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Regenbogenfamilie

Teil 23 - Ein Abschied für immer

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Irgendetwas hatte meinen ohnehin unruhigen Schlaf gestört, ich meinte, ich hätte das Telefon klingeln gehört. Ich lauschte, hörte jedoch nichts mehr, nur die übliche frühmorgendliche Stille im ganzen Haus. Scheinbar musste ich mich doch getäuscht haben. Ich hatte mich kaum umgedreht um weiterzuschlafen, da klopfte es an unserer Schlafzimmertüre. Ich setzte mich im Bett auf und rief: „Herein“.

Meine Mutter öffnete die Tür und schaute mich an und sagte: „Peter, ihr müsst sofort aufstehen, wir sollen so schnell wie möglich ins Kranken­haus nach Palma fahren. Vater geht es immer schlechter.“

„Jetzt beruhige dich erst einmal wieder, wer hat uns aus dem Krankenhaus ange­rufen?“, wollte ich von ihr wissen und sprach weiter: „Ich bin vorher wach geworden, weil ich der Meinung war, ich hätte ein Telefon klingeln gehört. Als ich richtig wach war, hörte ich nichts, und jetzt wollte ich mich gerade wieder umdrehen um weiterzuschlafen.“

Sie näherte sich meinem Bett und setzte sich auf die Bettkante, nahm meine Hand und erklärte: „Das Krankenhaus hat vorher angerufen; da ich schon längere Zeit wach war, bin ich rasch an den nächsten Apparat, um das Gespräch entgegenzunehmen.

Ich habe mich schon gewundert, wer hier um diese Zeit anrufen würde, und zuerst gedacht, dass bei euch zu Hause in Deutschland etwas passiert sein könnte. Am Apparat war jedoch die Mitarbeiterin vom Nachtdienst und hat mir in schlechtem Deutsch die Nachricht übermittelte, dass wir so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen sollten.“

Achtundvierzig Stunden. Hatte der Arzt gestern nicht achtundvierzig Stunden zu uns gesagt? Seit dem Gespräch mit dem behandelnden Arzt waren gerade einmal knapp fünfzehn Stunden vergangen. Gut, er hatte weniger als achtundvierzig Stunden gesagt, aber jetzt war noch nicht einmal ein Drittel der Zeit vergangen.

Thomas, der durch unsere Unterhaltung ebenfalls wach gewor­den war, wollte schon zu meckern anfangen. Als er jedoch Mutter an meinem Bett sitzen sah, blieb er stumm und schaute sie fragend an. Ich erklärte ihm kurz, dass das Krankenhaus angerufen habe und wir nach Meinung der Nachtschwester dort umgehend auftauchen sollen.

„Was sitzt du dann noch so bequem in deinem Bett, raus aus den Federn und ab ins Kranken­haus“, schnauzte er mich sichtlich genervt an.

„Jetzt mach hier keinen auf Panik“, antwortete ich, „mein Gefühl sagt mir, dass uns noch genügend Zeit verbleibt, um rechtzeitig im Kranken­haus zu sein. Wenn wir jetzt in Hektik ausbrechen, bringt uns das überhaupt nichts und ich habe keinen Bock, deswegen selbst im Krankenhaus zu landen.“

„Du hast die Ruhe weg“, erwiderte er, „und wenn wir zu spät kommen sollten, was dann?“

Je mehr er sich darüber aufregte, umso ruhiger wurde ich. „Und wenn“, konterte ich, „In dieser Situation wirst du immer zu spät kommen, egal, ob du deiner Meinung nach rechtzeitig bist oder zu spät erscheinst, du kannst an der Tatsache, dass mein Vater stirbt, über­haupt nichts ändern, egal, ob du danebenstehst oder eben nicht.

Wir werden zuerst einmal alle gemütlich und in Ruhe frühstücken und dabei überlegen, wer alles ins Krankenhaus mitkommt. Du kannst schon mal in die Küche düsen und das Frühstück vorbereiten, wenn es dir schon nicht schnell genug gehen kann. Ich werde gleich noch die Jungs aufwecken und sie bitten, zu einem frühmorgendlichen Frühstück zu erscheinen.“

„Ich würde einfach alles stehen und liegen lassen und umgehend zum Krankenhaus fahren“, schimpfte er, stand aber auf und verschwand durch die Tür im Flur. Ich hörte ihn noch weiter granteln, bis er unten angekommen war und wieder Ruhe einkehrte. Zu Mutter sagte ich: „Mama, bitte zieh dich doch an, damit wir nach dem Frühstück gemeinsam losfahren können.“

Sie antwortete mir: „Das mache ich sofort. Ich glaube, du liegst richtig mit deiner Vermutung, dass Hektik in dieser Angelegenheit eher schadet als nutzt, auch wenn Thomas das jetzt vielleicht nicht sofort versteht. Ich erin­nere mich, dass Walter beim Tod meines Vaters genauso ruhig und gelassen blieb wie du soeben.“ Damit erhob sie sich wieder von meinem Bett und entschwand durch die Schlafzimmertür in den Flur.

Was hatte Mutter da eben gesagt, mein Vater wäre beim Tod seines Schwiegervaters ebenfalls nicht hektisch geworden, eher die Ruhe selbst? Hängt das mit meinen Empfindungen von gestern am Krankenbett meines Vaters zusammen? Normalerweise, und das wunderte mich doch etwas, hätte ich, genaugenommen, vermutlich wie Thomas reagiert. Nicht weiter darüber nach­denken, ändern kann ich es nicht mehr, nur mit Thomas darüber reden und es ihm in aller Ruhe erklären.

Ich ging zu den Jungs, klopfte an ihre Tür. Da sich nichts rührte, klopfte ich ein zweites Mal. Wieder blieb es ruhig, also öffnete ich die Tür, ohne dass ich hereingebeten wurde. Die beiden lagen aneinander gekuschelt in ihrem Bett und schliefen. Ich setze mich auf die Bettkante und streichelte durch Philipps Haare. Lang­sam kam Bewegung in seinen Körper, er drehte sich und als er mich erblickte, konnte ich schon die Fragezeichen auf seiner Stirn erkennen.

Bevor er etwas sagen konnte, erklärte ich ihm: „Ihr solltet bitte ohne jegliche Hektik aufstehen und zum Frühstück kommen, das Krankenhaus hat vor wenigen Minuten hier angerufen und gebeten, dass wir kurzfristig vorbeikommen sollen, weil es Opa nicht so gut gehen würde. Ich gehe jetzt gleich noch ins Bad und Thomas bereitet währenddessen unten bereits unser Frühstück vor.“

Ich stand auf und beim Hinausgehen sah ich noch, dass er zärtlich versuchte, seinen Marcus wach zu bekommen. Ich beeilte mich, damit das Bad schnell für die anderen frei wird, und im Schlaf­zimmer kleidete ich mich an. Kaum hatte ich das Bad verlassen, hörte ich die Jungs dort verschwinden.

