zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Die Verratenen

Teil 2 - Ernst des Lebens

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bevor es mit Max, Konstantin und Hubert weitergeht, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Lesern zu bedanken, die mich dazu ermuntert haben, diese Geschichte entgegen meines Vorhabens nun doch noch weiterzuschreiben. Ein ganz besonderer Dank geht dabei an Wolfgang (Lupodicorridore) für das Korrektur-lesen und die vielen hilfreichen Ratschläge.

1

Hubert blieb schweigsam und knurrig nach ihrem Aufbruch gen Pforzheim. Kein Wunder, so wie Max ihn übers Ohr gehauen hatte. Er fuhr voraus und gab das Tempo vor, als die Jungen ein letztes Mal den Heiliggeist-Hohlweg hinauf auf den Hummelberg fuhren, um Herdelsheim hinter sich zu lassen. Auf dem Plateau angekommen gestattete sich Max einen letzten Blick auf sein Heimatdorf; mit einer dumpfen Ahnung, es vielleicht niemals wieder zu sehen. So langsam wachten die Menschen dort nach einer ruhigen Nacht ohne Luftalarm wohl auf. Es würde noch etwa eine Stunde dauern, bis sich die Dorfjugend auf dem Kirchberg sammelte, um – wie in jeder Lebenslage im Gleichschritt – auf die Felder zu marschieren und bei der Ernte zu helfen. Das kränkelnde Reich musste schließlich versorgt werden. Dabei würde schnell auffallen, dass drei Kräfte fehlten. Aber dann wären Hubert, Konstantin und Max schon über alle Berge.

Schon bald schlug der Weg eine neue Richtung ein, und Herdelsheim war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Max und Konstantin fuhren nebeneinander her, wenn es der Weg zuließ, lächelten sich zu und warfen Richtung Hubert Grimassen, der ihnen die ganze Zeit nicht mehr als seinen Rücken präsentierte. Trotz aller Zweifel war Max in diesen Augenblicken froh, Konstantin bei sich zu haben. Felder wechselten sich mit Wiesen ab, Wiesen mit Wälder, und gelegentlich kamen auch Dörfer und kleine Städtchen in ihr Blickfeld, um die sie aber jedes Mal einen Bogen machten. Sie waren noch keine Stunde durch das sanfte Auf und Ab des Kraichgaus gefahren, als Konstantin nach vorne zu Hubert rief: „Wollen wir eine Rast machen?“

Hubert treppelte unbeeindruckt weiter.

„Zum Frühstücken?“, hängte Konstantin an und Max grinste vor sich hin, als Hubert plötzlich ins Schlingern kam, weil er den Kopf nach hinten drehte.

„Hast du etwas?“, fragte Hubert, und Konstantin rief: „Ha ja.“

Hubert trat weiter in die Pedale und Max war sich sicher, dass er zu stur war, um auf das Angebot einzugehen. Doch an einer Stelle, wo neben dem Weg eine sanft abfallende Wiese war, fuhr Hubert an die Seite und stieg vom Rad ab. Max und Konstantin waren kurze Zeit später bei ihm, ließen ihre Räder fallen und setzten sich Hubert gegenüber ins Gras.

„Wenn du mich verarscht hast, ist der Teufel los“, maulte Hubert Konstantin an. Statt auf den rauen Ton einzugehen, öffnete der in aller Seelenruhe seinen Tornister, holte eine bauchige Krakauer-Wurst heraus und beugte sich nach vorne, um sie an Hubert weiterzureichen. Dann zauberte er sogar noch einen Laib Brot hervor.

„Ist der feine Herr damit zufrieden?“, fragte Konstantin. Hubert brummelte eine schwer verständliche Zustimmung, während er sich mit seinem Fahrtenmesser ein Stück von der Wurst abschnitt und dann hinein biss.

„Das ist ja mal ein würdiges Soldaten-Frühstück“, sagte Max, und Konstantin flachste: „Eine Henkersmahlzeit, so oder so. Entweder die rekrutieren uns in Pforzheim und wir fallen im Krieg; oder sie schicken uns später gleich wieder nach Hause. Und dann wird mich mein Vater umbringen. Schon alleine, weil ich ihm die Wurst geklaut habe.“

Max lachte und Hubert meinte: „Dann trifft es endlich mal den Richtigen.“

„Mensch, Hubert“, seufzte Max, aber Hubert legte nach: „Hör mir auf mit 'Mensch, Hubert'. Ich versteh es einfach nicht. Ich verstehe nicht, dass du diese Lusche mitgenommen hast. Die lachen uns doch aus, wenn sie den Wüstrach-Heini sehen.“ Max stöhnte, und Huberts Augen funkelten ihn anklagend an. „Wir zwei wollten zusammen in den Krieg ziehen. Nur wir zwei. Und du schleppst diesen gottverdammten Wüstrach-Hurensohn an. Die Wüstrachs haben deinen Vater angeschwärzt, Max. Wenn's nach denen gehen würde, wäre dein Alter genauso mausetot wie der Ochsenwirt. Oder von der Bildfläche verschwunden, wie's eben als mal so passiert. Ist dir das egal? Ist dir denn gar nichts mehr heilig?“

Max fiel es schwer, die Fassung zu bewahren. Trotzdem sagte er ruhig: „Du kannst Karl Wüstrach nicht mit Konstantin gleichsetzen.“

„Einer ist wie der andere.“

„Nein, das stimmt nicht.“

Wohl unbedacht legte Konstantin seine Handfläche auf Max' Hand, mit der er sich auf dem Boden stützte und griff dankend zu. Was bei Max sofort ein wohliges Kribbeln im Bauch hervor rief. Doch Hubert stutzte, als er das sah. Und Max zog seine Hand schnell aus Konstantins Griff heraus. Hubert verzog das Gesicht und deutete mit der Klinge seines Messers auf Konstantin. „Wenn ihr Wüstrachs so etwas mit meinem Vater gemacht hättet, hätte ich dich schon längst aufgeschlitzt.“

„Es war aber nicht dein Vater“, sagte Max. „Und jetzt halt die Klappe und iss deine Wurst.“

„Pff.“

Für den Rest der Pause herrschte Schweigen und Max zerbrach sich darüber den Kopf, wie Hubert die Berührung zwischen ihm und Konstantin wohl gedeutet hatte. Eine Berührung, die zwar keine große Sache waren; aber Jungs taten so etwas einfach nicht. Hätte Konstantin doch nur seine Finger bei sich behalten.

Als es wieder weiterging, blieb es beim selben Bild. Hubert zog voraus und ignorierte seine Kameraden, während Max und Konstantin sich sputen mussten, um mitzuhalten. Max hatte den Drang, Konstantin auf die Berührung anzusprechen. Aber wozu denn? Was war denn eigentlich zwischen ihnen geschehen? Wenn man es genau nahm, gar nichts. Nur weil Hubert so blöde geguckt hatte, sollte Max sich jetzt den Kopf zerbrechen? Lächerlich! Also wirklich – diesen Tag hatte Max sich auch anders vorgestellt. Schon als Kind hatte er sich die Erhabenheit des Tages erträumt, an dem er vom Hitlerjungen zum echten Soldaten werden würde. Aber von dieser Erhabenheit gab es nun keine Spur. Dafür schlechtes Gewissen und Selbstzweifel.

Nach langem Schweigen sagte Konstantin zu Max: „Du weißt aber schon, dass ich das nicht gutheiße. Oder?“

„Was meinst du?“, fragte Max - aus seiner Grübelei gerissen – etwas zu hastig, was Konstantin zum Schmunzeln brachte.

„Das, was mit deinem Vater gemacht wurde. Und mit seinen Stammtisch-Kumpanen.“

Max seufzte. Denn es war ihm unangenehm, jetzt auch noch diese Wunden aufzukratzen. Deshalb sagte er nur zögerlich: „Weder du noch ich können etwas dafür. Sie haben gegen das Heimtückegesetz verstoßen. Da hätten sie mit Konsequenzen rechnen müssen.“

„Stimmt wohl. Aber trotzdem... Du kannst stolz auf deinen Vater sein“, antwortete Konstantin. Mit einer Ernsthaftigkeit, dass es Max beinahe vom Rad gehauen hätte.

Während der nächsten Stunden taute Hubert ein bisschen auf. Dass er immer nur zeitlich sehr begrenzt nachtragend war, war eine Sache, die Max sehr an seinem besten Freund schätzte. So radelten die drei nah beieinander durch die südwestdeutschen Hügel und es wurde tatsächlich kameradschaftlich. Die Landschaft änderte sich derweil kaum, auch als der Kraichgau hinter Bretten in den Pfinzgau überging. Derweil wurde die Aufregung bei Max immer stärker, als sie sich ihrem Ziel unaufhaltsam näherten. Der Morgen war schon fortgeschritten und auf den Feldern, zwischen denen sie radelten, war nun auch Betrieb. Bauern, Knechte und Jugendliche bei der Feldarbeit prägten das Bild auf eine Weise, wie er sie es von ihrer Heimat her kannten. Den größten Unterschied machten die hageren, aneinander geketteten Gestalten, deren Gesichtszüge so fremdartig waren. Max fiel es nicht schwer, sich zusammenzureimen, dass es sich hierbei um Zwangsarbeiter handeln musste. Auch Herdelsheim waren für die Erntezeit Kriegsgefangene versprochen worden. Aber bis dahin hatte die kleine Gemeinde noch keine bekommen.

„Habt ihr die Fratzen gesehen?“, lästerte Hubert, nachdem die drei am Rand eines Feldes vorbeigekommen waren, wo sich so ein Gefangenentrupp aufgestellt hatte. „Bestimmt Polaken. Oder sogar Slawenpack.“

Max hielt sich zurück, dafür sprach Konstantin aus, was Max dachte: „Wenn du tagelang nichts zu fressen bekommen würdest, würdest du auch nicht anders aussehen.“

„Provozier du nur weiter, Wüstrach!“, nörgelte Hubert. „Erstens seh ich nicht aus wie ein Polake und zweitens komm ich auch niemals in Gefangenschaft. Entweder Sieg oder Tod.“

„Sprücheklopfer“, sagte Konstantin.

„Bist nur neidisch auf meinen Kampfgeist.“

„Ja, genau – dein Kampfgeist. Wenn es um das letzte Stück Wurst geht, vielleicht“, lachte Konstantin und summte ein sarkastisches „Sieg oder Tod. Ts Ts“ vor sich hin.

„Beruhigt euch mal“, versuchte Max dazwischenzugehen. Doch Hubert ignorierte ihn und erwiderte süffisant: „Wüstrach – Wüstrach – Wüstrach … Sieg oder Tod. Ganz genau. Und wenn man es genau nimmt, kann ich gar nicht sterben.“

Konstantins Lippen bebten von unterdrücktem Lachen. „Ach so?“

„Ich hab nämlich ...“ Hubert nestelte in seiner Tasche und zauberte schließlich einen Gegenstand hervor, den Max als eine ziemlich ramponierte Taschenuhr erkannte. „Ich hab nämlich von meinem Alten die Büchse hier gekla... äh geliehen. Die hat ihm schon 1917 bei Cambrai das Leben gerettet. Also werde ich auch nicht sterben, so lange ich diese Uhr bei mir habe.“

Max wollte die Taschenuhr nehmen, als Hubert sie ihm entgegenhielt, aber Konstantin war schneller. Hubert knurrte, als der Rotschopf das verbeulte Stück unter die Lupe nahm. Erst runzelte Konstantin die Stirn, um im nächsten Moment spitzbübisch zu grinsen. „Na gut. Es ist genau … vier Uhr dreiundzwanzig.“

„Was bist du nur für ein Esel, Wüstrach“, tadelte Hubert ihn überheblich. „Die Uhr geht natürlich nicht mehr. Genau um vier Uhr dreiundzwanzig am 25. November 1917 wurde sie von einem Schrapnell getroffen. Ein Schrapnell, das meinen Vater getötet hätte, wenn er sie nicht in der Brusttasche getragen hätte.“

Max nahm Konstantin die Taschenuhr ab und erschauderte, als sein Finger über die eingedrückte Rückseite strich. Obwohl er wusste, dass Huberts Vater zu Übertreibungen neigte, fand er die Geschichte zu eindrucksvoll, um sie anzuzweifeln.

„Dann bringt sie dir ja in deiner Hosentasche besonders viel“, lästerte Konstantin. Doch als er Huberts gekränkten Gesichtsausdruck sah, schob er ein kleinlautes „Entschuldigung“ hinterher.

„Ja ja“, grummelte Hubert. Nachdem er die Uhr von Max zurückbekommen hatte, ließ er sie trotz Konstantins Spitze wieder in der Hosentasche verschwinden.

Max räusperte sich. „Jetzt aber weiter. Sonst kommen wir nie nach Pforzheim. Voran, Kameraden!“ Die letzten Worte hatte er wie in bester Lehrer-Grube-Parodie in die Weite des Pfinzgaus geschrien und sein zweiköpfiges Gefolge rief lachend: „Juhu. Voran.“

2

Es war schon früher Nachmittag, als die Jungen von einer Hügelkuppe einen ersten Blick auf die Goldstadt Pforzheim werfen konnten. Und alle drei machten eine besinnliche Pause. Als Dörfler waren sie nur selten in Städte gekommen, die größer als die nächstgelegene Kleinstadt Bruchsal waren. Wundervoll am Rande der dicht bewaldeten Berge des Nordschwarzwaldes gelegen, lag dieses 60.000 Einwohner-Juwel nun zu ihren Füßen. Die Stadtkirche überragte die anderen Gebäude, von denen gerade im Bereich der Innenstadt viele schon von hier oben edel und von erhabener Historie wirkten. Wie eine Lebensader schlängelte sich die Enz dazwischen hindurch. Je weiter man den Blick vom Stadtzentrum entfernte, umso kleiner und einfacher wurden die Gebäude. Rauchende Essen und Industriehallen umgaben die Stadt und Max war sich ziemlich sicher, in einem weitläufigen Gelände im Südosten auch die Buckenbergkaserne zu erkennen, wo sie hinwollten.

Als die drei später ihre Räder durch die gepflasterten Straßen der Stadt schoben, die von weitem so makellos gewirkt hatte, taten sich in diesem Bild Risse auf. Es gab Häuser, die wegen fehlender Fassaden aussahen, als hätte ein Riese ganze Wände herausgebissen und andere Gebäude waren fast bis auf die Grundmauern dem Erdboden gleichgemacht. Doch im Großen und Ganzen war Pforzheim im Vergleich zu vielen anderen deutschen Großstädten bis jetzt glimpflich davongekommen. Gegen das Ausmaß an Zerstörung, das Max, Hubert und Konstantin ein Jahr zuvor als Helfer nach dem Luftangriff auf Mannheim erlebt und gesehen hatten, war das hier nicht der Rede wert. Doch wie lange noch? In einer Zeit, in der in beinahe jeder Nacht – und mittlerweile sogar an den helllichten Tagen – schwere Angriffe auf die Städte und Industriegebiete geflogen wurden, war kaum abzuschätzen, wie lange Pforzheim das Glück noch auf seiner Seite haben würde.

Einmal verloren sich die drei sogar im Gassen-Labyrinth dieser schönen Stadt, aber das machte ihnen nichts aus. Max genoss es, die Eindrücke in sich aufzusaugen. Es kam ihm früh genug, dass sie gemächlich den Anstieg auf den Buckenberg hinauf radelten. Einige Minuten führte der Weg an der Ummauerung der Kaserne entlang. Es war um kurz nach 14 Uhr, als der Schlagbaum des Kasernenzugangs in ihren Blick kam. Noch konnten sie umkehren, mahnte Max eine innere Stimme, die verdächtig nach seinem Vater klang. Doch ganz ehrlich: In Wirklichkeit war es dafür zu spät; die Entscheidung war gefallen. All sein Selbstvertrauen verließ ihn, als sie sich dem Wachhäuschen näherten. So kindlich hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Was taten sie hier eigentlich? Gleich würden sie ausgelacht und mit einem Arschtritt nach Hause geschickt werden. Da war Max sich sicher.

Als sie sich mit den Händen an den Lenkern ihrer Fahrräder der Reihe nach vor dem Schlagbaum aufgereiht hatten, wurden sie vom Wachsoldaten alsbald in Empfang genommen. Ein junger Gefreiter in grauer Uniform, der nur wenig älter wirkte als die Jungen. Der linke Ärmel seiner Uniform hing zwar schlaff herunter, weil es keinen Arm gab, der ihn hätte ausfüllen können, doch dafür hatte der Gefreite seine rechte Hand auf dem Griff seiner Pistole im Halfter liegen. Im Augenwinkel sah Max, dass von einem Wachposten an der Umzäunung ein Gewehrlauf auf sie gerichtet war.

„Was wollt ihr?“, fragte der Wachsoldat und sein Blick ging wie selbstverständlich zu Max, dem Größten der Dreien.

„Herr Gefreiter; Max Haim, Hubert Thielmann und Konstantin Wüstrach melden sich als Kriegsfreiwillige zur Grundausbildung“, improvisierte Max eine Art Meldung, wie sie es bei der Hitlerjugend gelernt hatten. Er wartete darauf, dass der Wachsoldat nun frei heraus lachte. Aber er betrachtete Max nur mit gerunzelter Stirn.

„Wartet hier.“

Der Soldat ging in das Wachhäuschen und durch die Glasscheibe sahen die Jungen, wie er mit einem anderen Soldaten redete. Obwohl Max dessen Dienstgrad nicht erkennen konnte, vermutete er, dass es sich um den wachhabenden Unteroffizier handelte – nach allem, was er über Militär-Hierarchien in der Schule gelernt hatte. Dieser nahm den Hörer eines Fernsprechers in die Hand, sagte etwas hinein und schickte dann den Wachsoldaten wieder hinaus. 'Schick sie einfach wieder heim', flehte die knurrige Stimme von Max' Vater, dem alten Ferdinand, in seinem Verstand. Nur, dass der junge Wehrmachtssoldat mit seinem ernsten Miene nicht so aussah, als hätte er vor, sie wieder nach Hause zu schicken.

„Stellt die Räder hier ab. Und dann wartet dort.“

Lange geschah nichts. Wie von den unzähligen Appellen die sie schon durchlebt hatten gewohnt, hatten sich die drei der Größe nach aufgestellt. Der kleine, kompakte Hubert auf der linken Seite, in der Mitte der zwar etwas größere aber zartgliedrige Konstantin und rechts der lange, dünne Max.

Da nun mindestens zwei Gewehre auf sie gerichtet waren, deren Schützen geduldig darauf zu warten schienen, dass sich die drei als heimtückische Angreifer entpuppten, wagten sie es nicht einmal, die Köpfe zu drehen. Augenrollen war das höchste der Gefühle, während die Minuten vergingen. So verfolgten sie das Geschehen auf dem Kasernenhof, das sich zwischen den alten Backsteingebäuden darbot. Das Militärleben, das sich in der kurzen Zeit präsentierte, war anders, als Max sich das vorgestellt hatte. So viel ... weltlicher. Statt exerzierenden Kompanien herrschte ein gemächliches Hin- und Hergelaufe. Mannschaftssoldaten grüßten höhere Dienstgrade mit den Fingern an der Schläfe und einmal durchquerte ein Zug im Laufschritt das Gelände. Es herrschte wenig Betrieb. Was aber auch kein Wunder war. Waren in diesen Zeiten doch die allermeisten Soldaten im Kampfeinsatz gegen den Feind.

Ein Soldat, der schon aus der Ferne an der Schirmmütze mit silberner Kordel als Offizier auszumachen war, steuerte strammen Schrittes auf die Jungen zu. Max erstarrte in Ehrfurcht, als der Mann, dessen Rangabzeichen ihn als Major auswiesen, näher kam. Zwischen den Kragenspiegeln an der wie angegossen sitzenden Uniform trug der Stabsoffizier das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes. Eine Auszeichnung, die nur selten für besondere Tapferkeit im Kampf verliehen wurde. Der Major trat direkt vor die Jungen in ihren Hitlerjugend-Uniformen und musterte einen nach dem anderen. Zuletzt blieben seine Augen an Max hängen. Max wusste, dass er nun wieder sein Sprüchlein aufsagen musste. Aber sein Zwerchfell hatte sich aus lauter Nervosität verkrampft. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wirklichkeit nur wenige Sekunden andauerte, fand Max seine Worte wieder: „Heil Hitler, Herr Major. Max Haim, Hubert Thielmann und Konstantin Wüstrach melden sich als Kriegsfreiwillige. Äh. Zur Grundausbildung.“

„So so. Kriegsfreiwillige also“, sagte der Major mit kühlem Humor in den Augen. Max hielt es für besser zu schweigen, was sich als richtig erwies. Nach kurzer Pause sprach der Offizier weiter. „Wie ich sehe, kommen Sie aus der Hitlerjugend. Da darf ich wohl davon ausgehen, dass Sie bereits eine vormilitärische Grundausbildung durchlaufen haben?“

„Jawoll, Herr Major“, riefen Max, Hubert und Konstantin gleichzeitig.

