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Ohne Janus

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Ohne Janus

„Ist Janus da?“

Zwei Typen in seinem Alter lehnen an der Hauswand und rauchen.

„Janus!!“ Der eine ruft in Richtung der offen stehenden Tür zur kleinen Einzimmerwohnung. Grinst.

„Komm runter von deiner Liebsten! Hier ist Besuch!“

Keine Reaktion. Eine ganze Weile lang. Einfach nichts. Warten.

Dann von drinnen, genervt: „Wer denn?“

„Ahne ich nicht.“

Nichts passiert. Was läuft hier denn gerade?

„Janus!“ ruft der andere nochmal. Amüsierter Gesichtsausdruck. „Man lässt seinen Besuch nicht warten!“

„Ja…“ kommt es ärgerlich aus der Wohnung.

Noch einen Moment nichts.

Doch dann erscheint er. Janus. Der kleine Janus. Entdeckt mich, beginnt zu strahlen. Wirkt heute fast halb freudig, halb ein bisschen verschämt. Hat er etwa eben wirklich… Postkoitales Grinsen? Aber umwerfend wie immer. Kommt raus zu mir auf den Rasen. Seine kurzen Haare vorne etwas verschwitzt, sieht man sonst nie bei ihm.

„Hi Steen!“

„Hi Janus!“ Ich strahle auch und muss mich tüchtig zusammennehmen, nicht ganz dahinzuschmelzen.

„Äh, wollte eigentlich gar nicht stören, nur dir eben dieses Buch hier geben… Habe ich neulich in einem Second-Hand-Laden entdeckt und an dich gedacht…“

Er mustert den grünen Einband interessiert, ist aber wohl noch nicht ganz im Bilde.

„Ja, nicht gerade das, was man am liebsten vorm Einschlafen liest… aber locker geschrieben und scheinen ein paar ganz brauchbare Tipps drin zu sein, die dir vielleicht helfen, das da mit Schule und so einfacher auf die Reihe zu kriegen…du weißt schon.“

‚Aha’, macht es jetzt in ihm. Und ich kann merken, er weiß meinen Gedanken doch zu schätzen. Der eine Kumpel guckt ihm neugierig über die Schulter und trollt sich dann wieder.

„Jo, das soll’s auch schon gewesen sein. Hier…“, ich lege noch schnell eine kleine Tüte oben aufs Buch , „zum Gute-Nacht-Tee.“ Sein unbeschreibliches Lächeln. Er steht genauso auf süßen Bäckerkram wie ich. Will ihn am liebsten umarmen, wie er hier vor mir steht. Umfasse ersatzweise seine Rechte mit beiden Händen:

„Ich muss runter zur Fähre, bin die nächsten zwei Wochen weg, paar Bekannte und Familie treffen. Janus, du sollst es gut haben!“

„Danke… du auch. Wir sehen uns.“

*

Das war heute vor einem Jahr. September. Vor einem Jahr. Bin auch gerade wieder am Packen, übermorgen soll’s losgehen auf die Shetlandinseln, zwei Wochen. Mein Abfahrtsort ist aber ein ganz anderer. Mehrere hundert Kilometer liegen jetzt zwischen diesen beiden Jahren. Janus? Es ist viertel nach elf am Vormittag. Hat jetzt bestimmt Unterricht. Kommt hoffentlich klar.

*

„Baltasound – Britain’s northernmost post office“. Ich sollte es nicht tun. Sollte es sachte und still ausklingen lassen. Wäre besser für mich. Weiß ich ja. Ist ja jetzt auch schon lange her, dass ich mal eine SMS von ihm erhalten habe. Life goes on. Aber ich möchte ihm zeigen, dass ich immer noch an ihn denke. Denn das tue ich ja. Nur eine kleine Postkarte. Hatten doch letzten Dezember erwogen, mal zusammen nach Schottland zu fahren. Moore, Burgruinen, Whisky. Und die Shetlandinseln sind doch Schottland. Nur einen kleinen lieben Gruß. Mit Stempel: „Baltasound – Britain’s northernmost post office.“

Die Sonne sticht aus dicken Haufenwolken hervor, die Hügel leuchten in grellgrünen Spots, vor der dunklen Felswand sausen Seevögel in einem flirrenden Durcheinander im Aufwind umher, unten bricht sich, konstant rauschend, der Nordatlantik. Die Regengardinen des nächsten Schauers stehen schon über den verstreuten Klippengruppen in der weiten Bucht.

Jetzt ist doch eine Gedankenlawine losgetreten. Durch das Schreiben einer kleinen Postkarte. Mann!

*

„Nabbend!“

„Hey Kai – komm schnell rein!“

Kai hängt seine tropfende Windjacke an den Haken und pfeffert seine Turnschuhe in die Flurecke.

