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Wie Glas
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Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1
- Kapitel 2
- Kapitel 3
- Kapitel 4
- Kapitel 5
- Kapitel 6
- Kapitel 7
- Kapitel 8
- Kapitel 9
- Kapitel 10
- Kapitel 11
- Kapitel 12
Kapitel 1
Draußen ist es stockdunkel, die Laterne vor unserem Haus ist kaputt. Warme Luft strömt durchs Fenster in mein Zimmer, nicht einmal nachts kühlt es mehr ab. Die Musik von nebenan bringt mit dem Monster-Bass sogar das Wasserglas auf meinem Tisch zum Wackeln.
Ich schäle mich aus der dünnen Decke und tapse zur Tür. Mein wunderbarer, älterer Bruder, der nebenbei auch noch tausendmal besser aussieht als ich, veranstaltet eine Party. Ohne mich zu fragen, natürlich.
Schließlich ist er derjenige, dem jeder alles durchgehen lässt:
Große, grüne Augen, laut Personalausweis einen Meter fünfundachtzig groß, Charme bis zum Umfallen. Und dunkle, lange Haare, die sich locken, sobald die Luftfeuchtigkeit nur einen Tick zu hoch wird. Den meisten Leuten fällt es gar nicht auf, wenn er sie austrickst.
Im Vergleich dazu:
Ich, ein 16-jähriger Milchreisbubi, dem seine kinnlangen, schwarzen Haare immer ins Gesicht fallen, der immer von seinem Bruder als Freak bezeichnet wird, weil er Musik hört, die die Allgemeinheit umbringt. Der hellblaue Augen und glatte, schwarze Haare hat, was ja an sich nicht zusammenpasst. Dem niemand etwas glaubt, weil er die Leute nicht einwickelt oder besonders vorsichtig behandelt.
Blöd.
Die Fliesen auf dem Flur sind kalt, bis zum Zimmer von Gabriel sind es nur ein paar Schritte. Eine blonde Schönheit kommt mir entgegen, offenbar auf dem Weg zur Toilette, und wirft mir einen ihrer Schlafzimmerblicke zu. Nee, kein Bedarf.
Die Tür ist offen, ich habe freie Sicht auf eine tanzende Meute, die dem Alkohol heute schon ziemlich oft zugesprochen hat.
Mein Bruder steht auf seinem Bett, den Plastikbecher fest umklammert und grölt den Text des Liedes mit. Irgendetwas, was gerade in den Charts und somit für mich absolut nicht hörenswert ist. Ich zupfe an dem Ärmel seines Pullovers.
„Gabriel! Hey, Ackermanns machen sich selbst Musik! Ich will schlafen, verdammt noch mal“, ich muss schreien, ist einfach zu laut hier drinnen.
Er sieht nach unten, man merkt, dass er schon angetrunken ist. Verächtlich. Als ob ich nichts auf die Reihe bringen würde!
„Kurzer, versau mir bloß nicht die Party, klar? Ich sag ja auch nichts zu deinen Happenings“, äußert er sich ebenfalls lautstark.
Meine Wut steigt auf geschätzte 230, äußerste Schmerzgrenze. Da sind die Eltern einmal nicht da und dann sowas! A la »Vertreib meine Kumpels nicht mit deiner Visage, ich schlag die Freaks dafür auch nicht«. Eklig.
„Happening sagst du? Einzig weil ich nur zwei Freunde brauche, um mich zu amüsieren, pah!“, ich bin sauer.
Der kann doch nicht einfach meine DVD-Abende mit diesen Gelagen vergleichen! Irgendein Blondchen wagt es, mir auf die Schulter zu tippen. Sauber.
„He, du“, ihre Stimme ist mehr ein Giggeln als alles andere.
Ätzend.
„Ey! Gehst du immer in Boxershorts zu Parties? Kann man dich buchen? Hast du nächste Woche Zeit?“
Scheiße. Ich bin natürlich ohne meinen Bademantel zu Gabriel gegangen, peinlich. Mein Gesicht fängt an zu glühen, teils vor Scham, teils vor Wut. Genau das, was mir noch gefehlt hat.
Scheinbar sind auch andere darauf aufmerksam geworden, weil ich plötzlich in einem Kreis lachender Gäste stehe. Ich geh kaputt.
„Was glotzt ihr so dämlich?“, meine ohnehin kratzige Stimme zittert.
Und jeder kann es hören. Flucht. Ich verlasse das Zimmer in meiner angemessenen Höchstgeschwindigkeit. Böse Blicke, warum könnt ihr nicht töten? Warum sind meine Eltern nicht da? Warum rufe ich nicht einfach die Polizei?
Tja. Auf die erste Frage hat wohl nur der Herr ganz oben eine Antwort, das Nächste ist schon einfacher: Meine Erzeuger machen sich ein schönes Leben. Das heißt, dass sie auf Kurzurlaub in Italien sind und erst nächste Woche zurückkehren werden. Warum ich die grün-weiße Minna nicht rufe? Stress. Gabriel hat gewissermaßen ein paar Sachen gegen mich in der Hand.
Jetzt sitze ich also auf meinem Bett, das Telefon bereits in der Hand. Ob Alex' Eltern sauer werden, wenn ich sie um halb drei morgens anrufe? Bestimmt. Dann werde ich mich unter meiner Decke verkriechen und hoffen, dass alles nur ein Traum war.
Daraus wird allerdings nichts, weil die Tür in diesem Augenblick mit einem leisen Quietschen aufgeht. Aha, welcher von diesen überaus netten Gästen will mich denn auf die Schippe nehmen? Vielleicht Miss Busenwunder alias Gabriels Freundin? Ich bin gespannt.
Nee, was offenbart sich mir denn da im schwachen Schein meiner Lampe? Auf jeden Fall jemand mit schulterlangen, honigfarbenen Haaren, die ich sofort wuscheln will. Schlimm, wie schnell sich meine Laune ändern kann.
„Hey! Ist alles okay? Ich mein... weil du so schnell abgehauen bist“, fragt der Kerl leise.
Ich kenne den nicht, aber irgendwie ist er sympathisch. Und zutraulich wie ein Hund. Jedenfalls hat er sich weiter in die Untiefen meines Zimmers gewagt, was eine beachtliche Leistung ist.
„Ich liebe es, auf diese Art in den Mittelpunkt gerückt zu werden!“, antworte ich ironisch.
Ist eben mein Part. Oh, ich glaube, ich hab ihn in mein kleines Herz geschlossen, bevor ich auch nur seinen Namen kenne: Er trägt einen Ringelpulli!
„Ich wollte nicht-“
„Setz dich“, unterbreche ich ihn unwirsch und deute auf das Bett.
Huch, was rede ich eigentlich für unüberlegte Sachen? Ich bin schon so weit, dass ich wildfremden Leuten Sitzgelegenheiten anbiete, Hilfe. Aber er sieht ja ganz nett aus.
„Ich bin Zapp. Und du musst Ebbe sein! Dein Bruder hat in der Schule so viel von dir erzählt, das kannst du dir nicht vorstellen!“, berichtet er in kürzester Zeit.
Wow, erraten. Meine Eltern hatten nach dem ersten Kind, dem sie den Namen Gabriel Leonard Darwin aufzwangen, definitiv keine Ideen mehr. Wie sollte man sonst auf etwas so Sinnloses wie Ebbe Magnus kommen? Ganz sicher nicht, wenn man normalen Menschenverstand besaß.
Ich hebe eine Augenbraue. Aha, der hat also mal mit meinem Bruder die Bank gedrückt. Oder geschwänzt, wie auch immer. Sieht aber gar nicht so aus, als würde er mit Gabriel rumhängen.
Er wirft einen Blick auf meine CDs. Die habe ich alle fein säuberlich mit Reißnägeln befestigt, weil sie sonst zuviel Platz wegnehmen.
„Du hörst Placebo? Oh, Kettcar!“, Zapp hüpft auf meinem Bett herum.
Energiebündel mit Kurs auf – Nein! - mich? Kaum eine halbe Sekunde nach dieser Erkenntnis trifft mich etwas in der Magengrube und wirft mich nach hinten.
Aua.
Etwas sehr Weiches, Warmes liegt auf mir. Ich öffne die Augen und sehe jede Menge honigfarbene Haare, die wohl fächerartig über meinem Gesicht liegen. Meine Ohren registrieren ein Geräusch, ich strenge mich an und versuche es einzuordnen.
Huch, das ist ja ein Schnurren!
Seit wann haben wir eine Katze?
Nee, das ist Zapp! Irgendwie nett, oder? Ich glaube, ich weiß nicht mehr, was ich tue. Meine Hand fährt durch den wuscheligen Schopf. Man, seine Haare sind echt schön weich! Ebbe reiß dich zusammen, bestimmt hat Gabriel den nur engagiert!
Warum musste der mich auch erwischen, hm?
Zapp richtet sich langsam auf.
„Sorry! Tut dir irgendetwas weh?“, fragt er und seine braunen Augen zeigen mir, dass er es ernst meint.
Ich schüttle den Kopf, weil ich den Verdacht habe, dass ich kein einziges Wort rauskriege.
„Na dann! Ich hoffe, du hast nichts dagegen“, murmelt Zapp und legt sich wieder auf meinen Bauch.
Bruder hin oder her, den Augenblick will ich genießen!
Kapitel 2
Die Sonne scheint viel zu hell, ich muss zwangsläufig aufstehen. Wenn ich das Rollo jetzt nicht runtermache, habe ich später mit 40 Grad zu kämpfen. Aber irgendwie kann ich mich nicht bewegen, seltsam.
Ich drehe meinen Kopf vorsichtig zur Seite – und was sehen meine müden Augen? Zapp! Fast habe ich geglaubt, dass es nur ein Traum war. Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf mein blasses Gesicht, als meine Hand sich schon wieder in seinen Haaren vergräbt. Scheinbar sind wir eingeschlafen, obwohl die Musik so schrecklich laut war. Der kleine Kettcar-Fan liegt jedenfalls immer noch in meinem Bettchen und murmelt gerade sinnloses Zeug.
Ich verrenke mich ein wenig mehr und taste mich bis zum Seil des Rollos. Schwupps, schon habe ich das größte Problem, das der Sommer für mich mit sich bringt, behoben. Dafür ist Zapp jetzt aber wach, dumm gelaufen. Er setzt sich langsam auf.
„Wo bin ich?“, seine Stimme ist nur ein Flüstern, süß.
„Bei Gabriel, genau gesagt im Bett seines kleinen Bruders“, antworte ich ebenso leise.