Am Ende der Treppe angekommen, traf ich auf Mutter, die wie ich auf dem Weg zum Frühstücken war. Ich ging zu Thomas in die Küche, während Mutter sich direkt ins Esszimmer bewegte.

Der Kaffee war bereits fertig und die Brötchen brauchten im Back­ofen nur noch gut eine Minute, um sie dann ihrer eigentlichen Bestim­mung zuzuführen. Ich sagte zu Thomas: „Wegen vorher sollten wir uns später in Ruhe und unter vier Augen unterhalten, ich denke, ich muss dir da so einiges erklären.“ Er nickte nur mit dem Kopf, sagte jedoch keinen Ton dazu.

Mit den fertigen Brötchen und dem Kaffee gingen wir ins Esszimmer, wo Mutter schon auf uns wartete. Wir setzten uns zu ihr an den Tisch und warteten noch auf Marcus und Philipp, die nur kurze Zeit später eintraten und sich am Tisch niederließen.

Während des gesamten Frühstücks wurde wenig gesprochen, das war wahrscheinlich der doch sehr frühen Uhrzeit geschuldet, in der Zeit unseres Mallorca-Aufenthalts hatten wir uns normalerweise mindestens eine Stunde später zum Frühstück getroffen. Wobei ich nicht ganz ausschließen kann, dass der morgendliche Anruf aus dem Krankenhaus der Grund für diese Ruhe war.

Nach dem Frühstück räumten die beiden Jungs alles weg; Thomas war nach oben gegangen, um sich anzuziehen. Ich saß mit Mutter allein im Esszimmer und sagte zu ihr: „Ich glaube, ich muss Thomas erklären, was sich gestern Nachmittag im Krankenhaus in seinem Beisein abgespielt hat. Wir haben danach nicht darüber gesprochen, was ich dir und den Jungs gestern noch erzählt habe. Ich bin sicher, dass das der Grund für seine Reaktion ist.“

Sie nickte verständnisvoll und meinte: „Mach das, in jeder Partnerschaft hilft nur miteinander reden, wenn es Probleme geben sollte.“

Während des Frühstücks hatten wir zumindest geklärt, dass wir heute ausnahmsweise alle gemeinsam zu Vater ins Krankenhaus fahren wollen. Dabei gingen wir noch davon aus, dass wir gemeinsam in einem Auto fahren, ich konnte jedoch Mutter und die Jungs überzeugen, dass es Sinn machen würde, besser mit zwei Autos zu fahren, damit, wenn nötig, eine gewisse Flexibilität gegeben sei. Ich will euch nicht verheimlichen, dass ich dies nicht ohne Hinterge­danken zu haben so arrangierte.

Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mit Thomas das Vier-Augen-Gespräch zu führen, das ich ihm vor dem Frühstück angekündigt hatte. Ich wusste nur noch nicht, wie ich ihm das alles einigermaßen glaubwürdig erklären könnte.

Wir waren kaum unterwegs, ich saß wieder am Steuer des Fahrzeugs, da sagte ich ihm: „Ich weiß nicht, wie ich dir das mit vernünftigen Worten erklären kann, aber gestern, bei Vater im Krankenhaus, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass über Vaters Hand, die ich in meiner hielt, eine Art Übertragung von einem Kraftfeld stattfand. Das ist nicht rational zu erklären und ich verstehe das selbst nicht so richtig, selbst meine Mutter kann es nicht rational einordnen.

Das Einzige, was mir bisher aufgefallen ist, ist eine Veränderung meiner Persönlichkeit, die mich plötzlich gelassener und ruhiger an Dinge herangehen lässt, etwas, das ich von mir bisher nicht in dieser Form kenne und deshalb bei mir laufend neue Fragen aufwirft. Ich bin überzeugt davon, dass mein Verhalten heute Morgen dir gegenüber mit diesem Phänomen zusammenhängt. Ich kann nur hoffen, dass meine Verände­run­gen keine gravierenden negativen Auswirkungen auf unsere Partnerschaft haben werden.“

Nachdem ich geendet hatte, atmete ich erst einmal tief durch und wartete auf eine Reaktion von Thomas. Seine einzige Reaktion bestand aus der Frage: „Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?“

Ich antwortete ihm, nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte: „Wahrscheinlich deshalb, weil du gestern nach unserem Besuch an Vaters Sterbebett komplett durch den Wind warst und erst einmal Zeit für dich brauchtest, Vaters Erklärungen dir gegenüber einzuordnen und zu verstehen. Als ich zu dir ins Schlafzimmer kam und bemerkte, dass du wieder mein alter Thomas bist, da erschien mir das im ersten Moment nicht mehr ganz so wichtig. Viel lieber habe ich dich in meinen Arm genommen und mich an dich gekuschelt. Ich hatte meinen Thomas wieder und damit war alles andere eher unwichtig geworden.“

Nach einer kurzen Pause sprach ich weiter: „Gestern Abend waren wir beide zu müde und, ehrlich gesagt, ich habe es auch etwas verdrängt. Hätte ich gestern geahnt, dass es heute Morgen zu diesen Verwicklungen führt, hätte ich vermutlich gestern Abend doch noch mit dir über meine Gefühle gesprochen.“

Thomas saß immer noch schweigend neben mir. Kurz bevor wir das Krankenhaus erreichten, sagte er plötzlich: „Dass du bisher nicht mit mir darüber geredet hast, verstehe ich zwar nicht, aber deine Argumente dazu kann ich zumindest nachvollziehen. Wenn du mir gestern auf der Heimfahrt deine Geschichte erzählt hättest, wäre wahr­scheinlich weniger als die Hälfte davon bei mir ange­kommen, ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedankengängen be­schäftigt.“

Er legte eine Pause ein, bevor er weiter erklärte: „Ich bin mir jedoch sicher, dass ich mit dem veränderten Peter klarkommen werde. Jeder von uns verändert sich im Laufe seines Lebens immer wieder ein wenig und bisher sind wir beide immer gut mit Veränderungen zu­rechtge­kommen.“

Während ich einparkte, sah mich Thomas nur an. Beim Aus­steigen stellte ich fest, dass Mutter und die beiden Jungs schon am Eingang standen und bereits auf uns warteten. Wir gingen rasch auf die drei zu und zusammen betraten wir das Krankenhaus.

Auf dem Weg nach oben in Vaters Krankenzimmer begegneten uns kaum Besucher. Selbst von den Mitarbeitern war nicht viel zu sehen, was wahrscheinlich eher daran lag, dass wir so kurz nach acht Uhr morgens bisher nie in einem Krankenhaus gewesen sind. Wir erreichten Vaters Krankenzimmer und traten ein.