„Na schön. Dann kommen Sie mal mit.“

Wenig später fanden sich die Jungen wieder im Stillgestanden. Dieses Mal in einer muffigen Amtsstube im zweiten Stock eines der Gebäude. Der Major, der nun, wo er seine Offiziersmütze am Kleiderhaken neben der Tür hängen hatte, schwarz meliertes Haar offenbarte, nahm sich Zeit, die Ausweise und Arier-Nachweise zu studieren. Die Bescheide der Vormusterung, die sie wie alle Hitlerjungen schon bald nach ihrem vierzehnten Geburtstag hatten über sich ergehen lassen, überflog er nur desinteressiert. „Thielmann – Haim – Wüstrach“, sagte er wie zu sich selbst, ohne den Blick von den Dokumenten zu heben. „Na gut.“

Dann richtete er sich auf und trat vor die drei. In seiner Stimme schwang bei jedem einzelnen Wort eine gepflegte Arroganz mit, die Max beeindruckte. „Mein Name ist Major Lorenz. Ich bin nicht nur der Kompanieführer ihrer Ausbildungseinheit, sondern auch Ihr zuständiger NSF-Offizier.“ Falkenartig betrachtete er die Jungen. Als keiner etwas sagte, fragte er: „Wissen Sie denn was das ist; ein NSF-Offizier?“

„Nein, Herr Major“, sagte Max mit schlechtem Gewissen in der Stimme, auch im Namen seiner beiden Kameraden.

„Das bedeutet Nationalsozialistischer Führungsoffizier. Meine Aufgabe ist es, aus Ihnen mehr als dumme, kopflose Soldaten zu machen – sondern Ihnen auch die Werte unserer nationalsozialistischen Revolution beizubringen. Und im Namen unseres Führers Adolf Hitler, das werde ich! Wenn ich mit Ihnen fertig bin, sind Sie nicht nur Soldaten, sondern bewaffnete Nationalsozialisten. Zu allem bereit. Haben Sie das verstanden?“

„Jawoll, Herr Major!“

„Ihnen wurde bestimmt erzählt, Sie seien zu jung für den Krieg und den heiligen Kampf gegen das Weltjudentum und für den Endsieg des Tausendjährigen Reiches. Dieser Meinung bin ich nicht.“ Die Augen des Offiziers, in denen bis dahin meist ein Hauch Ironie gelegen hatte, bekamen nun einen begeisterten Glanz. „Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass gerade Männer im Jugendalter im Stolz, im Heldentum und im tapferen Fanatismus die Alten übertreffen, wenn man sie formt. Und ich werde Sie dahin formen. Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Sie den Tod verachten und mit Zorn und Verderben die Reihen des Feindes überziehen. Verstanden?“

„Jawoll, Herr Major!“

Major Lorenz nickte zufrieden. „Nun denn. Da Sie schon eine vormilitärische Grundausbildung durchlaufen haben, will ich Sie auf Ihrem Weg zum Krieger nicht allzu lange aufhalten. Sechs Wochen sollten genügen, bevor sie Ihre Tapferkeit an der Front beweisen dürfen. Das ist mehr als genug. Oder sind Sie da anderer Meinung?“

„Nein, Herr Major!“, riefen die Jungen, und bei Hubert zeichnete sich sogar ein Lächeln auf die Lippen.

„Dann wollen wir keine Zeit verlieren.“ Der Major ging zum Fenster und deutete auf einen niedrigen Bau mit flachem Dach. „Dort ist die Kleiderkammer. Melden Sie sich beim Obergefreiten Klingenberg und lassen Sie sich Ihre Ausrüstung geben. Anschließend melden Sie sich im Kompaniegebäude IV beim Unteroffizier vom Dienst. Noch Fragen?“

„Nein, Herr Major!“

„Dann gehen Sie mir aus den Augen - Sturmgrenadiere!“

Die Jungen eilten noch immer gefesselt vom Charisma des Offiziers aus dem Stabsgebäude und über den Vorplatz; mit stolz geschwellter Brust. Sturmgrenadiere. Das war doch mal was.

„Der ist ja unglaublich“, sagte Hubert mit leuchtenden Augen über ihren Kompanieführer Lorenz.

„Blender“, brummelte Konstantin, und Max rempelte ihn an: „Hör auf, so zu reden!“

„Ja ja.“

„Lass ihn doch, Max. Soll sich der Wüstrach doch sein eigenes Grab schaufeln“, lästerte Hubert, während sie auf die Tür des niederen Gebäudes zugingen, das ihnen Major Lorenz gezeigt hatte. Max klopfte an; keine Reaktion. Er klopfte nochmal – nichts. Die Jungen schauten sich ratlos an.

„Lass uns einfach reingehen“, meinte Hubert.

„Na gut“, antwortete Max zögerlich und schaute seinen Freund auffordernd an. „Geh du vor.“

„Wieso ich?“

„Weil du ...“

Konstantin seufzte theatralisch, quetschte sich zwischen Hubert und Max hindurch und drückte auf die Türklinke. Er öffnete die Tür zu einer düsteren Kammer, an deren Lichtverhältnisse sich die Augen der Jungen erst gewöhnen mussten, als sie aus der Sommersonne vorsichtig hinein traten. Ein muffiger Wäsche-Geruch legte sich in ihre Nasen. Kein Wunder. Die Kammer war brechend voll mit Uniform-Teilen aller Couleur, die an Kleiderbügeln aufgereiht oder in Regalfächern verstaut waren, Bettwäsche und aller möglichen anderen Kampfausrüstung. Obwohl augenscheinlich alles logisch sortiert war, machte die Kleider- und Materialkammer einen unordentlichen Eindruck. Weil sie so vollgestopft war und wegen des Schummerlichts sah Max den Soldaten, der in der hintersten Ecke auf einem Schemel saß, erst auf den zweiten Blick. Neben ihm an der Wand lehnte ein Krückstock. Der Mann hatte auf dem Schoß eine offene Zeitung liegen, doch nun betrachtete er die drei Eindringlinge wie ein Raubtier, das seine Beute belauert.

Max kniff die Augenlider zu Schlitzen, um den Dienstgrad des Soldaten an dessen Uniform zu erkennen. „Herr Obergefreiter; die Sturmgrenadiere Haim, Thielmann und Wüstrach melden sich zum Ankleiden!“

Der Soldat, der nur dieser Obergefreite Klingenberg sein konnte, rümpfte die Nase. „Tun se jetzt schon bei den Hebammen räubern zum Rekrutieren – oder wat?“, raunzte er mit Berliner Schnauze. Konstantin kicherte und nach einem Moment der Perplexität beschwerte sich Max: „He! Wir sind doch keine Säuglinge.“

„Wat du nich sagst, Spargel.“ Der Mittzwanziger streckte sich nach seinem Krückstock und richtete sich schwerfällig auf. „Dann lasst uns mal gucken, ob wir passende Wickeltücher für euch finden.“

Jeder der Jungen bekam nun einen Seesack, und dann ging es ans Eingemachte. Hubert imitierte den staksenden Gang des Obergefreiten hinter dessen Rücken, während sie ihm folgten, was sowohl Konstantin als auch Max ein Übermaß an Selbstbeherrschung kostete, nicht zu lachen. Nach dem Bettzeug, das selbst im sauberen Zustand lausig roch, wurden die Jungen mit Ausgehuniform und Feldanzug eingekleidet. Dabei nahm sich Klingenberg viel Zeit für die drei. Denn: „'Ne Buchse, die nich am Sack kratzt, ist der erste Schritt zum Endsieg“; um es mit seinen Worten zu sagen.

„Den hat die Unterhose wohl am Sack gekratzt“, raunte Hubert Max zu und tippte sich zur Erklärung mit der Schuhspitze an den Unterschenkel.

Klingenberg, der gerade mit einem Stoß gefalteter Feldblusen hantierte, wetterte: „Kann der Rollmops eigentlich noch wat andres, wie Kacke reden?“

Sofort gingen Huberts Mundwinkel beleidigt nach unten, dafür rutschte Konstantin ein gluckerndes Lachen heraus. Klingenberg drehte sich um und gab Konstantin eine Feldbluse in die Hand. „Wat jibt’s da zu lachen, Rotkohl?“ Er blickte einen nach dem anderen eindringlich an. „Wollter mal wat seh'n?“

Die Jungen schauten Klingenberg nur fragend an. Er nahm seinen Krückstock und klopfte sich damit gegen seinen Unterschenkel. Ein hohl-trommelndes Geräusch erzeugte er dabei.

„Ist das...?“, fragte Konstantin. Klingenberg zog seine Uniform-Hose weit genug hoch, um das geölte Holz seiner Beinprothese zu präsentieren.

„Scheiße“, murmelte Hubert.

„Det kann ich euch mit uff'n Weg jebn. Immer aufpassen, wo ihr hintretet“, sagte Klingenberg, und Hubert fasste zusammen. „Lektion Eins: Die Buchse darf nicht am Sack jucken, Lektion Zwei: Nicht in die Kacke treten.“

„Hubert“, sagte Max tadelnd. Aber Klingenberg schien da schmerzfrei zu sein. Er streichelte fast liebevoll über sein Holzbein und meinte: „Det war meine Lebensrettung. Stellt euch vor. Die Kameraden verrecken elendig an der Front und ich bin hier in Pforzheim in meinem Kabuff und spiel Kindermädchen.“ Keiner der Drei gab eine Antwort. Max stellte sich die Frage, ob von ihnen überhaupt einer so viel Glück wie der Obergefreite haben würde.

Wenig später betrachteten sich die drei gegenseitig. Trotz ihres Stolzes fand Max, dass seine beiden Kameraden eher wie Witzfiguren wirkten mit ihren beinahe noch kindlichen Gestalten, die nun in schwerer Kampfmontur steckten. Und der Stahlhelm, den sie wie einen umgedrehten Suppentopf auf dem Kopf trugen, rundete das lächerliche Bild ab.

Klingenberg nickte zufrieden. „Passt. So könnter euch anständig die Ärsche wegballern lassen. Jetzt zieht ihr mal die Hälfte von dem Rotz wieder aus, und dann könnter euch in eurer Kompanie vorstellen.“

Nachdem Klingenberg den Jungen gezeigt hatte, was sie wie an einem Sommertag wie heute zu tragen hatten und auf was sie verzichten konnten, verließen sie das kleine Reich des Obergefreiten. Als echte uniformierte Wehrmachtssoldaten. Im Kompaniegebäude IV wurden sie vom UvD in Empfang genommen, der sie zum Spieß, also dem Kompaniefeldwebel der Sturmgrenadier-Ausbildungskompanie, dem Stabsfeldwebel Krupka brachte. Krupka war alt – Max schätzte ihn auf jenseits der 60 - , dick und griesgrämig. Mit den Neu-Landsern, die ihn aus seiner Lethargie gerissen hatten, war er zumindest schnell fertig. Er heftete die Papiere ab, die ihnen der Major Lorenz mitgegeben hatte und wies sie an, auf Stube Zwölf zu gehen, wo sie auf weitere Anweisungen warten sollten. Die Jungen taten wie befohlen.

Stube Zwölf war schnell gefunden. Sie war genauso verwaist, wie das ganze Kompaniegebäude, denn die Rekruten waren wohl im Manöver. Es war ein kahler Raum mit hoher Decke und groben Wänden. In der Luft lag derselbe modrige Geruch, den auch die Bettbezüge hatten, die sie vom Obergefreiten Klingenberg bekommen hatten. Das wunderte Max nicht. Denn von den zehn Doppelstockbettgestellen waren die meisten Matratzen mit ebenjener Bettwäsche bezogen und militärisch-präzise hergerichtet.

Hubert ließ den Kopf kreisen und murrte: „Hoffentlich schnarcht hier niemand.“

„Jetzt, wo du hier bist, schnarcht zumindest einer“, entgegnete Max aus leidlicher Erfahrung, der sich mit Hubert in Feldübungen und Zeltlagern der Hitler-Jugend oft genug ein Zelt geteilt hatte, und Konstantin ulkte: „Wir können ja dem Spieß Krupka sagen, dass Hubert ein Einzelzimmer bekommen soll. Der sagt bestimmt nicht nein, so nett wie der ist.“

Sowohl Max als auch Hubert lachten über die Ironie. „Was für ein Vogel“, sagte Max. „Der war doch bestimmt sogar unterm Bismarck schon Opa vom Dienst.“

„Mich würde es nicht wundern, wenn er bei den Paraden mit Pickelhaube dasteht“, gluckste Konstantin, und das war zu viel. Zum ersten Mal an diesem Tag wieherte Hubert sein eigenwilliges Lachen heraus. Und das steckte Max und Konstantin wieder an.

Max und Hubert nahmen eines der freien Doppelstockbetten in Beschlag – Hubert unten und Max oben und Konstantin bezog das benachbarte obere Bett, von dem er zu Max guten Sichtkontakt hatte. Dann hieß es warten.

Und warten.

Und warten.

„Wenn das so weiter geht, ist der Krieg vorbei und wir sitzen immer noch hier“, sagte Hubert.

„Du wirst...“, wollte Konstantin erwidern. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Sofort fuhren die drei hoch, wie von einer Hornisse gestochen. Herein kam ein Soldat der kaum älter als sie selbst war. Die Haare, ähnlich blond wie die von Max, hingen ihm strähnig in die Stirn und sein Gesicht und seine Hände waren bedeckt von einer Kruste aus Schmutz und Schweiß.

Als die Drei den dreckigen Soldaten anschauten, ohne etwas zu sagen, räusperte dieser sich ungeduldig.

„Herr...“, Max stockte, weil sein Gegenüber ebenso wie er keine Rangabzeichen auf der Uniform trug. „Herr Soldat. Die Sturmgrenadiere Max Haim, Hubert Tielmann und Konstantin Wüstrach... ähm... warten auf Anweisungen.“

Grenadiere, heißt das. Nicht Sturmgrenadiere“, rügte der Soldat Max. „Also nochmal.“

„Herr Soldat...“

„Herr Grenadier“, fiel er Max ins Wort.

„Herr Grenadier. Die Grenadiere Max Haim, Hubert Tielmann und Konstantin Wüstrach warten auf Anweisungen.“

„Siehst du? Geht doch. Ihr seid also die Neuen?“ Alle drei bejahten und der schmutzige Soldat sagte: „Dann geht’s jetzt los.“

3

Max und Hubert tauschten einen zaghaften Blick aus, dann war Hubert es, der sich ein Herz fasste. „Und.... Was ist Ihre Funktion - Herr Grenadier?“

„Ich bin der Truppführer eurer zwölften Gruppe. Und übrigens dürft ihr du zu mir sagen. Otto Karlitz ist mein Name.“ Er streckte den dreien seinen Arm entgegen und einer nach dem anderen gab Karlitz die Hand.

Die Namen waren schnell ausgetauscht, und während sich die Jungen unter Karlitz' Anleitung gefechtsmäßig herrichteten - mit umgeschnallter Koppel, den daran festgeschnallten Beuteln und Taschen für Nahrung und Munition, dem Spaten und dem Zylinder mit der Gasmaske – bekamen sie eine Kurzeinweisung in die hiesige Hierarchie. Die Ausbildungskompanie des 5. Ersatzheeres unter Kompanieführer Major Lorenz bestand aus drei Zügen. Sie gehörten zum zweiten Zug mit dem Zugführer Feldwebel Eckstein. Der zweite Zug hatte zwar nur acht Gruppen, dennoch nannten sie sich die „Gruppe Zwölf“, einfach deshalb, weil Gruppe Zwölf und die Belegschaft der Stube Zwölf identisch waren. Gruppenführer und damit auch ihr direkter Ausbilder war der Unteroffizier Waas. Karlitz, selbst Rekrut und Teil der Gruppe, war der Truppführer. Der Sprecher innerhalb der Gruppe sozusagen.

Das Umkleiden und Karlitz' kleiner Vortrag nahmen keine drei Minuten in Anspruch. Dann rannten sie auch schon im Laufschritt einmal durch das Kasernengelände, vorbei an den Wachen hinaus zum Zielgarten, der dahinter angrenzte. Die genagelten Marschstiefel taten Max schon bald an den Füßen weh. Der Kopfriemen des Helms scheuerte an seiner Stirn, und er sah auch, wie Hubert und Konstantin die Gesichter verzogen, je länger sie rannten. Konstantin wollte zurückfallen, doch Karlitz trieb ihn sofort an. „Weiter, Wüstrach. Keine Müdigkeit vorschützen. Unsere Gruppe Zwölf hat keinen Platz für Memmen!“ Gnadenlos hielt er das Tempo hoch, und wenn Konstantin einmal mehr drohte zurückzufallen, hakten Max und Hubert sich bei ihm ein und ließen ihm keine Gelegenheit.

Der Zielgarten war ein kombiniertes Übungsgelände aus Wald, offenen Wiesen, Bächen und Gräben. Sie eilten am 'Gut Würm' vorbei - einem Gehöft mit aus Holz und Ziegelsteinen zusammengezimmerten Hütten, Häusern und Scheunen – und ließen es hinter sich. Schon lange, bevor sie ihre neuen Kameraden erreicht hatten, hallten die Schreie und Befehle der Ausbilder über die Landschaft. Von der unverständlichen, ineinander übergehenden Geräuschkulisse der Schleiferei verstanden sie immer mehr Fragmente, je näher sie kamen. „Arsch in die Höhe, Soldat!“, „... sind schneller tot, wie Sie flapflap sagen können ...“, „... Halten Sie Ihren verdammten Hintern auf dem Boden!“

Max konnte es durchaus abwarten, dorthin zu kommen, wo die Schreie herkamen. Aber ihr Truppführer Karlitz hielt das Lauftempo auch nach mehr als einer halben Stunde noch gnadenlos hoch. Er führte Max, Hubert und Konstantin über Stock und Stein durch einen Wald. Auf der anderen Seite konnten sie endlich erkennen, was der Grund für diese Durcheinander - Brüllerei war. Der Zweite Zug der Ausbildungskompanie wurde gerade durch einen Parkour getrieben. Rekruten krochen unter Stacheldraht hindurch, kletterten über Wände, sprangen über Gräben und balancierten über Stämme. Und an jedem Hindernis stand ein Ausbilder, der die Soldaten weiter antrieb, obwohl viele schon weit jenseits ihrer Belastungsgrenze waren. Am Rande stand mit verschränkten Armen einer, der sich das Geschehen mit der napoleonischen Ruhe eines Feldherrn betrachtete. Karlitz führte die drei zu ebenjenem. In diesem Moment dankte Max dem lieben Gott, dem Führer und allen Heiligen, dass sie nach dem Gewaltlauf hierher so außer Atem waren. Denn sonst hätte sich Hubert niemals einen dummen Spruch oder zumindest einen schrägen Blick verkneifen können, der ihnen mit Sicherheit Ärger eingebracht hätte. Doch so hatten alle genug Mühe, beim Antreten gerade zu stehen. Konstantin rang pfeifend nach Luft und auch Max und Hubert atmeten laut und rasend, während Karlitz nur leicht außer Atem Meldung machte: „Herr Feldwebel – die Grenadiere Thielmann, Wüstrach und Haim.“

'Bitte, bitte, bitte. Lach jetzt nicht, Hubert', dachte Max in sich hinein, während sie von ihrem Zugführer, dem Feldwebel Eckstein gemustert wurden. Der Feldwebel war gut einen Kopf kleiner als Max und sogar kleiner als Hubert, war bestimmt auch schon um die Fünfzig und hatte das aufgendunsene Gesicht eines Trinkers.

Der Feldwebel nahm die drei lange genug in Augenschein, so dass Max begann, die geplatzten Äderchen auf dessen Nasenflügeln zu zählen. Schließlich knarzte er: „Schon wieder solche Blindgänger.“ Sein Blick blieb an Konstantin haften. „Aber Sie werde ich auch noch einnorden. Das wäre doch gelacht.“

„Jawoll, Herr Feldwebel“, keuchten Max und Hubert, und Konstantins Antwort war nicht viel mehr, als ein verzweifeltes Ausatmen.