Ich knipse meine Nachttischlampe an und schlage die Decke zurück. Seine Augen sehen mich unschuldig an. Ha, der Blick täuscht!
Sekunden später schmiegt er sich wieder an mich und schnurrt. Okay, ich werde ab jetzt an die Wiedergeburt glauben, er hat mich überzeugt!
„Kannst du nochmal mein Kinn kraulen? War so angenehm“, nuschelt Zapp an meinem Hals.
Um alle Vermutungen aus der Welt zu schaffen: Nein, da ist nichts gelaufen. Ich habe die perfekte Reinkarnation der Katze geflauscht und das so lange, bis ich eingeschlafen bin. Mehr war da echt nicht. Ich komme seiner Bitte nach. Mm, seine Haut ist aber auch weich!
Das Schnurren wird lauter, ich fühle mich meiner Künste bestätigt. Habe ich zuviel Selbstvertrauen? Eher nicht. Ein kleiner, böser Gedanke schleicht sich in mein externes Gehirn: Was, wenn mein Bruder jetzt reinkommt? Dann gibt es auf jeden Fall viel Ärger für mich.
„Du, Zapp?“, frage ich und fahre durch sein total zerzaustes Haar.
„Mm?“
„Wie wäre es mit Frühstück?“
„Habt ihr denn Milch da?“, fragt er an meinem Hals.
Ich kichere, weil er mich dadurch kitzelt.
„Klar!“
„Dann findet mein Magen, dass es Zeit für Essen ist!“
Ich kaue auf meinem Toast herum, die Butter ist verlaufen und inzwischen eingezogen. Stört mich nicht, ehrlich gesagt bin ich viel zu sehr in Gedanken. Zapp hat sich schon das dritte Glas Kakao angerührt und löffelt eben dieses Gebräu in einer mir unbekannten Ruhe.
Und schon tritt das ein, was ich befürchtet hatte:
Gabriel und seine Tussi – äh, ich meine natürlich Natalie- betreten unsere Küche und machen die Stimmung kaputt. Diese Frau ist nicht nur, sondern sie denkt auch blond. Ihr hysterisches Lachen jagt mir Angst ein.
„Na, Kurzer, gut geschlafen?“, mein Bruder betont das letzte Wort extrem.
Ich hab es gewusst, das riecht nach Krieg. Mein Toast ist eine prima Ausrede, mit vollem Mund spricht man schließlich nicht. Die Tussi klaut sich eine von meinen gestern mühevoll gepflückten Erdbeeren.
Zapp schlägt ihr einfach auf die perfekt manikürte Hand und sagt:
„Das sind Ebbes, klar?“
Ich bin baff. Irgendwas mache ich falsch. Ich fahre durch mein Haar und zerstöre damit meine nicht vorhandene Frisur. Diese Menschen wollen mich alle nur in den Wahnsinn treiben.
Arrangierter Mord an mir persönlich. Und ich wette, mein Bruder bezahlt dafür richtig Kies. Vielleicht sollte ich mich selber fertig machen und Geld einstecken? Meine Nerven gehen mit mir durch.
Zapp beugt sich über den Tisch und steckt mir die Erdbeere, die er Miss Busenwunder entrissen hat, in den Mund. Schon bin ich außer Gefecht und meine Gedanken haben sich endgültig zu einem undurchdringlichen, verwirrenden Netz geknotet.
Gabriel wirft mir einen wirklich fiesen Blick zu. Warum kann ich nicht unsichtbar sein? Ich beginne zu kauen und schlucke die Frucht brav runter. So, endlich kann ich auch etwas dazu sagen.
Bloß: Ich bin absolut sprachlos. Mir fällt absolut nichts ein, womit ich mich verteidigen könnte. Natalie kichert hysterisch, was hat die Frau bitteschön jetzt? Ist ja nicht so, dass wir knutschend auf dem Küchentisch liegen – obwohl die Idee an sich ganz nett ist. Arg, das sind natürlich nicht meine Gedanken! Ich schüttle den Kopf.
„Ich muss dann auch mal!“, ruft Zapp beschwingt in die Runde.
Toll, jetzt geht er einfach. Ich stehe auf und gehe mit ihm in den Flur. Der Teppich ist dreckig, mindestens drei der Partygäste müssen durch Schlamm gelaufen sein. Ich lehne nahezu hilflos an der Wand und beobachte, wie er seine Schuhe anzieht.
Er richtet sich auf und sieht mich mit seinen braunen Augen beinahe hypnotisierend an.
Mm, erinnert mich irgendwie an Schokolade, in der ich am liebsten baden möchte...-Halt, stopp!
Das habe ich nicht gedacht!
Ich muss mich zusammenreißen, deshalb schüttle ich leicht den Kopf. Mein Hirn entwickelt doch sonst nicht solche abstrusen Auswüchse, was ist nur mit mir los? Zapp lächelt, beugt sich langsam vor – und küsst mich auf die Wange?
Der blaue Planet steht Kopf und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!
„Also... ich ruf dich mal an, ja?“, murmelt der Grund meiner Verwirrung.
Dann ist er plötzlich weg und lässt mich mit meiner aus den Fugen geratenen Gefühlswelt allein. Bescheiden!
Kapitel 3
Einige Stunden nachdem Zapp gegangen ist, sitze ich mit meinen Freunden in meinem Zimmer. Alex zwirbelt gedankenverloren eine ihrer kurzen Haarsträhnen und lächelt. O ha! Sie hat bestimmt wieder einen Einfall, der mir nicht gut bekommt.
Ich sehe, dass Bambi meiner Erzählung folgt. Sie nickt, dabei klingelt das Glöckchen an ihrem Hals leise. Ihre großen, hellblauen Augen sehen mich verstehend an.
„Ich weiß, wie es dir geht“, murmelt sie und nippt an ihrem Eiskaffee. „Klar ist es schwierig, aber... entspann dich, hm? Es klingt extrem nach Kummerkasten, jedoch muss ich sagen: Hör auf dein Herz!“
Sie piekst mir zwischen die Rippen.
„Das Herz ist woanders!“, murmelt Alexandra aus ihrer Traumwelt zu uns.
„Papperlapapp! Unwichtig! Was mich momentan mehr interessiert: Kommst du morgen in die Fledermaus?“
Ich hebe eine Augenbraue. Lust habe ich eigentlich keine.
„Weiß nicht“, antworte ich aus oben genannten Gründen.
Bambi sieht mich an, als hätte ich ihr den Todesstoß verpasst.
„Aber – aber ich trete doch auf! Du kannst nicht einfach mit Abwesenheit glänzen, du bist mein Maskottchen!“
Toll, jetzt werde ich dank meiner Körpergröße noch zum Glücksbringer deklariert. Trotzdem kann ich sie nicht einfach im Regen stehen lassen, wir kennen uns schon seit wir denken können. Zoff mit Bambi kann ich echt nicht gebrauchen, weil ich dann keinen mehr habe, der mich umarmt und tröstet.
Ich ergebe mich also und antworte: „Na gut, ausnahmsweise werde ich den wichtigen Termin mit Schweden absagen, damit ich deinem Auftritt beiwohnen kann!“
Schon habe ich Bambi wieder zum Lachen gebracht, ich klopfe mir mal geistig auf die Schulter.
„Zu gnädig! Ich bestehe aber auf angemessene Kleidung!“
„Ja, Mama!“
„Ebbe!“
Unser Geplänkel hat Alexandra auch wieder in die Realität zurückgeholt. Der Dackelblick, den sie aufgesetzt hat, lässt mich Schlimmes befürchten. Ha! Wie ich gesagt habe, öffnet sie den Mund und -
„Du, Ebbe?“, Alex zieht das »u« besonders lang, noch mehr Unheil.
„Ja?“
„Ich hätte da eine Idee!“
Bambi verdreht die Augen und sieht zur Decke. Ich gehe in Deckung. Das heißt, dass ich die Hände schützend vor mein Gesicht halte und einfach abwarte.
„Ich würde mit der Kamera -ihr wisst schon, nicht digital, halt anders- Bilder von euch machen. Guck mich nicht so an, Mädel! Immerhin kannst du die Fotos für Plakate nehmen!“
Bei dem ersten Satz bekomme ich einen extremen Lachkrampf. Natürlich muss ich mich verschlucken und huste jetzt vor mich hin. Kann mich denn keiner befreien? He, ich bekomme keine Luft mehr! Bambi haut mir beherzt zwischen die Schulterblätter.
„Au!“
„Tse, kleine Memme!“, murmelt meine Retterin. „Die Jugend von heute – kein Respekt vor dem Alter!“
Ja, ja. Dabei ist sie nur ein paar Tage älter als ich. Angeberin.
„Ich bin überhaupt nicht wehleidig!“, verteidige ich mich.
„Warum schreist du dann?“
„Zufall!“
Ich habe mich allen Ernstes breitschlagen lassen. Das ist auch der Grund, warum ich bereits eine geschlagene halbe Stunde im Badezimmer bin. Alex ist voll in ihrem Element, sie richtet gerade mein Zimmer her. Meint doch tatsächlich, dass mein Zimmer das perfekte Ambiente für ihre Horrorbilder hat. Bambi und ich wurden, nachdem Alexandra alle möglichen Klamotten angebracht hatte, in dieses geflieste Gefängnis gesperrt. Deshalb stehe ich hier, für meine Verhältnisse praktisch nackt, und lasse mir die Fingernägel schwarz lackieren. Ja, eine schwarze Cordhose, DocMartens und dieses Netztop sind meiner Meinung ziemlich nichts.
Wir verbrauchen Massen von schwarzem Kajal, Wimperntusche darf natürlich auch nicht fehlen. Könnte Gabriel mich so sehen, er würde mir mit Sicherheit den Kopf abreißen. Allerdings hat ihn die Ankündigung eines DVD-Abends aus unserem Haus vertrieben.
Bambi sieht absolut hinreißend aus in der schwarzen Corsage und dem wirklich extrem kurzen Rock. Ihre feuerroten Haare sind mit bestimmt hundert winzigen Spangen an den Kopf geklipst, an ihren Ohren baumeln mit Steinen besetzte Ohrringe. Ich kann verstehen, warum so viele Kerle ausrasten, wenn sie auf der Bühne steht.
„So, dann wollen wir mal“, Alex ist endlich fertig, wir können ins Zimmer.
Ich hatte es befürchtet. Sie hat ihre Kamera direkt vor der Wand aufgebaut, die ich mit ein paar Skizzen beschmiert habe. Schicksalsergeben seufzen Bambi und ich auf und warten auf die nächsten Anweisungen.