„Tusch! Hier kommt das Dessert. Musst vielleicht noch bis nachher in den Kühlschrank stellen.“

„Uhmmm, du weißt hoffentlich: In meinen Kühlschrank kommt nix ohne vorherigen Qualitätscheck…“

„Steen! Untersteen dich!“

„Verwurste du nicht meinen wohlklingenden Namen…“

„Soll der Salat schon rüber oder packen wir den gleich auf den Teller?“

„Och, können wir ja auch gleich draufpacken. Probier mal, ob da noch mehr ranmuss.“

„Bloß zu faul zum Abwaschen. Junggeselle!“

„Selber! Außerdem bin heute ich mit Abtrocknen dran, das heißt, dass Herr Kai…“

„Mmh, der Salat ist gut so.“

„Lenk nicht ab! Was hat Sudhoff eigentlich zu deinen drei neuen Dampfern gesagt?“

„Ach… der hat noch ´ne Woche Urlaub drangehängt, der weiß noch nichts von seinem Glück, hehe.“

„Oder gerade doch. Gut, dass ich nicht in deinem Laden meine Brötchen verdienen muss.“

„Steeni, wart man ab. Wenn er erst wieder da ist, ruft er dich jeden Tag zehnmal an, ob du schon die erste Passagemeldung von einem der Schiffchen hast.“

*

„Booah! Großes Lob an den Macher von fünfzehn Kubikmetern Mousse au chocolat nebst Erdbeeren… So kurbelt man die schwächelnde Wirtschaft an. Muss morgen sofort weite Klamotten kaufen…“

„Danke! Aber hättest ja nicht so viel zu futtern brauchen.“

„Hättest ja nicht so viel zu machen brauchen… reine Verführung, das!“

„Ich einen Steen verführen? Annika wäre da wohl nicht ganz die Begeistertste…“

„Bahnt sich da jetzt doch was an?“

„Tjaeeh, …“

„Ich sehe doch Verzückung in deinen Augen! Lass doch mal unseren nächsten Zwei-Personen-Menü-Abend zu einem Drei-Personen-Menü-Abend erweitern. Immer hat sie doch auch nicht Spät- oder Nachtschicht, oder?“

„Nee, zum Glück nicht! Hab ihr ja auch schon einiges über dich erzählt, ich glaube, das würde sie auch freuen, dich mal mehr kennenzulernen.“

„Mmh, wir hatten ja bloß ein paar Mal kurz geklönt, beim Sportbootführerscheinkurs. Wann willst du deinen eigentlich endlich mal nachholen?“

„Gute Frage, stellen Sie bitte die nächste Frage! Nee, weiß echt nicht, im Moment habe ich genug um die Ohren im Büro, kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt mal pünktlichen Feierabend gehabt habe.“

„Deine drei neuen Dampfer?“

„Ja. Aber nun kommt das Ganze ja wohl endlich ins Laufen. Woll’n mal gucken. Annika schwärmt übrigens auch für alte Häuschen mit Kachelofen und niedriger Decke, da hast du uns was voraus, Steen…“

„Da muss ich wohl nächstes Mal den Ofen anheizen. Dann geht das Dessert auch auf meine Kappe: Freuen Sie sich schon jetzt auf Bratäpfel mit Steen-Spezial-Füllung.“

„Dann bist du auch für die Menge verantwortlich, hrhr, so von wegen Verführung und so. À propos, wie ist es denn mit der Aussicht, dass wir bald vielleicht sogar einen Vier-Personen-Menü-Abend veranstalten müssen...?“

„Sehe ich im Moment nicht…“

„Echt nicht? Warst du eigentlich nicht gleich, nachdem du hierher gezogen warst, mit dem Jonas zusammen?“

„Mit Jonas? Jonas und ich kennen uns, aber ich hatte nichts mit dem.“

„Du hast mir aber doch von einem erzählt… Nicht Jonas?“

„Jonas nicht. Äh, vielleicht verwechselst du da was. Vielleicht meinst du – Ja-, ähm, ähm, Janus…“

„… oder Janus.“

„War vor dem Umzug…“

„Ach so, da, okay. Aber mit dem hattest du dann…?“

Schaffe es plötzlich nicht, zu antworten.

*

Janus’ Gesicht ist maximal zehn winzige Zentimeter von meinem entfernt. Wir kriechen mit unseren Köpfen beinahe in den PC-Schirm, um eventuell mehr Details an den dort gezeigten Laptops zu erkennen. Janus in seinem Element. Er gibt mir Empfehlungen, was mein potentieller neuer tragbarer Computer seiner Ansicht nach alles haben müsste, mindestens haben müsste. Und wie er aussehen müsste.

Janus ist süß. Sein Gesicht neben mir ist süß. Zart. Zerbrechlich. Wie der ganze Janus. Zehn Zentimeter neben mir. Unsere persönlichen Nahbereiche überschneiden einander bereits. Kann ihn empfinden. Anziehungskräfte wollen mich auf Janus zu zwingen, immer stärker, immer schneller… Ein Sog. Es kostet mich alle Energie der Welt und mehr, weiter mit ihm zusammen in den Computer zu glotzen und nicht auf einmal nachzugeben, nachzugeben und meinen Kopf eben nach rechts zu drehen… ihn anzusehen… ihn lange anzusehen… und… ihn… sanft… auf die Stirn zu küssen. Aber das geht nicht. Das darf nicht passieren. In mir brennt alles.

Was er wohl sagen würde, wenn ich einfach mal meinen rechten Arm sachte um seine Schultern legen würde… Und den Arm dann nie wieder von dort wegnehmen würde…

*

„Walk with me

Take my hand

Spend the night with the stupid man.

I am yours

If you can

Fall in love with the stupid man.“

Habe gerade absolut keinen Bock auf die Megahits der 90er und das Beste von haumichtot oder so etwas, wozu hat man noch selbstgemachte Tapes? Prompt muss ich eins mit Thomas Helmig erwischen. Spricht er mir aus der Seele?