Um ihrer Moral und Kondition auf die Sprünge zu helfen, ließ Feldwebel Eckstein Max, Konstantin und Hubert durch den Hindernisparkour laufen. Unter normalen Umständen wäre das sogar etwas gewesen, was Max Spaß gemacht hätte. Aber nicht so. Vom Lauf hier her war er sowieso schon erschlagen. Und nun, gehetzt von Ecksteins Ausbilder-Handlangern, war es der blanke Horror. Er robbte durch halb ausgetrockneten Schlamm und bekam jedes Mal einen Tritt auf den Hintern, wenn er ihn zu hoch nahm. „Soll ich Ihnen noch eine Zielscheibe auf die Arschbacke malen, Grenadier?“, brüllte einer der Ausbilder zu ihm hinunter, was Max so gut er konnte ignorierte. Er kletterte, balancierte und erstürmte. Dabei litt er mit Konstantin, der sich vergeblich mit der Holzwand abmühte, die es zu überwinden galt. Drei der Schleifer hatten sich dabei auf ihn eingeschossen. Sie machten sich einen Heidenspaß daraus, auf ihn ein zu brüllen, während der zierliche Rotschopf mehr und mehr verzweifelt mit dem Hindernis rang.

Über allem schwebte der Schwaben-Napoleon Eckstein, der für die drei Neulinge mit schriller Stimme einen Begrüßungs-Monolog hielt, während sie sich quälten. „In weniger als sechs Wochen sind Sie keine Schlappschwänze mehr, sondern Sturmgrenadiere des Führers! Sie sind dann nicht nur die Front – nein – Sie sind die Speerspitze der Front! Wenn alle anderen noch beim Saufen und Fressen sind, bekämpfen Sie schon den Feind!“ Er wendete sich direkt an Konstantin, der an seiner Kletterwand mehr und mehr resignierte. „Kein Nachgeben, Zuckerpüppchen! Sonst lasse ich Sie den ganzen Tag weiter machen!“

Max wäre am liebsten zu Konstantin hingegangen und hätte ihm geholfen, ein Bein über die Wand zu schwingen. Doch dafür wurde ihm gar keine Gelegenheit gelassen. Mehr und mehr begannen nun auch die Kameraden aus dem Zweiten Zug ihn anzufeuern. Schmutzige Milchgesichter unter Stahlhelmen, denen die Atempause, die ihnen die Spezialbehandlung für Max, Konstantin und Hubert brachte, sicherlich sehr gelegen kam. Als der Arme es endlich schaffte, die Wand zu besiegen, jubelten die Kameraden sogar, wobei sich Max nicht sicher war, wie viel Schadenfreude dahinter steckte. Erst als alle drei sechsmal durch den Parcours getrieben worden waren, ließ der Feldwebel von ihnen ab und befahl: „Weiter machen in den Gruppen!“

Karlitz brachte Konstantin, Max und Hubert zu einem Haufen Jungs, der die zwölfte Gruppe war. In dem Blick, mit dem er Konstantin dabei abschätzte, steckte pure Verachtung. Die Gruppen trennten sich nun. Angeführt von ihrem Gruppenführer, dem Unteroffizier Waas, zogen sie sich tief ins Gehölz zurück. Waas war ein großer, breitschultriger Hüne, der mit seinen langsamen Bewegungen eine gewisse Ruhe ausstrahlte. Er machte eine nach unten weisende Geste und die Jungs der zwölften Gruppe gingen um ihn herum in die Hocke, um sich im dichten Wald möglichst unsichtbar zu machen. Konstantin würgte zweimal, dann erbrach er sich. Leises Kichern. Einer der Kameraden klopfte ihm auf die Schulter und murmelte: „Das wird schon.“ Der Unteroffizier flüsterte väterlich mit tiefstem schwäbischem Dialekt: „Jetzetle ruhet eich erschd a mol aus, Buaba, abr ned z’lang. Mir hend no zom do .“ (Jetzt ruht euch erst einmal aus, Buben. Aber nicht zu lange. Wir haben noch zu tun.)

Seufzen. Während von allen Himmelsrichtungen Befehle gebrüllt wurden, wurde hier, bei der zwölften Gruppe nur vereinzelt geflüstert. Neugierige Blicke betrachteten die drei Neuen, und Max und Hubert raunten den anderen zu, wo sie herkamen und wie ihre Namen waren, während Konstantin nicht viel mehr als ein Gespenst war. Nach der kurzen Verschnaufpause schaute Waas in die Runde. Kurz blieb sein Blick an Konstantin hängen. Max rechnete mit einem Spruch zu dessen armseligen Zustand, doch der Unteroffizier sagte nur: „Auf Buaba. Weidr gots.“

Konstantin seufzte, und Karlitz gab ihm einen Klaps auf den Helm. „Reiß dich bloß zusammen!“

„Spiel dich nicht so auf, Karlitz“, motzte der Rekrut, der Konstantin zuvor auf die Schulter geklopft hatte, und Karlitz zischte zurück: „Fresse, Papentin.“ Er schaute ihm hart in die Augen, was dieser mit einem süffisanten Lächeln quittierte.

Auch wenn der Unteroffizier Waas im Vergleich zu den anderen Ausbildern recht menschlich daher kam, schleifte er die Jungen während der nächsten Stunden bis zum Erbrechen. Denn „Dr Faind frogd eich net, obr miad send, Buaba.“ (Der Feind fragt euch auch nicht, ob ihr müde seid, Buben). Aufspringen – hinwerfen – Gasmaske überstülpen – weiter rennen – sich in Gräben einsauen – eine andere Gruppe angreifen und schnellstmöglich Land gewinnen – „Gleiten Eins“ - „Gleiten Zwo“. Konstantin blieb nicht der Einzige, der im Laufe des Nachmittags kotzen musste, aber Max musste sich sorgenvoll mit ansehen, dass Konstantin hier das schwächste Glied in der Kette war. Den Unteroffizier schien das nicht zu kümmern. Er trieb Konstantin genauso wie die anderen Jungen einfach immer weiter und Max, Hubert und Papentin, der sich inzwischen als Jupp Papentin vorgestellt hatte, zogen ihn mit durch, während Karlitz seinen Teil zur Motivation beitrug, indem er Konstantin anschrie.

Der Marsch zurück zur Kaserne war noch einmal höllisch. Max, Hubert und Papentin hatten sich Konstantins Marschgepäck untereinander aufgeteilt, damit er es überhaupt zurück schaffte. Es war weit nach 20 Uhr, als der Zug vor dem Kompaniegebäude angetreten war. Kaum einer schaffte es noch, gerade zu stehen. Zu Max' Erleichterung machte es Feldwebel Eckstein kurz, als er vor den Zug trat.

„Zwoter Zug – auf die Stuben, Ausrüstung reinigen und Körperpflege. Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Herr Feldwebel!“, schrie es aus dutzenden Kehlen.

„Weggetreten!“

Alle stürmten ins Gebäude. Doch als Konstantin durch die breite Tür gehen wollte, fing ihn der Feldwebel ab. „Sie werde ich im Auge behalten. Zuckerpüppchen.“

„Jawoll, Herr Feldwebel“, keuchte Konstantin. Max hatte sich das mit angesehen, doch als er sich Konstantin zuwenden wollte, kam Karlitz zu ihm und schob ihn ein Stück von den anderen weg. „Du kannst doch gut mit dem Wüstrach, Haim. Oder?“

„Ja.“

„Dann solltest du mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Wenn er so weiter macht, lässt der Eckstein unsere ganze Gruppe leiden. Und wenn das passiert, mache ich ihn fertig. Das kannst du mir glauben.“

„Gut. Ich kümmere mich darum.“

Karlitz nickte und klopfte Max auf die Schulter. „Ich verlass mich drauf.“

Auf der Stube taute die Gruppe nur langsam auf, während sie sich die durchgeschwitzten Uniformteile auszogen. Ohne sich viele Gedanken darüber machen zu müssen, hängten Max, Konstantin und Hubert sich an den hilfsbereiten Jupp Papentin und dessen Kumpel Friedel Stahl.

„Kann es sein, dass die Ausbilder alle schon uralt sind?“, wollte Max wissen, denn tatsächlich schienen Eckstein und seine Schleifer alle schon weit jenseits der Vierzig zu sein.

„Stimmt“, sagte Stahl, und Papentin gluckste: „Die Guten sind alle im Krieg. Für uns gibt’s die Invalidenrampe.“

Max grinste, Konstantin schmunzelte und Hubert wieherte, was Stahl und Papentin selbst zum lachen brachte. „Der Thielmann lacht ja wie ein Gaul. Wo gibt’s denn so was?“, lästerte Stahl. Konstantin foppte Hubert: „Das ist doch eine schöne Beförderung. Vom Rollmops zum Gaul in nicht mal einem Tag.“

Auf die fragenden Gesichter erklärte Konstantin: „Der Obergefreite Klingenberg aus der Wäschekammer hat Hubert Rollmops genannt.“

Wieder lachen. Und Jupp Papentin klopfte Hubert auf die Schulter: „Beförderung zurückgenommen. Rollmops passt besser zu dir als Gaul.“ Hubert salutierte ulkig und rief: „Grenadier Rollmops, melde mich zum Dienst“, was den nächsten Lachanfall brachte.

„Das war schon eine Marke, dieser Klingenberg“, sagte Max, worauf Friedel Stahl entgegnete: „Mit dem müsst ihr euch gut halten. Der Klingenberg ist hier die gute Seele und kann euch alles besorgen, was ihr braucht.“ Karlitz, der den Spaß bis dahin missmutig beobachtet hatte, mischte sich ein. „Der Klingenberg ist ein verdammter Drückeberger.“

„Der Klingenberg hat immerhin ein Bein im Kampf verloren“, entgegnete Stahl, doch Karlitz blieb verbittert. „Auch für solche Leute gäbe es bessere Verwendung, als sich in so einer Scheiß-Wäschekammer die Eier zu schaukeln. Der hat Schiss vor der Front und kommt damit durch. Bei so einem könnt' ich kotzen.“

Papentin winkte ab, was Karlitz noch mehr provozierte. „Dass du solche Feiglinge in Schutz nimmst, ist ja klar. Du rennst wahrscheinlich auch gleich beim ersten Schuss vor dem Feind davon.“

„Ja ja.“

„Und unsere ehrwürdigen Ausbilder nennst du Invalidenrampe? Die haben alle im letzten Krieg heldenhaft gedient. Und jetzt geben sie ihre Erfahrung an uns weiter, obwohl sie es nicht müssten. Etwas mehr Respekt wäre angebracht, Jupp.“

Papentin rollte mit den Augen. „Ist ja gut. Das war doch nur Spaß.“

„Dann mach dir mal Gedanken darüber, wo der Spaß aufhört“, schimpfte Karlitz. Dann nahm er seine Seife und ging hinunter in den Waschkeller.

„Der hat ja eine Laune“, seufzte Hubert, nachdem Karlitz' hallende Schritte im Flur leiser geworden waren.

Stahl erklärte: „Der Alte vom Karlitz ist Oberstleutnant bei der Artillerie. Deswegen denkt er, er ist was Besseres.“

„Und das Schlimme ist – unsere Scheiß-Vorgesetzten denken das auch“, fügte Papentin an, und die anderen kicherten nervös über dessen Ausdrucksweise.

Max, Hubert, Konstantin und ihre beiden neuen Kameraden ließen sich viel Zeit, bis sie selbst zur Körperpflege in den Keller gingen, um ihrem mies gelaunten Truppführer aus dem Weg zu gehen. Später gingen die fünf dann barfuß und nur mit Unterhosen bekleidet durch den Flur ihres Stockwerkes zur Treppe, um in den Waschkeller zu gelangen. Max hielt Konstantin dabei einen Augenblick zurück, bis die anderen einige Schritte von ihnen weg waren. Er legte seinen Handrücken wie eine Schranke auf Konstantins schmale Brust. Konstantin warf ihm einen mokanten Blick zu, der Max die Röte ins Gesicht trieb.

„Ich will nur kurz mit dir reden“, stammelte er mit dem Gefühl, etwas Anstößiges getan zu haben.

„Gut. Dann lass uns reden.“

Max schaute sich um, um sicherzugehen, dass es keine Zuhörer gab. Dann flüsterte er: „Hör zu. Der Karlitz meint, wenn du nicht zäher wirst, werden er und die anderen dich fertig machen. Denkst du, du kannst das schaffen?“

Konstantin nickte und Max verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Schön.“

„Es sind doch überall dieselben.“, sagte Konstantin. „Egal, ob sie in Herdelsheim Schneider heißen oder in Pforzheim Karlitz.“

„Eiferer nennt sie Hubert“, erwiderte Max und Konstantin grinste.

„Keine Sorge. Ich werde mein Bestes geben“, erklärte Konstantin schließlich, und Max beschlich das seltsame Gefühl, dass Konstantin das weniger wurmte, als man es eigentlich vermuten sollte.

„Das hoffe ich. Es geht ja nicht nur um Karlitz und seinen Ehrgeiz. Was wir hier lernen, brauchen wir in ein paar Wochen, damit wir überleben.“ Max kniff Konstantin in die Wange. „Ich will doch nicht, dass du stirbst.“

„Wie nett“, feixte Konstantin mit einem Augenaufschlag, der es in sich hatte.

Max presste die Lippen aufeinander. „Gut. Lass uns gehen.“

4

Der Dienstag war wie der Montagnachmittag, nur schlimmer. Morgens um Vier wecken, wobei der Unteroffizier vom Dienst mit dem Kochlöffel auf einen Topf trommelnd durch die Flure ging, dann Körperertüchtigung, ein Frühstück mit viel zu wenig Zeit zum Essen, und nach der Waffenausgabe wurden die Jungen wieder zum Zielgarten getrieben. Am Montag hatte Max sich noch darauf gefreut, endlich seinen eigenen Karabiner zu haben, mit dem er nach der Grundausbildung in den Krieg ziehen würde. Doch nun war die Waffe bei den aufreibenden Übungen unter Feldwebel Eckstein und Unteroffizier Waas nicht mehr als eine zusätzliche Belastung. Konstantin war zwar bemüht schrittzuhalten, in der nicht enden wollenden Schinderei ging er trotzdem unter. Max fragte sich besorgt, wie lange das noch gutgehen würde. Erst gegen 21 Uhr war der Ausbildungstag zu Ende, und kurze Zeit später lagen sie alle schon in ihren Betten. Bis auf Karlitz, der als Truppführer um 22 Uhr Meldung zum Nachtappell machen musste.

Am Mittwochmorgen war von Max' naiver Aufbruchsstimmung, mit der er noch am Montag hier angekommen war, nicht mehr viel übrig. Viel mehr als Müdigkeit, bedingt durch den wenigen Schlaf sowie die harte Ausbildung und die Sorge um Konstantin, den Eckstein als sein Lieblingsopfer ausgemacht hatte, konnte er nicht mehr empfinden. Der Tag begann, wie auch der Dienstag schon begonnen hatte. Morgens um vier war Weckdienst und schon zwei Minuten danach war die ganze Einheit vor den Stuben bei Liegestützen, Kniebeugen und diesem widerlichen Häschen-Hüpf, wo die Schreie der Hilfsausbilder grausam durch den Flur und in den müden Köpfen dröhnten.

Nach einem überhasteten Frühstück nahmen die drei Züge der Ausbildungskompanie Aufstellung auf dem Paradeplatz. Keiner der Rekruten wagte es, auch nur den Hauch von Müdigkeit zu zeigen, als die Jung-Soldaten ihrem Kompanieführer Lorenz den allmorgendlichen Führereid entgegen brüllten: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jeder Zeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“ Nach dem rituellen dreifachen „Hurra“ auf den Führer trennten sich die Züge. Der Feldwebel Eckstein befahl 'seinen' zweiten Zug in Marschformation.

„Zwoter Zug! Zum Stabsquartier! Hörsaal Eins! Marsch!“

Schon Minuten später zog Ecksteins 'Zwoter Zug' in den Hörsaal ein und es herrschte eine gemurmelte Unruhe, als die blutjungen Soldaten auf Holzbänken Platz nahmen, die zwar genauso unbequem waren wie die, die Max von der Schule her kannte, die nun aber für seinen geplagten Körper und übermüdeten Geist eine Wohltat waren. Hubert, der sich zwischen ihn und Konstantin gesetzt hatte, stupste Max an: „Was glaubst du, was jetzt kommt?“

Max wollte sagen, dass er es nicht wusste, da mischte sich Friedel Stahl von ihrer Stube ein, der hinter ihnen saß. „Wahrscheinlich 'politische Erziehung' beim Major“, Jupp Papentin gluckste: „Schlafstunde.“

„Das klingt ja toll“, seufzte Hubert und rollte sehnsüchtig mit den Augen. Doch Stahl sagte: „Nimm den dummen Papentin bloß nicht wörtlich. Falls die mitbekommen, dass dir die Augen zufallen, wirst du den restlichen Tag nicht mehr froh.“

„Oh.“

Wen Stahl mit 'die' meinte, erfuhr Max sehr bald. Stühle scharrten im Gleichklang auf dem Boden, als die Tür aufging und der Kompanieführer Major Lorenz, gefolgt vom Zugführer Eckstein und Spieß Krupka den Saal betrat.

„Heil Hitler, zweiter Zug!“, rief er zu den stramm stehenden Rekruten.

„Heil Hitler, Herr Major!“

„Setzen.“

Während sich Major Lorenz nun mit lockerer Haltung den Nachwuchs-Soldaten zuwandte, nahmen Krupka und Eckstein hinter ihm Stellung und behielten die Rekruten ganz genau im Auge.

„Was für ein erhabener Anblick“, begann der Major seine Ansprache, während er seinen Blick durch die Reihen der müden Soldaten schweifen ließ. „92 tapfere Krieger, die sich unserem Führer auf Leben und Tod verschworen haben. Und wenn Sie auf den Führer schwören, dann schwören Sie auch auf seine Ideologie. Ist es nicht so?“

„Jawoll, Herr Major!“

Der Hauch eines Lächelns legte sich auf Lorenz' Lippen. „Und was ist der Kern dieser nationalsozialistischen Ideologie?“ Keiner wagte zu erwidern. Und anscheinend erwartete der Major das auch nicht. Denn nach einer Atempause gab er die Antwort selbst. „Der Kern unserer nationalsozialistischen Ideologie – der nationalsozialistischen Wahrheit - ist die Ordnung der Rassen. Wir führen zwar Krieg gegen Russland – Frankreich – England – und auch gegen die verdammten Amerikaner, die sich unbedingt einmischen mussten. In Wirklichkeit ist das nur Mittel zum Zwecke. In Wahreit geht es um eine größere – um die völkische Sache. Wie Sie alle wissen, gibt es eine natürliche Ordnung der Rassen dieser Erde. Ganz oben stehen wir. Die nordische arische Herrenrasse, der es bestimmt ist, über die Welt zu herrschen. Darunter gibt es die minderwertigen Rassen ...“ Während der nächsten Minuten fiel es Max schwer, die Augen offenzuhalten. Die Müdigkeit übermannte ihn und er hatte Mühe, dem Referat des Majors über die Rassenhierarchie zu folgen. Alles schon tausendmal gehört. Oben standen die Herrenmenschen zu denen Max, Hubert und Konstantin gehörten, dann kamen die vielen minderwertigen Rassen, von welchen manche in der Unterscheidbarkeit offensichtlich waren, während man bei anderen genauer hinsehen musste.