Kapitel 4
Ich blicke an mir herab. Kann ich wirklich so in die Fledermaus gehen? Alex hat mir, wie auch schon gestern, Klamotten rausgesucht, die ich jetzt anhabe. Ich bin geschockt, weil sie mich zu folgendem Auftreten überredet hat: Sie hat schwarzen Kajal um die Augen und Lipgloss, das nach Aprikosen riecht, aufgetragen. Dazu ein eng anliegendes, weißes Top, Ringelsocken, Springerstiefel und, die absolute Krönung, ein schwarzer Cord-Mini.
Ich habe das Gefühl, dass mich die Leute auf der Straße anstarren. Vielleicht ist es doch besser, wenn ich den Club betrete. Schließlich sind da welche »aus der Szene«, wie meine Mum sagen würde, die sehen auch so aus wie ich.
Alex packt mich am Handgelenk und zieht mich in die Fledermaus. Da wir Freunde von Bambi sind, müssen wir nichts für das Konzert zahlen. Ich bin happy, weil die Musik von »Teaparty Service« einfach nur geil ist. Und weil ich sagen kann, dass die Sängerin eine meiner besten Freundinnen ist.
Die Luft ist ziemlich stickig, bunte Scheinwerfer sind auf die Bühne gerichtet. Die Instrumente sind schon aufgestellt, die Bandmitglieder sind auch da – nur Bambi fehlt noch. Oh, dunkelrotes Licht, ganz klarer Fall von »jetzt geht’s los«.
Und da springt sie auch schon in Richtung Mikro! Mir ist zwar rätselhaft, wie sie das mit den 15cm hohen Schuhen schafft, aber egal. Sie hat sich mal wieder mächtig in Schale geschmissen, so extrem würde sie sonst nicht rumrennen.
„Welcome to our lovely teaparty, I hope you'll enjoy our service!“, kommt es in diesem Moment über ihre blutrot geschminkten Lippen.
Und schon legt Bambi los, begleitet von ihrem Bassgitarrist. Ihre kräftige Stimme schallt durch den weitläufigen Raum. Ich spüre, dass alle ihr gebannt zuhören. Die Atmosphäre ist genial.
Irgendwie glaube ich, dass ich stolz auf meine Freundin bin.
Inzwischen ist Pause, Alex und ich sind rüber an die Bar gegangen. Ich nippe an einem Pils und kann Bambi in der Menge ausmachen.
Ihre roten Haare sind zerzaust, schließlich ist sie eine halbe Stunde lang auf der Bühne herum gesprungen wie eine Blöde. Trotzdem strahlt sie über das ganze Gesicht und verteilt Buttons und CDs. Ich habe natürlich schon meine Exemplare, auf dem Cover ist ein Bild, das Alex gemacht hat.
Bambi hat sich zu uns durchgekämpft und bestellt ebenfalls.
„Und, wie gefällt es-“, weiter kommt sie nicht, weil jemand sie anrempelt.
Ich drehe mich um, weil ich dem Übeltäter meine Meinung geigen will. Aber meine doch recht deftigen Worte bleiben mir im Halse stecken: Vor mir steht Zapp!
Aber nicht so, wie ich ihn kennengelernt habe, sondern in noch leckerer Form. Er trägt nämlich eine rot-schwarz karierte Hose und ein -etwas zu kurzes- Top mit dem Logo von Teaparty Service. Mm, ich kann einen Streifen dieser wunderbaren, cremig-sahnig, flauschig-weichen Haut – Ebbe! - sehen!
Ich will etwas sagen. Bloß: Was? Ich weiß ja nicht mal, was ich denken soll. Durch das total verstrickte, wollknäuelartige Gebilde in meinem Kopf steige ich schon längst nicht mehr durch.
„Hi“, sage ich, nachdem ich mich zusammengerissen habe, und lächle leicht.
Himmel, so schüchtern bin ich selbst unter normalen Umständen nicht! Ah, er hat mich also wiedererkannt.
Sekunden später habe ich ein schnurrendes Kätzchen in den Armen. Fühlt sich extrem gut an, muss ich mir eingestehen.
„Schön, dass wir uns so schnell wiedersehen!“, nuschelt Zapp an meinem Hals.
Gänsehaut im Anmarsch. Ziel: Eroberung des ganzen Körpers. Ich könnte ihn ewig so halten. Soll ich mir jetzt Gedanken machen?
Jemand räuspert sich – und schon ist der schöne Moment zerstört. Widerwillig löse ich mich von Zapp und blinzle zu Bambi, der Urheberin dieses unangebrachten Geräuschs.
Im Augenblick könnte ich sie umbringen, obwohl sie meine beste Freundin ist. Taktgefühl ist normalerweise ihr Gebiet, nur heute ist sie – wahrscheinlich wegen des Auftritts – zu aufgekratzt.
Sie lächelt entschuldigend. Okay, vielleicht werde ich sie nicht in nächster Zukunft erwürgen.
„Du bist also Zapp?“, es ist mehr eine Feststellung als eine Aussage, die ihre Lippen verlässt.
„Errr, denk schon“, antwortet er und mustert sie mit schief gelegtem Kopf.
Bambi deutet auf ihre Bandmitglieder, die schon wieder auf der Bühne sind.
„Ich muss jetzt... amüsiert euch gut!“
Schon ist sie im Getümmel verschwunden. Ich sehe zu Alex. Die muss natürlich wieder mit dem Kellner reden! Dass der ihr Freund ist, spielt natürlich gar keine Rolle. Für mich jedenfalls nicht.
Ich weiß doch nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll!
Erstmal wird mir die Entscheidung abgenommen. Zapp kuschelt sich nämlich gerade an mich und jagt damit rund 10 000 Stromschläge durch meinen ohnehin fragilen Körper.
Ich kriege einen Nervenzusammenbruch!
Plötzlich ist es noch viel heißer hier drinnen als vorhin.
Gewissenskonflikt³.
Meint Zapp das gerade so, wie ich das denke?
Vielleicht sollte ich sagen, was er gerade tut. Er beißt in meinen Hals, mir wird ganz schwindelig. Dazu noch die Musik von Teaparty Service, wie Bambi singt:
I want you / can't you see / I want you / you're just like me / implore you
Ich werde wahnsinnig.
Und schon wieder dieses angenehm tiefe Schnurren, das mich ganz zittrig macht. Ich will, dass es aufhört – nein, dass der Moment nie endet!
Ich weiß nicht mehr, was ich will.
Doch, eigentlich ist mir klar, was ich will:
Zapp.
Es trifft mich wie ein Pfeil – fühlt sich tödlich an und wird wahrscheinlich auch so enden.
Mein Bruder wird mich umbringen, wenn ich seinen Kumpel 'anstecke'.
Er ist total gegen Schwule. Schwuchtel nennt er mich, wenn niemand da ist. Gabriel hätte es nie erfahren sollen, aber er hat gelauscht. Ich verabscheue ihn dafür.
Wie soll ich mich jetzt verhalten?
„Scheiße!“, murmle ich leise. „Verfickte Scheiße!“
Dann stoße ich Zapp weg und renne so schnell ich kann aus der Fledermaus.
Kapitel 5
Ich sitze zu Hause, meine Augen sind rot. Bambi sitzt neben mir und reicht mir noch ein Tempo. Dafür liebe ich sie: Dass sie immer sofort zur Stelle ist, wenn es einem dreckig geht. Auch, wenn man selbst dafür verantwortlich ist, wie in meinem Fall.
„Willst du drüber reden?“, fragt sie und trinkt einen Schluck Bier.
Es ist fast fünf Uhr morgens, in ein paar Stunden werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem ausgewachsenen Kater zu kämpfen haben. Allerdings nicht mit Zapp, sondern dem, den man nach zuviel Alkoholgenuss bekommt. Genuss, pah! So kann man das doch nicht nennen! Frustsaufen ist das.
Ich schüttle langsam den Kopf.
„Frühestens morgen – heute Nachmittag, glaub ich. Bambi, mir geht es so verdammt scheiße!“, antworte ich schließlich.
„Ich weiß, Ebbe, ich weiß“, mit diesen Worten nimmt sie mich in den Arm und knuffelt mich.
Mir geht es direkt ein bisschen besser. Geborgenheit wirkt bei mir Wunder. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich wieder heule.
„Ich hab es versaut“, schluchze ich an ihrer Schulter.
„Scht! Du bist bis über beide Ohren verliebt, da macht man nun mal Fehler“, beruhigt mich Bambi.
Ich nicke, obwohl ich ihr nicht wirklich glaube. Ein letzter Rest Hoffnung ist noch da.
Und endlich fühle ich mich ruhig genug, um zu schlafen.
Gut, dass es Freunde gibt.
Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in Millionen winzig kleiner Teile zersplittert... nur noch schmerzhafter. Das Sonnenlicht brennt brutal in meinen Augen, die noch dazu unaufhörlich tränen. Vielleicht bin ich über Nacht zum Vampir geworden, würde sich ungemein anbieten.
Alex ist inzwischen auch bei mir und versorgt uns mit ihrem speziellen Anti-Kater-Mittel. Das heißt, dass sie uns warmes, englisches Frühstück gemacht hat, und das um drei Uhr nachmittags. Gott sei Dank hat sie momentan Urlaub, sonst würde mich ihr Chef aus dem Tattoo-Laden sicher köpfen. Oder vierteln, sähe sicher vorteilhafter aus.
„Sollte dein vermaledeiter Bruder auch nur die kleinste Kleinigkeit damit zu tun haben, werde ich ihm eigenhändig den Schädel spalten und ihn dann den Vögeln zum Fraß vorwerfen!“, prophezeit Alexandra mir gerade.
Sie kann Gabriel überhaupt nicht leiden, vom ersten Augenblick an waren sie spinnefeind. In ihrem Notizbuch, das eine komplette Beschreibung einer jeden Person enthält, schreibt Alex über ihn Folgendes: Egoistisch, selbstverliebt, unterkühlt, intolerant, etc.
Ich will jetzt nicht die ganzen drei Seiten, die sie ihm 'gewidmet' hat, wiederholen, zumal ich mir nur das gemerkt habe.
„Danke“, murmle ich und lächle. „Das wird mir nicht viel helfen.“
Nee, ehrlich nicht. Dann habe ich auch noch Ärger mit dem Gesetz, weil ich jeden, der Alex oder Bambi ungerecht behandelt, auch zur Strecke bringen würde.
„Warum?“, fragt Alexandra und spielt mit dem Piercing in ihrer Augenbraue.