Schon gleich halb zwei. Letzten Schluck Tee, Rucksack schnappen, rein ins Auto. Der Kollege will pünktlich abgelöst werden.

Janus muss in einer halben Stunde frei haben, wenn er nicht heute noch 7. und 8. Stunde hat. Hängt bestimmt erstmal in der Stadt rum. Würde er heute bei mir reingucken, wenn ich jetzt Nachmittagsschicht auf meiner alten Dienststelle hätte? So, wie so viele Male vorher? „Steen, können wir mal gaaanz kurz auf die Seite vom Planeten mit den Ringen gehen, die haben gerade ein richtig geiles neues Notebook im Angebot…“

*

Aah, genieße meinen freien Tag. Draußen schüttet es wie aus Eimern, dazu fegt ein heftiger, böiger Südwestwind ums Haus. Düster. Drinnen warmes Kerzenlicht von den Fensterbänken. Will mal sehen, ob ich das kleine Schild für meinen Schuppen heute fertiggemalt bekomme. Aus einem Stück Treibholz. Von Salzwasser und Sonne ausgelaugt und ganz glatt.

Musste mich vorhin aber doch in dieses tobende Herbstwetter rauswagen, weil mir noch passende Ösen zur Anbringung des Schildes fehlten. Kleiner Baumarkt im Gewerbegebiet. Hatte mich endlich für eine Packung „8 x 9,6mm, Messing“ entschieden. Niemand hinterm Kassentresen, war gespannt, wer da auftauchen würde. Sollte eigentlich viel öfter diesen Baumarkt aufsuchen. Da scheinen nämlich fast nur sympathische Typen in meinem Alter zu arbeiten, und ja, irgendwie wirken die alle schwul. Okay, letzteres ist wahrscheinlich 50% Wunschdenken. Aber immerhin nur 50%, und…

„Diese Packung hier?“

- - - Gut, dass die Packung Ösen schon auf dem Kassentisch lag, sonst wäre sie mir wohl aus der Hand gefallen. Oh nein! Wie süß! Wagte kaum, ein zweites Mal aufzublicken. Den hatte ich dort noch nie vorher gesehen.

„Willst du den Bon noch haben?“

„Nee danke, muss ich eh selbst zahlen…“

Sah ihn dann doch an und er sagte: „Na okay. Tschüß!“ Und guckte mir direkt in die Augen mit solch einem umwerfenden Lächeln wie… ja, wie Janus etwa? Konnte nicht anders, als genauso zurückzulächeln. Und schon war ich raus aus dem Laden.

Und ärgerte mich auch schon, auf die Bon-Frage nicht einfach „ja“ geantwortet zu haben. „Sie wurden bedient von…“ hätte da doch garantiert draufgestanden! Ich Rind. Muh! Aber was will ich denn mit seinem Namen? Naja... Wie heißt so ein Süßer wohl? War das überhaupt ein echtes Lächeln oder nur so ein berufliches, weil er hinter dem Verkaufstresen stand? Kann ich das eine von dem anderen schon nicht mehr unterscheiden, wenn es von so einem Typen kommt? Wie schon gesagt, ich muss wohl in Zukunft öfter irgendwas im Baumarkt kaufen. Vielleicht mich auch mal vor einem Kauf beraten lassen…

Nun sitze ich in der gemütlichen Stube, höre schöne Musik und male das Schild fertig. Und verfalle ein bisschen in Erinnerungen. Mal wieder.

*

„Hi. Hast du heute schon was vor?“

Schulhofstimmengewirr im Hintergrund.

„Komme gerade aus der Dusche und hab mir, öh, noch gar keine Gedanken gemacht…“

Was will der kleine Janus mir denn jetzt vorschlagen?

„Ich dachte nur, ob du vielleicht meine Sachen in die Stadt fahren könntest. Ich ziehe nämlich um.“

Nein! Also doch. Haben seine verbohrten Eltern es also doch wahr gemacht. „Ich ziehe nämlich aus“, hätte es wohl eher heißen müssen. Sie haben ihn, man muss es sagen, wie es ist, rausgeworfen. Mit gerade mal achtzehn Jahren. „Damit er endlich mal aufwacht und sich zusammenreißt“, habe ich seinen Vater wieder im Ohr. Also hat auch all mein Reden, Werben, Argumentieren nichts genützt. Weil die es einfach nicht bringen, zu versuchen, wenigstens ansatzweise sich in die Erlebenswelt eines Jugendlichen hineinzudenken. Weil es ihnen an der Einsicht fehlt, was für eine Hilfe es sein kann, wenn Eltern sich kooperativ zeigen. Unfähige Sturköppe. Umso schlimmer, als sie gerade mal Anfang 40 sind und sonst gerne einen auf locker machen. Selbständig solle er endlich werden, nicht nur vorm Computer rumhängen, sich in der Schule verbessern, bla fasel. Dafür setzt man ihn vor die Tür. Ich fasse es nicht.

Passt irgendwie genau zusammen mit der Sache, als Janus sein Fahrrad von der Bushaltestelle gestohlen worden war und ihm verboten wurde, bis auf weiteres mein zweites Rad zu benutzen, was ich ihm vor die Haustür gelegt hatte, nachdem wir beide den ganzen Abend lang mit dem Auto herumgefahren waren, suchend, ob sein Rad nicht irgendwo in einem Graben wieder auftauchte. Sie behaupteten einfach dreist, er habe sein Fahrrad nicht abgeschlossen gehabt und solle nun die Folgen spüren, indem er morgens früher raus und zu Fuß die zwei Kilometer zum Bus trotten sollte. Methode Brechstange. Selbst wenn es vielleicht stimmte, das mit dem Abschließen. Am nächsten Morgen stand mein Rad wieder vor meiner Tür mit einem Zettel von Janus dran.

