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Regenbogenfamilie
Kapitel 7 - Familienrat zu Opas Angebot
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Informationen
- Story: Regenbogenfamilie
- Autor: Sonntagskind55
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Diesmal war es glücklicherweise wieder eine störungsfreie Nacht für uns, und so waren wir beim Klingeln unseres Weckers wieder frisch für den neuen Tag.
Thomas fragte mich: „Willst du zuerst ins Bad oder machst du heute das Frühstück?“
Ich antwortete ihm: „Ich geh erst mal runter und bereite das Frühstück vor, danach verschwinde ich kurz im Bad, bevor die beiden Jungs aufwachen und den Badetempel stürmen. Wir können in der Zwischenzeit schon mit dem Frühstück anfangen, während die beiden sich noch duschen.“
Ich ging eine Etage tiefer in die Küche, befüllte die Kaffeemaschine mit Wasser und Kaffeepulver, schaltete sie ein. Danach weiter ins Esszimmer, den Tisch eindecken für vier Personen. Daran musste ich mich noch gewöhnen, dass wir jetzt nicht mehr zu dritt, sondern wieder zu viert am Tisch waren.
Wieder zurück in die Küche, nun noch Brot, Butter, Marmelade sowie Wurst und Käse auf den Esstisch gestellt. Den fertig gebrühten Kaffee in eine Thermoskanne umgefüllt und dann wieder nach oben.
Thomas kam mir gerade aus dem Bad entgegen, so konnte ich auf direktem Weg im Bad verschwinden. Ich rasierte und duschte mich kurz, nach dem Abtrocknen rüber ins Schlafzimmer und ankleiden. Ich hörte noch, wie die beiden Jungs ins Bad gingen; da ich inzwischen fertig angezogen war, machte ich mich wieder auf den Weg nach unten ins Esszimmer.
Thomas saß bereits am Esstisch, hatte sich schon eine Tasse Kaffee eingeschenkt und kaute bereits an seinem Brot. Ich setzte mich neben ihn, schenkte mir ebenfalls einen Kaffee ein und bestrich mein Brot mit Butter und belegte es mit Käse. Thomas fragte mich: „Sind die Jungs auch schon wach?“ Mit vollem Mund antwortete ich ihm nur mit: „Ja.“
Bis die beiden Jungs dann zu uns herunterkamen, dauerte es noch eine Weile, wir waren beide bereits mit dem Frühstück fertig. Da Thomas und ich losmussten, um rechtzeitig an unserem Arbeitsplatz zu erscheinen, verabschiedeten wir uns von beiden bis heute Abend. Wir wünschten ihnen noch einen schönen Tag und viel Spaß in der Schule.
Marcus schaute uns etwas gequält an und meinte: „Ob das heute in der Schule spaßig wird, muss sich erst noch herausstellen, ich muss vor dem Unterricht auf alle Fälle erst ins Sekretariat und mich ummelden. Ich weiß nicht, was ich als Grund für meinen Umzug angeben soll.“
Thomas sah ihn an und antwortete ihm: „Am besten die Wahrheit, du musst ja nicht sagen, dass Philipp dein Freund ist, es reicht, wenn du angibst, dass dich deine Eltern aus dem Haus geworfen haben, als du ihnen erklärt hast, dass du schwul bist. In der Schule wissen zumindest eure Lehrer und der Direktor, dass ich mit Philipps Papa unter einem Dach lebe und wir ein Paar sind. Wir haben dich erst einmal bei uns aufgenommen, da wir damit keinerlei Probleme hätten.“
„Es liegt nur an euch beiden, was ihr in der Schule als Grund angeben werdet. Wenn ihr beide damit kein Problem habt, könnt ihr genauso sagen, dass ihr ein Paar seid und du nach deinem Rauswurf zu Hause zu deinem Freund gezogen bist“, schob Thomas hinterher.