Diese Angewohnheit nervt anfangs ziemlich, aber man gewöhnt sich dran.
Okay, mein Körper hat eigenmächtig die Entscheidung getroffen rot zu werden.
„Weil, wie soll ich sagen, ich weiß nicht, ich-“
„Weil er sich bis über beide Ohren in Zapp verknallt hat und ihn eigentlich nie wieder loslassen möchte!“, unterbricht mich Bambi. „Übrigens bist du total niedlich, wenn du so in Verlegenheit gerätst!“
So? Warum merken das gewisse Leute, die ich beeindrucken - nein – für mich gewinnen will, nicht?
Ich glaube, ich bin ein hoffnungsloser Fall.
Und ein verliebter noch dazu.
Es ist kurz nach halb acht, mein Bruder bereitet die nächste Party vor. Wie kann man nur so aufs Feiern aus sein? Aufs Alter kann man es nicht mehr schieben, er ist schon mit 14 um die Häuser gezogen. Nein, er ist natürlich nur auf 'Geburtstagsfeiern' gewesen.
Ich hab mich mit einer Flasche Wasser und viel Schokolade in meinem Zimmer eingeschlossen, sicher ist sicher. Sonst kriege ich wieder Besuch. Ist auch schon mal vorgekommen, dass eine Bierleiche hereingekommen ist und mir in die Bude gebrochen hat. Reichlich unappetitlich.
Mein Rechner läuft auf Hochtouren, Gott sei Dank ist unser Internet schnell. Ich mache die Homepage von Teaparty Service und muss heute noch die Bilder vom Konzert in der Fledermaus hochladen. Alex hat fleißig geknipst, ich habe diesen Abend genug zu tun.
Meine Finger rasen wie automatisch über die Tastatur; je eher daran, je eher davon.
Die Schokolade ist fast alle, das Wasser auch. Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es geworden ist.
Ich bin fertig, vor allem das neue Design hat mich geschlaucht. Es ist kurz nach eins, die Straßenlaterne ist immer noch kaputt – und ich bin todmüde. Vielleicht sollte ich langsam ins Bett gehen.
Aber wie soll ich schlafen, wenn ein gewisser Kerl durch meinen Kopf geistert?
Kapitel 6
Ich habe kein Auge zugemacht. Bei der Lautstärke nebenan nicht verwunderlich. Gabriel hat mich netterweise gerade darauf hingewiesen, dass ich aussehe wie frisch aus dem Kanal gefischt. Oder ausgebuddelt. Beides sehr schmeichelhaft, nicht? Ich werfe ihm einen Todesblick zu und trinke meine dritte Tasse Kaffee.
Der soll mich in Ruhe lassen; bloß weil er ein überdurchschnittlich hübsches, nie fertig aussehendes Etwas ist, muss er nicht derartig niederschmetternde Kommentare ablassen.
„Übrigens soll ich dir von Jessica sagen, dass du gefälligst bei ihr antanzen sollst“, sagt Gabriel mit vollem Mund.
Ich bin verwirrt. Wen meint er überhaupt?
„Hä?“, antworte ich deshalb besonders konstruktiv. „Kenn ich nicht!“
Mein Bruder rollt nur entnervt mit den Augen.
„Jessica Korg, ihres Zeichens meine Exfreundin, neunzehn Jahre jung, groß, schlank, derzeit schwarzhaarig. Außerdem beste Freundin von Jan Maibach.“
„Wem?“, ich stehe auf der Leitung.
Warum hält er mir einen Vortrag über seine Verflossene? Bin ich sein Seelenklempner?
„Erzähl mir jetzt nicht, dass du die ganze Zeit seinen Namen nicht gewusst hast! Das darf echt nicht wahr sein: Hast was mit einem Kerl und weißt nicht, wie er heißt!“
Ich sehe ihn etwas dümmlich an. Immer noch keinen blassen Schimmer, wovon er redet. Aber dann macht es plötzlich klick, der Herr ganz oben hat die Glühbirne in meinem Kopf angemacht.
Jan Maibach ist... Zapp.
Vor lauter Schreck vergesse ich glatt zu sagen, dass zwischen uns nichts lief.
„Aber“, murmle ich leise.
„Du solltest dich wirklich bei ihr melden, ich garantiere für nichts. Pass auf seine Eltern auf, die Mutter ist meine ehemalige Rektorin und genießt ziemlich hohes Ansehen. Sei verdammt noch mal vorsichtig, ja?“
Ich bin geschockt ob solch netter Worte aus dem Mund meines Bruders und nicke benommen.
Er hat seine Augen geschlossen und massiert seine Nasenwurzel.
„Kleine Geschwister! Obwohl sie einen nur nerven, einen provozieren und fertig machen – am Ende will man sie doch immer beschützen!“, sagt er wohl mehr zu sich selbst.
In einem Anflug von Freude umarme ich ihn kurz und renne dann voll von neuem Elan die Treppe hoch.
Ich tippe die Nummer mit zitternden Fingern. Wieso rufe ich eigentlich freiwillig bei jemandem an, der mich köpfen will?
Weil ich Zapp zurückhaben will.
„Korg?“
„Jessica? Ähm, hier ist Ebbe, Gabriels Bruder“, sage ich zögernd.
Was wird sie jetzt sagen? Blöde Anspannung, dämliche Angst.
„Was fällt dir eigentlich ein, Zapp einfach so stehen zu lassen! Du weißt gar nicht, wie wütend mich das macht!“, schreit die Ex meines Bruders mir ins Ohr.
Ich werde gleich ein paar Zentimeter kleiner. Ui, damit habe ich nicht gerechnet.
„Ich bestehe darauf, dass du sofort vorbeikommst! Magnolien-Straße 7, klar?“
„Jessica? Hey, ich bin noch nicht angezogen! Hallo?“
Aufgelegt, na prima.
Ich schnappe mir die Klamotten, die ich mir für heute rausgesucht habe und haste ins Bad.
Wow, dieses Haus ist riesig! Es ist locker über 100 Jahre alt, sogar eine Veranda hat es. Und der Garten ist mehr ein Park. Das wirklich Verblüffende ist, dass auch die anderen Grundstücke hier ungefähr die gleiche Größe haben. Die Magnolien-Straße ist im Villenviertel der Stadt. Mehr als eine Person hat mich schon argwöhnisch durch die Gardinen hindurch beobachtet.
Gerade als ich auf die Klingel drücken will, wird die Tür geöffnet und jemand zieht mich in den beachtlich weitläufigen Flur.
Ich habe mich von dem Schock erholt und betrachte die junge Frau genauer.
Sie sieht genauso aus, wie Gabriel sie mir beschrieben hat. Nur sind ihre Haare nicht schwarz, sondern pink.
Was soll ich jetzt davon halten?
„Tee?“, fragt sie statt einer Begrüßung.
Im Sommer? Natürlich nicht, ich will ja nicht eingehen wie eine Primel!
„Nein, danke. Ähm, bist du Jessica?“
„Nee, der heilige Geist! Dann mach ich eben Eiskaffee, ist sowieso besser. Und du gehst schon mal ins Wohnzimmer, Zapp wartet schon!“
Mein Herz macht einen Hüpfer. Aber vorher habe ich noch eine für mich wichtige Frage.
„Warum nennst du ihn Zapp? Ich meine, Gabriel sagt immer Jan und du-“
„Weil er immer in der Gegend 'rumflippert wie ein Bekloppter. Flipper kann ich ihn ja schlecht nennen, wie n Delfin, nee – und jetzt geh endlich!“
Huch, ich werde richtiggehend ins Wohnzimmer geschubst.
Und da sitzt er. Die Arme um seine Beine geschlungen, wie ein Häufchen Elend sieht er aus. Ganz verloren auf der großen, grünen Ledercouch, seine honigfarbenen Haare hängen ihm wirr ins Gesicht.
Ich will ihn trösten, festhalten, einfach nett sein.
„Hey“, sage ich leise und setze mich vorsichtig neben ihn.
„Geh weg“, wispert er leise und schließt seine Augen.
Ich habe ihn verletzt. Und mich selbst.
Egoist.
Ich bin Schuld.
Nur ich.
Jessica kommt mit einem Tablett rein und sieht von einem zum anderen. Dann seufzt sie abgrundtief und reicht mir ein Tempo.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich angefangen habe zu weinen. Dafür fließen die Tränen jetzt umso rascher über meine Wangen.
Ich habe alles kaputt gemacht.
Meine Hände verbergen mein Gesicht, ich will nicht, dass meine Schwäche gesehen wird.
Jessica streichelt beruhigend meine Schulter, ich schluchze auf. Mist, jetzt habe ich mich verraten. Aber das ist halt eine Geste, die meine Mutter nie für nötig gehalten hat.
'Warum soll ich meinen Sohn trösten? Jungen müssen stark sein, die weinen nicht!'
Ich sitze auf einer Couch in einem wildfremden Haus und heule Rotz und Wasser. Habe Angst vor der Reaktion.
Bin genauso, wie Mum uns nie haben wollte.
Meine Hand wird von meinem Gesicht gezogen, ich blinzle durch den Tränenschleier. Zapp kniet vor mir, seine braunen Augen sehen mich an und spiegeln meine eigene Verletzbarkeit wieder.
„Nicht weinen“, murmelt er und fährt vorsichtig über meine Wange.
„Aber es hilft“, antworte ich und lächle schwach.
„Vielleicht“, erwidert er und sieht in die Ferne.
„Zapp? Ich – ich hab es nicht so gemeint, weißt du? Es tut mir schrecklich Leid, alles meine mich. Ich kann verstehen, wenn du mich jetzt nicht mehr sehen willst-“
Ich senke den Kopf, bereit rausgeschmissen zu werden. Meine Fehler.
Ich höre, wie Jessica nach Luft schnappt.
Dann nimmt mich Zapp vorsichtig in die Arme. Er ist so schön weich, wahrscheinlich werde ich ihn nie mehr halten.
„Scht! Du redest Unsinn, Ebbe!“, wispert er und küsst mich auf die Wange.
„Also bist du mir nicht mehr böse?“, frage ich hoffnungsvoll.
Wow, er hat mich geküsst! Wo kommen die rosa Wolken plötzlich her?
„Nee – aber bestrafen muss ich dich trotzdem“, flüstert mir Zapp ins Ohr.
Ich kichere und fahre durch seine Haare.
„Glaub ich auch“, wispere ich und lasse mich nach hinten fallen.
Ein Räuspern lässt mich allerdings schnell wieder hochfahren. Wer ist das jetzt?