Natürlich, für manch einen ist es absolut kein Beinbruch, mit achtzehn von zu Hause auszuziehen, eher im Gegenteil, Motto: Endlich darf ich! Aber es kommt eben darauf an, welcher Seite Wünsche und Interessen dahinterstehen, und: Der Ton macht die Musik. Ich weiß, dass Janus selbst nicht ausziehen wollte. Halte ihn auch noch für zu – ja was, jung, klein, unreif? – dazu. Er hängt sehr an seinen kleineren Geschwistern. Wie fühlt sich ein Kind, wenn die eigenen Eltern es aus seiner privatesten Umgebung, seinem Zuhause, dem Ort, der trotz mancher Disharmonien immer noch Zuflucht und Sicherheit bedeutete, verjagen? Obwohl, zu Hause bei solchen Eltern… womöglich ist es auf längere Sicht doch eine Verbesserung für ihn. Eine Befreiung. So, wie ich diese Familie kennengelernt habe, habe ich den Verdacht, die Eltern kommen ganz einfach mit ihrer Kinderschar nicht zurecht und sind froh, endlich einen davon loswerden zu können. Mehr steht nicht dahinter. Darüber sind sie sich selbst vielleicht noch nicht einmal im Klaren.

„Was?? Also doch… Heute schon! Oh Janus… Na klar kann ich für dich fahren.“

„Ich hab Schulschluss um halb zwölf, können wir sagen: Um eins vorm Haus?“

Flitze vorher noch schnell in den Supermarkt und kaufe eine bunte Tüte zusammen, Erstbestückung für Janus’ Kühlschrank. Weiß ja, was er so mag. Und anschließend natürlich noch eben beim Bäcker reingucken…

Wir fahren zweimal hin und zurück. Viel große Sachen hat er ja nicht, und die Klamotten alle in schwarze Plastiksäcke gestopft. Einzimmerwohnung in einer Wohnanlage, die eine gemeinnützige Genossenschaft speziell für junge Leute in Schule und Ausbildung betreibt. Winzig, aber hell und modern. Die wichtigsten Möbel gleich drin. Draußen viel Rasen. Vielleicht doch genau das richtige Milieu für Janus? Hatten seine Eltern organisiert.

Janus sagt nicht viel, aber irgendwie wirkt er doch nicht so bedrückt und verloren, wie ich befürchtet hatte. Aber er zeigt auch selten viel von seinem Inneren.

„Hast du einen Nachmittagsjob in Aussicht, Janus?“

„Wochenendjob. Und Ferienjob. War neulich unten im Fährterminal, ich hoffe, das wird was…“

„Hinterm Buchungsschalter?“

„An Bord. Cafeteria oder so. Bis dahin zahlen meine Eltern auch meinen Mietanteil…“

Wir holen die letzten Sachen aus dem Auto. Janus ist mit seinem Bücherstapel schon wieder in der Wohnung verschwunden, ich balanciere noch mit einer unförmigen Last aus einem Hocker und ein paar Kartons mit Kleinkram, auf die oben noch eine flauschige Decke gelegt ist. Damit mir das Ganze nicht doch ins Schwanken gerät, presse ich beim Gehen mein Kinn auf die Decke. In diese Decke kuschelt er sich immer, wenn er spät nachts immer noch vor seinem PC hockt... Janus’ Decke. Aber sie riecht wie jede andere Decke auch.

*

Fühle mich leer. Habe wieder frei heute und draußen scheint eine schwach rötliche Januarsonne. Nach Wochen grauen Wetters. Raus und eine lange Deichwanderung machen. Müsste man. Eigentlich. Aber wie immer alleine. Kai sitzt jetzt noch im Büro. Und bei wem würden die Gedanken nach einer halben Stunde wieder landen? Dazu habe ich keine Lust. Müsste eigentlich auch noch ein paar Beschläge für die alten Schuppentüren kaufen. Im Baumarkt natürlich. Aber auch dazu habe ich keine Lust, denn… nee, das bringe ich jetzt nicht. Sowieso ein völlig schwachsinniger Gedanke. „Wir haben uns im Baumarkt an der Kasse kennengelernt. Steen hat die Schrauben immer alle einzeln bei mir bezahlt, und jetzt leben wir schon zwanzig Jahre glücklich zusammen!“ Haha. Schraube locker, oder wie? Wer dran glaubt, wird selig.

Gehe dann aber doch raus. Auf den Deich und wandere nordwärts. Werfe lange Schatten vor mich. Die Luft ist kalt, der Schal wärmt gut und die Sicht geht weit hinaus.

Janus hatte es geschafft. Hatte sich damals schnell eingelebt in seiner neuen Umgebung. Seine Freunde hatten ihn aufgefangen. Er hatte in der Wohnanlage einige neue dazugewonnen. Freute mich sehr für ihn, ich war erleichtert.

Computerspielabende und Party every weekend. Janus fing an, auf Parties zu gehen. Janus setzte sich immer seltener in den Bus, der zu seinem alten Zuhause fuhr. Hatte er jetzt auch eine Freundin?