Bevor ich den Raum verließ, sagte ich noch: „Ihr werdet schon das Richtige machen, Jungs. Wir verlassen uns da ganz auf euch beide.“
Thomas folgte mir in die Diele, wir zogen uns fertig an und verließen das Haus in Richtung Garage, stiegen ins Auto und fuhren los. Unterwegs meinte Thomas: „Ich hoffe, die beiden haben verstanden, was wir ihnen damit sagen wollten und dass wir jede Entscheidung der zwei mittragen würden.“
Nach kurzer Überlegung antwortete ich ihm: „Ich denke schon, zumindest Philipp dürfte klar sein, dass wir sie auf keinen Fall in Stich lassen würden.“
Ich fing gerade an, mir Gedanken darüber zu machen, was uns heute im Büro alles erwarten würde und was alles zu erledigen sei, als Thomas mich wiederum fragte: „Du, wegen heute Abend, sollten wir nicht Martina und Christoph zu uns zum Essen einladen, dann hätten wir mehr Zeit, um über das Angebot mit dem Umbau und Umzug zu sprechen. Vor allem wäre es für alle weniger stressig.“
„Warum nicht, nur müssten wir dann eher nach Hause, um alles vorzubereiten“, meinte ich nur. „Rufst du Martina später an und klärst das mit ihr?“, meinte ich noch zu Thomas.
Thomas nickte, was wohl so viel wie ein Ja bedeuten sollte. Den Rest des Weges zum Büro verbrachten wir mit wieder mit Schweigen.
Während der Mittagspause erzählte mir Thomas dann, dass er mit Martina gesprochen hätte, sie und seine Mutter hätten ihm sofort angeboten, für alle zu kochen. Sie wollten am Nachmittag kurz einkaufen und dann direkt zu uns ins Haus kommen und das Abendessen vorbereiten. Christoph hätte auch nichts dagegen, er käme dann nach der Arbeit ebenfalls auf direktem Weg zu uns.
Damit hatte sich für uns das Problem mit dem früheren Ende des Arbeitstages von selbst erledigt, da wir nicht für die ganze Meute zu kochen brauchten.
Wir traten trotz alledem pünktlich unseren Weg nach Hause an, wir wollten nicht unbedingt die letzten sein, die bei uns zuhause ankamen. Marcus und Philipp waren vermutlich schon mittags nach Schulschluss zu uns nach Hause gegangen. Es sollte eigentlich nur noch Christoph fehlen, wenn wir beide zu Hause ankämen. Bei unserer Ankunft stellten wir jedoch fest, dass Christoph vor uns hier war, sein Wagen stand schon vor unserer Haustüre. Er hatte heute ebenfalls seine Arbeit früher beendet, um rechtzeitig bei uns zu sein.
Wir hatten kaum das Haus betreten, da kam Kevin schon auf uns zugelaufen und erklärte uns gleich, dass wir die letzten seien, sein Papa sei dieses Mal eher da gewesen als wir. Nachdem wir beide unsere Winterklamotten abgelegt hatten, gingen wir ins Wohnzimmer. Da Kevin zuvor dorthin verschwand, gingen wir davon aus, dass er dort nicht allein anzutreffen sei.
Ich hatte richtig vermutet, hier saß bereits Christoph, aber auch Marcus und Philipp waren bereits im Wohnzimmer und saßen auf der Couch. Thomas setzte sich zu den dreien, ich selbst ging hinüber in die Küche, um nach Martina und Thomas‘ Mutter zu sehen. Wie ich unschwer erkennen konnte, waren die beiden mit den Vorbereitungen für das Abendessen ziemlich weit fortgeschritten, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis alle in der Essecke Platz nehmen konnten. Ich fragte die beiden, ob ich schon mal den Tisch decken könne, Martina meinte nur, dass wäre genial, bis jetzt habe sie noch nicht die Zeit gefunden das zu tun und von den anderen Anwesenden sei bisher keiner auf die Idee gekommen.
Ich wollte die beiden in der Küche nicht weiter stören, darum ging ich ins Esszimmer und begann den Tisch für 8 Personen zu decken. Als ich damit fertig war, ging ich ins Wohnzimmer zu den anderen zurück. Ich bekam gerade noch mit, wie Thomas fragte, wie es denn in der Schule gelaufen sei heute. Bevor Marcus oder Philipp antworten konnten, meinte ich, dass mich das auch interessieren würde.