Vater lag in seinem Bett, die ihn umgebenden Geräte piepsten wie in den vergangenen Tagen in schöner Regelmäßigkeit. Mutter setzte sich zu ihm ans Bett und nahm seine Hand in die ihre. Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür, nachdem kurz angeklopft wurde, und Vaters Arzt betrat das Zimmer.

Er begrüßte uns und danach versuchte er uns zu erklären: „Bitte entschuldigen Sie, dass Sie heute früh von der Nachtschwester aufgeweckt wurden, sie hat etwas überreagiert, aber die Entwicklung der letzten zwölf Stun­den ließ sie zumindest vermuten, dass kurzfristig mit dem Ableben ihres Vaters zu rechnen sein könnte.

Inzwischen wissen wir anhand der aktuellen Blut­werte, dass er die kommende Nacht vermutlich nicht mehr erleben wird, irgendwann in den nächsten zehn bis fünfzehn Stunden ist von einem multiplen Versagen seiner Vitalfunktionen auszugehen.“

Ich sah zu Mutter, die einen ruhigen und gefassten Eindruck bei mir hinterließ. Ich hatte in den letzten Tagen schon festgestellt, dass sie sich bereits mit der Tatsache arrangiert hat, Vater an ihrer Seite für immer zu verlieren.

Thomas, der immer noch über unser Gespräch nach­dachte, das wir während der Fahrt zum Krankenhaus geführt hatten, schien noch mehr verwirrt zu sein. Er sagte zu mir: „Peter, du wirst mir langsam doch unheimlich, vor allem, weil du heute Morgen felsenfest behauptet hast, dass wir noch mehr als genügend Zeit haben und trotzdem rechtzeitig im Krankenhaus bei deinem Vater sein werden. Woher konntest du das nur wissen?“

Vaters Arzt, aber auch ich schauten ihn verwundert an, was sollte an mir plötzlich unheimlich sein. Doktor Ramirez versuchte Thomas zu erklären: „Daran ist überhaupt nichts unheimlich, es ist vielleicht wissen­schaftlich nicht rational erklärbar, aber deswegen keinesfalls unheimlich. Es gibt immer wieder glaubwürdige Berichte, dass Geschwister untereinander oder Kinder auf große Distanzen den Tod des Bruders, der Schwester oder der Eltern spüren, ohne davon wirklich zu wissen.“

Thomas nickte verstehend, trotz allem spürte ich, dass für ihn immer noch der Begriff „unheimlich“ in seinem Kopf herum­spukte. Dr. Ramirez verabschiedete sich und versprach, später noch einmal nach Vater zu sehen.

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, stellte Mutter lapidar fest: „Doch falscher Alarm am frühen Morgen, wie wollen wir jetzt weiter vorgehen?“

Ich überlegte kurz und verkündete; „Wir sind hier und sollten blei­ben, vielleicht nicht alle gleichzeitig. Vielleicht können wir den Wochenendeinkauf bereits heute erledigen und ausnahms­weise nicht am Freitag. Wer weiß, was ab morgen alles auf uns zukommt.“

Thomas schaute mich an und bevor ich weitersprechen konnte, meinte er: „Den Wochenendeinkauf sollten wir beide heute übernehmen, dann kann Oma mit den beiden Jungs vorerst hierbleiben, wenn etwas sein sollte, können sie uns ja telefonisch jederzeit am Handy erreichen.“

Ich spürte, dass da mehr war als das, was Thomas offiziell ankündigte, er wollte heute mit mir nicht nur den Wochenendeinkauf durchführen. Bevor die anderen etwas einwenden konnten, stimmte ich schnell Thomas' Vorschlag zu.

Mutter ver­suchte uns zu überreden, sie doch zum Einkauf mitzunehmen, ich blieb jedoch hart und so verabschiedeten wir uns von meiner Mutter und den Jungs. Wir versprachen uns zu beeilen und nach dem Einkauf umgehend ins Krankenhaus zurückzukehren.

Unterwegs zum Supermarkt erklärte mir Thomas: „Peter, ich will noch einmal darauf zurückkommen, was ich vorher zu dir gesagt habe. Ich habe echt den Eindruck, dass dein Verhalten neuerdings manchmal unheimlich auf mich wirkt, nachdem du mir auf der Fahrt ins Krankenhaus die Geschichte mit der Kraftfeldübertragung erzählt hast.

Ich habe mich heute Morgen schon gewundert, dass du die Ruhe selbst geblieben bist, nachdem deine Mutter dir von dem Anruf aus dem Krankenhaus berichtet hat. Ich hatte ange­nommen, dass du richtig hektisch wirst, denn das wäre deine normale Reaktion gewesen. Dann deine Aussage, wir hätten noch jede Menge Zeit, das alles ist für mich sehr verwirrend.“

Während des Einkaufs sagte ich zu Thomas: „Das wird wahrscheinlich unser vorerst letzter Wochen­end­einkauf auf der Insel sein, spätestens in einer Woche werden wir wieder in unserem Reihenhaus in Rosenheim sitzen und dort über einen Wochenendeinkauf nachdenken.

Wir sollten nur so viel frische Sachen einkaufen, dass es bis maximal Mitte der nächsten Woche reicht. Notfalls können wir immer noch nachkaufen. Meine Mutter wird vermutlich mindestens zwei Wochen oder sogar etwas länger in Deutschland bleiben, bevor sie zumindest vorübergehend wieder auf die Insel zurückkehren muss. Mitnehmen nach Deutschland können wir die frischen Sachen nicht und wegwerfen will ich sie auch nicht unbedingt.“

Auf dem Rückweg ins Krankenhaus erklärte mir Thomas: „Ich werde das auf alle Fälle weiter beobachten, wenn du weitere auffällige Veränderungen zeigst, und wir sollten grundsätzlich immer darüber miteinander reden.“

Während unserer Abwesenheit war Vater wieder einmal kurz wach gewesen, wie Mutter uns bei unserer Rückkehr berichtete. Sie wären beide in dem Moment allein im Krankenzimmer gewe­sen, da die Jungs kurz in die Cafeteria gegangen seien. Wie sie uns später erzählte, hätte Vater zu ihr gesagt: „Ich werde jetzt meinen letzten Weg allein antreten, ich warte auf dich, auch wenn es eine längere Zeitspanne dauern sollte, bis du mir eines Tages ­folgen wirst.“

Als er bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte, ergänzte er mit schwacher Stimme: „Du brauchst nicht zu weinen, auch wenn wir dadurch körperlich getrennt sind, werden wir in unseren Gedanken doch immer noch eins sein. Ich habe dich immer geliebt, selbst der Tod kann unsere Liebe nicht auseinanderreißen.“

Marcus und Philipp, die während Vaters letzter Worte an Mutter leise ins Zimmer gekommen waren, waren in dem Augenblick wie angewurzelt stehen geblieben und versuchten Vaters Worte zu begreifen und einzuordnen. Sie konnten sich nur kurz mit Opa unterhalten, da er, müde von der Anstrengung, wieder einschlief.