Darüber erfuhr ich nie so richtig etwas. Vermied es aber auch immer, weiter in dem Thema herumzurühren, weil man jedes Mal schnell merken konnte, dass er sich darüber am liebsten nicht auslassen wollte. Erschien ich ihm denn schon zu alt, als dass er meinte, wir könnten uns nicht auch da auf gleicher Ebene unterhalten? Hat man mit dreiundzwanzig schon so viel mehr unangenehme erwachsene Ansichten als mit achtzehn? Mich hatte er übrigens auch nie in dieser Richtung gefragt, Motto: „Na, was machen die Mädchen?“

Wieso habe ich mich eigentlich nie gefragt, ob er einen Freund habe? Nein, Janus konnte nicht schwul sein. Nee, das passte irgendwie nicht. Nicht nur, weil an den Wänden seiner Wohnung Poster prangten, deren Motive auch aus einem Beate-Uhse-Katalog hätten stammen können. Nicht nur, weil er für alles, was mit Angelina Jolie und sonstigen Überfrauen zu tun hatte, schwärmte. Nee, kann und konnte es mir einfach nicht vorstellen. Dass da eventuell doch noch eine andere Seite sein könnte, die er mir nicht zeigen wollte. Mir nicht zu zeigen getraute. Auch, weil er sich vielleicht selbst noch nicht ganz klar darüber war.

Das heißt, vorstellen konnte ich es mir manchmal schon. Hörte ich nicht manchmal Worte, die etwas abseits des Alltäglichen gesetzt waren? Sah ich da nicht manchmal etwas in seinem Gesicht? Gab es da nicht die Momente, wo in seinem Verhalten mir gegenüber doch mehr aufzublitzen schien? Was mir, wenn ich mich selbst gefragt habe, ob ich ihm nicht schon zu sehr zeigte, wie sehr ich ihn mochte, immer wieder so etwas wie eine Zuversicht gegeben hatte, dass da auch auf seiner Seite mehr sein könnte?

Doch, diese Momente gab es. Genauso wie die Einsicht, dass sie schlicht überinterpretiert wurden von jemandem, der blind war. Vor Liebe. Und nur bedingt auseinanderhalten konnte – oder wollte, dass ein vielleicht ungewöhnlich wirkender Sympathiebeweis von Janus noch nicht gleich automatisch bedeuten musste, dass er schwul war. Geschweige denn auch in mich verliebt.

Deswegen hatte ich es auch nie gewagt, ihm direkt und offen zu sagen, was ich für ihn fühlte und was er mir bedeutete. War mir auch nicht sicher gewesen, was es eventuell in ihm angerichtet haben könnte, als labiler Heranwachsender von einem anderen Typen plötzlich eine leidenschaftliche Liebeserklärung zu bekommen. Denn eine solche wäre es geworden.

„Weil ich dich mag, wie du bist!“ habe ich ihm allerdings einmal geantwortet, als er mich fragte, wie es sein könne, dass ich für ihn nie weit weg sei, wenn er in Schwierigkeiten stecke, und er meinte, das eigentlich gar nicht annehmen zu können. Er hatte nichts darauf erwidert, hatte nur die Augen niedergeschlagen und etwas schüchtern gelächelt.

*

„Hi Steen! Lust, zum Angeln mitzukommen? Fischgrüße Janus.“

Die SMS holt mich aus meinem Schönheitsschlaf. Viertel vor zehn. Naja, man könnte ja jetzt auch aufstehen. Janus hat Sommerferien.

Halb zwei stehen wir in meiner Küche und mantschen in einem abenteuerlichen Mehlteig, den möglichst auch Fische mögen sollten. Uns schmeckt er jedenfalls.

„Vielleicht noch einen Schuss Whisky mit rein?“

„Whisky? Ey Steen… Aber in meine Teigkugel nicht!“

Wir suchen uns einen halbschattigen Fleck am Ufer des kleinen Sees. Sollen Fische nicht am besten in der Dämmerung beißen? Jetzt ist also ein heller, heißer Sommernachmittag, und – nichts beißt.

Plötzlich klimpernde Laute, direkt um mich herum, wie von einem Regen kleiner Steine, die ins Wasser plumpsen. Blick zur Seite: Janus steht ein paar Meter weiter und konzentriert sich auf seine Angel. Ich blicke weiter zu ihm hin, finde ihn nebenbei – nebenbei? – schon wieder viel zu schön, muss dann aber allmählich grinsen – beeindruckt ihn nicht. Ist voll und ganz seiner Angel hingegeben.

Wende mich wieder meiner Angel zu. Da – wieder dieses Steineplumpsen. Drehe mich diesmal blitzschnell zu Janus – aber der steht reglos da und schaut nur gespannt aufs Wasser, um ja keinen Biss zu verpassen. Hat gar nichts mitbekommen! Nicht? Bleibe wieder dabei, ihn anzusehen, immer noch und immer länger, immer weiter, sehe ihn an, lächle ihn an – und da, erst kaum merklich, dann mehr und mehr sichtbar, die Andeutung eines kleinen Lächelns auch in seinem Gesicht. Aus der Andeutung wird ein Lächeln, aus dem Lächeln ein großes Lächeln, ein strahlendes Lächeln – und mit diesem wendet er sich endlich zu mir. Du Süüüßer! Sein Gesicht offenbart Unbeschwertsein. Offenbart Wohlbefinden. Sommerfreiheit. Und Freude an diesem Moment. Was gibt es Schöneres auf der Welt, als den kleinen Janus lächeln zu sehen! Dabei ist er gar nicht so klein, vielmehr fast genauso groß wie ich selbst, und das heißt einsachtundachtzig. Der Kleine. Jetzt funkelt es ganz leise in seinen Augen und sein Lächeln wird zu einem Grinsen.

