. Hoffentlich bringt das auch bei Kim was.

Aber was ist das?

Hinter ihm taucht ein gertenschlankes, hochgewachsenes Mädel mit wallender Mähne der Klasse »Fernsehwebung« auf, das sich doch sehr hartnäckig an seinen Arm klammert und mir seltsam und schmerzlich bekannt vorkommt. Etwas oder vielmehr jemand zupft an meinem Arm, und ich drehe mich widerwillig um. Vor mir steht eine strahlende Lara, die sich ganz offensichtlich ordentlich Mut angetrunken hat. Ich ahne Böses... scheiße, wieso habe ich Kim aus den Augen gelassen? Da ist man einen Moment unaufmerksam und schwupps – oh, sie hat mich geküsst. Mehr fällt mir dazu gerade nicht ein, bin etwas perplex.

„Du Lara... lass uns das bitte später klären, ich muss etwas wirklich Wichtiges besprechen“, nuschle ich verlegen und reibe mir den Nacken. „Okay?“

Dann zwänge ich mich aus der Schlange der Wartenden heraus und suche nach Kim, um ihn wenige Schritte von mir entfernt zu sehen. Shit, jetzt, wo ich die Worte brauche, fehlen sie mir.

Seine Begleiter-Klette dreht sich um und mir wird sofort ganz schrecklich klar, woher ich sie kenne. Dass ich sie gut kenne, verdammt und viel zu gut.

„Diana?“, frage ich entgeistert und bin nahe dran auf der Stelle meine Zunge zu verschlucken, vor allem bei ihrem hämischen Grinsen.

Wie konnte der Arsch mir das antun? Mit meiner eigenen Schwester, da werde ich überhaupt nicht drüber fertig! Ich fühle mich verraten und verkauft, ganz nebenbei auch noch tierisch verarscht. Von ihm, von meiner Schwester, vom Leben. Wieso kann ich nicht einfach auf der Stelle sterben?

Weil ich wütend bin, schrecklich wütend. So wütend, dass ich ihn gerne schlagen, ihm wehtun möchte. So weh, wie er mir gerade getan hat. Auch, wenn die Art des Schmerzes eine andere ist. Oh Gott, ich hasse ihn!

Ich könnte heulen, schreien, mich auf den Boden werfen, gegen eine Wand rennen und das alles gleichzeitig. Aber nicht mal das würde das alles einfacher machen, nichts kann das einfacher machen. Außer vielleicht die Zeit. Aber dass sie alle Wunden heilt, ist der größte Scheiß, den ich je gehört habe. Narben bleiben ja wohl immer und nie ist alles gut.

Statt mich zu verletzen, packe ich Kim am Kragen seines Hoodies und ziehe ihn in den erstbesten Raum, der sich nicht Toilette schimpft. Ist ja irgendwie auch egal, wo wir sind. Jetzt zählt sowieso nur eins. Ich werfe die Tür hinter uns zu, drücke ihn mit dem Kopf gegen die Wand. Seine tiefblauen Augen funkeln mich böse an, ich kann sehen, wie er die Zähne zusammenbeißt.

„Hast. Du. Meine. Schwester. Gefickt?“, frage ich gefährlich ruhig, den wütenden Unterton kann ich trotzdem nicht aus meiner Stimme verbannen.

Kim starrt nur weiter unverwandt in mein Gesicht, sein Mundwinkel zuckt leicht.

„Hast du meine verdammte Schwester gevögelt oder nicht?“

Ich benetze meine Lippen ein wenig, warte gespannt auf die Antwort. Und hasse mich insgeheim dafür. Dass es mir so wichtig ist, dass er mir so wichtig ist. Die Stille ist zu laut in meinen Ohren, er soll endlich was sagen.

„Nein verdammt, hab ich nicht“, knurrt er schließlich, als ich längst nicht mehr mit einer Erwiderung rechne, die Hoffnung auf mein Seelenheil längst aufgegeben habe.

Ich schlucke nervös. Lockere meinen Griff, meine zitternden Hände vor Überraschung ein wenig. Und er nutzt meinen Moment der Unsicherheit, wirbelt mich herum und schlagartig bin ich derjenige in der misslichen Lage. Eingekeilt zwischen Wand und Kim. Die eine so kalt, der andere so warm. Oh fuck. Da hat er mich so verletzt und schafft es immer noch, dass ich mich angeturnt fühle. Bin ich jetzt unter die Masochisten gegangen oder was?

Ich schließe kurze die Augen atme tief durch.

„Weil ich sie nur aufgegabelt habe, um dir wehzutun. Obwohl ich das zwischen uns beendet habe, obwohl ich so grausam zu dir war. Scheiße“, keucht er außer Atem und drückt sich gegen mich, küsst mich.

Und ich kann nicht behaupten, dass ich mich wehre – ganz im Gegenteil. Vielmehr seufze ich zufrieden vor mich hin und vertraue darauf, dass alles wieder so wird wie früher. Nur besser. Und mit weniger Sex, weil – uhmpf.

Kim hat gerade einen Weg gefunden, mich meiner Hose zu entledigen und eigentlich will ich ihn zurückhalten... Scheiß drauf. Das ist einfach zu gut, um es mir durch meine Prinzipien zu versauen. Auch, wenn es ganz neue sind.

„Oh Gott... Kim“, stöhne ich leise und vergrabe meine Hand in seinen Haaren.

Die Tür fliegt auf und ich blinzle verwundert. Hatte gar nicht bemerkt, dass mir die Augen zugefallen sind. Kim fährt erschrocken hoch und legt beschützend einen Arm um mich. Hab zwar keinen blassen Schimmer, wovor er mich verteidigen will, aber die Geste ist total süß. Egal, ob meine Hose gerade in den Kniekehlen hängt oder nicht.

„Raphael, bist du hier – oh du lieber Himmel“, stammelt Lara und stützt sich verstört am Türrahmen ab, um etwas halt zu finden.

Scheint sie aus den Latschen gehauen zu haben. Diana steht hinter ihr und lugt an ihr vorbei, die Miene sagt alles. Nichts ist mehr von ihrem triumphierenden Blick am Anfang da, sie wirkt verbittert und geschlagen. Geschieht ihr Recht.

„Aber Kim“, jappst sie theatralisch und hält sich die Stirn.

Mein, jetzt-hoffentlich-wieder-Freund grinst lässig und zuckt mit den Schultern.

„Sorry Diana, aber ich stehe eher auf Märchenprinzen, als auf Flittchen.“

ENDE

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