Bei unserer Rückkehr saß Mutter immer noch am Bett und hielt Vaters Hand, die Jungs standen am Fenster und hielten sich gegenseitig fest. Mutter bemerkte als erste, dass wir wieder im Raum standen, und fragte unvermittelt: „Mit welchem Fahrzeug seid ihr beim Einkaufen gewesen?“

Während ich noch immer das Bild, das sich mir bot, versuchte einzu­fangen und festzuhalten, antwortete ihr Thomas: „Wir waren mit eurem Auto unterwegs, die Einkäufe liegen alle im Kofferraum. Marcus hat uns doch noch den Schlüssel von eurem Wagen in die Hand gedrückt, bevor wir losgegangen sind.“

Immer noch in meinen Gedanken versunken, hörte ich Mutter sagen: „Dann können die Jungs und ich jetzt kurz nach Hause fahren und eure Einkäufe nach Hause bringen. Wir kommen dann anschließend direkt wieder ins Krankenhaus zurück.“

Langsam schaltete mein Gehirn wieder um und ich schaute verblüfft in das Gesicht meiner Mutter. Hatte sie das jetzt tatsächlich gesagt? Marcus und Philipp hatten sich ebenfalls umgedreht und blickten verwirrt auf Mutter. Philipp fragte bei uns nach, ob wir einen Kaffee wollten, er würde uns einen aus der Cafeteria holen, bevor sie mit Mutter nach Hause fahren würden. Ich nickte nur, er griff nach Marcus und zog ihn hinter sich her aus dem Zimmer.

Noch immer sah ich Mutter an und dachte für mich, dass ich das jetzt nicht verstehen muss. Mit zwei Tassen frischen Kaffees kehrten die beiden nach einigen Minuten zurück und drückten sowohl mir als auch Thomas je eine Tasse in die Hand. Thomas, der zuletzt das Auto gefahren hatte, übergab im Gegenzug Philipp den Autoschlüssel vom Auto meiner Eltern.

Da Mutter aufstand und mir den Stuhl an Vaters Bett anbot, setzte ich mich zu meinem Vater. Mutter erklärte noch, dass sie nur kurz nach Hause fahren und so schnell wie möglich wieder bei uns sein würden. Sie und die Jungs verabschiedeten sich und ließen Thomas und mich bei meinem Vater zurück.

Thomas hatte den anderen Stuhl, der im Zimmer stand, geholt und sich neben mich gesetzt. Zu meinem Kaffee, den ich bereits vorher auf dem Nachttisch neben Vaters Bett abgestellt hatte, gesellte sich die Tasse von Thomas. Er nahm meine linke Hand in seine rechte und drückte sie leicht. Zusammen beobachteten wir Vater, wie er friedlich im Bett lag und schlief.

Wir saßen sicher mehr als eine halbe Stunde so neben Vaters Bett, als ich hörte, wie erneut vorsichtig die Zimmertüre geöffnet wurde. Ich drehte mich um und erblickte Doktor Ramirez, der hereinge­kommen war.

Er stellte sich auf die andere Seite des Betts und blickte auf die Monitore und ihre sich immer wieder ändernden Anzeigen, um daraus seine Schlüsse zu ziehen. Ich wollte ihn fragen, wie der Stand der Dinge sei, bevor ich jedoch meine Frage formulierte und aussprechen konnte, nickte Doktor Ramirez mit dem Kopf und gab mir damit zu verstehen, dass es bei seiner Prognose bleiben werde. Ich hatte zuvor meinen Blick ebenfalls auf die Monitore gerichtet, konnte jedoch keine signi­fikanten Abweichungen gegenüber vor wenigen Stunden erken­nen.

Bevor er wieder das Zimmer verließ, sagte er nur: „Ich werde später wieder nach ihm sehen.“ Thomas bot an, frischen Kaffee oder ein anderes Getränk für uns zu besorgen. Ich meinte nur, mir würde Wasser genügen. Er ergriff die beiden leeren Kaffee­tassen und machte sich auf den Weg in die Cafeteria des Krankenhauses.

Er hatte die Türe noch nicht richtig verschlossen, als ich er­kannte, dass Vaters Augenlider zu zucken anfingen. Nur wenige Sekunden später öffneten sich seine Augen und er schien erfreut darüber zu sein, mich an seinem Krankenbett vorzufinden.

Zuerst interessierte er sich dafür, ob ich allein bei ihm im Krankenhaus sei, was ich jedoch verneinte und ihm erklärte, dass Thomas unterwegs sei, um uns Wasser zu besorgen. Ich erzählte ihm, dass Mutter mit den beiden Jungs kurz nach Hause gefahren war, um unsere Einkäufe von heute Vormittag nicht zu lange den draußen vorherrschenden Temperaturen auszusetzen.

Ich weiß immer noch nicht, was in mich gefahren war, als ich ihn fragte, was er denn gestern mit mir angestellt habe. Er sah mich dabei leicht verwirrt an und schüttelte nur seinen Kopf. Er habe nichts getan, meinte er, ihm sei nur aufgefallen, dass er sich besonders eng mit mir verbunden fühlte, als ich seine Hand festhielt und seinen Hand­rücken streichelte.

Die letzten Worte hatte Thomas bei seinem Eintritt ins Kran­kenzimmer noch mitbekommen. Ich hatte mich kurz zu ihm umge­dreht und bei seinem starren Blick wurde mir angst und bange. Als er bemerkte, dass ich ihn anschaute, löste sich die Starre und er lächelte sowohl mich als auch Vater an.

Thomas kam näher und setzte sich wieder neben mich auf den Stuhl. Die Flasche mit dem Wasser, das er für uns besorgt hatte, stellte er auf den Nacht­tisch ab. Immer noch schaute er mich und Vater an, sagte aber nichts. Ich wendete mich wieder meinem Erzeuger zu und stellte fest, dass der wieder ins Reich der Träume entschwunden war.

Draußen auf dem Flur wurde es unruhig und ich hatte den Ein­druck auch hektischer. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass die Mitarbeiter des Krankenhauses mit der Verteilung des Mittagessens ihrer Patienten für die Unruhe sorgten.