Oh, Jessica. Ich hab ganz vergessen, dass sie auch noch hier ist.
In Sekunden bin ich so rot wie ein Feuermelder. Mann, ist das peinlich!
„Zapp, nimm dir ein Beispiel an deinem Freund und schäm dich wenigstens! So, jetzt geht ihr schön nach Hause... Nö, Jan, raus jetzt – ruf mich abends an, ja?“, sagt sie lächelnd und zerrt uns mehr oder weniger sanft in den Flur. „Ebbe? Hat mich gefreut, dich kennen zu lernen... und zu merken, dass du kein Stiefellecker wie dein Bruder bist!“
„Sehr erfreut, Mylady mit dem Besuch beehrt zu haben. Wünsche einen geruhsamen Tag und angenehmes Geträume!“, antworte ich gespielt vornehm und knickse.
Sie lächelt und schmeißt uns endgültig raus.
Mm, die Welt ist schön!
Kapitel 7
Ich sitze in meinem Zimmer, die Sonne brennt mal wieder unerbittlich heiß vom Himmel. Obwohl ich nach dem Treffen bei Jessica wirklich auf Wolken zu gehen scheine, wird meine Freude etwas getrübt. Tatsächlich habe ich auch nicht besonders viel Platz für Bewegung.
Mein großartiger, kurzzeitig netter Bruder hat sich nämlich etwas ganz besonderes für mich einfallen lassen:
Einzelhaft, auch Hausarrest genannt. Außerdem muss ich mich von seinem Zimmer fernhalten, er hat nämlich – haltet euch fest – Migräne. Ich finde es echt zum Schießen. Der sonst so starke Gabriel, der immer so tut, als wäre er der tollste Hecht der Welt und noch dazu so männlich, liegt in seinem komplett verdunkelten Zimmer und jammert vor sich hin.
Ich muss ganz leise sein, sogar seiner Natalie hat er Hausverbot erteilt, obwohl sie ihn im Kostüm einer Krankenschwester wunderbar trösten könnte. Scherz bei Seite:
Wegen Gabriels empfindlichem Gehör und der imaginären Samba-Dance-Truppe in seinem Kopf darf ich Dienst schieben und Jan nicht einladen!
Ungerecht!
Ich schnappe mir das Telefon und wähle Zapps Nummer.
„Caroline Maibach, hallo?“, fragt eine leicht schnippische Stimme am anderen Ende.
„Hier ist Ebbe, ich bin ein Freund Ihres Sohnes. Könnte ich Jan bitte sprechen?“, frage ich vorsichtig.
Dass ich keine rein platonische Beziehung zu ihrem Kind führe, verschweige ich ihr lieber. Einer Rektorin erzählt man besser nichts von der Homosexualität ihres Stammhalters. Mm, wahrscheinlich denkt sie, dass Zapp ihr irgendwann mal viele, kleine Enkelkinder macht, die sie dann genauso schikanieren kann wie die Schüler.
Wird er aber nicht.
Bei diesem Gedanken muss ich extrabreit grinsen.
„Einen Moment!“
Ich höre eine dieser dämlichen Melodien, die immer gespielt werden, wenn man in einer Warteschleife hängt. Kurze Zeit später hängt sich eine abgekämpft klingende, mir sehr bekannte Person an den Hörer.
„Maibach?“
So schön, dass ich seine Stimme wieder höre. Boah, klingt das kitschig! Nun ja, es ist wahr.
„Jan? Ich fühl mich grad so alleine – kann ich in ner halben Stunde vorbeikommen?“
„Jo, meine Mutter ist eh auf dem Sprung gewesen, als du sie angerufen hast. Du weißt ja, wo ich wohne, oder?“
Nee, kein blasser Schimmer. Ehrlich! Mann, ist mir das peinlich.
„Eigentlich nicht“, antworte ich daher leicht bedeppert.
„Gladiolenweg 11, gleich um die Ecke bei Jessica. Bis dann!“, verabschiedet sich Jan und schmatzt noch einen Kuss durch die Leitung.
Mission I: Erfolgreich.
Mission II: Noch in den Kinderschuhen.
Nein, ich lasse das arme Telefon nicht in Ruhe. Jetzt geht es erst richtig los, ich muss nämlich ein klein wenig lügen und meinen nicht vorhandenen Charme versprühen.
Richtig, mein Opfer heißt Natalie.
Und von der hab ich Gott sei Dank die Handynummer.
Mit deren Eltern will ich nicht noch sprechen, würde doch sehr zu Missverständnissen führen.
„Hallo?“, fragt sie mit ihrer für meine Ohren unangenehmen Stimme.
Sich ordentlich zu melden ist natürlich auch nicht mehr nötig, pah. Und auf so eine steht Gabriel. Egal, ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Mission Nurse, um genau zu sein.
„Hallo, Natalie. Ich bin der Bruder von Gabriel, falls du dich erinnerst-“, da will ich sie unterschwellig ärgern und werde gleich abgewürgt!
Frauen!
„Natürlich! Was ist denn so dringend, dass du mich stören musst?“
„Gabriel geht es nicht so gut, muss etwas Schlimmeres sein. Er schickt mich immer weg und will nicht, dass ich mich um ihn kümmere!“, erkläre ich theatralisch. „Ich dachte, dass du vielleicht besser mit ihm umgehen kannst – er will sogar seine Medizin nicht nehmen!“
Natalie beißt an. Wusste doch, dass sie blond ist.
„So schlimm? Ich bin sofort bei euch!“
Ich lege auf und reibe mir glücklich die Hände.
Mission II: Geglückt.
Sorgen: 0.
Eine halbe Stunde später stehe ich tatsächlich vor dem Haus der Maibachs. Allein die Eingangstür, eine auffällige Zusammenstellung aus Glas und Quarzen, hat bestimmt mehr gekostet, als meine Eltern in einem Monat verdienen. Natürlich kann man sich da natürlich nicht mit einer normalen Klingel zufrieden geben, stattdessen ein altmodisches Teil mit Glocken im Inneren des Gebäudes. Selbige beginnen nämlich gerade zu läuten, weil ich an der Kette aus Silber gezogen habe.
Kann man sich als Leiterin einer Realschule so viel leisten?
Die Tür wird regelrecht aufgestoßen; ich kann froh sein, dass ich sie nicht an den Kopf kriege. Zapp packt mich am Arm und zieht mich nach drinnen.
Woher ich weiß, dass er es ist? Obwohl es drinnen dunkel ist?
Sein Geruch nach Schokolade verrät ihn.
Huch, ganz schön stürmisch, der junge Mann!
Er schließt die Tür reichlich unsanft - mit einem lauten Knall, um genau zu sein – und ich werde von ihm gegen das kalte, Gott sei Dank milchig-verspiegelte, Glas gedrückt.
Wenige Sekunden später spüre ich seine Lippen auf meinen, seine Hände, die langsam meine Seiten hinunter gleiten.
Es fühlt sich verdammt gut an.
Ich öffne langsam meinen Mund, ziehe ihn mit einer Hand noch näher zu mir. Seine Zunge spielt mit meiner, macht mich noch wahnsinnig.
Verliere allmählich die Beherrschung, stört aber momentan nicht.
Ich löse mich widerwillig von ihm. Nicht, weil ich keine Lust mehr habe, sondern weil ich sonst wegen Luftmangels kollabiere.
Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist.
Ich seufze zufrieden.
„Schön, dass du da bist!“, sagt Zapp außer Atem und nimmt mich in den Arm.
Allerdings.
Ich nicke, mein Hals ist wie zugeschnürt. Hauche ihm einen Kuss auf die Wange.
„Komm, ich zeig dir mein Zimmer!“, sagt Jan und nimmt mich an der Hand.
Im Vergleich zu meiner ist sie angenehm warm, kann ja nicht jeder Fischblut haben. Meine Finger streichen leicht über seine, er lächelt.
Wir gehen durch den Flur, eine großzügig angelegte Treppe hinauf in die Galerie. Ich weiß, dass sein Reich nicht mehr weit ist. Will ihn gegen die Wand drücken.
Ah, er stößt eine Tür auf.
Ziemlich kahl, aber okay. Hier lebt und wirkt also Zapp.
Eigentlich ist es mir im Moment egal, wie es aussieht. Mir spuken ganz andere Gedanken durch den Kopf...
Einen Augenblick nicht aufgepasst – und schon von Jan aufs Bett geworfen worden!
Ich freue mich aber eher darüber und äußere das auch durch leises Aufseufzen.
Zapp verwickelt mich in eine Knutscherei und ich beschließe, meine Schüchternheit in die hinterste Ecke meines Kopfes zu sperren und mich endlich fallen zu lassen.
Kapitel 8
Ich schließe die Haustür auf und schleiche mich so leise wie möglich durch den Flur. Es ist bereits nach zehn, wir haben ein bisschen die Zeit vergessen. Hoffentlich hat Natalie ihren Job gut gemacht und mein Bruder befindet sich im Reich der Träume – wenn man vom Teufel spricht!
Gabriel kommt aus der Küche, die Kaffeetasse fest umklammert. Er sieht nicht mehr so kränklich aus, wie vor einigen Stunden. Gedankliche Notiz: Werde Miss Busenwunder demnächst ein Lob zukommen lassen!
„Ey! Wo warst du so lange, Kurzer?“, fragt er und betrachtet mich eingehend.
Ich versuche unauffällig mein Shirt ein Stück nach oben zu ziehen, weil man die Spuren, die Jan hinterlassen hat, nur allzu deutlich sieht.
„Bei Bambi!“, antworte ich scheinheilig und hoffentlich glaubwürdig.
Wie bereits erwähnt kann ich Leute nicht gut einwickeln.
„Klar! Zur Information: Die reizende Bambi hat vorhin angerufen, ob du morgen mit in die Fledermaus gehst – vielleicht mit Begleitung!“, erwidert Gabriel spöttisch.
Fuck! Ich werde schon wieder rot. Warum kann ich nicht lügen? Und wenn das, wie eine Studie besagt, erblich ist, warum bin ich dann genetisch so benachteiligt?
„Eigentlich wollte ich gar nichts dazu sagen, aber Mum und Dad haben angerufen. Waren etwas beunruhigt, weil du nicht da warst und ich nicht wusste, wo du bist. Wäre gut, wenn du morgen mit ihnen sprichst, sonst kommen sie noch eher nach Hause!“
Ich nicke, das beste Mittel bei einer solchen Moralpredigt.