Der Vortrag über den Abstand der Augen bei Slawenvölkern und die kleineren arischen Ohren zog sich in die Länge. Manche Rekruten kämpften mit der Schläfrigkeit und andere hingen dem charismatischen Stabsoffizier an den Lippen. „Schließlich kommt die unterste Stufe der Rassenpyramide: Das Weltjudentum; die Gegenrasse zu unserer arischen Herrenrasse.“

Plötzlich hatte Major Lorenz wieder die volle Aufmerksamkeit seiner Rekruten. Waren sie doch alle ein Leben lang darauf erzogen worden, Juden zu verachten. Der Major war sich dessen wohl bewusst. Denn in seinem Gesicht machte sich Selbstgefälligkeit breit. „Im Gegensatz zu den anderen niederen Rassen sind die Juden nicht dumm. Die Juden sind schäbig und gerissen. Alles, was wir erschaffen wollen, wollen die Juden zerstören und stehlen. Deshalb kann ich nur immer und immer wieder sagen: Die Juden sind die Plage unserer Welt. Die Juden sind unser Untergang.“

Zustimmendes Raunen ging durch die Reihen, während Max plötzlich wieder glasklar das Bild seines Kindheitsfreundes Leo und dessen Familie vor Augen hatte, die nie eine Plage gewesen waren und schon gar kein Untergang. Der Major ließ den Rekruten genug Zeit, um sich über das Judentum zu echauffieren. „Warum erzähle ich Ihnen das alles?“, fragte er schließlich und die Rekruten schauten ihn mit großen Augen an. Seine Frage beantwortete Major Lorenz selbst. „Weil das der Punkt ist, an dem Sie ins Spiel kommen. Natürlich sind Sie in erster Linie Soldaten. Soldaten, die für Führer, Volk und Vaterland tapfer bis zum letzten Tropfen Blut den Feind bekämpfen, weil der uns unser Land und unsere Ideologie stehlen will. Habe ich recht?“

„Jawoll, Herr Major!“

„Aber das ist nur das Eine. Sie sind mehr als nur Soldaten. Sie sind Nationalsozialisten! Bis unter die Zähne bewaffnete Nationalsozialisten! Ihnen ist es zugetan, die Hierarchie der Rassen zu bewahren und gegen den Feind zu behaupten. Die niederen Rassen zu unterjochen und als Zuchtmeister den Stall auszumisten. In arischer Kaltblütigkeit sollen Sie Ihren Beitrag dazu leisten, das Weltjudentums auszulöschen. Das ist Ihre Pflicht. Ihre Ehre.“ Der Major redete weiter und weiter und jedes Wort wurde für Max schwerer zu ertragen. Seine Vorstellung von Soldatenehre zerbrach bei diesen Tiraden wie Glas, wenn Mord und Gewalt an Zivilisten – sogar Frauen und Kindern - zum Heldentum glorifiziert wurden. War er hier im Saal denn der Einzige, dem es so ging?

Und die Ansprache wollte einfach nicht enden. Der Major hatte sich in Rage geredet. „Es gilt nicht nur, Feinde von außen zu bekämpfen, sondern auch Feinde, die unsere Wehrhaftigkeit von innen zersetzen wollen. Wer diese inneren Feinde sind?“ Major Lorenz schaute mehreren Rekruten nach einander direkt in die Augen, und am Ende war auch Max dran. Er fühlte sich unter diesem Blick bis auf die Unterhose entwaffnet. Wollte etwas sagen. Aber natürlich war das nur wieder eine von Major Lorenz' rhetorischen Fragen. Ein Wimpernschlag später war der Moment schon wieder vorbei und der Offizier beantwortete seine eigene Frage. „Die inneren Feinde – die Zersetzer - sind die Skeptiker. Zweifler, die unsere Ideologie infrage stellen und unsere Moral untergraben wollen und deshalb zwingend als Kollaborateure anzusehen sind. Humanisten, Kommunisten oder Sozialdemokraten nennen sie sich. Feiglinge, die sich um ihre Verantwortung drücken und die die weiße Fahne schwingen; lebensunwerte Geschöpfe wie Geisteskranke und homosexuelles Schweinepack.“ Der Major rümpfte verächtlich die Nase. „Alle die müssen ausmerzt werden. Jeder von Ihnen, der im Wissen über solches Ungeziefer in unserer Truppe ist und mir das nicht unverzüglich meldet, macht sich zum Helfershelfer. Und glauben Sie nicht, dass auch nur Einer damit durchkommen wird. Verstanden?“

„Jawoll, Herr Major!“

„Ich werde es nicht zulassen, dass es in meiner Wehrmacht noch einmal solche hinterhältigen Schweinehunde gibt. Klausen – Beck – Stauffenberg und wie sie alle heißen. Schon gegen die kleinsten Auswüchse werde ich ohne Gnade vorgehen. Glauben Sie mir das?“

„Jawoll, Herr Major!“

Er lächelte sein kaltes Lächeln. „Gut. Weiter machen.“

Die Rekruten sprangen auf und standen kerzengerade, als der Kompanieführer ohne sich noch einmal umzudrehen den Hörsaal verließ.

Nach der politischen Bildung durch ihren NSF-Offizier herrschte unter den Rekruten eine seltsam aufgedrehte Stimmung, jetzt, da sie wieder daran erinnert worden waren, worum es ging. Als ob Major Lorenz nur mit Worten die Müdigkeit aus den Geistern und den Leibern gefegt hätte. Max fragte sich, ob er tatsächlich der einzige war, den die Ausführungen geschockt hatten. Aber mit wem sollte er denn darüber reden? Er wusste, dass die Zweifel, die ihm sein Leben schon immer schwer gemacht hatten, hier nicht mehr nur gefährlich, sondern tödlich waren.

Doch all die schweren Gedanken und Hinterfragungen trieb ihm der Feldwebel Eckstein während der nächsten Stunden gehörig aus. Max, Hubert und Konstantin blieb zwar noch eine kurze Galgenfrist, als im Stabsgebäude Fotografien von ihnen für die Familien gemacht wurden, doch die nächsten Stunden wurden sie wieder von ihren Ausbilder gequält, schikaniert und gedemütigt, bis ihnen der Schmalz aus den Ohren triefte und Konstantin für Lacher sorgte, als er sich erneut während einer Spezialbehandlung erbrechen musste. Als der Zweite Zug am Abend am Gut Würm im Zielgarten für den Rückmarsch zur Kaserne in Aufstellung ging, war Max gedanklich schon in seinem Bett. Doch Feldwebel Eckstein hatte noch einen Sonderauftrag an seinen Zug.

„Sie haben genau 45 Minuten, um Ihr Kompaniegebäude zu erreichen, Grenadiere“, brüllte er den Soldaten entgegen. Er holte die Uhr aus seiner Tasche und klappte sie auf. „Es ist jetzt genau acht Uhr sieben. Um acht Uhr zwoundfünfzig erwarte ich Sie auf dem Paradeplatz. Und wagen Sie es nicht, mich warten zu lassen. Truppführer! Sie sind verantwortlich.“

Max konnte es zwar nicht sehen, doch er konnte sich gut vorstellen, wie die Brust von Karlitz vor Stolz anschwoll. Sowohl Eckstein als auch die Gruppenführer brausten in Automobilen zurück zur Kaserne und die zumeist noch jugendlichen Truppführer schrien ihre Gruppen in Formation. 45 Minuten waren eine mehr als knappe Angelegenheit und Max war sich nicht sicher, ob das überhaupt zu schaffen war. Deshalb fand er es auch gut, dass sich der Zug keine drei Minuten, nachdem die Ausbilder sie verlassen hatten, im Trab auf den Weg machte. In den jeweiligen Gruppen trieben die Truppführer ihre Jungs vor sich her.

Es kam, wie es kommen musste. Bei nicht einmal der Hälfte des Weges machte Konstantin schlapp. Kein Wunder, denn Eckstein hatte den als Schwächling ausgemachten Jungen heute mehr gedemütigt, als die meisten anderen. Als er sich hängen lassen wollte, waren seine Freunde Max, Hubert, Friedel Stahl und Jupp Papentin bei ihm, um sein Marschgepäck aufzuteilen, und Max schulterte auch Konstantins Karabiner. Wie ein Bluthund strolchte Karlitz nebenher, ohne jedoch einen Finger krumm zu machen, um zu helfen. „Los, Wüstrach, nimm die Beine in die Hand. Ich hab keine Lust, wegen einer Nulpe wie dir Ärger zu bekommen.“

Konstantin stöhnte, und Karlitz schrie. „Schlepp deinen Arsch vorwärts, Wüstrach! Du bist eine Leiche! Du stinkst wie eine Leiche, und wegen Leuten wie dir verrecken im Kampf gute Soldaten! Jetzt lauf!“

Konstantin gab sein bestes, aber viel ging da nicht mehr. Er war nicht der einzige im Zug, der schlapp machte, doch Karlitz juckte das nicht. Die anderen Schlappschwänze gehörten schließlich nicht zu seiner Gruppe. Deshalb hatte er es voll auf Konstantin abgesehen. Als der Zug endlich in die Kaserne zurückkam, war auch Max am Ende seiner Kräfte. Der Schweiß triefte ihm aus allen Poren und durchnässte seine Uniform. Die Ausbilder um Feldwebel Eckstein standen schon auf dem Paradeplatz und warteten, bis ihr Zug in Formation gekommen war. Als es soweit war, zückte Eckstein seine Taschenuhr.

„Acht Uhr Sechsundfünfzig! Sie haben versagt, Zwoter Zug. Sie sind zu spät und der Feind hat Sie überrannt. Im Ernstfall wären Sie alle tot!“

Ein schuldbewusstes Raunen ging durch den Zug.

„Aber ich will nicht so sein! Zur Übung dürfen Sie wieder zurück zum Ausgangspunkt marschieren und es ein zweites Mal versuchen!“

Totenstille. Die völlig entkräfteten Rekruten schienen nur darauf zu warten, dass der Feldwebel seinen Witz auflöste. Aber leider hatte Feldwebel Eckstein keinen Humor. Gemeinsam mit den Ausbildern und unter höllischen Qualen marschierte der Zweite Zug wieder zum Zielgarten, nur um sich von dort wie Vieh zurück zur Kaserne treiben zu lassen. Einige Soldaten brachen dabei zusammen, doch irgendwie rappelte sich jeder wieder auf. Max konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen so schlimmen Tag erlebt zu haben. Und als um 23 Uhr so spät wie nie das Licht ausgegangen war und Max sein Gesicht im Kopfkissen vergraben hatte, graute ihm schon davor, was der nächste Tag wohl mit sich bringen würde.

Max wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war oder wie lange er geschlafen hatte, als er vom funzelnden Licht mehrerer Lampen geweckt wurde. Flüsternde Stimmen, dann ein kläglicher Schrei.

„Jetzt kriegst du deine Abreibung, Wüstrach.“ Das war Karlitz' Stimme. Er und noch zwei andere, die Max im Schattenlicht nur schwer erkennen konnte, waren zu Konstantin aufs Hochbett geklettert. Vom Nachbarbett konnte Max genau verfolgen, was nebenan geschah.

„Hört auf“, rief er, als einer Konstantins Oberkörper mit den Händen an seinen Schulterblättern auf die Matratze presste, ein anderer die Bettdecke hinunter auf den Boden warf und Karlitz ihm die Unterhose bis zu den Knien herunterzog.

„Aufhören“, rief Max noch einmal und richtete sich auf. „Halt du dich da raus, Haim. Oder du bist der Nächste“, zischte Karlitz. Konstantins ersticktes Wehklagen, das sich mit dem Lachen der Jungen und dem Klatschen von Handflächen auf nackter Haut vermischte, war der Stoff für Albträume. Irgendetwas von „Schinken klopfen“, wurde gegluckst. Dann ... Ja, was taten die denn eigentlich? Es dauerte mehrere Sekunden, bis Max es erkannte. Karlitz und sein Helfer schmierten Konstantins blanken, versohlten Hintern mit Schuhcreme ein, während der Dritte ihn weiterhin zur Wehrlosigkeit fixierte. Eine Minute später waren die Lampen wieder aus, und in der Stube war Konstantins Wimmern das einzige Geräusch. Max wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Doch letztendlich war es ihm egal, ob er sich nun blamieren würde oder nicht. In der Dunkelheit kletterte er von seinem Hochbett hinunter und zu Konstantin hoch. Er strich seinem Freund durchs Haar in der Gewissheit, dass die Dunkelheit die Geste vor den Kameraden verbergen würde. „Komm. Wir machen dich sauber“, flüsterte er und hatte trotz der Finsternis das Bild vor Augen, wie Karlitz in seinem Bett lag und mit den Augen rollte. Konstantin hauchte eine kaum verständliche Zustimmung, und wenig später tasteten sie sich blind durch die Stube zur Tür und hinaus auf den Flur.

Dort war es zwar auch noch recht finster, aber die Notbeleuchtung war hell genug, um zu sehen. Es tat Max weh, Konstantin so verheult zu sehen. Gott sei Dank war dieser Anblick den Schweinen um Karlitz verborgen geblieben, sonst würden sie nur noch mehr auf Konstantin herumhacken. Sie schlichen sich hinunter zum Waschraum, in der Hoffnung, nicht noch vom Unteroffizier vom Dienst erwischt zu werden. Als im Keller Konstantin seine Unterhose ein Stück weit herunterzog, sah Max das Dilemma: Konstantins Pobacken waren beide kohlrabenschwarz.

„Da haben die aber was angerichtet“, murmelte Max. Er nahm sich eine der groben Wurzelbürsten, doch Konstantin schüttelte entsetzt mit dem Kopf. „Mach das bloß nicht“, bat er Max.

„Und wie ...“

Konstantin zuckte traurigen Blickes mit den Schultern. Es half alles nichts und insgeheim war Max ganz froh darum. Gemeinsam rieben sie mithilfe von Wasser und Seife mit ihren Händen Konstantins Pobacken sauber, so gut es ging. Sofort machte sich in Max wieder dieses altbekannte schlechte Gewissen breit, als er sich eingestehen musste, dass er es genoss, Konstantins Po zu ertasten. Zwischendurch seufzte er pflichtbewusst genervt, doch als er Konstantin in die Augen schaute, hatte sich in dessen verweintes Gesicht ein Grinsen gemischt.

Max ließ sich sofort davon anstecken: „Was ist?“

„Für diese Behandlung nimmt man die Abreibung vom dummen Karlitz doch gerne in Kauf.“

Max klopfte Konstantin mit der nassen Hand auf den Nacken und hinterließ einen schwarzen Schuhcreme-Abdruck: „Depp.“ Aber er konnte nicht anders, als mitzulachen und sich zu fragen, wie viel innere Kraft in Konstantin stecken musste.

5

„Guck dir die an. Die sehen wirklich wie echte Menschen aus“, unkte Papentin, und Stahl hielt seine Hände wie ein Bilderrahmen vor Huberts Kopf: „Man sollte eigentlich noch ein paar Eckstein-Opfer-Bilder im Zielgarten machen. Zum Vergleich.“

Alle lachten überdreht, Hubert wieherte und auch Max musste grinsen. Denn er wusste natürlich, was Stahl meinte. Heute hatten Hubert, Max und Konstantin ihre Fotografien erhalten, die für ihre Familien von ihnen gemacht worden waren. Die Schwarz-Weiß-Bilder, die da jetzt auf dem Tisch ausgebreitet lagen, strahlten allesamt eine Würde aus, die Max noch nicht gespürt hatte, seit er unter die Fuchtel des Feldwebels geraten war. Auf dem Bild, schaute Hubert ernst und verwegen in die Ferne und wirkte in seiner Uniform trotz des verschmitzten Funkelns in seinen Augen erwachsen. Der Hubert, der nun an der Längsseite des Tisches stand und seine eigene Fotografie betrachtete, sah zwar auch älter aus als seine 16 Lebensjahre, aber auf eine ausgezehrte Art. Daran konnte auch seine augenblickliche Laune nichts ändern. Seine eigentlich vollen Wangen wirkten eingefallen und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Auch Konstantin, der sich in den Tagen seit Karlitz' nächtlicher Abreibung in die Belastungen der Grundausbildung hineingefuchst hatte, hatte sich verändert. Seine kindliche Gestalt war drahtig geworden, und sein Gesicht war innerhalb weniger Tage kantiger geworden. Von dem Jungen, der nicht einmal zwei Wochen zuvor für Max Geige gespielt hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Der Feldwebel Eckstein und seine Helfer hatten inzwischen neue Opfer gefunden. Seit sich Konstantin auf dem Schießplatz als hervorragender Scharfschütze entpuppt hatte, hatte er sogar etwas ähnliches wie Respekt ernten können.

Papentin nahm Max auch jegliche Illusion, dass er selbst noch der Alte war, als er Max' Foto, auf dem er verträumt ins Nirgendwo schaute, neben dessen Gesicht hielt. „Und was haben wir da?“, kommentierte Papentin, und den meisten Kameraden bebten die Lippen; gespannt auf seine Ausführungen. Er wackelte mit der Fotografie. „Schön.“ Dann klatschte er mit der freien Hand auf Max' Hinterkopf. „Hässlich.“

„Gar nicht wahr“, sagte Max, selber lachend. Er versuchte den Blick, den ihm der Fotograf aufgeschwatzt hatte zu imitieren, und das Gelächter wurde noch größer. Es tat Max gut zu sehen, dass auch Konstantin grinste. Ein seltener Anblick während der letzten Tage.

„Der Dackelblick macht dich nicht schöner, du langes Elend“, sagte Hubert, und Papentin legte lachend noch einen drauf: „Find dich damit ab, Haim. Diese Scheiß-Wehrmacht macht uns alle hässlich. Scheiß-Aas für den Scheiß-Führer.“

Stahl und Hubert lachten noch einen Moment, doch dann fielen auch sie in die Grabesstille, die von einem Moment auf den anderen eingetreten war. Papentin gefror sein Grinsen auf den Lippen, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte. Er suchte Blickkontakt mit Karlitz, dem Truppführer, der das Geschehen teilnahmslos von seinem Bett aus verfolgt hatte.

„Das war nicht so gemeint.“

Karlitz nickte. „Schon gut.“

„Wirklich. Das war nur dummes Gerede.“

„Ich habe doch gar nichts gesagt“, entgegnete Karlitz, und Papentin nickte dankbar.

Zwar wurde kein Wort mehr über Papentins Verfehlung geredet, aber der Spaß war augenblicklich vorbei. Wenig später betrachtete Max nachdenklich Konstantin, wie er auf seiner Matratze lag und zur Decke schaute. Hoffentlich würde er auf Dauer die Klappe halten können. Das, was Papentin eben gesagt hatte, sah Max als Denkzettel. Die Kameradschaft auf der Stube würde ihn sicher schützen. Aber Konstantins Sprüche konnten von einem anderen Kaliber sein, wenn er einmal in Fahrt kam. Max konnte nur hoffen, dass Konstantin sich darüber im Klaren war. Er nahm sich nun die Zeit, einen Brief an seine Liebsten zu schreiben, den er gemeinsam mit den Fotografien nach Herdelsheim schicken wollte.

Liebe Mutter, lieber Vater, liebe kleine Maus Traudel.

Nach meinen ersten Tagen als Infanterist hier in Pforzheim kann ich mich eigentlich nicht beklagen. Die Grundausbildung ist zwar hart und wir werden sehr gefordert, doch das konnte man ja wohl auch erwarten. Das Essen hier ist zumindest besser als gedacht. Auch wenn ich jetzt gestehen muss, dass man uns viel zu wenig Zeit für die Mahlzeiten lässt, was besonders Hubert schlaucht. Konstantin hat sich mit den Anforderungen der Ausbildung anfangs sehr schwer getan. Aber er hat sich von Tag zu Tag gebessert und ich bin, was ihn betrifft, guter Dinge. Ich wünsche Euch, dass es Euch zuhause auch in diesen schwierigen Zeiten noch gut geht und freue mich darauf, von Euch Post zu bekommen. Ich gebe zu, ich vermisse Euch.

In Liebe

Max

Der Brief gefiel Max nicht. Es gab so vieles, was er hätte schreiben wollen. Doch das Wichtigste war, dass sich seine Eltern und Traudel nicht zu viele Sorgen machten. Zumindest hatte er – genauso wie Hubert – die Gelegenheit mit den Bildern genutzt, um seinen Eltern zu schreiben. Konstantin hatte seine Fotografien genauso wortlos, wie er sich den ganzen Abend gegeben hatte, im persönlichen Fach seines Spindes verschlossen. Max hatte so seine Zweifel, dass die Wüstrachs jemals einen Brief von ihrem einzigen Sohn erhalten würden.

„Kompanie - stillgestanden!“ Wie jeden Morgen klatschten dutzende Stiefel mit einem Schlag auf den Boden, nachdem der Spieß die Ausbildungskompanie in Aufstellung für den Kompanieführer gebracht hatte. Alles wie gehabt. Eine kurze Ansprache von Major Lorenz an seine Rekruten, um sie für den anstehenden Tag scharf zu machen, und nach der Unterredung der Truppführer mit den Zugführern und dem Kompanieführer wurden die drei Züge im Laufschritt aus der Kaserne hinaus zum Zielgarten gehetzt. Häuserkampf stand heute für Max' Zweiten Zug auf dem Plan. Weil diese Art der Kampfführung während der letzten Monate immer wichtiger geworden war, war das 'Gut Würm', ein verlassener Bauernhof, zu einem rudimentären Kaff erweitert worden. Mit niedrigen Hütten zum Verschanzen, Scheunen und sogar einer verwinkelten Gasse.