Nachdem es auf dem Flur langsam wieder etwas ruhiger wurde, spürte ich in mir eine Unruhe auf­kommen. Ich konnte mir im ersten Augenblick keinen Reim darauf machen und versuchte krampfhaft mich wieder zu beruhigen, was mir aber nur teilweise gelang. Zumindest hatte Thomas noch nicht bemerkt, dass mich eine innere Unruhe erfasst hatte.

Mit einem Blick auf die Monitore der bei Vater ange­schlossenen Überwachungsgeräte konnte ich noch im­­mer keine für mich sichtbaren Verän­derungen feststellen. Das Gefühl der Unruhe hielt mich jedoch fest im Griff. Ich hatte gerade mein Handy aus der Hosentasche gefischt, um bei Philipp anzurufen, da klopfte es an die Tür. Großmutter, Philipp und Marcus standen im Türrahmen der sich öffnenden Türe.

Ich schob mein Handy zurück in die Hosentasche und begrüßte die Angekommenen. Da ich bisher Thomas nichts von meinem Gefühl erzählt hatte, verwarf ich den Gedanken, es jetzt nachzu­holen. Ich schob die Unruhe darauf zurück, dass mir die Zeit bis zum Eintreffen von Mutter und den Jungs scheinbar zu lange vorge­kommen sei. Dies stellte sich jedoch, schneller als mir lieb war, als Irrtum heraus, meine Unruhegefühle verstärkten sich permanent.

Ich erschrak regelrecht, als einer der Überwachungsapparate mit lautem piepsendem Geräusch auf sich aufmerksam machte. Zum Glück ging es nicht nur mir so, selbst meine Mutter und die beiden Jungs blickten erschrocken um sich. Es dauerte auch keine Minute, bis die Türe sich öffnete und die Stations­schwester und Doktor Ramirez ins Zimmer stürzten.

Schwester Elisabeth wollte uns schon aus dem Zimmer verscheuchen, als Doktor Ramirez ihrem Tun Einhalt gebot. Er schickte sie aus dem Zimmer und erklärte uns in ruhigen Worten: „Wir nähern uns seinem Ende, ich werde alle Tonsignale auf stumm schalten, um euch eine letzte Möglichkeit zu geben, in Ruhe von ihm Abschied zu nehmen, von eurem Ehemann und Vater, Schwiegervater und Opa. Ich werde die Stations­schwester anweisen, auf ein neuerliches Alarmsignal nicht mehr zu reagieren und euch allein zu lassen, bis alles endgültig vorbei ist.“

Dankbar nickte ich mit dem Kopf und Doktor Ramirez verließ wieder den Raum. Mutter hatte sich zwischenzeitlich wieder auf den Stuhl neben Vaters Bett gesetzt, seine Hand ergriffen und streichelte über seinen Handrücken, so wie ich es gestern bei ihm gemacht hatte. Ich hatte mir Thomas' Stuhl genommen und mich auf die andere Seite des Bettes gesetzt. Ich legte meine rechte Hand auf seine linke, diesmal streichelte ich ihn nicht, ich hielt sie einfach nur fest.

Ich beschäftigte mich plötzlich damit, was Vaters letzte Worte sein könnten, wenn er jetzt noch einmal aufwachen würde. So sehr ich mich auch bemühte, ich hatte keinen blassen Schimmer, was er uns sagen würde. Ich kann es gleich vorwegnehmen, er ist nicht mehr aufgewacht. Trotzdem beobachte ich angespannt und zugleich fasziniert die Kurven auf den Monitoren, die dann nach knapp zwei weiteren Stunden von Minute zu Minute immer flacher wurden, bis alle nur ein noch eine gerade Linie zeigten. Noch immer hielt ich Vaters Hand fest, als wollte ich glauben, dass alles nur ein Traum sei.

Thomas hatte zuerst nur seine Hand auf meine Schulter gelegt und genau wie ich auf den Monitor geblickt. In dem Moment, in dem alle Kurven zur Linie wurden, zog er mich hoch und drückte mich fest an sich.

Die Jungs hatten mitbekommen, dass Opa endgültig eingeschlafen war, sie näherten sich seinem Sterbebett und Philipp streichelte noch einmal seine Wange und murmelte: „Danke, Opa, für alles, was du für mich, meine Schwester und uns getan hast. Ich liebe dich immer noch, auch wenn ich es dir in Zukunft nicht mehr zeigen kann, du wirst es trotzdem spüren, so wie ich deine Liebe zu uns für immer in meinem Herzen tragen werde.“

Die Minuten, bis Doktor Ramirez und Schwester Elisabeth wieder den Raum betraten, erschienen mir unendlich zu sein. Und doch waren in Wirklichkeit nur etwas mehr als fünf Minuten vergangen, als sich die Türe öffnete und die beiden eintraten.

Schwester Elisabeths erste Amtshandlung bestand darin, sämtliche Überwachungs­maschinen endgültig abzuschalten und nach und nach die an Vaters Körper angebrachten Sensoren von seinem Körper zu lösen.

Doktor Ramirez erklärte uns in der Zwischenzeit, wie es nach Vaters Tod jetzt weitergehen wird. Wir hätten jetzt noch ge­nügend Zeit, um in Ruhe von ihm Abschied zu nehmen, falls wir das bisher noch nicht getan hätten. Später würden sie Vater in einen Kühlraum stellen, damit die Verwesung nicht zu schnell einsetzen kann.

Wir sollten uns mit einem auf Rücktransporte in die Heimat erfahrenen Bestattungsinstitut auf der Insel in Verbindung setzen und dort das Nötige veranlassen. Wenn wir nicht wüssten, wohin wir uns wenden sollten, könnte er beziehungsweise das Krankenhaus uns mit ver­schie­dene Adressen weiterhelfen.

Ich erklärte ihm, dass wir uns vorstellten, alles, was hier er­forderlich ist, mit einem ortsansässiges Unternehmen durch­zu­führen und nach der Überführung ein bei uns zu Hause ansäs­siges Unternehmen mit der Organisation der Beerdigung beauftragen zu wollen.

„Wenn das so ist, dann wenden Sie sich am besten an dieses Bestattungsunterneh­men mit deutsch sprechenden Mitarbeitern, nach meinen bishe­rigen Erfahrungen arbeiten sie reibungslos mit ihren deut­schen Kol­legen zusammen.“ Ich versprach ihm, mich schnellstens darum zu kümmern und der Krankenhausverwaltung Bescheid zu geben. Er fügte noch hinzu, dass er bis dahin auch die entsprechenden Unterlagen ausgestellt hätte.

Während er jetzt erneut das Zimmer verließ, sah ich mich um, konnte aber weder Philipp noch Marcus entdecken. Thomas berichtete mir, dass die beiden vor wenigen Minuten bereits das Zimmer verlassen hatten. Mutter hielt immer noch Vaters Hand; ich wollte sie nicht stören und verließ mit Thomas ebenfalls den Raum.