„Und ich hoffe für dich, dass dieser überdimensionale Knutschfleck weg ist, bevor unsere Eltern hier aufkreuzen!“, beendet er seinen Monolog.
Aua, das hat gesessen.
Mum kriegt, wenn sie so was sieht, einen reichlich seltsamen Blick, selbst bei Gabriel. Dann nimmt sie dich beiseite und du darfst dir einen ca. einstündigen Beitrag über Verhütung, Verantwortung und die üblichen Fragen über deinen Partner anhören. Alles schon gehabt.
Ich nehme ihm seine Tasse ab und trinke einen großen Schluck. Besser!
„War es nett mit Natalie?“, frage ich dann mit doppelter Portion Selbstbewusstsein.
„Sie meinte, ein Vögelchen hätte ihr gezwitschert, dass ihr Held verwundet sei. Wer das wohl war?“, er geht wieder in die Küche. „Auch n Bier?“
Ich nicke und mache es mir schon mal auf dem Sofa gemütlich. Sieht ganz nach Fernseh-Nacht aus.
Manchmal ist ein großer Bruder gar nicht so schlecht.
Es ist halb sechs morgens, ich bin gerade auf dem Weg ins Bett. Erstaunlicher Weise haben mein Bruder und ich uns gut verstanden und die Nacht überlebt, ohne uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Nachdem das Programm im Fernsehen auf amerikanisches Niveau gesunken war, plünderten wir den Vorrat an DVDs und Chips.
Und als wir wirklich alles, was wir da hatten, angesehen hatten, war es fünf.
Ich war zwischendurch immer wieder eingenickt, trotzdem brauche ich jetzt Streichhölzer. Eigentlich will ich ins Bett, aber Bambi will sicher so früh wie möglich wissen, ob ich kommen kann.
Also greife ich nach meinem uralten Handy, dessen Display-Beleuchtung öfters schwächelt, und tippe in die Tasten. Anrufen kann ich sie um diese unchristliche Uhrzeit wohl nicht, deshalb schreibe ich brav eine SMS. Habe nämlich letztes Mal, als ich versucht hab, sie zu erreichen, mächtig Schimpfe bekommen. Mit ihr will ich es mir nicht verscherzen, weil sie eine supergute Freundin, Sängerin und Trösterin ist. Genauso bei Alex, der weltbesten Tätowiererin, die Gott sei Dank immer Kind geblieben ist.
Ich glaube, der Alkohol macht mich sentimental.
Der Akku meines Handys verabschiedet sich – wahrscheinlich für immer, weil er tiefenentladen ist.
Dieser Vorgang, bestimmt von irgendwo da oben gesteuert, weist mich wieder darauf hin, dass ich schleunigst die Koje aufsuchen sollte. Ich gähne ausgiebig und werfe mich aufs Bett.
Einschlafen kann ich trotzdem nicht.
Arg!
Dabei kommt Jan um zwei, um mich abzuholen!
Werde ich gerade Klischee-schwul?
Muss wirklich schlafen, sonst geht das noch so weiter.
Schlimm, was die Liebe aus jemandem wie mir machen kann. Bin viel zu beseelt, um ins Land der Träume zu gehen.
Die Neugierigen unter euch werden jetzt wieder große Augen kriegen.
„Beseelt?“, werdet ihr euch fragen. „Ist da denn was gelaufen?“
Und wenn ihr mich jetzt vor euch hättet, würdet ihr bestimmt einiges ausprobieren, um das kleine »Geheimnis« aus mir rauszukriegen.
Um es kurz zu machen: Ja!
Und bevor ihr jetzt nach Details fragt:
Ich bin schüchtern.
Habt ihr irgendwann etwas von Privatsphäre gehört?
Gute Nacht allerseits.
Kapitel 9
Jan hat mich gerade abgeholt, mit dem Auto seines Vaters. Wir werden also allen Ernstes in einer Luxuskarosse bei Bambi vorfahren, das kann ja nett werden. Sie wohnt nämlich in einem ziemlich heruntergekommenen Stadtteil.
Werde sie wohl fragen, ob sie ihre schwarze Mirabelle draußen parken kann und dafür die Garage frei macht – nicht auszudenken, wenn ich für einen Diebstahl praktisch verantwortlich bin!
Bin gerade etwas abgelenkt, weil Zapps rechte Hand sich unauffällig zu meinem grazilen Beinchen bewegt hat. Nnn, fühlt sich so gut an. Schließe genießerisch die Augen. Erinnere mich, dass wir mit dem Auto fahren.
„Jan, pass auf die Straße auf. Wir müssen da abbiegen!“, seufze ich.
Wir halten vor dem circa 20 Jahre alten Mehrfamilienhaus.
„Warum musst du mich eigentlich immer dann rattig machen, wenn wir unter Leute wollen?“, frage ich gespielt wütend.
„Weil ein bisschen Vorfreude nicht schlecht ist!“, antwortet mein Freund prompt und verwickelt mich in einen ich-sehe-Sternchen-und-kann-nicht-mehr-klar-denken Kuss.
Noch leicht benommen drücke ich auf die Klingel, während Zapp seinen Kopf schon wieder in meiner Halsbeuge vergraben hat. Ich kann hören, wie Bambi die wenigen Stufen, genauer gesagt exakt fünf, hinunterhetzt und dann gegen die Tür knallt.
Autsch.
Sie öffnet ein paar Sekunden später, eine Hand fest auf die Stirn gepresst.
„Alles okay?“, frage ich besorgt.
„Ne Beule wird es schon. Hab nicht mehr dran gedacht, dass wir ne neue Tür haben, die alte ging ja nach außen auf!“, antwortet sie und grinst schief. „Kommt rein, Mädels!“
Bambi nennt mich schon immer Mädel. Das war schon so, als ich noch gar nicht wusste, dass ich schwul bin. Sie ist auch die Einzige, von der ich mir das gefallen lasse.
Die Wände im Treppenhaus haben immer noch das gleiche fleckige grau, das mir so vertraut ist. Jan ist die heruntergekommene Umgebung nicht gewohnt. Ich kann sehen, wie er die Bilder aufsaugt. Seine Mutter hat ihn bestimmt immer von solchen Gegenden ferngehalten.
Wir betreten den winzigen Flur, der für drei Personen wirklich zu klein ist. Überall stapeln sich Schuhe, Jacken und anderes Zeug. Der weiße Lack der Türen ist zerkratzt, man erkennt, dass sie früher eine andere Farbe hatten.
Ich weiß, dass man sich von diesem Eindruck nicht einschüchtern lassen sollte, aber Zapp?
Er lächelt tapfer, ein gutes Zeichen.
„Geht ruhig schon mal vor, Alex ist schon da. Ich richte nur noch die Snacks und Getränke her!“, fordert Bambi uns auf und geht in die Küche.
„Wenn du ihr Reich betrittst, wirst du merken, dass der Schein trügt“, flüstere ich Jan ins Ohr und küsse ihn auf die Wange.
Dann öffne ich eine der schäbigen Türen, wir betreten ihre Welt.
Die Wände sind dunkelrot gestrichen, ihre Lieblingsfarbe. Der wuchtige, altmodische Schrank erscheint fast zu groß für das eher kleine Zimmer. Auf flachen Holzbrettern stehen Teelichter, Kleider baumeln an Eisenketten von der Decke herab.
Es ist urgemütlich.
Alex sitzt auf dem Himmelbett, in einem Berg von orientalischen Kissen und lächelt uns zu.
„Hi! Ich hab schon alles dabei, was wir für heute Abend brauchen – ich werde euch nämlich zurecht machen!“, erklärt sie fröhlich.
Jan und ich zucken ein paar Zentimeter zurück. Alexandra hat etwas eigenwillige -ähm- Kreationen auf Lager.
„Ihr seid so süß, wenn ihr euch gegenseitig beschützen wollt!“, sagt Bambi und kickt die Zimmertür zu.
So?
Tja, für diese Bemerkung muss ich Zapp noch einmal mehr herzen.
Glaube, er hat das Gleiche gedacht, knutschen ein bisschen rum.
Wir sind gegen halb acht in die Fledermaus gegangen. Ich weiß nicht, wie Alex es schafft, dass das Endprodukt ihrer eigentlichen Verunstaltungen sogar richtig gut aussieht.
Nehmen wir das Tattoo, das sie mir gestochen hat.
Als sie mir das Motiv zum ersten Mal gezeigt hat, war ich beinahe abgeschreckt. Sie sagte damals nur: »Glaub mir, es wird dir super stehen!«. Mittlerweile bin ich der gleichen Meinung.
Oder heute:
Zapp trägt ein weißes T-Shirt, auf dem »Engel küsst man nicht« steht, eine schwarze, von Nieten und Sicherheitsnadeln durchbohrte Jeans und Doc's. An der Kette um seinen Hals baumelt ein kleines Glöckchen, das ab und an leise klingelt. Das transparente Gloss auf seinen Lippen schimmert verführerisch, sogar das schwarze Sternchen auf seiner Wange sieht absolut super aus.
Ich will ihn in die nächstbeste Ecke ziehen und vernaschen.
Aber sein Handy klingelt, Mist.
„Maibach?“, brüllt er in den Hörer, weil es doch ziemlich laut ist. „Hallo, Mama! - Nee, ist grad ganz schlecht. - Ja, die ist auch da. - Soll ich sie dir geben? - Moment, die ist etwas weiter weg!“
Er lächelt mir zu und geht weg. Zu einem Mädchen. So ein braunhaariges, knabenhaftes Modell in daher unvorteilhaftem Neckholdertop. Schnepfe. Ich bin nicht eifersüchtig, ich kann sie nur vom ersten Blick an nicht leiden.
Ich lauf Amok!
Er hat sie auf den Mund geküsst!
Und sie grinst auch noch, spricht mit seiner Mutter. Bäh!
Ich fühl mich gerade sehr unwohl.
Wenige Minuten später ist Jan wieder zurück. Ich drehe mich demonstrativ weg. Strafe muss sein!
Er beugt sich zu mir rüber, will mich küssen.
Ich kann sie riechen, will nicht. Der süßliche Geruch nach Honig und Vanille ekelt mich an.
Statt den Kuss zu erwidern, schiebe ich Zapp weg.
„Wer war das?“, frage ich ungewollt fies.
„Am Telefon? Meine Mutter“, antwortet er unbeschwert.
Als hätte er meinen Tonfall nicht bemerkt. Er weiß, wen ich meine. Ich sehe ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Ich meine das Mädel“, sage ich frostig und beiße mir auf die Lippe.
Will ich wirklich ein Verhör draus machen? Will ich wirklich wissen, wer sie ist, was sie für ihn ist?