Hier konnten die Jungen sich mit blinden Handgranaten und Manövermunition austoben und zum ersten Mal seit Beginn seiner Grundausbildung machte es Max Spaß, als sich die Gruppe aus Stube 12 in dem unübersichtlichen Übungsdorf mit den anderen Gruppen bekriegte und immer wieder vor neue Probleme und Aufgaben gestellt wurde. Nachdem sich die Gruppe aufgeteilt hatte, um ihren Auftrag, die „Würmschänke“ – eine Backsteinbude mit Wirtshausschild – einzunehmen, hatten Max, Konstantin, Stahl und Karlitz Deckung in einer Scheune gefunden. Deren Holzfassade war so grob behauen, dass teilweise armdicke Spalten zwischen den Brettern waren, durch die man die Lage beobachten und sogar schießen konnte. Die Schänke war zwar keine dreißig Meter entfernt, aber in den Häusern dazwischen hatte sich der Feind – gespielt von den Hilfsausbildern - verschanzt. Nun hieß es Ruhe bewahren. Von seinem Verschlag aus sah Max Papentin, Hubert und Baier, wie sie hinter einer Ecke kauerten und nicht so recht zu wissen schienen, wie es weiter gehen sollte.

„Wir haben uns festgerannt“, flüsterte Max, und Karlitz machte: „Schsch.“ Er lag genauso wie Max und Konstantin auf dem Boden, den Karabiner im Anschlag und zielte durch eine Ritze auf die leere Straße vor ihnen. Dann kam Leben ins Spiel. Ein Soldat in feindlicher Uniform huschte gebückt durch die Szenerie, und ehe Max sich versah, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, weil Karlitz neben ihm geschossen hatte. Der Feind brach unter ihnen zusammen und sein Wehklagen war so real, dass Max im ersten Moment bezweifelte, dass das nur geschauspielert war. Doch natürlich war es das. Während der Feind, der sich als Unteroffizier Böck entpuppte, in Embryostellung zusammenrollte und schrie und jammerte, murmelte Karlitz zu Max und Konstantin: „Nicht schießen.“

Die Beiden gehorchten ihrem Truppführer. Max hatte nach dem ersten Schreck schnell verstanden, was von ihnen erwartet wurde. Eckstein hatte ihnen schon eingetrichtert, dass es sich gerade im Rattenkrieg, wie er den Häuserkampf nannte, manchmal lohnte, einen verwundeten Feind in der Schusslinie liegen zu lassen und darauf zu warten, ob ihn seine Kameraden retten wollten. Und siehe da: Schon nach kurzer Zeit kamen die nächsten feindlichen Hilfsausbilder auf die Bildfläche und fielen wie die Karnickel, als Max, Konstantin und Karlitz das Feuer eröffneten. Und dann die nächsten. Max schaute nach links zu Konstantin und einen kurzen Moment lang grinsten sie sich an. Dass im echten Gefecht der Feind so kopflos handeln würde, war wohl zu bezweifeln. Doch zumindest konnten sie ihrem Zugführer beweisen, dass sie seine Lektion verstanden hatten.

Nun herrschte Stille. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Max sah, wie in fünfzehn Metern Entfernung Hubert, Baier und Papentin die Köpfe zusammen steckten. Dann hob Papentin die Hand, Sekunden später stürmten sie los. Wie auf Kommando feuerten Max, Konstantin, Stahl und Karlitz ihre Karabiner ab, mit allem, was die Knarren hergaben, um ihren Kameraden Feuerschutz zu geben, und auf der anderen Straßenseite taten die restlichen Kameraden dasselbe. Es gab keine Gegenwehr mehr. Gruppe Zwölf hatte ihre Mission erfüllt.

Als sich die Gruppe auf dem Dorfplatz des Gut Würm versammelte und die erschossenen Hilfsausbilder zu neuem Leben erwachten, hatte Eckstein sogar lobende Worte für seine Rekruten übrig. „Nicht schlecht, ihr Versager. Vielleicht wird ja doch der eine oder andere von euch überleben“, sagte er und schaute dabei Karlitz, seinen Musterschüler an. „Nächste Gruppe!!!“ Und weiter ging's für Gruppe elf, während Max' zwölfte Gruppe zur nächsten Übung ging.

„Das war ja jetzt mal 'ne Sache, dieser Rattenkrieg“, sagte Stahl mit leuchtenden Augen. Er war genauso wie Hubert und Papentin nach ihrem Todeslauf im Sägespäneregen der Holz-Platzpatronen noch aufgedreht bis zum Anschlag, und Max klopfte Hubert auf die Schulter: „Ihr Drei seid die Ratten vom Gut Würm.“ Hubert wieherte und Konstantin nörgelte: „Im echten Krieg hätte der Feind jeden von euch durchlöchert. Die könnten euch dann als Sieb zur Verwendung in der Küche wieder nach Hause zu euren Eltern schicken.“

„Wüstrach, du blöder Miesmacher“, brummte Hubert und Karlitz erklärte: „Keiner von uns kann erwarten, lebend nach Hause zu kommen. Der Tod ist unsere Ehre. Und dass wir bis dahin so viele Feinde wie möglich mit uns reißen.“

„Amen“, sagte Papentin, und alle außer Karlitz lachten.

„Du...“

„Zwölfte Gruppe!“, schrie es durch das Gelände. Zu sehen war zwar niemand, aber dieses Organ konnte nur dem Spieß Krupka gehören. Sofort rannten die Rekruten los, in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Als sie über die nächste Kuppe gelangt waren, sahen sie in einiger Entfernung den Spieß. Neben ihm ein Wachsoldat und der Major Lorenz. Allein der Anblick ihres Kompanieführers veranlasste die Jungen dazu, noch schneller zu rennen, um sich dann vor dem Trio, das bei einem militärbraunen Einheits-PKW stand, aufzustellen. Eine zur Schau gestellte schlechte Laune stand Krupka und Lorenz ins Gesicht geschrieben, während der Soldat, der wohl der Fahrer war, einen leeren Gesichtsausdruck hatte.

„Grenadier Papentin! Vortreten!“, raunzte Lorenz und Papentin tat wie befohlen.

Der Major trat so nah an Papentin, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten: „So sehen also Wehrkraftzersetzer aus?“

Max sah, wie Papentins Schultern zu beben begannen. „Herr Major. Ich ...“

Major Lorenz stieß Papentin mit beiden Händen gegen die Schulter, so dass dieser auf seinem Hintern auf dem Boden landete, und schrie: „Scheiß Wehrmacht – scheiß Aas – scheiß Führer? Ja? Sind das Ihre Worte? Sie Arschloch!“

Der immer so vorwitzige Papentin traute sich weder zu antworten noch sich aufzurappeln, und Max hatte ein Gefühl, als würden sich die Eingeweide in seinem Bauch verknoten.

„Kommen Sie mit“, befahl Lorenz Papentin. Und während Papentin vor lauter Zittern kaum hochkam, brummte Major Lorenz: „Scheiß Aas“, vor sich hin. Der Wagen fuhr mitsamt Papentin davon und zurück blieb die geschockte zwölfte Gruppe. Max sah, wie Konstantin dem Automobil, das sich immer weiter entfernte, hinterher blickte. In seinen Augen standen Max' Gedanken geschrieben: Wem konnte man hier noch vertrauen.

Der restliche Tag war von einer Leere geprägt. Ohne Papentins Witze war Ecksteins Hölle noch unerträglicher. Aber Max funktionierte. Trotz allem. Irgendwie schaffte er es, in den Abend zu kommen. Zurück vom Zielgarten in die Kaserne, Appell und auf die Stube. Keiner hatte erwartet, dort Papentin anzutreffen. Es war zu erwarten, dass seine Strafe himmelhoch sein würde. Der Major würde ihn wohl herum jagen, bis er Galle kotzte und noch weiter. Doch damit, was sie nun vorfanden, hatte wohl keiner der müden, schmutzigen Rekruten erwartet. Eigentlich war ja alles so, wie sie die Stube am Morgen verlassen hatten. Die Betten waren penibel gemacht, alles war bis auf das letzte Staubkorn gesäubert - es gab nur einen einzigen Unterschied. Papentins Spind stand offen und war ausgeräumt.

Keiner verlor ein Wort darüber, während sie die Ausrüstung, die Stube und sich selbst reinigten. Keiner verlor überhaupt ein Wort über irgendetwas. Es herrschte eine Stille wie im Grab. Selbst beim Stubenappell stellte niemand eine Frage. So, als ob es Papentin niemals gegeben hätte. Wie die Geister schlichen die Rekruten durch ihre Stube und machten sich bettfertig. Schließlich war es Hubert, der das Schweigen brach. Scheinbar geistesabwesend spielte er mit Daumen und Zeigefinger an der Aufziehkrone der Taschenuhr seines Vaters und murmelte wie zu sich selbst: „Wo er wohl ist?“

„ Das ist doch egal“, knurrte Karlitz, dem das totschweigen wohl ganz recht war. Aber nun, wo Hubert einen Anfang gemacht hatte, war es damit vorbei. Lothar Baier sagte: „Ist es nicht. Ich hoffe nur, er kommt wieder unversehrt zurück.“

Konstantin lachte trocken: „Den sehen wir nie wieder. Sonst hätten sie den Spind nicht ausgeräumt.“

Karlitz warf Konstantin einen finsteren Blick zu und sagte: „Der Papentin hat 'Scheiß-Wehrmacht' und 'Scheiß-Führer' gesagt. Das war übelste Wehrkraftzersetzung. Der Herr Major Lorenz wird schon wissen, wie er darauf zu reagieren hat.“

„Das war nicht zersetzend gemeint, und das weißt du genau“, erwiderte Stahl. „Papentin hat nur eine deftige Art zu reden.“

„Pass auf, wen du da in Schutz nimmst!“, herrschte Karlitz ihn an. Stahl zuckte zusammen. Doch Konstantin schaute Karlitz direkt in die Augen: „Du hast ihn verpfiffen.“

„Ich habe ihn nicht verpfiffen, ich habe sein Vergehen gemeldet“, sagte Karlitz scharf. „Das war meine Pflicht.“ Er schaute in die Runde seiner Kameraden. „Und das wäre übrigens auch eure Pflicht gewesen.“

Die meisten wichen genauso wie auch Max Karlitz' Blick aus und zogen es vor, den Mund zu halten. Nur Stahl murmelte: „Hoffen wir das Beste für ihn.“

„Hoffe du nur“, entgegnete Karlitz in einem Ton, in dem er auch 'Schluss damit' hätte sagen können.

Konstantin stand auf, ging zur Tür und brummelte: „So link.“

„Wüstrach!“, brüllte Karlitz ihm hinterher. Doch Konstantin war schon draußen, auf dem Flur. Barfuß und im Nachthemd. Max folgte ihm und Karlitz zischte Max hinterher: „Bring ihn bloß wieder zur Besinnung, Haim. Ich warne dich.“

Als Max auf den Flur kam, sah er gerade noch, wie Konstantin um die Ecke ging und ihm zuvor noch einen Blick über die Schulter zuwarf. Vorbei an zwei Rekruten aus Stube zehn, die mit ihren Beuteln unter den Achseln Richtung Waschraum gingen, sputete sich Max, ihn einzuholen. Die erste Treppe hinunter, und dort, wo die Stufen zum Lagerraum hinuntergingen – einem abgegrenzten düsteren Eck, saß Konstantin. Den Rücken gegen die Wand gelehnt und die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Max setzte sich neben ihn und seufzte: „Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?“

Konstantin tippte mit seinem Knie gegen Max' Knie. „Karlitz hat Papentin wegen eines unüberlegten Spruchs ausgeliefert und wir sollen kuschen? Das ist vielleicht dein Weg. Aber meiner nicht.“

„Karlitz ist eine miese Sau. Aber trotzdem ist es klug zu wissen, wann es besser ist zu schweigen“, sagte Max aus lebenslanger Erfahrung. „Wenn du weiter so aufsässig bist, bist du schneller weg vom Fenster als du denkst.“

„So wie Papentin?“, fragte Konstantin und schaute Max ebenso liebevoll wie herausfordernd an.

„Wir ... wir wissen doch gar nicht, was mit Papentin los ist. Vielleicht ...“

„Vielleicht haben sie ihn nach Hause geschickt und ihm gesagt, dass er doch nicht so gut zur Wehrmacht passt?“, ätzte Konstantin. „Wach auf, Max. Wie viele Menschen sind schon verschwunden und einfach nicht mehr aufgetaucht? Der gute Jupp Papentin ist nur einer mehr in der Sammlung.“

Max schwieg und Konstantin legte seine Hand auf Max' Oberschenkel und bewegte sanft seine Fingerkuppen. Obwohl Max eine Heidenangst überkam, so gesehen zu werden, brachte er es nicht übers Herz, Konstantin einzubremsen. „Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht. Aber ich will nicht, dass du der nächste in der Sammlung bist.“ Er lächelte traurig und legte seine Hand auf Konstantins Hand. „Verstehst du das nicht?“

„Natürlich verstehe ich dich. Maxl.“ Konstantin drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. Max' Zwerchfell verkrampfte sich. Sekunden lang konnte er nicht mehr atmen. Maxl hatte Konstantin ihn genannt. Süß.

„So machst du es nicht besser“, krächzte er, während es ihm eiskalt und feuerheiß den Rücken hinunter lief. Gleichzeitig im Siebten Himmel und im tiefsten Höllenschlund.

„Ich weiß.“

Während der Nacht durchlitt Max ein Gefühlschaos. Gedanken an Jupp Papentin, wie er jede noch so schlimme Schikane ins Lächerliche gezogen und nie seinen Humor verloren hatte, und so die gute Seele der Gruppe – vielleicht sogar des ganzen Zuges gewesen war. Dieser Jupp Papentin, der jetzt ... weg ... war. Vielleicht tot? Oder in einem Gefängnis oder einem dieser Konzentrationslager, diesen Schreckgespenstern der Zeit? Wer konnte das schon wissen. Er fragte sich, ob Karlitz – der Verräter - wohl schlafen konnte. Ob er ein schlechtes Gewissen hatte oder zumindest Angst, dass ihm einer seiner Kameraden das Kopfkissen aufs Gesicht drücken könnte, bis er sich nicht mehr regte? Max verspürte diesen Drang tatsächlich. Und er wusste, dass es auch noch andere gab. Er rollte sich zusammen und versuchte diese bösen Geister zu vertreiben. Und gab sich lieber der Erinnerung an die Weichheit Konstantins Lippen auf seiner Haut hin. Maxl hatte er ihn genannt. Oh Gott. Was rollte da noch auf ihn zu?

6

Die Tage vergingen wie im Flug und die zweite Woche ihrer Grundausbildung neigte sich ihrem Ende zu. Das Verschwinden ihres Kameraden Papentin wurde totgeschwiegen und allmählich akzeptiert. Wohl jeder von ihnen hatte schon miterlebt, wie die Existenz von Menschen, die zur falschen Zeit das Falsche gesagt hatten, ausgelöscht worden war. Das war nicht schön, aber man musste damit umgehen können und aufpassen, dass es einen selbst nicht traf. Es war nun schon Freitag und Max freute sich auf das Wochenende. Am vergangenen Wochenende hatten die Rekruten zwar keinen Ausgang bekommen, aber dafür hatte samstags die Ausbildung schon vor 16 Uhr geendet, und sonntags stand sowieso nur Großreinemachen auf dem Plan. Die Wehrmachts-Version von Erholung sozusagen.

Doch eine andere Sache lag Max auf der Leber. Hubert hatte am Donnerstag einen wütenden Brief seines Vaters bekommen. Darin drohte der alte Thielmann-Bauer nach Pforzheim zu kommen, um Hubert an den Ohren nach Hause zu ziehen. Hubert nahm es gelassen. „Der soll erst einmal an der Wache vorbei kommen und am Eckstein. Soll Vater doch den alten Zausel an den Ohren ziehen“, hatte er erklärt und für Lacher gesorgt. Auch andere Rekruten hatten an diesem Tag Post bekommen. Nur Max nicht. Das ging ihm gewaltig auf den Senkel. Ob ihm seine Eltern böse waren, weil er in den Krieg ziehen wollte? Bestimmt. Aber so sehr doch sicher auch nicht, dass sie ihm nicht einmal mehr schreiben wollten. Vielleicht war sein Brief auch gar nicht angekommen. Er dachte an die Herdelsheimer Parteivorderen, allen voran an den stellvertretenden Ortsgruppenleiter Göbel, der Max verachtete. Vielleicht hatte der ja dafür gesorgt, dass der Brief sein Ziel nicht erreicht hatte. Es half alles nichts. Weiter machen, Mund abwischen und es noch mal versuchen mit dem Schreiben. Nur schade um die Fotografie, die Max in seinem Brief mitgeschickt hatte.

Heute war der Vormittag richtig erholsam. Es wurde nämlich Formaldienst auf dem Paradeplatz geübt. „Merkten Sie sich die Lektionen gut, Grenadiere“, hatte Feldwebel Eckstein in seiner unnachahmlichen Kobold-Art gebrüllt. „Das ist nämlich in Ihrer Ausbildung das einzige Mal, dass wir Formaldienst machen! Warum?! Weil das unnötig ist! Sturmgrenadiere wie Sie müssen nicht auf dummen Paraden herumstolzieren! Ihre Heimat ist der Dreck, Kameraden! Und Sie kommen erst zum Aufmarschieren, wenn der Krieg gewonnen ist! Und der Sturmgrenadier, der dann noch lebt, ist entweder schlau oder ein Feigling! Und einen Schlauen habe ich unter Ihnen noch nicht ausmachen können, Kameraden!“

Man hörte einige Rekruten sogar leise kichern, ehe es an die Übungen ging. Augen geradeaus, Augen links, Augen rechts, im Gleichschritt Marsch ... Es funktionierte alles von Anfang an wie geschmiert. Denn alle hatten sie diese Dinge in der Hitlerjugend schon ungezählte Male durchexerziert. Der Feldwebel war froh, als er diese Lektion hinter sich gebracht hatte und seine Jungs wieder aufstellen konnte, um sie hinaus in den Dreck zu führen, wo sie hingehörten. Der Zug war gerade in Aufstellung gekommen, als Spieß Krupka mit seiner dicken Wampe auf eine beinahe lächerliche Art angerannt kam. „Halt!“, rief er und Eckstein warf ihm einen genervten Blick zu.

„Der Grenadier Haim, vortreten!“

Max schluckte trocken und tat wie befohlen. Krupka baute seinen massigen, wenn auch nicht sehr eindrucksvollen Körper vor ihm auf. „Der Kompanieführer erwartet Sie in seiner Dienststube, Haim.“

Als sich Max nicht augenblicklich regte, brüllte Krupka ihm „Marsch – Marsch!“ ins Gesicht. Und statt sich Krupkas Speichel aus dem Gesicht zu wischen, rannte Max los. „Und wenn Sie sich nach Ihrer Unterredung nicht beeilen in den Zielgarten zu kommen, ist der Teufel los, Haim!“, hörte Max Eckstein noch schreien, aber da war er schon um die nächste Ecke gerannt. Was hatte das zu bedeuten? ... Max musste an Papentin denken und ihm wurde speiübel. War er jetzt der Nächste, der ausradiert werden sollte? Aber wieso? Was hatte er denn getan?

An der Eichenholztür zögerte Max. Doch den Stabsoffizier warten zu lassen, der Max bestimmt über den Hof hatte rennen sehen, würde es nur noch schlimmer machen. Deshalb klopfte Max zaghaft an.

„Herein“, erklang es barsch und Max trat ein.

Major Lorenz stand am Fenster und drehte sich langsam zu Max, als dieser seine Meldung machte. Er schaute Max tadelnd an, dann sagte er beinahe väterlich: „Wie traurig. Ein Arier wie aus dem Bilderbuch. Und dann so etwas.“

Max spürte, wie seine Beine zu zittern begannen. Lorenz wies auf den Büßer-Hocker an seinem Schreibtisch. Als Max Platz genommen hatte, setzte der sich Major ihm gegenüber.