Auf dem Flur entdeckte ich Marcus und Philipp, die händehaltend über die Treppe nach oben kamen. Wir blieben stehen und warteten, bis die beiden vor uns standen. Philipp erklärte uns, dass er kurz mit seiner Schwester Martina tele­foniert und sie vom Tod von Opa Walter unterrichtet hätte.

Sie würde gleich meinen Bruder Dieter und meine Schwester Gerlinde anrufen und ihnen die unangenehme Neuigkeit weitergeben. Sie wollte von ihm wissen, ob ich denn wüsste, welches Bestat­tungs­institut sie mit der Übernahme der Beerdigungs­vorbe­reitungen beauftragen sollte. Da er es nicht wusste, hatte er sie ver­tröstet und gebeten, auf meinen Anruf zu warten.

Mit meinen Geschwistern brauchte ich nicht zu sprechen, die Arbeit würde mir meine Tochter schon einmal abnehmen, aber trotzdem blieb noch genügend übrig, was erledigt werden musste.

Während Thomas bei den Jungs blieb, kehrte ich in Vaters Sterbezimmer zurück. Mutter saß immer noch am Bett ihres verstorbenen Ehegatten und hielt seine Hand. Ich tippte kurz auf ihre Schulter, in der Hoffnung, dass ich mit ihr unsere nächsten Schritte besprechen könnte.

Sie drehte sich um, wischte mit dem Ärmel ihre Tränen aus dem Gesicht und fragte mich: „Was ist, meine Junge?“ Ich antworte: „Nichts Besonderes.“ Sie erhob sich von ihrem Stuhl, nahm meine Hand und gemeinsam verließen wir den Raum. „Ich denke wir sollten uns in die Cafeteria setzen, wir haben einiges zu klären, bevor wir das Krankenhaus zum letzten Mal ver­lassen“, erklärte ich den Anwesenden.

In der Cafeteria fanden wir einen Tisch für sechs Personen, der etwas abseits stand und mir für unser Gespräch bestens geeignet schien. Philipp und Marcus gingen zum Tresen und organisierten für uns Getränke und eine Kleinigkeit zum Essen. Wir hatten uns zwischenzeitlich an den Tisch gesetzt und warteten auf die beiden Jungs.

Nachdem wir uns etwas gestärkt hatten, fragt ich Mutter: „Hattet ihr schon einen Plan für den Fall der Fälle?“ Sie antworte nur kurz und bündig: „Nein.“

Deshalb fragte ich als Nächstes, ob sie wüsste, wer bei uns zu Hause die Beerdigung durchführen könnte oder ob es ihr egal sei. Sie überlegte kurz und erklärte: „Willi.“ Ich sah sie fragend an, da mir auf Anhieb nicht klar war, von wem sie in dem Moment sprach. Den anderen erging es wie mir, sie tappten auch mehr oder weniger im Dunklen.

„Bestattungsunternehmen Wilhelm Müller, einer unserer ältes­ten Freunde, er wird sich sicher freuen, diese Aufgabe für meinen Mann und seinen besten Freund zu über­nehmen“, erklärte sie. Damit konnte ich jetzt etwas mehr anfangen, ich erinnerte mich, dass Onkel Willi, wie wir ihn immer genannt hatten, ein Beerdigungsunternehmen besaß. Damit war zumindest geklärt, wen Mutter sich für diese Aufgabe vorgestellt hatte.

Ich erzählte, dass mir Doktor Ramirez ein ortsansässiges Unternehmen für die Abwicklung der Formalitäten empfohlen habe, das auf Überführungen nach Deutschland spezialisiert sei. Da Mutter keinen Einwand brachte, konnte ich diesen Punkt auch endgültig abhaken.

„Jetzt kommt unser größeres Problem, wir müssen den Rückflug nach Deutschland organisieren“, erklärte ich. Thomas meinte, diesen Punkt würde er übernehmen und gleich nach unserer Rückkehr zur Finca mit der örtlichen Vertretung unserer Fluggesellschaft abklären und für Mutter ebenfalls einen Flug buchen, wobei ich meinte, am besten einen Flug ohne geplante Rückkehr auf die Insel. Zuhause könnten wir später für ihre Rückkehr zur Insel und wieder zurück nach Deutschland gesondert einen Flug buchen.

Bevor wir aufbrachen, bat ich Mutter, sich vor unserem Anruf bei Onkel Willi Gedanken zu machen, wie sie sich den Ablauf der Trauerfeier vorstellen würde, damit wir ihm zumindest die nötigsten Informationen direkt geben könnten. Je nachdem, wie wir die Flüge bekämen, könnte sonst die Zeit für die Vorbereitungen für die Trauerfeier zu kurz werden.

Während Thomas und ich direkt vom Krankenhaus zum Spezialisten für die Überführung nach Deutschland fuhren, wir hatten uns vorher noch den von Doktor Garcia unterschriebenen Totenschein geben lassen, rollten Marcus und Philipp mit Mutter in ihrem Auto direkt zur Finca.

Das Gespräch beim spanischen Vertreter der Bestattungs­zunft verlief aus meiner Sicht weitgehend unproblematisch. Wir hatten ihn zuerst mit allen Infor­mationen zum Verstorbenen und dem Krankenhaus versorgt. Weiter erklärten wir ihm, dass in Deutschland die Beerdigung durch das Bestattungsunternehmen Wilhelm Müller in Rosenheim übernom­men wird. Er erklärte uns, wie der weitere Ablauf sei, bis der Verstorbene im Flieger auf dem Weg in die Heimat sei.

Zum Abschied bedankte er sich für das Vertrauen, das wir ihm mit unserem Auftrag entgegengebracht hatten, und versicherte uns, sofort mit der Abwicklung zu beginnen. Zuletzt meinte er, dass mein Vater spätestens am Mittwoch in Deutschland eintreffen werde, eventuell einen Tag eher, je nachdem wie schnell alle für den Transport erforderlichen Doku­mente vorlägen.

Er versprach, uns und seinen deutschen Kollegen rechtzeitig zu informieren, damit dieser rechtzeitig die entsprechenden Vorbe­reitungen für die Abholung am Flughafen in München treffen könne.

Mit einem guten Gefühl traten wir aus der Stille des Büros in die lauten, hektischen Straßen von Palma de Mallorca. Die Rückfahrt zur Finca verlief unspektakulär, abgesehen davon, dass die Kom­mu­nikation zwischen Thomas und mir weiterhin auf Sparflamme lief.