Fürchte mich vor der Antwort. Sie ist nur eine Bekannte, vielleicht auch seine Cousine, ganz sicher. Hoffe ich.
„Oh“, sagt er und küsst mich auf die Wange, bevor ich mich wegdrehen kann. „Das war Laura, meine Freundin.“
Er sagt das dermaßen locker, dass ich kotzen könnte. Er hat was am Laufen und schmeißt sich an mich ran – und ich falle noch drauf rein!
Er sieht meinen fassungslosen Blick.
„Naja, früher waren wir halt so richtig, wir haben bloß nicht-“
Ich unterbreche ihn, indem ich ihm eine saftige Ohrfeige verpasse.
In meinen Augen sind plötzlich Tränen. Will nicht, dass sie fließen.
„Du kannst dir deine Erklärung sonstwohin stecken, ja? Ich will dich nicht mehr sehen, also komm bloß nicht vorbei! Wenn du ein Mädchen wärst, würden sie dir Schlampe nachrufen und deine Nummer auf den örtlichen Spielplätzen hinterlassen!“, schreie ich erbost.
Weiß, dass ich ihm damit einen Pfahl ins Herz ramme.
Will es nicht anders.
Will, dass es ihm wehtut.
Genauso wie mir.
Ich drehe mich um und kämpfe mich, mit meinen Ellbogen um mich schlagend, nach draußen. Bloß weg von hier.
Kapitel 10
Mir geht es scheiße.
Aber so richtig und im Quadrat.
Bin gestern gleich ins Bett, verheult wie ich war. Gegen zwei Uhr total abgekämpft eingeschlafen.
Ich bin geschlafwandelt, das hab ich schon ewig nicht mehr gemacht. Zuletzt mit sieben.
Bin im Keller aufgewacht, die Füße in der Kiste mit unserem alten Lego, die Arme fest um ein Rohr geschlungen.
Aua.
Ich sehe aus wie ein Karnickel auf Drogen, rote Augen inklusive. Vielleicht sollte ich meine Gefühle unterdrücken und zur Hete werden. Irgendein naives Blondchen heiraten und später meinen eigenen Sohn schlagen, weil er homosexuelle Neigungen hat. Auch keine gute Idee.
Ich kippe die fünfte Tasse Kaffee runter und stecke mir Traubenzucker in den Mund. Normalerweise werde ich davon total munter und bin so aufgedreht wie sonst kaum, aber heute lässt die Wirkung auf sich warten.
„Was ist n los, Kleiner?“, fragt Gabriel, der gerade die Küche betritt. „Hat dein Schatz dich sitzengelassen?“
„So ungefähr“, antworte ich tonlos und sehe zu, wie er blass wird.
„Ich hab nicht gedacht, dass-“
„Schon gut“, wimmle ich ihn ab. „Er soll mit seiner Laura glücklich werden und ich werde ihn einfach vergessen!“
Toll, Ebbe. Belüg dich nur selbst. Dein verheultes Gesicht zeigt genau, was wirklich in dir vorgeht.
„Tse, das glaubst du selbst nicht! Ich fahr zu dem kleinen ******* und misch ihn auf!“, knurrt Gabriel entschlossen.
Ich bin überrascht. Will nicht, dass er ihm wehtut. Oder ganz doll. Weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Normalerweise interessiert sich mein Bruder nicht für mich. Aber er sagte mal was von Beschützer-Instinkt. Möglicherweise ist es das. Ich war so in Gedanken, dass ich nicht bemerkt habe, dass Gabriel gegangen ist. Das laute Scheppern der Tür höre ich allerdings doch.
Ich springe auf, zum Glück hab ich Schuhe an. Renne raus und höre noch den Auspuff vom Auto. Schnappe mein desolates Rad, rase los wie ein Irrer. Hoffentlich findet er ihn nicht.
Habe doch Angst um sie. Beide.
Sollen sich nicht die Köpfe einhauen.
Fahre wie ein Bekloppter, spüre meine Füße nicht mehr. Höre Quietschen hinter mir. Rote Ampel überfahren, erst später gemerkt.
Ein Meer aus Farben, ich mittendrin. Alles verschwimmt und wird kurzzeitig wieder klar, nur für einen winzigen Moment.
Gladiolenweg, endlich.
Sehe unser rotes Auto vor Nummer 11. Panik. Muss ruhig sein.
Ich reiße mich zusammen, springe vom Rad und werfe es achtlos auf die Straße. Sehe, dass die Haustür offen ist und renne nach drinnen.
Kein Mensch zu sehen, aber ich kann sie hören.
Will nicht, dass sie sich wehtun.
Sprinte die Treppe hoch in Zapps Zimmer.
Gabriel und Jan prügeln sich. Kann nicht klar denken. Springe dazwischen.
Dunkelheit.
Ich blinzle in das grelle Neonlicht. Hä? Wie komme ich denn hier hin? Weiß, überall. Zu hell für mich, brennt in den Augen. Setze mich langsam auf, aua. Bin wohl nicht ganz okay, kann mich aber nicht erinnern, was passiert ist.
„Du bist wach!“, ich kann die Stimme nicht zuordnen, die das gesagt hat.
Spüre Arme, die sich um mich schlingen. Zapp.
Zu dem wollte ich doch, oder?
Ich hab nen Filmriss. Waren wir nicht schon Geschichte?
Sehe verwirrt in seine Schoko-Augen.
„Was ist passiert?“, frage ich mit zittriger Stimme.
Toll, warum fällt mir nichts Besseres ein? Mein irgendwie-Ex umarmt mich und ich Depp frag, was los ist.
„Du weißt noch, dass Gabriel und ich uns geschlagen haben, oder? Du bist dazwischen gesprungen, aber wir hatten beide schon ausgeholt – und haben dich volle Breitseite erwischt. Ich – ich bin so froh, dass dir nicht so viel passiert ist!“, nuschelt Zapp an meinem Hals.
Ich wurde also k.o. geschlagen. Nett, so was passiert mir nicht alle Tage.
„Und dann?“, frage ich leise.
„Sind wir mit dir ins Krankenhaus gefahren. Sah ja ziemlich schlimm aus mit dem ganzen Blut...“
Ich schaudere. Wenn man von meist älteren Passanten Grufti genannt wird und eine gewisse rote Körperflüssigkeit nicht sehen kann, ist das dann ein Wink mit dem Zaunpfahl?
Tja, Notiz an mich: Nie Medizin studieren, lieber sterben!
„Wir müssen reden“, sagt Jan leise und wuschelt durch mein Haar.
Scheiße. Einer dieser Sätze, die ich niemals im Leben hören wollte. Bestimmt ist jetzt endgültig Schluss.
Ich schlucke.
„Wenn ich nur solange interessant war, bis ich dich rangelassen habe, ist okay für mich. Mach dir keinen Kopf und geh endlich!“, den letzten Satz schreie ich so laut, dass die Nachbarzimmer wahrscheinlich auch noch was davon haben.
Sehe seine aufgerissenen Augen, wie er sich auf die Lippen beißt.
Und dann geht.
Es macht mir doch was aus. Ein Teil von mir stirbt oder wird sterben, ich kann es spüren.
Sehe trotzdem zu, wie die weiße Tür ins Schloss fällt.
Es war besser so.
Rede ich mir zumindest ein.
Kapitel 11
Ich bin wieder zu Hause. Die Schwester hätte mich nach dem Weinkrampf, den ich hatte, zwar lieber in die Psychiatrische gesteckt, aber Gabriel konnte sie doch noch belabern. Eigentlich hat er seinen Charme versprüht und ihr ein paar Komplimente gemacht und tada: Sie hat dem Arzt nichts von meiner Labilität erzählt.
Jetzt sitze ich mit Bambi und Alex auf meinem Bett und futtere meine dritte Portion Vanilleeis mit Erdbeersoße und Schokostreuseln. Die DVD läuft schon an die 20 Minuten, aber keiner von uns schenkt dem Film Beachtung. Wir quasseln nämlich über den nächsten Auftritt von Teaparty Service. Die Band wurde nämlich zu einem lokalen Festival eingeladen, alle waren total aus dem Häuschen, als sie gestern gefragt wurden.
Aufgrund des angeblichen Klamottenmangels hat Bambi heute schnell mitternachtsblauen Stoff und Garn gekauft und wir veranstalten den wer-schafft-es-sich-am-wenigsten-in-die-Finger-zu-pieksen-Wettbewerb. Sie will nämlich so ein Korsage-Top mit Schnallen, Schleifen und anderem Krempel. Über Versand ist das natürlich viel zu teuer, deshalb wird hier noch von Hand genäht. Meine Finger sind schon total bepflastert, weil ich mich wirklich dumm anstelle. Tja, vor rund fünf Minuten wurde ich deshalb zum Umhäkeln der Klamotte verdonnert und zwar mit der Begründung »Lebend bist du uns lieber!«.
Hmpf.
Ich stopfe brav das Eis in mich rein und versuche zu ignorieren wie schlecht es mir geht. Dabei könnte ich schon den ganzen Tag über heulen. Der Himmel macht das übrigens auch: Draußen schüttet es aus Kübeln und die Blitze machen das Szenario auch nicht angenehmer. Eigentlich sollte man bei dem Wetter ja technische Geräte auslassen, aber dann hätten wir gar keine Ablenkung mehr.
„Ich geh mal ne neue Packung Pflaster organisieren!“, murmle ich und nehme meine leere Schale mit runter.
Durch das Küchenfenster sehe ich die dunklen Wolken über den Himmel rasen, die ich bei mir oben durch die heruntergelassene Jalousie ausgesperrt habe. Hier ist es beinahe gespenstisch still, ich schwinge mich auf die Arbeitsplatte.
Ich muss nachdenken. Über mich, die Welt und wie es weitergehen soll. Und ein klein wenig über Gabriel, der sauer ist und nicht mehr mit mir redet, weil ich irgendetwas gemacht habe.
Was, weiß ich nicht.
Ich wackle mit den Zehen und grinse vor mich hin. Glaube, ich werde verrückt. Kegle ein Glas, das ziemlich auf der Kippe stand, um. Sehe die feinen Splitter über den Boden fliegen und breche in lautes Gelächter aus.
Ich springe von der Arbeitsplatte und setze mich mitten in die Scherben. Sehen so schön aus im Licht der Lampe. Will sie mir umhängen wie Juwelen, weil sie so bezaubernd sind. Lasse sie behutsam durch meine Hände gleiten, damit ich ihnen nicht wehtue. Sind doch so verletzlich.