„Sie haben Post bekommen, Haim“, sagte er. Während er aus einer Schublade ein Blatt Papier herausholte, murmelte er wie zu sich selbst: „Ist das nicht schön?“

Max schwieg. Er erkannte sofort die verschnörkelte Handschrift seines Vaters. Der Major las monoton vor: „Lieber Max, wir sind alle sehr froh, dass du uns schon so bald geschrieben hast und sind glücklich dass es dir gut geht. Wir hoffen doch, dass dein Schwarm vom Kasernen-Fraß keine versteckte Kritik an den Kochkünsten deiner Mutter ist? Wenn ja, wäre es besser, wenn du das bei deinem nächsten Brief nicht zugibst. Spaß beiseite, lieber Max. Du weißt bestimmt, wie groß unsere Angst um dich ist, und dass es uns allen lieber wäre, wenn du noch bei uns zuhause wärst. Nun bleibt uns nur zu sagen, dass wir dich lieben und dich niemals vergessen werden, bis du wieder zurückkommst. Deine Fotografie hat selbstverständlich einen Ehrenplatz erhalten, doch kann sie dich nicht ersetzen. Bitte denke an dein Versprechen, dass du deinem Vater gegeben hast, Max. Es ist wichtig, dass du es einhältst. Wir denken an dich jeden Tag und jede Nacht. Und wir lieben dich. Dein Vater, deine Mutter und deine kleine Maus.“

Obwohl der Major den Inhalt so lustlos heruntergeleiert hatte, kostete Max es Mühe, seine Mimik unter Kontrolle zu halten.

„Bitte denke an dein Versprechen, das du deinem Vater gegeben hast“, wiederholte Major Lorenz und schaute Max direkt in die Augen. „Was haben Sie Ihrem Vater versprochen, Haim?“

Als Max nicht antwortete, weil er sich selbst nicht erinnerte, seufzte der Major und holte eine gebündelte Akte heraus. „Natürlich habe ich mich in der Zwischenzeit über Sie kundig gemacht. Und was man da so hört ... Na ja. Ihr Vater – Ferdinand Haim - war Mitglied in der SPD, vermerkter Judenfreund und ist noch immer kein Mitglied der NSDAP; und dann ist da noch ein Vorfall vermerkt. Im Gasthaus Zum Ochsen. Wollen Sie mir dazu etwas erzählen, Haim?“

Max wusste - wenn er jetzt schwieg oder löge, wäre das sein Ende. Wahrscheinlich stand jedes kleinste Detail sowieso schon in der Akte. Deshalb machte er reinen Tisch. „Mein Vater war früher wirklich fehlgeleitet und mit Juden befreundet“, gestand er und war hoch konzentriert, nur Dinge zu erzählen, die den Ordnungskräften schon bekannt waren. „Die Familie Mendel. Mein Vater und Daniel Mendel haben im letzten Krieg gemeinsam gegen Frankreich gekämpft.“

„Juden kämpfen nicht für Deutschland“, murmelte Lorenz, ohne den Blick von der Akte zu nehmen, wo er wohl Max' Aussage mit der offiziellen Version verglich.

„Jawoll, Herr Major. Zumindest fehlte meinem Vater der Durchblick, wie gefährlich die Juden sind, und er ließ sich einlullen. Mittwochs und sonntags haben Vater, Daniel Mendel und noch andere oftmals Doppelkopf oder Skat im Gasthaus zum Ochsen gespielt, bis es Daniel Mendel behördlich verboten wurde, in Gaststätten zu gehen.“

Major Lorenz runzelte die Stirn. Und Max behielt das Verbrechen wohl wissend für sich, dass sich die Doppelkopf-Runde um den Ochsenwirt, Herrn Mendel, Ferdinand Haim und einer handvoll anderer auch nach dem Erlass manchmal still und heimlich im Hinterzimmer getroffen hatte.

„Und dann?“, fragte der Major ungeduldig.

„Als die Familie Mendel im Oktober 1940 evakuiert worden ist, haben mein Vater und seine Kumpanen die Weitsicht dieses Beschlusses nicht verstanden. Sie hielten die Evakuierung für skrupellos, und als sie sich einige Zeit später im Ochsen zum Stammtisch getroffen haben, fielen einige Sätze, die unverzeihlich waren.“

Lorenz nickte und Max verspürte den Drang, sich seine schändliche Zunge abzubeißen.

„Was waren das für Sätze?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Max, und das war sogar die Wahrheit. „Ich habe es nie erfahren. Zumindest war an jenem Abend glücklicherweise wohl auch ein anständiger Nationalsozialist in der Wirtschaft, der das Rückgrat hatte, diese Verfehlungen zu melden. Mein Vater hat seine Lektion erteilt bekommen, und er hat daraus gelernt.“

„Das kann ich jetzt glauben oder auch nicht. Eine Schmeißfliege bleibt für gewöhnlich eine Schmeißfliege“, erwiderte Lorenz. „Und was ist Ihre Meinung zu den Juden? Und zu diesen Mendels?“

„Die Juden sind unser Untergang. Die Quelle allen Elends“, sagte Max. „Es war schon recht, dass wir von ihnen befreit wurden.“

Lange schwieg Lorenz und betrachtete Max. Er hoffte vielleicht auf eine verräterische Gefühlsregung, aber Max hatte sich unter Kontrolle. Er dachte an das Neue Testament, das seine Mutter ihn versucht hatte zu lehren, als er noch ein Kind gewesen war und hatte auf einmal das Bild Leo Mendels vor Augen. 'Wenn der Hahn zweimal kräht, wirst du mich verleugnet haben' - oder so ähnlich. War das Petrus? Max fühlte sich eher als Judas.

„Egal, welches Versprechen Sie Ihrem Vater abgegeben haben, Haim. Vergessen Sie es.“

Max nickte.

„Ich will nicht, dass Sie weiterhin Kontakt mit ihm haben und sich von ihm verderben lassen. Da sind wir doch einer Meinung. Oder?“

„Jawoll, Herr Major.“

„Sie schreiben einen Brief an ihren Vater, dass Sie nichts mehr mit ihm und seinen kruden Ideen zu tun haben wollen. Brechen Sie den Kontakt ab, Haim. Wir sind jetzt Ihre Familie. Das ist ein Befehl.“

„Jawoll, Herr Major.“

„Guter Junge. Schreiben Sie Ihren Brief und geben ihn dann bei mir ab.“ Lorenz lächelte auf seine eisige Art. „Ich werde ihn weiterleiten.“

„Jawoll, Herr Major.“

„Wegtreten!“

Max solle anständig bleiben. Das war das Versprechen, das er seinem Vater abgegeben hatte. Auf dem Weg zum Zielgarten fiel es ihm wieder ein.

Am Abend, als seine Kameraden die kurze Freizeit vor dem Nachtappell nutzten, um sich zu waschen, auszuruhen oder einfach nur zu reden, hatte Max das Kompaniegebäude verlassen und sich unter eine Steinlinde seitlich des Stabsgebäudes gekauert, um einen letzten Brief an seine Eltern zu schreiben. Die Stelle gefiel ihm. Im Schatten eines fensterlosen Anbaus des Sanitätshauses, der als Materiallager verwendet wurde und nur spärlich einsehbar war, empfand Max zumindest den Hauch einer Privatsphäre. Doch genießen konnte er die Einsamkeit nicht. Dafür taten ihm die Zeilen, die er niederschrieb, zu sehr weh.

Liebe Traudel, liebe Mutter. Vater,

Dieser Brief wird der letzte sein, den ich an Euch schreibe. Und ich erwarte auch, dass Ihr damit aufhört, mich mit Euren Briefen zu belästigen. Eure Worte lenken mich von den wichtigen Dingen ab, die zählen: Meiner Liebe zum Vaterland und meiner unendlichen Treue dem Führer. Spart Euch, mir noch einmal zu schreiben. Ich habe meinem Kompanieführer die Bitte nahegelegt, Eure Briefe abzufangen und sie mir gar nicht erst zuzustellen. Ich sende Euch letzte Grüße und vergesst nicht, auch Tante Emma und Onkel Leo von mir zu grüßen. Lebt wohl.

Max

Max fühlte, wie seine Augen feucht wurden, als er seine Worte noch einmal las. Es war gut möglich, dass diese Frechheit die letzte Nachricht war, die seine Familie von ihm erhalten würde vor seinem Tod. Er hoffte nur inständig, dass sie seine Botschaft verstünden und sie Major Lorenz verborgen bliebe: Es gab keinen Onkel Leo.

7

Es ging gut. Major Lorenz hatte am folgenden Morgen – einem Samstag - Max' Brief vor dessen Augen Wort für Wort studiert und abgenickt. „Vielleicht wird aus Ihnen doch noch etwas, Haim“, hatte er gesagt. Als sich die Kompanie pünktlich zur Mittagszeit nach einem beschissenen Vormittag mit Leibesertüchtigungen für Körper und Geist auf dem Paradeplatz aufgestellt hatte und der Major vor sie trat, erwartete Max nicht viel. „Der Sack geht Samstag mittags schön ins Wochenende und fickt sich durch, und wir versauern hier mit seinen Sklaventreibern“, hatte Papentin einmal gesagt, als es ihn noch gab.

Der strenge Blick des Majors ließ auch nichts Gutes erahnen, als er flankiert von den Zugführern zu reden begann und seine Stimme so wie immer an dieser Stelle von den Kompaniegebäuden hart widerhallte. „Kameraden! Heute neigt sich eine weitere Woche auf Ihrem Weg zu echten Kriegern für Führer, Volk und Vaterland ihrem Ende entgegen. Und ich muss sagen; ich bin nicht zufrieden mit den Leistungen, die ich von Ihnen derzeit geboten bekomme!“ Ein bedeutungsschweres Schweigen lag in Lorenz' Atempause in der Luft. „Mir wird kotzübel, wenn ich mir vorstelle, dass Sie mit dieser Einstellung, die Sie hier Tag für Tag zur Schau stellen, in unseren großen Krieg treten und für unseren Endsieg kämpfen wollen! Keiner von Ihnen wird so auch nur einen einzigen Tag überleben und dem Führer einen Dienst erweisen können.“ Er musterte mit verbittertem Blick nach und nach die drei Rekruten-Züge. „Nichtsdestotrotz haben mir Ihre Zugführer nahegelegt, Ihnen am heutigen Tage Ausgang zu gewähren. Ich wüsste zwar keinen Grund, warum ich dieser Bitte nachkommen sollte. Und trotzdem habe ich mich erweichen lassen.“

Jedem fiel es auf einmal schwer, die Disziplin zu wahren. Man ließ sich noch ermahnen, seine Einstellung zu verbessern, brüllte das obligatorische: „Hurra!“ auf den Führer, und dann hatten es alle eilig, auf die Stuben zu kommen und sich in die Ausgehuniformen zu werfen. Die Goldstadt Pforzheim wartete mit all ihrer Schönheit und ihren Verlockungen auf die jungen Soldaten. „Los, Männer. Wir machen einen Stube-12-Ausflug. Heute wird die Pforzheimer Damenwelt flachgelegt“, gab Karlitz als Devise aus. Die meisten jubelten. Hubert blieb genauso wie Stahl und Baier zurückhaltend, und Max und Konstantin tauschten einen ironischen Blick aus. Doch es wäre keine gute Idee gewesen, dem großmäuligen Truppführer zu widersprechen. Deswegen fügten sie sich alle, und zum ersten Mal seit ihrem Antritt vor fast zwei Wochen verließen Max, Hubert und Konstantin die Buckenbergkaserne in Richtung Pforzheim. Auf dem Weg hinunter schlossen sich ihnen auch noch Rekruten der neunten Gruppe an und im Pulk achteten die Drei gemeinsam mit Stahl und Baier, dass sie hinten gingen. Langsam ließen sie den Abstand immer größer werden.

Als Karlitz das Donaulied anstimmte und die meisten Soldaten begeistert in die anzüglichen Textzeilen einstimmten, verzog Hubert das Gesicht: „Wie peinlich. Jetzt singen die auch noch.“

Max nickte zustimmend. Er hatte sowieso nie verstanden, warum alle jungen Männer dieses Lied so toll fanden. Er fand den Text eher abstoßend, und auch Stahl schlug vor: „Bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, setzen wir uns ab.“

Keiner widersprach. Je näher sie der Innenstadt kamen, umso größer wurde der Abstand zwischen den fünf Nachzügler und der grölenden Burschen-Gruppe. Als sie in das Labyrinth der eng bebauten Innenstadt eintauchten und die Gruppe an einer Gabelung geradeaus ging, bogen die fünf einfach rechts ab. Nach ein paar Schritten zwischen den hoch aufragenden Häusern tat Konstantin plötzlich entgeistert: „Wo sind sie denn alle?“

Die restlichen vier kicherten und Baier spielte den Betroffenen: „Ich glaube, wir haben sie verloren.“

„Wie schade“, pflichtete Max ihm bei. Hubert wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel.

„Kann man nichts machen. Die finden wir im Leben nicht mehr“, sagte Konstantin geknickt, während man die Kameraden gar nicht so weit entfernt noch singen hörte. „Ich fürchte, wir müssen es irgendwie hinbekommen, uns ohne den Drecks-Karlitz zu amüsieren.“

„Kameradenschwein Karlitz“, berichtigte Stahl und schaffte es nur oberflächlich, seine Verbitterung mit Humor zu überspielen. Einen kurzen Moment kamen alle ins Stocken. Papentins Fehlen lag einmal mehr bedrückend über ihnen. Nach einer Weile flachste Konstantin: „Wer braucht schon den Karlitz, um 'Einst ging ich am Strande der Donau entlang' zu singen? „Eins... zwei.. drei...“, zählte er ein.

Sofort war die gute Laune wieder da. „Depp“, raunzte Baier anstatt zu singen mit unterdrücktem Lachen und: „Idiot“, gluckste Hubert. Max gab Konstantin einen spaßigen Klaps ins Genick.

„War ja nur so ein Gedanke“, tat Konstantin geläutert. Bald öffnete sich der Blick, als sie aus der beklemmenden Enge der Gasse heraus auf den Leopoldplatz kamen. Am Samstag Nachmittag herrschte dort reges Treiben. Wirtshäuser und Konditoreien luden zum Verweilen ein. Straßenbahnen kreuzten ihren Weg und Max fiel es schwer zu verstehen, wie er diese zur Schau gestellte Völlerei mit dem solidarischen Verzicht in Einklang bringen sollte, wie er ihnen in Herdelsheim immer gepredigt worden war. Seine Kameraden störte das nicht. Die fünf jungen Soldaten sorgten hier bei der Mädchenschaft für Aufsehen und dauerte nicht lange, bis Friedel Stahl den ersten Blickkontakt aufgenommen hatte.

„Heute glüht die Vorhaut noch“, philosophierte Hubert unter diesen Eindrücken. Als er sah, wie Max und Konstantin einen spöttischen Blick austauschten, verzog er resigniert die Mundwinkel. „Aber wem erzähle ich das eigentlich?“

„Ich dachte, du hättest die Lietz-Magda geschwängert“, sagte Max mit engelsgleicher Unschuld, und Konstantin prustete neben ihm frei heraus.

„Ich habe die Lietz-Magda vielleicht geschwängert“, korrigierte ihn Hubert. „Und außerdem ist das doch egal. Wir sind ja jetzt Soldaten. Da ist es wie bei den Seemännern. In jedem Hafen eine Braut.“

„Dann fang mal an, einen Hafen zu suchen“, lästerte Konstantin, der seinen Lachkrampf immer noch nicht unter Kontrolle hatte; doch Hubert winkte galant ab.

An einer Wirtschaft namens 'Zur goldenen Traube', hielt Baier die anderen an. „Was meint ihr? Wollen wir hier einen heben?“

„Willst du dir Mut antrinken, falls dich ein Mädchen anspricht?“, fragte Stahl, obwohl er nicht abgeneigt wirkte, und Baier erwiderte: „Immerhin sprechen mich die Mädchen an. Weil ich nicht so ein hässlicher Rabe bin wie du.“

Während Stahl noch über eine passende Antwort nachdachte, mischte sich Konstantin ein: „Um Mädchen abzuschleppen kann man ruhig hässlich sein. Schaut doch ... Selbst der Hubert hat's schon geschafft.“

Alle lachten und auch Hubert wieherte: „Ihr seid doch nur neidisch auf meine Grazie.“

„Mir wird schlecht“, lachte Stahl. „Jetzt kommt, ich brauch 'nen Schnaps.“

Zustimmendes Gebrumme. Als die anderen die kleine Treppe zum Eingang hochgingen, hielt Konstantin Max zurück. „Wir kommen gleich nach.“

Stahl und Baier schenkten den Worten kaum Beachtung, nur Hubert hielt an. „Was ist?“, fragte er.

„Ich möchte gerne etwas mit Max besprechen. Geht schon mal vor.“ Er zögerte, dann fügte er an: „Und falls wir nicht mehr kommen, müsst ihr euch keine Gedanken machen.“

Hubert lachte unsicher: „Da sollte ich vielleicht lieber mitgehen. Damit ich euch vom Händchen halten abhalten kann.“ Er schaute Max an, als ob er ein Lachen von ihm erwartete. Aber Max tat ihm den Gefallen nicht. Stattdessen bedeutete Max Hubert mit einer halbherzigen Geste, er solle ins Wirtshaus gehen. Wortlos drehte Hubert sich um und stieg die sechs Stufen hoch.

„Was wird das jetzt?“, fragte Max, doch Konstantin setzte sich in Bewegung. Er steuerte die nächste Gasse an, die von der prachtvollen Leopoldstraße wegführte und Max musste drei schnelle Schritte machen, um wieder an seine Seite zu gelangen.

„Du hast dich verändert, seit du gestern beim Major Lorenz warst“, sagte Konstantin.

„Möglich.“

„Möchtest du darüber reden?“

Max schüttelte langsam mit dem Kopf. „Nein, lieber nicht“, sagte er und Konstantin nickte. Als die Gasse an der Promenade endete, die am Ufer der Enz entlangführte, folgten die beiden dem Flüsschen entlang in einem vertrauten Schweigen. Es tat Max gut, endlich einmal wieder das Burschentum der Kameraden zu vergessen und nur die zarte Aura Konstantins auf sich wirken zu lassen.

Es dauerte gar nicht lange, dass sie Pforzheim hinter sich ließen und das Städtische in eine sumpfige Wald- und Wiesenlandschaft überging. Der Promenadenweg wurde zu einem Trampelpfad, der aber weiter dem Fluss folgte. „Hier gefällt es mir besser“, meinte Konstantin und Max pflichtete ihm bei: „Wir sind halt doch zwei Landeier.“

„Hmh“, brummte Konstantin zustimmend. Sie ignorierten die rußenden Kamine, die das Landschaftsbild verschandelten. An einer Stelle, wo ein Bach von den Hügeln her in die Enz mündete, hielt Konstantin an und wies auf die kleine Wildwiese, die sich neben der Mündung erstreckte. „Wollen wir hier bleiben?“

„Ja.“

Die beiden trampelten das Gras nieder, um sich ein Plätzchen zu schaffen. Dann zog sich Konstantin sein Uniformhemd und auch noch das Unterhemd aus.

„Was machst du da?“, fragte Max, und Konstantin sagte: „Das ist doch die perfekte Stelle, um ein Bad zu nehmen. Oder?“

Max konnte da nur zustimmen. Er ließ sich aber Zeit damit, sich seiner eigenen Uniform zu entledigen und schielte dabei zu Konstantin, der seinerseits Max immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Es dauerte nicht lange, dann lagen ihre Uniformen und die Unterwäsche als zwei ordentliche Häuflein auf der Wiese. Konstantin ging splitternackt Richtung Wasser und Max nutzte die Gelegenheit, dessen Rückseite zu betrachten. Die Muskeln zeichneten sich jetzt deutlicher ab, als noch zwei Wochen zuvor in der Herdelsheimer Badeanstalt am Mohnsee. Bei jeder Bewegung führten sie einen filigranen Tanz unter der schneeweißen, von Sommersprossen gesprenkelten Haut auf. Trotzdem war Konstantins Figur immer noch schmal und wirkte zerbrechlich. Als Konstantin mit den Zehenspitzen gegen die Wasseroberfläche tippte und dann einen Blick über die Schulter zu Max warf, schaffte es dieser kaum, den Blick von den kleinen runden Pobacken zu nehmen.

Konstantins Lächeln nach schien er das bemerkt zu haben. „Kommst du? Das Wasser ist fantastisch.“ - Sagte es und stapfte mutig hinein.

„Ähm... ja.“

Obwohl ihnen das Wasser kaum bis zur Hüfte reichte, hatten beide nun einen riesigen Spaß, wie sie ihn mit den Kameraden in der goldenen Traube sicher nicht gehabt hätten. Max und Konstantin plantschten und alberten ausgelassen wie kleine Kinder, so wie man es als Wehrmachtssoldat nur tun konnte, wenn einen niemand beobachtete. Es war ein Traum für Max, als sich Konstantin an ihn klammerte, weil sich die Strömung an ihm zu schaffen machte, und Max in der Kühle des Wassers Konstantins Körperwärme an seiner Haut fühlen konnte. Irgendwo im Hinterkopf klingelten bei solchen Empfindungen zwar die Alarmglocken, aber das war alles zu lustig und zu unschuldig, um sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen.