Nach unserer Ankunft eilte Thomas sofort ins ehemalige Arbeitszimmer meines Vaters, um unsere Rückflüge zu klären und für Mutter kurzfristig einen Flug nach Deutschland zu buchen, Rückflug sollte noch offenbleiben.

Ich suchte nach Mutter und fand sie auf der Terrasse. Ich hatte mir aus dem Büro einen Schreibblock geholt, auf dem ich eifrig notierte, welche Vorstellungen und Wünsche meine Mutter hinsichtlich der Trauerfeier äußerte.

Bei meiner Rückkehr ins Büro hörte ich gerade noch, wie Thomas sich verabschiedete. Auf dem Schreibtisch fand ich einen Zettel mit Telefonnummer und der Anschrift des deutschen Bestatters. Bevor ich jedoch zum Telefon greifen konnte, um mich in die in die anstehenden Gespräche zu stürzen, bremste er mich aus.

„Das mit den Flügen nach Deutschland war jetzt nicht gerade einfach, bis Sonntag sind alle Flüge vollständig ausgebucht, für Montag konnte ich nur zwei Plätze ergattern. Diese Plätze habe ich für uns beide reserviert. Mutter und die Jungs können erst am Mittwoch fliegen, an diesem Tag gibt es noch genügend freie Plätze, Dienstag war ebenfalls schon alles ausgebucht.“

Gut, das war jetzt nicht so optimal gelaufen, wie ich es mir erhofft hatte, aber immer noch besser, als man befürchten konnte. Thomas verließ das Arbeitszimmer und somit konnte ich mit meiner Telefon-Orgie beginnen. Zuerst rief ich unseren Spezialisten für Überführungen an und übermittelte ihm die Daten seines deutschen Kollegen, er hatte mir dafür extra seine Visitenkarte mitgegeben.

Der nächste Anruf ging nach Deutschland, ich wählte die Rufnummer von Onkel Willi, also dem deutschen Teil unserer Bestattungsvor­bereitungen. Am Telefon meldete sich eine recht jung klingende, weibliche Stimme. Ich bat sie, mich mit Willi zu verbinden, und sie meinte, sie würde mich mit ihrem Vater verbinden, was mich einen Moment lang doch etwas verwirrte.

Nach dreimaligem erneu­tem Anklingeln meldete sich mit mar­kanter, sonorer Stimme ein Benjamin Müller. Ich überlegte kurz, Benjamin, das war doch Willis jüngster Sohn. Unsicher fragte ich: „Benjamin Müller, der Benjamin, der früher immer erklärt hatte, dass er nie in Vaters Fußstapfen treten und das Bestat­tungs­unternehmen weiterführen würde.“

„Wer will das wissen?“, fragte er mich.

Ich entschuldigte mich erstmal dafür, dass ich ihm bisher meinen Namen nicht genannt hatte, und stellte mich vor. Er lachte laut los und als er sich wieder etwas beruhigt hatte, verkündete er mir, dass ich dann wohl auch derjenige sei, der nie den landwirt­schaft­lichen Betrieb des Gutshofes übernehmen würde.

Jetzt musste auch ich lachen. Nachdem wir uns beide wieder beruhigt hatten, erklärte ich ihm den Zweck meines Anrufes. Er erklärte sich sofort bereit, für uns die Durchführung der Beerdi­gungs­­feierlichkeiten zu übernehmen.

Bevor ich ihm Mutters Wünsche übermitteln konnte, erzählte er mir noch, dass sich sein Vater vor gut zwei Jahren endgültig aus dem Beerdigungsgeschäft zurückgezogen habe und er sich nach endlosen Diskussionen zur Fortführung der Familientradition entschlossen habe. Seine Tochter, mit der ich vorher kurz gesprochen habe, sei maßgeblich daran beteiligt gewesen, weil sie bereits ziemlich früh erklärt hatte, dass sie eines Tages das Geschäft gerne übernehmen möchte.

Das Gespräch dauerte länger, als ich geplant hatte, wir unter­hielten uns nicht nur über den Auftrag, sondern plauderten auch über unsere gemeinsame Vergangenheit. Bevor wir auflegten, verriet er mir, dass er seinen Vater gleich anrufen würde, er sei sich sicher, dass der es sich nicht nehmen lassen und sich in die Vor­be­reitungen einmischen würde.

Als Nächstes stand meine Tochter auf der Agenda der zu führenden Gespräche. Nach nur einmaligem Anklingeln wurde bereits abge­nommen und Kevin meldete sich am Telefon. Als er meine Stimme erkannte, wollte er sofort wissen, ob ich jetzt traurig wäre, weil mein Vater gestorben sei.

Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich einerseits traurig sei, aber andererseits wieder nicht, da Vater immer in meinem Herzen weiterleben würde. Kaum hatte ich den Satz ausge­sprochen, wurde mir bewusst, dass ich da etwas gesagt hatte, was mich sofort wieder an den gestrigen Nachmittag im Krankenhaus erinnerte.

Da seine Mutter und damit meine Tochter ihn schon gewaltig nervte, drückte er ihr kurzent­schlossen einfach den Hörer in die Hand. Sie freute sich, meine Stimme zu hören, und fragte nach, wie ich mich fühle.

Wie sollte ich mich schon fühlen bei einem Ereignis, das mir in der Vergangenheit einmal fast den Boden unter meinen Füßen entzogen hatte. Wobei, im Hier und Heute gibt es einen riesigen Unterschied, mein Vater hatte sein langes Leben erfolgreich und fast bis zuletzt bei bester Gesundheit erleben können und wurde nicht so früh wie meine Gabriele aus seinem Leben gerissen.

„Besser als beim Tod deiner Mutter“, antwortete ich ihr, was sie, wie ich spürte, mit Erstaunen zur Kenntnis nahm. Ich fragte sie, wie meine beiden Geschwister die Nachricht aufgenommen hatten.

Sie meinte dazu: „Nachdem du vorher bereits mit Onkel Dieter gesprochen hattest, schien er zumindest nicht sonderlich überrascht zu sein. Deine Schwester Gerlinde war da etwas zickiger, sie meinte, dass passe ihr überhaupt nicht in ihren Terminkalender.“

Ich schilderte ihr kurz, was wir bereits erledigt hatten, dass Thomas und ich am Montag zurückfliegen würden und Mutter und die beiden Jungs am Mittwoch fliegen werden. Die Überführung würde spätestens am Mittwoch erfolgen und als Tag für die Erdbe­stattung hatten wir uns bereits auf Freitag verständigt.

Als sie wissen wollte, wann wir vom Flughafen abgeholt werden sollten, gab ich ihr noch die Ankunftszeit unseres Fliegers am späten Vormittag bekannt. Sie war erleichtert, dass ihr diesmal wieder die Fahrt zum Flughafen von Christoph abgenommen werden könne. Wenn noch etwas sein würde, meldeten wir uns entweder telefonisch oder per Mail, sagte ich am Ende unseres Gespräches.