Philipp antwortete uns: „Eigentlich ganz gut, würde ich sagen, im Sekretariat und beim Direktor habe wir uns für die ganze Wahrheit entschieden, also dafür, dass wir beide ein Paar seien, Marcus, nachdem er seinen Eltern offenbarte, dass er sich in mich verliebt habe, von ihnen aus dem Haus geworfen wurde und er ab sofort bei mir und meinen Vätern wohnen würde. Da er ebenfalls bereits achtzehn Jahre alt und damit volljährig ist, brauchte er für die Ummeldung noch nicht einmal die Zustimmung seiner Eltern.“
„In der Klasse wollten wir zuerst nichts davon erzählen, wir haben uns dann doch kurzerhand entschlossen, den anderen Schülern gegenüber offen aufzutreten, vor allem im Hinblick darauf, dass er ja auch mit anderen befreundet ist, die ihn jetzt nicht mehr bei ihm zu Hause, sondern bei uns besuchen müssten. Der Rest der Klasse hat es überraschend gut aufgenommen und einige haben sich sogar für uns gefreut. Zumindest in der Schule sowie vor unseren Freunden brauchen wir uns nicht mehr zu verstellen, so wie es bis jetzt immer gewesen ist.“
Plötzlich rief Martina aus dem Esszimmer, dass wir alle kommen könnten, das Essen sei fertig. Da wir Thomas‘ Mutter und Martina nicht zu lange warten lassen wollten, gingen wir unverzüglich hinüber ins Esszimmer und setzten uns an den Esstisch. Während des Abendessens blieb es ruhig am Tisch, der eine oder andere fragte nur nach den Speisen, die nicht direkt in seiner Nähe standen, damit er sich davon etwas nehmen konnte. Während des Abendessens wurde von keinem der Anwesenden das überaus brisante Thema angesprochen.
Nachdem alle aufgegessen hatten, meinte Thomas: „Lasst uns erst noch den Tisch abräumen, bevor wir uns in die Diskussion stürzen.“
Mit vereinten Kräften schafften wir es, in wenigen Minuten den Esstisch leer zu räumen. In der Küche fütterten derweil Thomas und Philipp den Geschirrspüler und starteten ihn auch sofort, nachdem das gesamte Geschirr untergebracht war.
Kurze Zeit später saßen wir alle wieder um den Esstisch, um die Diskussion zu beginnen. Nachdem meine Eltern am Vortag mich darauf angesprochen hatten, schwang ich mich zum Diskussionsleiter auf und übernahm den ersten Part.
„Wie ihr gestern bereits mitbekommen habt, haben meine Eltern gemeint, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht alle zusammen auf dem Gut meiner Eltern, besser gesagt eigentlich nur im Herrenhaus, eine neue Bleibe für uns alle schaffen. Damit ihr von vornherein meine persönliche Meinung dazu kennt, ich persönlich kann diesem Plan nicht viel abgewinnen, nach meiner Ansicht ist er für uns vorwiegend mit Nachteilen verbunden. Ich denke zum einen an die längere Anfahrt zur Arbeit, uns würde weniger Freizeit bleiben, zum anderen, für Thomas‘ Mutter würde es zu lange dauern, bis alles fertig umgebaut ist. Sie will sofort in unsere Nähe umziehen und nicht erst in rund einem Jahr oder noch später, wenn die Planungs- und Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Sie müsste, realistisch betrachtet, innerhalb kürzester Zeit dann zum dritten Mal umziehen. Es ist immerhin noch nicht so lange her, dass sie nach Hannover umgezogen ist.“
„Ich hoffe, ihr habt euch in den letzten Stunden darüber Gedanken gemacht, egal ob pro oder contra, die jetzt von euch in die Aussprache eingebracht werden.“
Zuerst war es nach meiner Ansprache ruhig im Esszimmer, nach kurzer Zeit meldete Philipp sich als erster.