Erst als sie vom kühlen Nass ordentlich durchgefroren waren, gingen die Beiden wieder hinaus. Und weil sie nichts zum Abtrocknen dabei hatten, legten sie sich einfach auf die Wiese, um die Sonne das erledigen zu lassen. Sie waren einander zugewandt. Max schaute Konstantin in die Augen und Konstantin schaute Max in die Augen.

„Woran denkst du gerade?“, fragte Konstantin. Max zögerte etwas.

„Du hast vorhin gesagt, ich hätte mich seit gestern verändert, als ich beim Lorenz war.“

Konstantin blinzelte.

„Nun. Major Lorenz hat mich dazu gezwungen, einen Brief an meine Eltern zu schreiben, in dem ich den Kontakt zu ihnen abbreche.“

„Das tut mir leid.“

„Lorenz hatte eine Akte. Über mich - und meinen Vater. Der wusste alles über meine Familie. Über Vaters Verhaftung, seine Vergangenheit und den Ruf, den er hat.“

„Die Mendels“, sagte Konstantin leise und Max erschauderte. Aber klar. Die Freundschaft zu den Mendels war der Kern dieses schlechten Rufes, den die Haims in Herdelsheim hatten.

„Du hast ihn gemocht. Leo, meine ich.“ Die Worte Konstantins waren zwar fast geflüstert, trotzdem begann Max zu zittern.

„Ja“, gestand er.

Konstantin musste seinen Arm nur ein bisschen ausstrecken, um seine Hand Max an die Schulter zu legen. Die Handfläche fühlte sich warm und beruhigend an. „Gute Wahl.“

„Neulich, als ich bei euch zuhause war, ist alles wieder über mich hereingebrochen. Die Zeiten, als die Mendels noch in eurem Haus gewohnt haben. Wie schön das bei denen immer war. Und mit welcher Grausamkeit das alles zerstört wurde.“ Max lachte auf, aber es hörte sich eher wie ein Schluchzen an. „Als du dann für mich Geige gespielt hast, hatte ich das Gefühl, dass doch nicht alles verloren ist. Dass du ... irgendwie ... wie Leo ...“, er schluckte. „Gott. Ich höre mich an wie ein Idiot.“

Konstantin rückte näher. Sie berührten sich an der Brust, und Konstantin kitzelte mit den Zehen an Max' Sprunggelenk. Der Arm, dessen Hand eben noch an Max' Schulter gelegen hatte, war nun um seinen Rücken geschlungen. „Nein, Maxl“, flüsterte Konstantin. „Du bist ein guter Mensch.“

„Danke“, hauchte Max, den Tränen nah, zurück. Er legte seine Lippen an Konstantins Wangenknochen, dann ließ er sich fallen und gab sich ihm hin.

Als sich Max und Konstantin auf den Weg zurück nach Pforzheim machten, war nichts mehr, wie es vorher war. Zum ersten Mal hatte Max seinen Höhepunkt gemeinsam mit jemand anderem erlebt. Er und Konstantin gehörten nun zu dem, was die alles bestimmende Ideologie als lebensunwert beschrieb. Das wusste er natürlich. Ebenso war ihm bewusst, dass ihm wegen der Liebe, die er zu Konstantin empfand und die heute körperlich geworden war, der Tod drohte – wenn nicht sogar Schlimmeres. Das Seltsame an der Sache war, dass er sich trotzdem gut fühlte. Es war aufregend, was sie getan hatten; es war ergreifend. Und es war richtig. Dieses Gefühl wollte er sich nicht nehmen lassen, und er wollte es auch wieder erleben. Punkt.

Konstantin und Max hatten die freie Zeit noch weiterhin genutzt hatten, um schöne Stunden miteinander zu verbringen. Trotzdem waren die beiden die ersten der zwölften Gruppe, die wieder zurück in der Kaserne und auf der Stube waren.

„Halleluja. Der Mief hat uns wieder“, sagte Konstantin und atmete tief durch. Max knetete zärtlich Konstantins Nacken. Ganz einfach, weil er es jetzt durfte. Dann machte er ein Fenster auf. „Ich hab's so vermisst.“

Der altvertraute Geruch aus gebrauchter Bettwäsche, käsfüßigen Stiefeln und stehender Luft bildete einen traurigen Gegensatz zum Pforzheimer Lebensgefühl, das irgendwo zwischen unbeschwertem Dasein und Untergangs-Trotz lag. Der Alltag hatte sie wieder eingeholt, und trotzdem war die Welt für Max eine buntere, als zuvor. Dieses Kribbeln im Bauch, wenn er Konstantin anschaute – oder einfach nur an Konstantin dachte – war ein neues Lebensgefühl, das er nie wieder missen mochte. Egal, was es ihn kosten würde. Konstantin schien es nicht anders zu gehen. Während er seinen Spind auf Vordermann brachte, blickte er immer wieder zu Max, lächelte und wandte absichtlich den Blick nur langsam ab, wenn Max dies bemerkte. Max hatte die Schwärmereien von diesem Gefühl, verliebt zu sein, nie verstanden. Jetzt war es vollkommen klar.

Ein gewiehertes Lachen, das über den Kasernenhof durch das offene Fenster hallte, kündigte das Ende der Ruhe an. Max grinste zerknirscht und Konstantin feixte: „Hackevoll, der Hubert.“ Vom ersten Wiehern an dauerte es noch einige Zeit, während der die Stimmen lauter wurden. Einmal versuchte einer, der nach Baier klang, 'Oh du wunderschöner Westerwald' anzustimmen, scheiterte aber damit. Es wurde gelacht und geflunkert, die versoffenen Stimmen verlagerten sich von draußen in die Flure ihres Gebäudes, und dann wurde die Tür aufgerissen.

„Nnn, da sense ja“, lallte Hubert und wäre beinahe nach vorne gekippt, als er auf Max und Konstantin deutete. Max tat sich schwer damit, zumindest nicht lauthals loszulachen. Huberts Wangen glühten wie immer, wenn er getrunken hatte, was ihm in Kombination mit seiner gedrungenen Gestalt die Ausstrahlung eines Gartenzwerges verlieh. Stahl und Baier waren wohl auch betrunken, doch sowohl ihr Gang als auch ihre Verfassung wirkte stabiler als die von Hubert.

„Legen wir ihn direkt ins Bett“, sagte Stahl und klang dabei, als ob er auf seiner Zunge kauen würde. Baier bekam einen grundlosen Lachkrampf.

„Willnochnichnsbett.“ Hubert schaute Max mit einer herzerweichenden Aufrichtigkeit aus seinen blutunterlaufenen Augen an. „Holstemirnochnbier?“ Max schüttelte grinsend mit dem Kopf. „Odernkorn?“

„Ich glaube nicht.“

Hubert brummte. Anfangs wehrte er sich zwar noch, als sie ihn zu viert bis auf die Unterhose auszogen und ihn ins Bett verfrachteten, aber sobald Konstantin die Decke über seinen Körper gelegt hatte, rollte Hubert sich zusammen und gab Ruhe.

„Was habt ihr mit dem gemacht?“, fragte Max, und Stahl antwortete bierselig: „Nichts. Das hat der Rollmops alles selber zu verantworten.“

Baier lachte wieder und bekam dabei einen Schluckauf. „Wie ein Fass. Nur mit 'nem Loch.“

Max wollte erwidern, doch dann war Gerede auf dem Flur zu hören, und gleich darauf ging die Tür auf. Der Rest der zwölften Gruppe, angeführt von Karlitz war zurück. Er betrachtete die Abseiler verächtlich, während auch ihm der Rausch ins Gesicht geschrieben stand: „Da seid ihr ja. Eure Kameraden waren euch als Gesellschaft wohl nicht gut genug. Was?“

Stahl stand auf; sein Blick auf Krawall gebürstet. Max griff ihn am Handgelenk und wollte ihn zurückhalten, aber Stahl schüttelte ihn ab. „Jeder Zigeuner ist eine bessere Gesellschaft als du.“

Man sah, wie die Wut in Karlitz brodelte nach dieser Beleidigung. „Sag das noch einmal, du Kameradenschwein.“

„Ich – ein Kameradenschwein? Du bist der Verräter! Du hast Papentin auf dem Gewissen! Gottverdammter Hurensohn!“

„Ich...“, wollte Karlitz loslegen, aber Robert Hagerstedt hielt ihn zurück. „Lass es, Otto. Er ist besoffen.“

Karlitz schaute kampflustig zu Stahl, aber Baier und Max hielten gemeinsam ihren Kameraden zurück, während Baier immer noch im Schluckauf hickste. Stahl grinste aufreizend. Einen Moment sah es so aus, als stünden die Beiden vor dem großen Knall. Doch dann drehte sich Karlitz ab. „Werd erst mal nüchtern, du Arschloch.“

„Bla bla bla“, machte Stahl, ehe sich die beiden Grüppchen wie Boxer im Boxring in ihre Ecken zurückzogen.

Max, Konstantin und Baier versuchten verkrampft, die Stimmung wieder zu bessern, während Hagerstedt und seine Kameraden auf der anderen Seite der Stube dasselbe taten. Und doch beäugten sich die Rivalen Stahl und Karlitz die ganze Zeit.

„Jetzt erzählt mal. Wie war euer Nachmittag“, forderte Max Baier auf. In einem gekünstelten Heile-Welt-Tonfall.

„Schön“, lachte Baier und hickste. „Nur dass der Thielmann schon nach 'ner halben Stunde so voll war, dass er alle Mädchen vergrault hat.“

„Das kann der Rollmops am besten“, scherzte Konstantin, während auf Seite der Konkurrenten demonstrativ ein Gespräch startete, wie gut sie bei der Pforzheimer Damenwelt angekommen waren. Die vier Freunde ignorierten die Angeberei.

„Dann hat bei unserem Hubert also eher die Leber geglüht, als die Vorhaut“, schlussfolgerte Max.

Stahl und Baier lachten überdreht, und Baiers Schluckauf machte es nicht besser. Und Hubert grummelte unter der Bettdecke hervor: „Nicht wie du mit deiner schwulen Wüstrach-Schnecke.“

Max riss die Augen auf. Huberts Worte waren zwar nicht viel mehr als Kauderwelsch, aber trotzdem hatten es alle verstanden. „Dem Thielmann würde ich dafür die Fresse polieren“, schimpfte Baier, doch Max wiegelte ab: „Der weiß doch gar nicht, was er redet.“

„Na und? Jemanden als Schwulendreck zu bezeichnen ist unter aller Sau.“

Max wollte erwidern, aber da unkte Karlitz: „Der Thielmann wird schon wissen, wovon er redet. War mir doch sofort klar, dass mit denen etwas nicht stimmt.“ Er lächelte. „Warme Brüder.“

Seine Kumpanen lachten überdreht, und Stahl raffte sich auf. „Hör auf, so von deinen Kameraden zu reden – du Totgeburt eines Truppführers.“

Karlitz stand mit falscher Gelassenheit da und Stahl brüllte noch einmal: „Hurensohn!“, in dessen Gesicht. Und wie auf Kommando sprangen die Beiden aufeinander los, während Hubert zu schnarchen begann. Eine kurze Rauferei entstand und schon Momente danach rollten sie sich mit roten Köpfen auf dem Boden und schlugen aufeinander ein. Max und die anderen hatten jetzt größte Mühe, die Kontrahenten zu trennen. Max krallte sich Karlitz, um ihn von Stahl runterzuziehen. Stahls Faust ging nur knapp an seiner Nase vorbei, nur um einen Sekundenbruchteil später auf Karlitz' Kinn zu krachen. Beide brüllten. Mit Ach und Krach brachten sie die Kampfhähne auseinander. Max hörte Konstantin Stahl zuflüstern: „Ruhig. Alles zu seiner Zeit“, und Stahl kläffte: „Ich bring ihn um.“

Diese Explosion entpuppte sich als Strohfeuer, denn schon nach weniger als einer Minute war alles vorbei. An diesem Abend übernahm Max die Aufgabe, für den Nachtappell wach zu bleiben. Als alle anderen schon in ihren Betten lagen und die Stube von gleichmäßigem Atmen und Schnarchen erfüllt war, schaute Max den schlafenden Hubert an. 'Da hast du uns etwas eingebrockt, Rollmops', dachte er in sich hinein. Aber wie Hubert so friedlich dalag, konnte er ihm trotzdem nicht böse sein. Max wartete geduldig, bis um 22 Uhr der UvD zur Kontrolle kam und er den Spruch aufsagte, der normalerweise Karlitz zustand. Dann war dieser denkwürdige Samstag vorbei.

8

Obwohl es noch vor wenigen Tagen nach seinem Geschmack gewesen wäre, traf die neue Nachricht Max wie ein Schlag. Am Mittwoch der Folgewoche, in der nicht nur wegen der Besäufnisse des Samstags eine nicht enden wollende Katerstimmung über der zwölften Gruppe lag, wurden Max, Konstantin und Hubert zu Major Lorenz gerufen. Der Major machte nicht lange herum mit der Nachricht, dass die sechswöchige Grundausbildung für die drei auf vier Wochen gekürzt werden würde. Damit würden sie als Nachzügler gemeinsam mit ihrer Kompanie in den Einsatz geschickt werden könnten. „Sind Sie damit einverstanden?“, hatte der Major sie gefragt und natürlich hatte es keiner gewagt zu widersprechen.

Der Major lächelte auf seine Art, die Max mittlerweile das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Gute Männer. Als Belohnung dürfen Sie heute Abend im Mannschaftsheim ordentlich zuschlagen. Bestellen Sie, was Sie wollen und sagen Sie, es geht auf mich.“

„Dankeschön, Herr Major“, brüllten sie.

„Wie großzügig“, brummte Konstantin, als sie wieder unter sich waren. „Der Lorenz bezahlt uns 'ne Kleinigkeit zu Essen dafür, dass wir uns zwei Wochen früher abmurksen lassen.“

„Wir sollten mal schauen, ob sie im Mannschaftsheim auch Hummer haben“, meinte Max. „Aber mit Huberts Appetit bringen wir den Lorenz sogar pleite, wenn wir nur trockenes Brot essen, bis er satt ist.“

Hubert ging auf die kleine Spitze nicht ein. „Ich weiß gar nicht, warum ihr so herumjammert. Seid froh, dass wir hier schneller wegkommen. Alles ist besser, als noch länger unter Ecksteins Fuchtel zu stehen.“

„Unter Ecksteins Fuchtel bringt und wenigstens niemand um“, sagte Konstantin.

„Und wenn schon. Wir sind hier her gekommen, um im Krieg zu kämpfen. Und nicht, um hinter der Kaserne Krieg zu spielen. Schon vergessen?“

„Es ist gut, wie es ist. So können wir unserer Verantwortung früher gerecht werden“, meinte Max zu Konstantin erntete dafür eine ironische Grimasse.

Auch während des Mittwochs herrschte eine aggressive Stimmung. Der Konflikt zwischen Stahl und Karlitz schwelte über die ganze Zeit, auch wenn es keine zu offensichtlichen Anzeichen gab. Aber manchmal reichten Blicke oder Gesten, um erahnen zu lassen, dass der große Knall noch bevor stehen würde. Doch auch an diesem Tag war die Zeit noch nicht reif dafür. Zumindest war Huberts Schwulen-Anschuldigung aus dem Halbschlaf heraus kein Thema mehr gewesen. Anscheinend war er im Tumult in Vergessenheit geraten, und nicht einmal Hubert erinnerte sich daran. Alles schien in Ordnung. Abends seilten sich die drei von der geladenen Atmosphäre in ihrer Stube ab, um im Mannschaftsheim die Gefälligkeit von Major Lorenz einzulösen. Entgegen all der großspurigen Töne, die sie im Vorfeld gespuckt hatten, wie sie den Major bluten lassen wollten, bestellte sich jeder an der Theke nicht mehr als ein Leberkäs-Weckle, ehe sie sich an einen freien Tisch setzten. Während Hubert schweigend auf seinem Leberkäse kaute und dem Treiben der anderen Soldaten zuschaute, die Bier tranken, rauchten und lauthals durcheinander redeten, suchte Max den Blick zu Konstantin. Konstantin schmollte ihn an, nahm die Unterlippe zwischen die Zähne, und Max versuchte, nicht zu lachen. Konstantin zog eine freche Schnute und Max ...

„Noch anderthalb Wochen also“, sinnierte Hubert und holte die zwei Turteltäubchen zurück auf den Boden. Max musste sich konzentrieren, um sich seine Verliebtheit nicht anmerken zu lassen. „Dann wird es ernst.“

„Was glaubt ihr, wo wir hinkommen?“

„Wer soll das schon wissen? Es brennt ja überall“, sagte Konstantin. „Unsere Kompanie wird vielleicht kreuz und quer durch Europa verstreut. Das ist das Schicksal der Ersatzheere. Wir werden durchgereicht, um Lücken zu stopfen.“

Sehr ernst schaute sich Max seine beiden Freunde nacheinander an. „Wir drei bleiben zusammen. Abgemacht?“ Er streckte seinen Arm über den Tisch und Hubert legte seine Hand auf Max' geballte Faust. „Abgemacht.“ Konstantin legte seine Handfläche auf Huberts Hand. „Abgemacht.“

Max nickte zufrieden.

Hubert, Konstantin und Max waren länger im Mannschaftsheim geblieben, als sie es eigentlich vorgehabt hatten. Schon alleine, um der feindseligen Stimmung auf der Stube zu entgehen. Als sie über die Kasernenhöfe zurück zu ihrer Kompanie schlenderten, stand die Sonne als glutroter Ball schon tief am Horizont und tauchte die Buckenberg-Kaserne in ein atemberaubendes Licht aus dunklen Rot- und Orange-Tönen und noch dunkleren Schatten. Die Jungen schienen auf ihrem Weg nichts von der Magie des Augenblicks zu bemerken. Nur Konstantin warf einen beiläufigen Blick zum flammenden Himmel über dem Sanitätshaus.

„Es ist schon gleich Neun“, brummelte Hubert nach einem Blick auf seine Taschenuhr. „Wird Zeit, dass wir noch unsere Ausrüstung für Morgen zusammenrichten.“

„Ist doch noch ewig Zeit, Rollmops“, sagte Konstantin und zwinkerte Max zu. Max grinste, und Konstantin tippte mit der Zungenspitze an seine Lippe.

„Hört endlich auf damit!“, beschwerte sich Hubert, und Max fragte: „Womit?“

„Na, mit eurem blöden Rumge...mache.“

„Welches Rumgemache“, tat Konstantin scheinheilig.

Hubert blieb stehen. Max schaute kurz sehnsüchtig zur Steinlinde, unter der er seinen Brief geschrieben hatte und sehnte sich nach der Ruhe dort. Hubert schimpfte: „Glaubt ihr vielleicht, man sieht nicht, was zwischen euch abgeht?“

„Was meinst du?“, fragte Max; die Ironie war plötzlich aus seinen Augen und seiner Stimme vertrieben.

„Na du ... er ...“ Hubert wies abwechselnd auf Max und Konstantin. Seine Stimme war zu einem zischenden Flüstern geworden. „Ich kann euch nur raten: Treibt es nicht zu weit.“

„Hä?“ In jeder anderen Situation hätte Max wohl über Konstantins dargestellte Unschuld lachen müssen, die bei diesem Wort in seinem Blick lag. Aber nicht jetzt. Nicht, als er sah, wie Hubert die Röte in die Wangen schoss.

„Ihr seid ineinander verschossen, Mann! Das sieht jeder, der genau hinguckt!“, rief Hubert lauter als es gut war. Max legte Hubert beruhigend beide Hände auf die Schultern und alle drei drehten fahrig ihre Köpfe, ob hoffentlich niemand zufällig in Hörweite war. Dann pustete Hubert durch und flüsterte wieder. „Und jetzt hört ein einziges Mal auf mich: Hört auf damit. Das nimmt sonst ein ganz schlimmes Ende.“

„Soll das eine Drohung sein?“, fragte Konstantin, und während Max am liebsten im Erdboden versunken wäre, funkelten Konstantins Augen Hubert herausfordernd an.

„Dummkopf“, knurrte Hubert. „Ich tu euch bestimmt nichts.“

„Außer wenn du im Suff dummes Zeug redest“, schimpfte Max, doch Hubert tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört.

„Aber wenn ich das bemerke – wieso soll das dann ein Karlitz nicht bemerken? Oder ein Eckstein, oder ein Lorenz?“ Er drehte sich ruckartig um und nörgelte etwas unverständliches vor sich hin, als er davon stiefelte. Max und Konstantin schauten sich ratlos an.