Der nächste Anruf auf meiner Liste führte mich zu Alejandro. Ich erklärte ihm kurz, dass Vater heute Nachmittag verstorben sei und die Beerdigung für kommende Woche Freitag in Deutschland angesetzt wurde.

Er wollte wissen, ob wir bei unserer Zusage blieben und er und Jorge dabei sein dürften. Bevor ich auf seine Frage antwortete, erklärte ich ihm, dass nach Auskunft von Thomas für Mittwoch noch freie Plätze auf den Flügen nach Deutschland, besser gesagt nach München, vorhanden seien und sie eventuell zusammen mit Mutter und den Jungs anreisen könnten.

Er wollte von mir wissen, wann sie fliegen würden. Ich gab ihm die Flugdaten der drei durch und er meinte, dass er sich sofort um zwei Plätze für ihn und Jorge bemühen würde, dann brauchten wir nicht zweimal zum Flughafen fahren, um sie gesondert abzuholen. Ich verabschiedete mich und legte auf.

Die wichtigsten Anrufe hatte ich jetzt hinter mir, alle anderen würde ich morgen erledigen. Mit dieser Erkenntnis erhob ich mich aus dem Bürostuhl und machte mich auf den Weg, um Mutter und Thomas zu suchen. Ich fand sie auf der Terrasse in ein Gespräch vertieft. Dann konnten nur Philipp und Marcus in der Küche sein, um unser Abendessen vorzubereiten.

Bevor ich zu Mutter und Thomas ging, schaute ich kurz zu den Jungs in die Küche und wollte wissen, wann sie mit dem Kochen fertig seien. Marcus meinte, dass es sicher noch gut eine halbe Stunde dauern könne, bis alles fertig sei.

Ich setzte mich auf der Terrasse zu den beiden an den Tisch. Meine Mutter schien unzufrieden mit der Tatsache zu sein, dass sie erst am Mittwoch nach Deutsch­land fliegen könne. Thomas erklärte ihr scheinbar zum wiederholten Male, dass alle anderen Flüge ausgebucht seien und er das Risiko mit der Warteliste nicht eingehen wollte.

Ich mischte mich ein und erklärte Mutter, dass es vernünftiger sei, sie würde zusammen mit den Jungs nach München fliegen, weil uns damit mög­licherweise mehrere Fahrten zum Flughafen erspart blieben, als wenn über die Warteliste immer nur einer mitfliegen könne. Mit diesem Argument ergab sie sich ihrem Schicksal und akzep­tierte endlich den Flug nach Deutschland erst am kommenden Mittwoch.

Meine Hoffnung, dass damit für heute alles gelaufen sei, erfüllte sich nicht. Wir hatten es uns nach dem Abendessen gerade wieder im Wohn­zimmer gemütlich gemacht, als das Telefon klingelte. Ich griff nach dem Apparat und meldete mich.

Alejandro war in der Leitung und teilte mir mit, dass es mit den Flügen für Mittwoch funktioniert hätte und sie zusammen mit meiner Mutter und den Jungs in einem Flieger sitzen würden. Er wünschte uns noch einen schönen Abend und legte wieder auf.

Kaum hatte ich allen erklärt, was Alejandro mir soeben mitge­teilt hatte, Mutter und die Jungs klangen erfreut darüber, zusam­men mit unseren Freunden zu fliegen, als es erneut klingelte.

Diesmal hatte ich Christoph in der Leitung, der mit uns klären wollte, wer alles von Vaters Tod zu informieren und zur Beer­digung einzuladen sei. Ich meinte, ich werde ihn auf Laut­sprecher stellen, wir würden alle gerade im Wohnzimmer sitzen und könnten mit ihm versuchen, das zu klären.

Mir war bewusst, dass das nicht unter einer Stunde zu klären sei. Er begrüßte alle Anwesenden und brachte gleich sein Anliegen auf den Punkt. Vorher informierte er uns noch darüber, dass er für morgen Urlaub genommen habe, um sich die Gespräche mit Martina zu teilen.

Zuerst arbeiteten wir die von Martina und ihm bereits erstellte Liste ab, wobei Mutter in einigen Fällen meinte, dass diese von der Liste gestrichen werden können. Ich hatte mich geistig wieder einmal ausgeklinkt und versuchte mir für mich einen Überblick zu verschaffen, wer da aller einzuladen sei.

Gut, die allernächsten Verwandten stellten für mich kein Problem dar, bei meinen Onkels und Tanten, sowohl väterlicherseits als auch mütter­licherseits, wurde das schon schwieriger. Auch bei Vaters und Mutters Freunden hatte ich reichlich Schwierigkeiten, alles auf die Reihe zu bringen; ich hoffte darauf, dass Mutter das im Griff haben würde.

Ich merkte noch rechtzeitig, dass sie scheinbar mit der Zu­sammenstellung der Liste fertig wurden, und bat Christoph, uns die Liste per Mail zu Verfügung zu stellen, damit wir vorsichtshalber noch einmal einen Blick darauf werfen konnten, ob wir wirklich keinen übersehen hätten.

Christoph versprach mir, uns diese Liste spätestens morgen früh zu übermitteln, wir sollten dann Änderungen und Ergänzungen in der Liste vornehmen. Zum Schluss wollte er noch wissen, ob es dabei bliebe, Freitag am späten Vormittag die Erdbestattung durch­zuführen, was Mutter ausdrücklich bestätigte. Sie verdonnerte Christoph dazu, alle auch zum Leichenschmaus im Anschluss an die Beerdigung einzuladen.

Auf seine berechtigte Frage, wo der Leichenschmaus stattfinden soll, meinte Mutter nur, dass überlasse sie ganz den beiden, nur sollte es nicht zu weit vom Friedhof entfernt sein.

Während sie dies sagte, musste ich innerlich lächeln, das war wahrlich keine leichte Aufgabe, friedhofsnah und gleichzeitig für eine größere Trauergemeinde geeignet. Auf Anhieb hatte ich keine Idee, wo das sein könnte.

Ich hatte mit meiner Vermutung Recht behalten, dass es nicht unter einer Stunde bleiben würde, am Ende hatten wir eineinhalb Stunden mit Christoph telefoniert. Meine Mutter meldete sich bei uns ab und ging zu Bett.

Thomas und ich waren auch reichlich müde und so verschwanden wir zehn Minuten nach meiner Mutter in unserem Schlafzimmer. Wir lagen kaum im Bett, als wir noch hörten, dass Marcus und Phillip ebenfalls in ihrem Zimmer verschwanden.

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