Lächle entrückt.
Bambi kommt in die Küche, vorsichtig. Bestimmt will sie ihnen auch nichts tun. Weiß doch, wie lieb sie ist.
Sie bückt sich zu mir runter und fährt mit ihrer Hand sanft in die meine. Dann kniet sie sich hin, in mein Scherbenmeer. Will sie wegstoßen, weil sie meine Schätze zerstören wird.
Aber sie schlingt stattdessen ihre Arme um mich, ich kann nicht weg. Die Tränen rollen über meine Wangen, ohne dass ich sie zurückhalten kann. Wie Glas.
Sie haben mich ins Bett verfrachtet und mir ungefähr 1000 Liter Kakao gekocht. Das beruhigt, sagen sie. Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will. Trotzdem brav getrunken, weil sie so lieb geguckt haben.
Sie machen sich Sorgen um mich, das tun nicht mal meine Eltern. Und sie stellen keine Fragen wie »Geht es dir besser?« oder »Wie fühlst du dich dabei?«. Außerdem hat Bambi ihr Schauermärchen-Buch geholt und liest für mich.
Sie hat genau die richtige Stimme dafür, eine, der man immer zuhören möchte. Alles klingt wunderbar und man fühlt sich in die Geschichte hineinversetzt.
Aber heute kann ich mich nicht konzentrieren, klammere mich nur an Alexandras Hand. Sie lächelt leicht und bettet mich dann auf ihren Schoß.
„Alles wird gut, Ebbe, keine Sorge!“, wispert sie und haucht mir einen Kuss auf die Stirn.
Ich nicke leicht, aber die Tränen in meinen Augen wollen nicht verschwinden. Was zieht mich denn so runter?
Ach ja, mein angeblicher Freund hatte nebenher eine Beziehung. Mit einer Frau.
Arg! Ich könnte kotzen!
Natürlich bin ich eifersüchtig auf sie! Selbstverständlich will ich ihn verletzen!
Warum?
Weil er mir wehgetan hat. Mir genüsslich lächelnd einen vergifteten Pfeil in mein kleines Herz gerammt hat, wohl wissend, dass ich mich nicht erholen werde.
Klingt theatralisch, scheint aber so zu sein. Würde ich sonst hier sitzen und mir die Augen aus dem Kopf heulen? Wohl kaum.
Ich seufze abgrundtief und ziehe die Decke über meinen Kopf. Einen Versuch ist die Straußentheorie wert. Ich seh euch nicht, also könnt ihr mich auch nicht sehen. Und mir nichts anhaben.
Mein Handy ist auf lautlos, ich will nicht mitbekommen, dass er aus einer Laune heraus anruft. Wollte es gegen die Wand werfen. Bambi hat es mir abgenommen. Inzwischen hat sie das Lesen aufgegeben und spielt jetzt Pinball.
Nein, jetzt zuckt sie seltsam. Hm, das Handy vibriert wohl. Vielleicht sind das meine Eltern, die haben die Rufnummerkennung immer aus. Besser nicht drangehen, könnte ja auch Zapp sein.
Bambi sieht mich erwartungsvoll an.
„Nun geh schon dran!“, zischt sie angespannt.
Uhm, sie hat ihren Raubtier-Blick – eine falsche Bewegung und ich bin hin.
Brav nehme ich ihr das Handy ab und melde mich mit einem möglichst tapferen »Hallo?«. Nicht sehr überzeugend, aber immerhin ein Anfang.
„Ebbe? Bitte leg jetzt nicht sofort auf, wenn du meine Stimme hörst, ja?“
Jan. Mein Finger bewegt sich zu dem netten, unschuldigen roten Knopf.
„Es ist wichtig! Wir müssen reden, verdammter Mist! Ich-“
Tja, dumm gelaufen. Ich habe das Gespräch beendet. Oder eher seinen Monolog. Will ihn nicht hören, weil es dann nur noch mehr wehtut. Alex sieht mich seltsam an. Wahrscheinlich ist sie wieder in irgendeiner ihrer Traumwelten und merkt gar nicht, dass wir da sind.
„Und wenn er es ganz anders meint?“, fragt sie langsam.
Mist, doch nicht so abwesend, wie sie schien.
„Er hat eine Freundin, die Laura heißt. Seine Mutter kennt und mag sie. Er küsst sie nur zum Schure! Natürlich hat er sich was ganz anderes gedacht!“, schreie ich ihr beinahe ins Gesicht.
„Beruhig dich. Ich habe nichts gesagt, ja? Wenn du ihn unbedingt hassen willst, dann mach einfach. Aber guck nicht kreuzsterbensunglücklich, dass dich jeder drauf anspricht!“, faucht sie zurück.
Ich gucke auf den Boden. Weiß, dass ich das nicht kann. Weil ich niemanden hasse. Sage ich höchstens, wenn mich jemand richtig aufregt, meine ich nie so.
Es klingelt. Wer stört denn bitteschön Prinzessin von und zu Drama bei ihrer neuen Lieblingsbeschäftigung? Die holde Person muss sofort geköpft werden!
Bambi scheint der gleichen Meinung zu sein, deshalb hoppeln wir die Treppe runter und sie öffnet die Tür reichlich ungestüm.
Kapitel 12
Es ist Jan, schon wieder. Sein Haar ist zerzaust, er sieht leicht gehetzt aus. Und er lächelt leicht. Ich will ihn draußen stehen lassen. Bambi hat offenbar meine Gedanken erraten, sie hat mich nämlich gerade in die Seite geknufft.
„Hi“, murmelt er. „Kann ich reinkommen?“
„Klar!“, antwortet meine herzallerliebste Freundin statt mir.
Pah, in seinem eigenen Haus wird man schon der Entscheidungen entmächtigt, Frechheit! Ich werfe ihr einen hoffentlich todbringenden Blick zu und bewege mich wieder nach oben in mein Reich.
„Er hat nur nen schlechten Tag“, zischelt Bambi meinem Ex hinter meinem Rücken zu.
Klar. Demnächst sagt sie, dass ich gerade menstruiere und deshalb besonders sanft behandelt werden müsse.
Alex ist vom Sofa aufgestanden und greift nach ihrer Tasche.
„Bambi und ich müssen los, sie hat nen Termin bei mir – neues Tattoo!“, sagt sie pseudo-entschuldigend.
Verräterin. Lassen die mich einfach so mit dem allein. Ich atme tief durch. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das gut tut. Mm, ich merke nichts und bin immer noch stocksauer.
„Ebbe? Kann ich mich setzen?“, Jan sieht mich fragend an.
Ich nicke und halte meine nervös zuckende Augenbraue fest. Bescheuerter Tick! Fehlt nicht viel und bei mir wird das Tourettesyndrom diagnostiziert. Dabei passiert das wirklich nur, wenn ich mich kaum noch unter Kontrolle habe.
„Warum bist du vorbeigekommen?“, frage ich und sehe betont gelassen aus dem Fenster.
„Weil ich es dir erklären muss. Weil du mich zumindest gehört haben musst, bevor du mich rausschmeißt und endgültig vergisst.“
Die Antwort überrascht mich. Ich blinzle verwirrt und drehe mich zu ihm um. Deute ein Nicken an.
„Laura und ich haben uns vor vier Jahren kennengelernt. Damals waren wir gerade in neue Klassen eingeteilt worden, ich hatte mich für Französisch als dritte Fremdsprache entschieden. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen, sie war gerade erst in die Stadt gezogen.
Wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut, sie war auch oft bei uns zu Hause. Irgendwann im Laufe der 10., während einer 3-tägigen Exkursion, sind wir zusammengekommen.“
Toll, warum erzählt er mir das? Damit ich mir das überirdische, flauschige, rosa Glück
besser vorstellen kann? Danke, das reicht mir.
„Aber ziemlich bald darauf, vielleicht drei Monate später, musste ich entdecken, dass ich gar nicht auf Mädchen stehe. Laura hat es selber herausgefunden. Sie kennt meine Mutter nur zu gut; deshalb haben wir beschlossen, offiziell noch zusammen zu bleiben. Sie ist wie ein Alibi, verstehst du?“, redet er weiter.
Alles nur Show? Ich weiß nicht. Das sah doch alles so echt aus neulich. Was soll ich denn bitte jetzt von ihm halten? Ich beiße mir auf die Lippe. So seltsam.
„Ebbe?“
Ich sehe in seine Augen, es trifft mich wie ein Schlag. Diese Verzweiflung, die ich in seinem Blick wahrnehme, frisst sich in mich. Ich nicke, während ich ihn wie ein hypnotisiertes Karnickel anstarre.
„Ja?“, wispere ich.
Ich weiß nicht, warum ich so leise spreche. Mein Hals ist wie zugeschnürt, mein Kopf leer gefegt. Er macht einen Schritt auf mich zu. Hilfe, was soll ich den jetzt tun?
„Können wir die ganze Sache nicht einfach vergessen?“, fragt Jan leise und fährt vorsichtig über meine Wange.
Ich zittere. Vielleicht auch wegen der Berührung, aber ganz sicher wegen seinen Worten.
Vergessen.
Was will er denn nicht mehr kennen? Mich? Das Gefühl, mit mir zusammen zu sein? Alles?
Ich weiche zurück, bis mich das Fenster daran hindert. Habe Angst. Irgendwie will ich ihn ja doch. Egal, ob es da jemanden wie Laura gibt. Ob Zapp genauso denkt?
„Wie meinst du das?“, frage ich kühl und sperre sämtliche Gefühle aus dem Satz aus.
Will stark wirken, wenn ich es schon nicht sein kann. Jan sieht mich verwirrt an. Habe ich ihn etwa verunsichert?
„Ich dachte, dass wir vielleicht...“, fängt er an und unterbricht sich doch wieder selbst.
Bah, mach es nicht so spannend! Ich will wissen, ob du mich in die Wüste schickst, ja? Ich werde ja noch ganz kirre, wenn du rumdruckst!
„Ebbe, können wir es nicht nochmal versuchen?“, fragt er und beißt sich dann auf die Unterlippe.
Als ob er was Falsches gesagt hätte!
Mein Blick wandert prüfend über ihn, ich darf mich schließlich nicht zu leicht kriegen lassen.
„Hm, das muss ich mir wohl gut überlegen!“, murmle ich und werfe den Kopf in den Nacken.
Dann bricht das Lachen aus mir heraus. Alles nur gespielt.
Er lächelt mich an, hat meinen Mini-Auftritt durchschaut.
Und dann gibt es nur noch uns.
ENDE
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