„Marcus und ich haben uns heute nach der Schule mit dem Thema sehr lange auseinandergesetzt. Wir haben inzwischen sogar einige positive Aspekte gefunden. Sie sind aber eher aus unserer persönlichen Sicht positiv zu sehen.“
„Papa, Thomas, wir haben gestern Mittag darüber gesprochen, wie es hier im Haus weitergehen soll, wenn ich mit Marcus zusammen hier wohne. Ihr hattet den Vorschlag unterbreitet, dass ihr das Dachgeschoß ausbauen wollt, damit wir unser eigenes kleines Reich bekommen. Genauso könnte man diese Investition in den Umbau des Herrenhauses stecken. Bei diesen Überlegungen sind wir jedoch davon ausgegangen, dass wir unser Studium hier in der Nähe absolvieren und nicht weiter weg in einer fremden Stadt. Bei dem von uns angedachten Studium und mit unseren bisherigen Noten sollte das kein Problem sein. Zudem könnten wir für uns eine eigene kleinere Wohnung einrichten.“
Danach meldete sich Martina, meine Tochter, zu Wort und erklärte uns: „In den nächsten Monaten kann ich euch nicht viel helfen bei den anstehenden Arbeiten, in den ersten Monaten vielleicht noch, aber wenn das Baby da ist, werde ich kaum noch Zeit dafür haben. Für Umzugsplanungen und Umzugsvorbereitungen bleibt da nicht viel Zeit für mich. Ich für meinen Teil kann sagen, ich bin auch dagegen.“
Als nächster folgte Christoph, der seine Meinung kundtat: „Ursprünglich wollte ich mich aus dieser Diskussion komplett heraushalten. Trotzdem habe ich mir so meine eigenen Gedanken dazu gemacht. Eine Art Mehrgenerationenhaus hätte sicher gewisse Vorteile, wenn ich nur daran denke, dass mit Elisabeth eine Oma im Haus wäre, die zumindest gelegentlich auf unsere Kinder aufpassen könnte. Du, Martina, könntest zum Beispiel zum Einkaufen fahren, ohne dass du immer beide Kinder mitschleppen müsstest, was gewiss einige Vorteile hätte, zumindest vom zeitlichen Aufwand her betrachtet.
Im Übrigen würde ich von einem Umzug nach Martinskirchen ins Herrenhaus sogar profitieren, denn mein Weg zur Arbeit wäre sogar um einiges kürzer als bisher. Aber um ein vernünftiges Nutzungs-Konzept zu entwickeln und es umzusetzen, würden einige Monate, wahrscheinlich sogar mehr als ein Jahr vergehen, bis es so weit wäre. Vor allem stellt sich mir dabei die Frage, wer hat die Zeit von uns, sich neben seinem Job mit der Projektkoordinierung zu beschäftigen. Wobei, wie ich Peters Vater kenne, würde der vermutlich einen Architekten beauftragen, der sich um die Planung und die Koordinierung der Handwerker kümmern soll.
Gut, wir könnten vorübergehend noch für einige Wochen Thomas‘ Mutter bei uns aufnehmen, aber spätestens nach der Geburt unseres zweiten Kindes würde es eng werden in unserer Wohnung.“
Er stoppte wieder, ich dachte über das bis dahin Gehörte nach und musste feststellen, dass es doch einige positive Aspekte und Begründungen für diesen Schritt gäbe. Die sind mir vorher auch schon eingefallen, aber ich hatte sie alle einfach immer wieder beiseitegeschoben.
Ich war jetzt neugierig, wie Thomas‘ Mutter das sehen würde, und sprach sie direkt an: „Elisabeth, du kennst die meisten von uns erst seit vorgestern, deinen Sohn hast du ebenfalls lange Zeit nicht gesehen, wie siehst du die ganze Sache?“
Elisabeth überlegte eine Weile, bis sie uns erklärte: „Ich habe bisher schon einige positive, aber auch negative Aspekte aus euren Ausführungen mitbekommen. Es gibt sicher jede Menge weiterer Begründungen dafür oder dagegen. Ich weiß auch, dass ihr mich gerne in eurer Nähe haben wollt.“
Sie unterbrach und wartete wohl darauf, dass wir etwas zu ihrer letzten Bemerkung sagen würden. Da jedoch keiner reagiert, sprach sie weiter: „Was ich jedoch nicht weiß und auch nicht beurteilen kann, wie nahe ihr mich haben wollt. Da seid ihr gefragt, das könnt nur ihr beide, du und Thomas, beantworten. Ich habe mir heute im Laufe des Tages auch so das eine oder andere dazu überlegt.“
Sie unterbrach wieder und ich wollte schon ansetzen etwas zu sagen, als sie mir bedeutete, ich solle noch warten, sie hätte noch mehr zu sagen.