„Janus, du hast Biss!“

„Weiß ich!“

„Grins nicht so frech, ich meine deine Angel…“

„Uups – ja!“

Ein Rotauge.

„Steen! Hat auf deinen Whisky-Teig gebissen!“

„Ach nee, und wer mopst von meinem Whisky-Teig?“

„Schmeckt übrigens echt gut. Also, wenn ich Rotauge wäre…“

*

„Hallo, ihr beiden! Ich hoffe, ihr habt nicht schon erwogen, Wurzeln zu schlagen… Konnte in dieser unserer Großstadt die Location gar nicht finden…“

„Immer diese Zugezogenen. Hi Steen! Die haben noch gar nicht aufgemacht hier.“

„Hi Steen! Immerhin warst du es, der uns hier her beordert hat.“

„Veranstaltungstipps kann ich also noch lesen, aber zerfledderte Stadtpläne, bei denen gerade die Straßennamen, auf die es ankommt, genau in der Knicklinie stehen…“

Ein Gewühle und Gedränge vor dem Club. Kalt ist es auch. Hoffentlich können wir bald mal rein. Doch, jetzt bewegt sich was. Cloudy Brain Drain – mein drittes Konzert von denen, seit ich hier wohne. Darf man sich einfach nicht entgehen lassen. Gut, dass ich mit einem Kollegen meinen Nachtdienst heute tauschen konnte.

Mein Blick verhakt sich plötzlich in der Menschenmenge um mich. An einem hübschen Jungen. Schräg vor mir, halblange, blonde Haare, feines, fast schon feminines Gesicht… Dreht sich kurz zu mir um. Soll ich was sagen? Ich sollte was sagen. Annika grinst mich von links an. Ich schlucke. Ich sage nichts. Die Menge verschluckt ihn auch gleich wieder. Muss ja nicht heute sein… ja doch, irgendwann muss ich mich schon zusammennehmen und… aber nicht jetzt. Mir fällt gerade ein, dass ich noch immer nicht weiß, ob es in dieser Stadt eigentlich auch so etwas wie eine Schwulendisse gibt. Naja, liegt wohl daran, dass solche Orte eigentlich gar nicht zu meinen bevorzugten gehören. Aber sonst irgendein Treffpunkt für Leute von meinem Ufer? Muss ich mich mal drum kümmern.

Kai reicht mir einen Becher Becks: „Ich hab dir übrigens die allererste CD von den Drains gebrannt, war ja noch lange vor deiner Zeit hier. Da klingen sie noch so richtig nach schrammeliger Provinzband. Kriegst du, wenn wir uns das nächste Mal bei uns treffen.“

Die letzten Worte muss er in mein Ohr brüllen. Die Drains starten, wir stehen ziemlich gut vorne. Powernummer gleich zu Anfang. Und irgendwann später „Coughing after the seventh beer“ – durfte ja auch nicht fehlen. Schon geil.

Es wird warm. Blaue Lichtkegel, massiv dunstige Luft.

Nach der Pause andere Töne. Von ihrem neuesten Album. Viele singen mit. Einer meiner aktuellen Lieblingssongs. Kann alles auswendig.

„Trust me when I see our lives

They’re sun on dark ice, realize

Their voices in my dreamless nights

Your warming soul will never lean on mine

Will never lean on mine.“

„Steen – du singst gar nicht mit?“

„Äh, nochmal – was??“

„Steen, was’ los? Was ist mit dir?“

„Lass mal…“

„Was?“

„Lass mal.“

„Janus?“

„Mann Kai, lass ihn…“

„Ja… – nein, ist schon okay.“

*

Warum hatte Janus mir nicht von selbst erzählt, dass er die Führerscheinprüfung bestanden hatte? Warum hatte Janus mir nicht von selbst erzählt, dass er einen Job auf der Fähre bekommen hatte? Warum alles so etwas nur auf Nachfrage? Dafür meldete er sich dann immer mal wieder einfach aus heiterem Himmel mit einer kleinen SMS: Hi, habe mir heute Inlineskates gekauft, die sind supergut. Konnte ich diesen vermeintlichen Widerspruch nicht verstehen, weil ich eben doch keine achtzehn mehr war?

In seinem mehr und mehr quirligen Alltag war mehr und mehr ständig etwas los. Er war dabei, seine Welt zu finden und sich in ihr zu etablieren. Garantiert meinte er es nicht ablehnend, wenn er mir manches nicht brühwarm und von selbst erzählte – er vergaß es schlichtweg. Tja, aber vergessen? Dann war ich doch nicht unter seinen persönlichen Top Ten vertreten? Zumindest zuletzt nicht mehr. Oder zumindest nicht in der Intensität, die ich irgendwann einmal doch als tatsächlich vorhanden angesehen hatte. Die ich mir gewünscht hatte. Ja, vielleicht war es auch nur das: Ich hatte es mir gewünscht und die Realität schöngeträumt. Er vergaß mich in seinem Alltag – so wirkte es plötzlich auf mich. Dass wir beide auf gleicher Wellenlänge waren, war wunderbar, aber offenbar war das alleine irgendwann doch nicht mehr ausreichend, die Löcher, die unsere mit der Zeit auseinandergehenden Interessen rissen, zu schließen. Nein, unsere Interessen gingen auch nicht mit der Zeit auseinander, sie blieben immer dieselben wie zu Anfang. Die Löcher wurden mir nur immer deutlicher. Ihm wohl auch, unbewusst. Ohne die Löcher hätte ich wohl einen anderen Platz in seiner neuen Welt bekommen und die Kontakte wären nicht spärlicher geworden. Nicht, dass ich diese Erkenntnis mir vor Augen führen konnte, wollte. Aber ich hatte es die ganze Zeit gewusst. Dieses Wissen war einfach… zurückgedrängt worden. Ich hatte gehofft.