„Ich habe einen Punkt gefunden, der sowohl dafür als auch dagegensprechen kann, je nachdem, aus welcher Sicht man ihn betrachtet.“
Sie lächelte uns alle dabei an und erklärte weiter: „Was geschieht, wenn ich in einigen Jahren vielleicht nicht mehr auf die Urenkel aufpassen kann, sondern wenn ich möglicherweise mit Altersdemenz selbst einen Aufpasser brauche oder aus gesundheitlichen Gründen ans Bett gefesselt bin, gilt dann immer noch der Grundsatz einer Großfamilie? Früher war das auf dem Land fast überall so, dort haben oft drei oder vier Generationen unter einem Dach gelebt. Da wurden die Angehörigen grundsätzlich zu Hause gepflegt, aber heute endet das in sehr vielen Fällen einfach in einem Alters- oder Pflegeheim.“
Damit hatte sie den harten Kern des Ganzen getroffen, das konnte ich schnell aus den Gesichtern der anderen herauslesen, den Aspekt hatte keiner der sonst hier Anwesenden, selbst ich nicht, in seine Überlegungen mit einbezogen. Selbst ich mit meinen Fünfzig bin noch nicht auf diesen Gedanken gekommen. Bei den noch jüngeren kann ich das vielleicht noch verstehen, aber bei mir nicht unbedingt. Ich hatte mir sicher in der Vergangenheit öfter darüber Gedanken gemacht, was wäre, wenn ich oder ein Familienmitglied durch Unfall oder eine sonstige schwere Krankheit an den Rollstuhl gefesselt wäre. Dafür hatte ich zumindest einen Notfallplan in der Hinterhand. Aber dafür hatte ich aktuell eine Lösung parat.
Ich wollte mir gerade in meinem Hinterkopf ein paar Notizen verankern, dass ich meine Eltern im Falle einer positiven Entscheidung fragen sollte, ob wir sie langfristig auch mit einplanen sollten, Elisabeths Ausführungen hatten mich auf diesen Gedanken gebracht, als Elisabeth weitersprach: „Ich will euch eines Tages keineswegs zur Last fallen, ich will lieber eine eigene Wohnung, und wenn es eines Tages wirklich nicht mehr gehen soll, dann werden wir schon eine vernünftige Lösung finden.“
Nach dieser Aussage von Thomas‘ Mutter gab es wieder eine kleine Pause, in der keiner etwas sagte. Jetzt war es Thomas, der sich meldete: „Ich weiß, das, was ich dazu jetzt zu sagen habe, wird euch sicher verwundern. Meine Eltern hatten seit dem Tag, an dem mich mein Vater aus dem Haus gejagt hat, keinerlei Bedeutung für mich gehabt, ihr seid meine Familie, mit der ich in den letzten Jahren glücklich gewesen bin. Ich habe auch nie mehr damit gerechnet, meine Eltern jemals wiederzusehen, und damit habe ich nie einen Gedanken verschwendet, was mit meinen Eltern ist oder wie es ihnen geht. Heute im Laufe des Tages ist mir jedoch klargeworden, dass sich meine Familie wieder um ein weiteres Familienmitglied vergrößert hat und demnächst noch einmal vergrößern wird. Ich liebe meine Mutter noch immer und ich kann ihr auch verzeihen, was damals geschehen ist. Ich bin mir bewusst, dass ich euch und Peter niemals kennen und lieben gelernt hätte, wäre ich damals nicht aus dem Haus gejagt worden. Allein das ist für mich Grund genug, heute keinerlei Groll gegen meine Eltern zu hegen.“
Er unterbrach sich kurz und nach einer Minute sprach er weiter: „Ich fange gerade an zu begreifen, dass ich in all den Jahren meine Eltern doch immer wieder vermisst habe. Ich hatte es nur aus meinen Gedanken verdrängt, quasi so etwas wie eine Mauer, die ich um mich herum aufgebaut hatte.“
Wir blickten alle auf Thomas; seine Gedanken, die er soeben ausgesprochen hatte, waren auch für uns neu. In diesem Moment hätte ich zu gerne gewusst, was in den Köpfen der anderen vorgeht, nur hineinsehen konnte ich noch nicht.