Und irgendwie begann es mir auch, ja – besser zu gehen, je weniger ich von ihm mitbekam. Hauptsache, ich wusste, ihn quälten keine Sorgen. Hauptsache, ich wusste, es ging ihm gut. Hauptsache, ich wusste, er war nicht mehr in finanziellen Nöten und auf meine Speisekammer-Auffüll-Tüten an seiner Türklinke angewiesen.

Schwer wurde es wieder, wenn er dann sms-te: „Hast du morgen Nachmittag Zeit? Habe neue Musik, die du bestimmt auch magst.“ Natürlich hatte ich Zeit. Wenn es sich um ihn drehte, sowieso immer. Und es wurden immer schöne Nachmittage, nicht selten bis zehn Uhr abends. Solange ich neben ihm sitzen konnte, war es wunderschön. Für jeden von uns, das darf ich wohl sagen, auch heute noch. Natürlich verstanden wir uns. Umso grauenhafter mein Weg nach Hause. In der Dunkelheit der unausgesprochenen, aber fast zum Anfassen fühlbaren Überzeugung, dass solche Tage Einzelstücke bleiben würden, immer etwas Besonderes, nie etwas Normales, weil mehr und mehr selten. Weil unsere Freundschaft doch nicht mehr hergab. Und weil ich für ihn eben nicht das war, was er für mich war.

Mein Weg nach Hause in der Überzeugung, dass dieser Junge für mich für immer und alle Zeit unerreichbar bleiben würde. Warum nur war es soweit gekommen, dass ich nur noch Janus, Janus, Janus denken konnte?

Als die neue Dienststelle ausgeschrieben wurde, war für mich klar: Bewerben! Ausbruch aus dem Leben, in dem ich nicht weiterkommen konnte. Abstand gewinnen, geographisch, gefühlsmäßig. Ein paar andere Dinge, die mich schon länger hatten unzufrieden sein lassen, taten ein Übriges. Habe die Stelle bekommen.

Abschied von Janus. Ging gut, nur meine Unterlippe blieb unkontrollierbar. Musste ihn minutenlang ganz fest mit meinen Armen umschließen. War kein Problem für ihn, es war okay. Janus. Habe ihm den Hauptgrund für meinen Wegzug nicht genannt, nur angedeutet. Wäre er darauf eingegangen, hatte ich ihm alles offenlegen wollen. Aber er ging nicht darauf ein. Nun musste ich weiterleben ohne Janus.

Alles hat einen Sinn. Jede Erfahrung bereichert einen. Schwer einsehbar. Bin ich jetzt reifer? Oder gestärkter? Oder individueller? Jede Erfahrung formt einen. Ja, das bestimmt. Und ist es nicht eine Bereicherung, Janus kennengelernt zu haben, mit ihm gelacht zu haben, ihn unterstützt zu haben? Auch, wenn ich nicht das zurückbekommen habe, was ich mir so gewünscht habe? Habe ich das aber in vielleicht ganz anderer Form zurückbekommen? Und vielleicht gar nicht einmal direkt von Janus selbst? Liebt man einen Menschen überhaupt, weil man erwartet, etwas zurückzubekommen?

„Wir haben immer etwas von des anderen Menschen Leben in unserer Hand.“ Dieser Løgstrup-Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Anwendbar in allen Situationen. Auch in dieser. Es stimmt, das mit der Bereicherung.

*

„… ja, Moin Kap’tän, Sie bekommen den Platz von der Mercurio III, die hat noch neun Moves nach und haut dann ab. Ich glaube, die hört auch auf Kanal sechs, Sie können sich da ja untereinander absprechen.“

„Wunderbar, wird gemacht. Bin dann in einer Stunde oben. Gode Wach’!“

Gleißende Nachmittagssonne blendet auf meinen Schreibtisch. Listen hier, Listen da. Das Fax spuckt beinahe minütlich die Änderung der Änderung der Änderung aus. Die Telefone klingeln, dudeln, schnarren. Die Klimaanlage läuft mit voller Kraft voraus, die Schiffe auch. Was wollen die denn alle von uns? Meine Teetasse steht halb ausgetrunken auf der Fensterbank, seit ich sie dort heute bei Dienstbeginn neben dem Fernglas abgestellt habe. Mein Kollege und ich sind am Rotieren. Das Radio haben wir gar nicht erst angemacht.

„… Augenblick, ich geb dir mal Steen!“

„Kai.“ Mein Kollege zeigt auf den Hörer.