Nach einer längeren Pause, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachging, war es doch wieder Thomas, der weitersprach.
„Ich für meinen Teil könnte mir ein Mehrgenerationenhaus durchaus vorstellen, aber in Anbetracht der aktuellen Situation bin ich mir da nicht so sicher, ob es wirklich eine gute Entscheidung wäre. Um das alles umzusetzen und vernünftig durchzuplanen, ich meine damit die Neuaufteilung des alten Herrenhauses, wird mindestens ein Jahr vergehen, bevor alles fertiggestellt ist. Ich sehe vor allem niemanden, der sich intensiv mit der Abwickelung beschäftigen könnte, wir müssen alle unserer Arbeit nachgehen oder einen ordentlichen Schulabschluss schaffen.“
In dem Moment, wo Thomas meinte, er könne sich das durchaus vorstellen, dachte ich schon, er würde mir damit in den Rücken fallen, aber nachdem er zu Ende gesprochen hatte, war ich sichtlich erleichtert.
Es wurde dann noch eine ganze Weile weiterdiskutiert, aber verwertbare neue Erkenntnisse kamen leider nicht mehr hinzu, so dass ich dann sagte: „Lasst uns jetzt einfach über den Vorschlag meiner Eltern abstimmen.“
„Bevor wir jetzt abstimmen, solltet ihr eines wissen: Egal wie die Abstimmung ausgehen wird, ich werde jedes Ergebnis annehmen und dann bei der Umsetzung aktiv dabei sein, so wie es bisher immer gewesen ist, wenn wir als Familie etwas gemeinsam beschlossen haben“, erklärte ich ihnen abschließend.
Bevor ich weitersprechen konnte, hatte Thomas wieder das Wort ergriffen: „Wer also ist dafür, auf den Vorschlag von Opa und Oma, ins Gutshaus umzuziehen, einzugehen?“
Keiner meldete sich, so dass Thomas seine Frage noch einmal wiederholte. Wiederum geschah nichts, es blieb einfach nur ruhig.
Nachdem sich das Thomas noch einmal einige Zeit angeschaut hatte, meinte er: „Es gibt wohl keinen, der für das Projekt stimmt.“
Wieder gab es keine Reaktion, so fragte er weiter: „Wer spricht sich gegen das Projekt Herrenhaus aus?“
Immerhin meldeten sich hier Philipp, Martina, Thomas und nach kurzem Zögern auch Marcus. Hätte sich Marcus neutral verhalten, ich hätte dann auch mit nein gestimmt; so konnte ich wenigstens neutral bleiben, so wie ich mir das vorgenommen hatte.
„Damit hätten wir vier Stimmen gegen das Projekt, die restlichen enthalten sich scheinbar. Aber um das endgültig zu klären, frage ich: „Wer enthält sich der Stimme?“
Diesmal war meine Hand schnell nach oben gegangen, aber auch Thomas‘ Mutter und Christoph zeigten an, dass sie sich der Stimme enthalten.
„Damit haben wir als Ergebnis der Abstimmung: Keine Stimme dafür, vier Stimmen dagegen und drei Enthaltungen. Damit ist das Projekt Herrenhaus von der Familienrunde erst einmal für die nächste Zeit abgelehnt. Wir können uns erneut zusammensetzen und darüber diskutieren, wenn sich an der gesamten Situation etwas ändert“, meinte Thomas abschließend.
Er erklärte mir: „Peter, es ist jetzt dann wohl deine Aufgabe, deinen Vater und deine Mutter vom Ergebnis der Familienabstimmung zu unterrichten und ihnen zu sagen, dass wir den Vorschlag vorerst nicht annehmen werden. Das mit dem vorerst meine ich auch so, denn in einigen Jahren oder unter veränderten Voraussetzungen könnte diese Entscheidung, die wir jetzt für uns getroffen haben, wieder revidiert werden und anders ausfallen. Sag das deinen Eltern bitte auch so.“
„Mir ist in der gesamten Diskussion klargeworden, dass viele Argumente da sind, die dafürsprechen könnten. Ich hoffe, dass ich damit auch im Namen der anderen spreche, die das Ganze jetzt abgelehnt oder sich enthalten haben.“
Da die anderen ihre Zustimmung signalisierten zu dem, was Thomas da gerade von sich gegeben hatte, blieb mir nun keine andere Wahl, als meinen Eltern das Ergebnis der Abstimmung mitzuteilen.
Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass ich dieses Gespräch nicht so ohne weiteres auf morgen verschieben konnte, wie ich gehofft hatte. Wir hatten scheinbar doch nicht so lange diskutiert, wie ich eigentlich vermutet hatte.
Ich stand auf, schnappte mir das Mobilteil unserer kleinen Telefonanlage und ging ins Wohnzimmer. Dort konnte ich in Ruhe mit meinen Eltern telefonieren und der Rest der Familie musste nicht ruhig daneben sitzen.
Ich überlegte kurz, ob ich Vater am Handy anrufen oder vielleicht besser den Festnetzanschluss von Gabis Eltern nehmen sollte. Ich entschloss mich, das Festnetz zu verwenden, Gabis Eltern hatten ja eine Freisprecheinrichtung und so könnten mich alle hören und es musste nicht immer alles an die anderen weiterberichtet werden.
Ich wählte die Rufnummer von Gabis Eltern und es läutete mehrmals an, bevor sich Gabis Vater meldete: „Hier bei Familie Baier, Guten Abend.“
„Hallo, ich bin`s, Peter, könnte ich bitte meinen Vater sprechen?“
„Na klar, einen kleinen Moment, wir haben schon auf euren Anruf gewartet.“
Ich hörte, wie er ins Wohnzimmer ging und zu meinen Eltern sagte: „Es ist Peter; ich denke, sie haben eine Entscheidung getroffen.“
Jetzt meldete sich mein Vater und meinte: „Hallo, mein Sohn, und wie habt ihr euch entschieden?“
„Hallo Papa, könntest du bitte auf Lautsprecher umschalten, dann kann ich es euch allen gleichzeitig erzählen und du brauchst es den anderen nicht extra zu erzählen. Gabis Eltern dürfen ruhig mithören, ich habe da kein Problem damit.“
Ich hörte ein kurzes Knacksen in der Leitung, damit wusste ich, dass er auf Lautsprecher und Freisprecheinrichtung umgeschaltet hatte.
„Also, was ich euch zu sagen habe, ist Folgendes. Wir haben uns mit vier Nein-Stimmen und drei Enthaltungen geeinigt. Das bedeutet, dass wir vorerst nicht das Abenteuer auf uns nehmen wollen, ins Herrenhaus nach Martinskirchen zu ziehen.“
Ich merkte, dass sie über unsere Endscheidung enttäuscht waren, aber auch, dass sie wohl schon damit gerechnet hatten.