„Hi!... Nee, hab noch nichts Neues, oder, warte mal… nein, bleibt bei morgen früh null-fünf-dreißig, da muss dein Prachtdampfer heute Nacht wohl draußen an den Haken gehen. Schöne Grüße dann an Herrn Sudhoff… Hab vorhin übrigens noch bei Schlachter Harms kräftig zugeschlagen, der hat ’n super Sonderangebot an Grillfleisch gehabt, wenn ihr wollt, kommt heute Abend vorbei, sonst lasse ich das alles in der Kühltruhe verschwinden… okay, wir schnacken. Tschüß!“

„Port Control, Port Control, this is the Atlantic Crystal. How do you read me?“

Der Nächste bitte! Mein Finger zielt schon auf die Sprechtaste.

„Steen – den nehm ich mal eben. Dreh dich mal um, ich glaube, du hast Besuch!“

Ich fahre herum. Was?

An der offenen Bürotür stehen drei Personen. Ein Mädchen und zwei Jungen. Halb schüchtern, halb interessiert. Der eine von den beiden Jungen ist… ich muss schlucken. Janus.

Er beginnt zu lächeln und winkt: „Huhu Steen!“

Ein Jahr lang habe ich das nicht mehr gesehen.

Ich stehe auf. „Janus!“ sage ich leise und kann dann nicht anders, als ihn anzustrahlen. Die drei und ich treffen uns in der Raummitte. Er drückt mich freundschaftlich. Er hat ein ärmelloses T-Shirt an. Er riecht nach Sommer. Nach Janus.

„Das sind Nina und Lars...“

„Hi!“

„Wir interrailen gerade ein bisschen durch die Welt, und da dachten wir…“

„Finde ich ja riesig! Janus, da hätte ich nie und nimmer mit gerechnet. Ich…“

„Ähm, Herr Kollege, tschuldigung, dass ich kurz dazwischenfunke, aber wo hast du den Ordner mit den Anmeldungen für nächste Woche versteckt?“

Und im Hintergrund ruft schon wieder einer im UKW.

Warum muss heute aber auch alles gleichzeitig passieren? Wir haben noch Cola im Kühlschrank, ich hocke mich mit den dreien zusammen und wir können uns unterhalten. Das muss jetzt einfach sein. Okay, Telefone bediene ich auch noch nebenbei. Die drei haben allesamt gerade ihr Abi in der Tasche.

„Wo seid ihr heute Abend? Wenn ihr Lust habt, kommt mit raus zu mir hinter’n Deich, dann grillen wir zusammen. Ein Freund und seine andere Hälfte kommen vielleicht auch.“ Frage mich gerade, ob Nina wohl Janus’ „andere Hälfte“ ist. Dazu hat er natürlich wieder nichts gesagt.

„Oh, hört sich echt verlockend an, Steen, aber wir wollen nachher noch den ICE nach München kriegen und von da dann morgen ganz superfrüh weiter.“

„Mann, ihr seid ja auch richtig im Stress. Schade. Aber ihr seid jederzeit willkommen. Janus, meine Nummer hast du ja. Vielleicht macht ihr auf der Rückreise noch einmal einen Abstecher hier rauf?“

Sie wollen es nicht ausschließen.

„Okay. Hat mich wirklich riesig gefreut, dass ihr hier reingeguckt habt, und…“, etwas leiser, „es war schön, dich wiedergesehen zu haben, Janus. Danke. Viel Spaß euch, schöne Erlebnisse und passt gut auf euch auf.“

Ich rede ja schon fast großelternhaft. Aber auch das musste sein. Kam von Herzen.

*

Jesper Neuendorf. Ich wurde bedient von Jesper Neuendorf. Im Baumarkt meines Vertrauens. Beim Kauf meiner Türbeschläge. Das habe ich schwarz auf weiß. Ich war heute da. Und er auch wieder.

„Den Bon? Ach so, brauchst du ja gar nicht, ne?“

Ich habe doch nicht tatsächlich schon einen bleibenden Eindruck hinterlassen?

„Doch, gib mal her, dann weiß ich wenigstens, wer jetzt all mein Geld hat.“

Huch, wer hat das denn eben von sich gegeben? Kann ich auch offensiv sein? Bin doch gerade schon wieder gefährlich nahe dem Dahinschmelzpunkt. Aber wie peinlich muss das denn wirken. „Kann ich vielleicht doch noch für die Steuererklärung gebrauchen“, wäre da ja noch tausendmal weniger platt gewesen.

„Oh, all dein Geld? Ist bei mir aber immer in guten Händen!“

Sehr cool. Oder, naja, mir wäre auch nichts Intelligenteres eingefallen.

Wieso denke ich eigentlich auf einmal so nüchtern? Ich blicke zu ihm auf. Er schaut mich still und mit großen Augen an. Das passt jetzt gar nicht mehr zu seiner schnellen Antwort. Scheißescheiße, ich glaube, jetzt ist es auch mit meiner Nüchternheit vorbei. Ungeschickt grabbele ich nach meiner Tüte.

„Ich gebe mein Geld gerne in gute Hände…“, stammele ich.

Aaahr, Hilfeee! Schmalz! Können wir diese Szene nochmal drehen?

Theatralische Pause. Oder kommt es mir nur so vor?

„Dann… komm wieder vorbei!“

Und irgendetwas umspielt seine Mundwinkel. Etwas Niedliches. Ich nicke ihm zu und kann nur noch verschwinden.

Oh nee! Und jetzt habe ich die Schrauben vergessen!

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