„Bevor ihr jetzt etwas dazu sagen wollt, ich soll euch erklären, dass dies keine endgültige Absage für einen Umzug ist, sondern nur eine momentane Entscheidung. Deshalb auch das Vorerst. Unter veränderten Vorzeichen und Voraussetzungen könnten wir uns einen Schritt in diese Richtung durchaus vorstellen und das gilt nicht nur für einzelne von uns, sondern für alle. Seid ihr jetzt schwer enttäuscht?“
Zuerst blieb es ruhig in der Leitung, bis sich nach kurzer Zeit meine Mutter meldete: „Enttäuscht kann man nicht sagen, wir hatten im Grunde schon damit gerechnet und deshalb auch noch nicht mit deinen Geschwistern geredet. Was uns aber Hoffnung macht, ist die Tatsache, dass ihr es jetzt doch nicht grundsätzlich ausgeschlossen habt.“
Wieder wurde es ruhig in der Leitung, ich wollte schon fast mit Reden anfangen, als mein Vater sagte: „Doch, ich bin enttäuscht, auch wenn ich damit gerechnet hatte. Ich hatte gehofft, dass ihr euch doch anders entscheiden würdet, aber ich akzeptiere eure Entscheidung.“
Mir fiel ein, dass ich meine Eltern in diesem Zusammenhang noch was fragen wollte: „Hätten wir euch denn einbeziehen sollen in unsere Überlegungen bei einem eventuellen Umzug in das Herrenhaus?“
Dieses Mal war es nur kurz ruhig, bevor mir Vater entschieden antwortete: „Nein, wir wollen auf Mallorca bleiben, dort gefällt es uns sehr gut und auch das Klima dort ist besser für mich.“
Nach kurzer Pause setzte er fort: „Wir sollten langsam aufhören mit unserem Gespräch, für uns Alte wird es langsam Zeit ins Bett zu kommen und auch ihr solltet nicht mehr allzu lange zusammensitzen, ihr müsst morgen früh ja aufstehen und in die Arbeit. Also gute Nacht und liebe Grüße von uns vieren hier.“
Ich verabschiedete mich auch von ihnen, nicht ohne noch einmal von allen hier Anwesenden liebe Grüßen auszurichten, und legte dann auf. Ich ging zurück ins Esszimmer, wo immer noch die Diskussion im Gange war. Als ich den Raum betrat, verstummten die Gespräche schlagartig und alle blickten auf mich. Ich setzte mich erst noch auf meinen Stuhl, bevor ich dem Rest der Familie erzählte, wie das Gespräch gelaufen war.
Ich endete fast mit Vaters Worten: „Wir sollten die Versammlung so langsam auflösen und ins Bett verschwinden, da wir morgen früh alle wieder zeitig aufstehen und in die Arbeit oder in die Schule müssen.“
Na ja, sofort war dann doch nicht das Ende der Familienrunde eingeläutet, wir sprachen doch noch eine Weile über den Abend und die Reaktion meiner Eltern.
Nach einiger Zeit fing dann doch Christoph damit an, seine beiden, Martina und Kevin, aufzuscheuchen, damit sie sich für die Heimfahrt fertigmachten. Thomas‘ Mutter, die noch in den nächsten Tagen bei den dreien übernachtete, wurde dann auch langsam hektisch und bereitete sich für den Nachhausweg vor.
Thomas sagte zu ihr: „Du bleibst doch sicher noch mindestens über das nächste Wochenende hier, bevor du wieder zurück nach Hannover fährst. Wir sollten uns am kommenden Wochenende noch einmal treffen, um deinen Umzug zu besprechen und danach die entsprechenden Schritte, die nötig sind, einzuleiten. Du wirst mit Peters Eltern morgen oder spätestens übermorgen noch zum Essen gehen, und danach steht die Abreise der beiden an.“
Ich mischte mich ein und meinte: „Wie wäre es am Samstag mit einem gemeinsamen Bummel über den Weihnachtsmarkt, der öffnet bereits wieder am Freitag, und danach treffen wir uns hier zu Kaffee und Kuchen und einem gemeinsamen Abendessen. Dabei könnten wir deinen Umzug in Ruhe besprechen.“
Sie überlegte kurz und antwortete uns: „Das ist ein sehr guter Vorschlag, ich bleibe mindestens noch bis Mitte nächster Woche. Ich denke, das passt so am besten, besser als dass wir das im Laufe dieser Woche mit hektischen abendlichen Gesprächen angehen.“
Die vier verabschiedeten sich von uns allen und traten den Heimweg an. Wir saßen noch einige Zeit im Esszimmer und redeten miteinander, bevor wir nach oben in unsere Schlafräume verschwanden.
Die beiden Jungs wünschten uns noch eine gute Nacht und verschwanden in ihrem Schlafraum. Thomas und ich kuschelten noch einige Zeit lang im Bett und bevor wir einschliefen, bedankte ich mich bei ihm noch dafür, dass er mit eigener Meinung in der Diskussion mir zwar beinahe in den Rücken gefallen wäre, aber dann doch noch einen Rückzieher eingebaut hatte.
Auch diese Nacht verlief wieder ohne besondere Vorkommnisse oder Störungen.
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