„Scheiße“, murmelte Max.

„Der kriegt sich schon wieder ein“, beruhigte ihn Konstantin, aber Max erwiderte: „Er hat doch recht. Wieso soll Hubert der Einzige sein, der bemerkt hat, was zwischen uns läuft. Ich meine ... Wir haben gedacht, wir sind vorsichtig. Aber ...“

Konstantin nahm Max am Handgelenk und zog ihn in Richtung der Steinlinde. In den Sichtschatten der umliegenden Bauten. „Selbst, wenn. Was haben wir Verwerfliches getan? Na gut. Abgesehen von der Enz-Wiese am Samstag.“ Er lachte unsicher. „Aber davon weiß ja nicht mal der Hubert etwas.“

„Ja“, zauderte Max. Er schaute Konstantin an. Im Licht des Sonnenuntergangs spiegelte sich ein flammendes Farbenspiel in seinen Augen, was ihm eine unwiderstehliche Aura verpasste. Ihre Köpfe näherten sich und ihre Lippen lagen aufeinander. Max war sich über das Risiko schmerzlich bewusst, aber er konnte einfach nicht anders. Hier waren sie ja einigermaßen sicher. Der Kuss war nur kurz. Scheu grinsten sich Max und Konstantin an; im Wissen, das Schicksal gerade auf eine unverschämte Weise herausgefordert zu haben.

„Lass uns gehen“, murmelte Max. Mit einem Kribbeln im Bauch, von dem er nicht wusste, ob es von der Angst oder dem Verlangen kam.

„Hmh“, sagte Konstantin. Sie waren noch keine zwei Schritte gegangen - da hustete jemand. Viel zu nah. Max und Konstantin drehten ruckartig ihre Köpfe in die Richtung der Sanitätsbaracke, da glühte im tiefsten Schatten, den das Gebäude warf, ein roter Punkt auf.

„Komm“, zischte Max. Aber Konstantin blieb wie angewurzelt stehen und starrte dorthin, wo sich im Schatten jetzt etwas bewegte und sich die Schwärze in eine Gestalt wandelte, die zwischen Zeige- und Mittelfinger eine Zigarette hielt und auf einen Krückstock gestützt war.

„Klingenberg?“, raunte Konstantin perplex.

„Wat 'ne Überraschung. Hä?“, schnarrte der Obergefreite aus der Wäschekammer.

„Was treibst du denn hier, im hintersten Eck?“, stammelte Max, nachdem er seine Fassung wieder einigermaßen gefunden hatte.

Klingenberg lachte trocken. „Hier hat man seine Ruhe. Und manchmal sieht man die verrücktesten Dinge, wenn sich die Idioten unbeobachtet fühlen.“

„Ah ja. Und was hast du heute Abend gesehen?“

'Sag: nichts', flehte Max in Gedanken. Aber Klingenberg grinste. „Jenug, um euch zwei Stecher am Strick baumeln zu lassen. Der Spargel und der Rotkohl. Wenn det nich'n juten Eintopf jibt.“ Max und Konstantin senkten die Köpfe. Doch Klingenberg raunzte etwas versöhnlicher: „Nu spart euch euren Dackelblick, sonst kommen mir noch die Tränchen. Kommt mal mit. Ick zeig euch wat.“

„Was denn?“, fragte Max schüchtern.

„Schnauze, Spargel.“

Weil ihnen nichts anderes übrig blieb, folgten die beiden Klingenberg. Jeder brütete vor sich hin und hoffte einfach nur, dass alles gut ginge. Schnell bemerkten sie, wohin Klingenberg sie führte. Nämlich in seine Wäschekammer. Klingenberg kramte einen Schlüssel aus der Tasche, und nachdem er aufgeschlossen hatte, folgten Max und Konstantin der Aufforderung, hineinzugehen. Wie ein dummer Ochse, der zur Schlachtbank geführt wird, kam Max sich vor. Und als Klingenberg hinter ihnen die Tür nicht nur zuzog, sondern sie auch von innen wieder verschloss, wurde Max schlecht. Ein Blick zur Seite ließ ihn dieselbe Angst auch in Konstantins Augen lesen.

„Nu scheißt euch ma nich ein“, murrte Klingenberg, der die beiden Häuflein Elend belustigt musterte. „Willkommen im Klub der ranzigen Betttücher. Dem Orden der unangepassten Hundesöhne.“

Klingenberg lachte dreckig über seinen eigenen Spruch, und Konstantin fragte zaghaft: „Und wer sind die unangepassten Hundesöhne?“

„Na, wir Drei jetzt. Kommt ma mit.“

Max und Konstantin folgten Klingenberg durch den düster beleuchteten Raum zwischen Uniformen, Gasmasken und Bettwäsche-Regalen hindurch nach hinten. Sie sahen zu, wie der Obergefreite aus einer Nische ein Stemmeisen hervor holte und sich dann damit an der Wand zu schaffen machte.

„Was macht er da?“, formten Konstantins Lippen lautlos und Max zuckte mit den Schultern. Es sah aus, als ob Klingenberg ein Stück aus der Wandfassade herausgebrochen hätte. Aber schnell wurde den beiden klar, dass das nur die Abdeckung eines geheimen Fachs war. Klingenberg holte eine Flasche gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit heraus, und einen edel anmutenden Holzkasten.

Konstantin, der natürlich sofort erkannt hatte, worum es sich da handelte grinste, als Klingenberg ihm die Kiste in die Hand drückte. Er klappte das Koffergrammofon auf und steckte gleich die Kurbel ein, um es aufzuziehen. Minuten später saßen die drei auf dem Boden, und Magda Hain schmachtete aus dem Musikspieler: Möwe, du fliegst in die Heimat.

Max mochte solche Musik. Sie brachte ihn immer zum Träumen. Etwas geistesabwesend nahm er einen Schluck aus der Flasche, die ihm Klingenberg in die Hand gedrückt hatte - und würgte. Er hörte Klingenberg leise lachen, als ihm die Dämpfe in die Nase hochstiegen und der Schnaps eine feurige Spur durch seine Speiseröhre zog und sich wie ein Lavasee in seinem Magen sammelte.

„Und?“, gluckste Klingenberg, und Max keuchte: „Lecker. Schmeckt nach Sodbrennen.“

Er reichte die Flasche an Konstantin weiter, der schlau genug war, nur zu nippen. Danach nahm Klingenberg den nächsten tiefen Schluck.

„Und was machen wir hier jetzt?“, stellte Max die Frage aller Fragen.

„Reden“, sagte Klingenberg und reichte Max die Flasche wieder.

Max tat so, als würde er trinken. Als er die Flasche an Konstantin weitergegeben hatte und Klingenberg in die Leere blickte, fragte er: „Worüber?“

„Du könntest mich ja mal fragen, warum ick alleine da draußen jesessen bin“, sagte Klingenberg und Max seufzte. „Hab ich doch schon. Und eine blöde Antwort hab ich auch schon bekommen.“

Klingnberg grinste ertappt: „Na gut, Schlauberger. Dann frag mich eben nochmal.“

„Warum bist du da draußen alleine im hintersten Eck der Kaserne gesessen und hast andere Leute beobachtet?“, fragte Max nun so übertrieben geduldig, dass Konstantin kicherte und Klingenberg knurrte.

„Weil mir der janze Rotz auf den Sack geht.“

„Aha“, lachte Max und Klingenberg grollte: „Weeste wat? Wenn's nach mir jeht, könnte an jedem Baum ein Nazi baumeln. Und der Hitler allen voran.“

Wumms. Max und Konstantin schauten Klingenberg mit heruntergeklappten Kinnladen an. Aber der Obergefreite schien sich darüber zu amüsieren, nahm selbstgefällig einen Schluck aus der Pulle und reichte sie an Max weiter. Magda Hain jaulte etwas von den Vöglein im Prater aus dem Grammofon, und Klingenberg feixte: „Jetzt sind wer pari. Ihr könnt mich wegen meinem Gerede an den Galgen bringen und ich euch, weil ihr uf'm Kasernenhof rumfickt.“

Max wollte widersprechen, aber Konstantin hatte schon geschaltet. „Dann können wir ja jetzt offen reden. Ohne dass einer Angst haben muss, dass der eine den anderen verpfeift. Oder?“

Klingenberg schaute Max an. „Siehste, Spargel? Der Rotkohl hat 'n Durchblick. Also, jetzt erzählt mal – Kriegsfreiwillige. Ihr seht zwar blöde aus, aber so blöde, dass ihr freiwillig hier her jekommen seid, auch wieder nich.“

„Doch. Das ist Verantwortung“, wollte sich Max mit seiner alten Leier rechtfertigen, und Klingenberg knarzte etwas, das wie „Quatsch“ klang. Max und Konstantin tauschten einen Blick, ein kaum sichtbares Nicken, und dann erzählten sie Klingenberg abwechselnd, was sie hier her getrieben hatte. Der Edelmut der Partei-Oberen von Herdelsheim, ihre Jugend freiwillig der SS zu überlassen und der Beschluss von Max, Hubert und Konstantin, dem zuvor zu kommen und zur Wehrmacht zu gehen. „Wegen der Soldatenehre, die es in der SS nicht gibt“, fügte Max an.

Klingenberg lachte bitterernst. „Soldatenehre bei der Wehrmacht? Glaubt ihr det Märchen wirklich?“

Max und Konstantin schauten Klingenberg nur an. „Dann will ick euch mal wat erzählen. Einer muss ja der böse Bube sein, wo euch det austreibt...“ Klingenberg nahm noch einen Schluck, und dann begann er zu erzählen von seiner Zeit an der Ostfront. Und nahm Max und Konstantin direkt mit in die Hölle. Von grauenvollen Massakern an Männern, Frauen und Kindern berichtete er. Dutzendfach, hundertfach und tausendfach. Weil die Ideologie sie als Untermenschen ansah, oder einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Von Massengräbern, die die Menschen selbst ausheben mussten und wo manche noch lebten, als sie zugeschaufelt wurden. Von Gewaltexzessen, die alles, was die menschliche Vorstellungskraft hergab, überragte wie ein Gebirge. „Und det macht nich nur die SS. Det macht auch die Wehrmacht. Meistens Freiwillige; für'n paar Mark und Essensrationen mehr geh'n die über Leichen. Aber wenn dir so'n Offizier wie euer Lorenz-Heini befiehlt, bei 'nem Erschießungskommando dabei zu sein, sagste auch nicht nein.“

„Hat Major Lorenz solche Befehle gegeben?“, fragte Konstantin.

Klingenberg trank noch einen Schluck. Die Flasche war nun schon halb leer und er machte sich gar nicht mehr die Mühe, sie an Max weiterzugeben. „Wat glaubste denn, wie er an sein Kack-Abzeichen, det Eiserne Kreuz gekommen ist? Weil er so schön singt, vielleicht? Nee. Den Lorenz kenn ick schon seit 1941. Da war er noch Hauptmann, der Spinner. Der lästert zwar immer über Geisteskranke und nennt se nich lebenswert, aber der Lorenz ist der Geisteskrankste überhaupt. Ein Mörder, ein Psychopath und nix anderes. Aber det sind die Leute, wo Karriere machen.“ Schweigen. Nur das Gesülze aus dem Grammofon. „Ick sag euch. Hoffentlich wern wir vom Feind überrannt. Dann landen die janzen Schweine vorm Gericht.“

Max wollte etwas sagen, aber jedes Wort, das ihm einfiel, steckte wie ein Ziegelstein in seinem Hals fest.

Der Obergefreite schaute Max und Konstantin beinahe sanft an. „Jetzt guckt net so bedröppelt. So lange, dass ihr in so ne Scheiß Lage kommt, lebt ihr gar nicht. Wenn ihr drei Tage an der Front schafft, seider jut.“

„Das ist ja beruhigend“, nuschelte Konstantin.

„Und wenn ihr euch beim Knutschen erwischen lasst, schafft ihr's nich mal an die Front.“

„Hmh.“

Er versuchte die Jungen ernst anzuschauen, und trotzdem blitzte der Schalk in seinen Augen auf. „Ick sag euch wat. Ick bin ja 'n juter Kerl und will, dass ihr euer Leben in den paar Tagen, die ihr noch habt, wenigstens noch ein bisschen jenießen könnt. Ick geb euch den Ersatzschlüssel für den Puff hier. Dann könnter abends hier in die Wäschekammer kommen und euch in Ruhe eure Dinger hinten rein schieben oder so.“

Max errötete und Konstantin nahm den Schlüssel an sich.

„Aber sauft mir nich den janzen Schnaps weg.“

„Versprochen.“

„So. Jenug geheult.“ Klingenberg richtete sich auf, wobei seine Bewegungen im angetrunkenen Zustand geschmeidiger wirkten als vorher. „Jetzt wird det Tanzbein geschwungen. Wir sind schließlich der Orden der unangepassten Hurensöhne.“ Max und Konstantin lachten laut, als Klingenberg sein Holzbein durch die Luft wirbeln ließ. „Hundesöhne“, berichtigte Max ihn, und der Obergefreite maulte, während er die Schallplatte wechselte: „Nerv nich, Spargel.“

Was dann passierte, erlebte Max wie im Traum. Klingenberg legte die Nadel auf die Platte, und nach einem wilden Trommelwirbel ging die Post ab. Schräge Töne, ekstatische Rhythmen und skurrile Solos von Instrumenten, die Max zwar erkannte, die aber in dieser Art so fremdartig wirkten, brachten die Luft zum Vibrieren. Max und Konstantin konnten gar nicht anders, als ebenfalls die Beine zu bewegen, mit den Armen in der Luft zu fuchteln und mit den Hüften zu kreisen. Und Klingenberg ging es nicht besser. Max ahnte, dass das diese berüchtigte Swing-Musik aus Amerika sein musste. Manchmal hatten sie sich früher bei Franz Hemberger im Keller getroffen und heimlich deutschen Swing der Kurt-Widmann-Kapelle gehört. Musik, die Max in ihrer Hemmungslosigkeit genauso fasziniert wie schockiert hatte. Aber das hier war nun eine ganz andere Nummer. Die drei unangepassten Hundesöhne ließen die Flasche herumgehen und wirbelten durch den Raum und irgendwo im Hinterkopf sagte Max eine Stimme, dass diese Musik strengstens verboten war. Er wusste nicht, ob es der Schnaps war oder der Zauber des Swings, der dafür sorgte, dass ihm das egal war. „Stell dir zu dieser Musik noch eine Geige vor“, rief Max zu Konstantin, dem anzusehen war, dass ihm die Idee gefiel.

Als die Platte zu Ende war, lachten Konstantin und Max sich an, mit dem berauschenden Gefühl, gerade etwas Verbotenes getan zu haben. Klingenberg schaute auf seine Uhr. „So, Jungens. Jetzt müsster langsam jehn. Nicht, dasster wegen mir noch Ärger kriegt.“

„Ich glaube, wenn wir hier jemals wegen jemandem Ärger bekommen, dann doch wohl wegen dir“, sagte Konstantin, und Max lachte zustimmend. Aber Klingenberg hatte recht. Es war schon kurz vor 22 Uhr. Und wenn sie zum Nachtappell nicht im Bett lägen, würde Karlitz ihnen die Hölle heiß machen. Und der Unteroffizier vom Dienst erst.

Nachdem Max und Konstantin die Wäschekammer und den Obergefreiten hinter sich gelassen hatten, wehte ihnen eine wohltuende, kühle Brise um die Nase. „Was für ein Kerl, dieser Klingenberg“, raunte Max eher zu sich selbst als zu Konstantin, und Konstantin flüsterte: „Glaubst du, dass das stimmt, was er über die Verbrechen an der Ostfront gesagt hat?“

„Ich weiß nicht.“ Max zögerte. Er wollte es nicht glauben. „Was denkst du?“

Konstantin zuckte ratlos mit den Schultern. „Wieso sollte er sich so etwas einfallen lassen?“

„Die, die von der Ostfront auf Heimaturlaub waren, haben aber nie von solchen Dingen erzählt“, stellte Max fest.

„Würdest du das herausposaunen, wenn du solchen Dreck am Stecken hättest?“

„Nein“, gab Max zu und dachte an seinen friedliebenden Vater. „Wohl eher nicht. Ist schon seltsam, Konstantin. Müssen wir jetzt darauf hoffen, dass wir früh genug sterben, damit wir nicht in diese Lage kommen?“

Konstantin klopfte Max sanft auf den Rücken. „Komm. Lass uns darüber nicht nachdenken.“

9

Je mehr sich die Grundausbildung ihrem Ende näherte, umso lockerer wurden die Zügel von Eckstein, Waas und Konsorten gelassen. Die Jungen waren zäh geworden, konnten, was sie als einfache Sturmgrenadiere können mussten, und nun hatte wohl selbst der widerliche Eckstein das Einsehen, ihre letzten Tage in Sicherheit einigermaßen würdevoll zu gestalten. Lediglich der Major Lorenz war bei seiner politischen Bildung scharf wie eh und je. Aber was Max anfangs sehr geschockt hatte, war jetzt für ihn nur noch ekelerregend. Es war immer dasselbe Geschwätz, das der Major von sich gab, und irgendwann verlor es zumindest auf Max seine Durchschlagskraft. Dazu kam noch das Wissen, dass Lorenz nur ein elender Kriegsverbrecher war. Durch die Lockerungen und den daraus resultierenden früheren Dienstenden fanden Max und Konstantin auch öfters die Zeit, ihre Liebe in der Wäschekammer des Obergefreiten Klingenberg auszuleben, ohne sich dabei in Gefahr zu bringen. Manchmal stellte sich Max die Frage, wie viel Hubert davon wohl ahnte oder wusste. Doch um ihn darauf anzusprechen fehlte Max der Mut. Zum Glück schaffte es der Rollmops nun auch, seinen Mund zu halten.

Am Abend vor der In-Marsch-Setzung ihrer Gruppe mit der ganzen Kompanie fühlte Max eine Erleichterung, von der er gleichzeitig ahnte, wie trügerisch sie war. Jedoch konnte er es auch nicht abwarten, aus der Gewalt von Major Lorenz zu entkommen. Schon alleine, weil er dann wieder die Gelegenheit finden würde, an seine Familie zu schreiben, von der er seit er dem erzwungenen Abbruch nichts mehr gehört hatte.

Die zwölfte Gruppe um Max, Konstantin und Hubert sollte gemeinsam nach Düren verlegt werden, um den Einheiten an der Westfront zugeteilt zu werden. So viel wussten sie schon. Am frühen Morgen würde sie die Eisenbahn dorthin bringen. Doch den letzten Abend feierte der zweite Zug mit Bier, Schnaps und Wein in seinem Kompaniegebäude. Und dieses Mal kamen auch Max und Konstantin nicht umhin mitzutrinken. Anfangs sträubte sich Max noch dagegen. Er war Alkohol nicht gewohnt und immer, wenn er betrunkene Menschen gesehen hatte, war das Abschreckung genug für ihn gewesen. Die zwölfte Gruppe war gemeinsam mit der zehnten und elften vom selben Stockwerk auf ihrer Stube. Konstantin hatte sich zu diesem Anlass Klingenbergs Grammofon geborgt, auf dem nun Marika Rökk säuselte: „In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine.“ Die angeheiterten Soldaten johlten den Text mit und Max und Konstantin, die in Sachen sexueller Erfüllung ihren meisten Kameraden ein gutes Stück voraus waren, tauschten vielsagende Blicke. Im Raum herrschte dicke Luft. Aber heute vor allem wegen des Zigarettenrauchs, der wie dichter Nebel im Zimmer lag. Selbst Max und Konstantin hielten Kippen, die Hubert ihnen gedreht hatte, zwischen Zeige- und Mittelfinger und Max musste sich eingestehen, dass das Kraut, wenn man betrunken war, viel besser schmeckte als in nüchternem Zustand.

Auch an diesem Abend saßen die drei Herdelsheimer Jungen gemeinsam mit ihren Freunden Friedel Stahl und Lothar Baier wieder etwas abseits. Stahl hatte einen Kräuterlikör besorgt und Baier hatte irgendwo fünf Schnapsgläser hergezaubert. Und nun saßen sie in ihrem eigenen Kreis und Baier schenkte eine Runde nach der anderen ein.

„Männer! Morgen geht’s endlich los. Jetzt werden wir zu echten Kerlen“, lallte Baier nach der dritten oder vierten Runde.

Während Stahl die ganze Zeit Karlitz im Blick behielt, der auf seiner Matratze saß und sich unter seinesgleichen betrank, brabbelte Konstantin: „Und übermorgen sind wir verreckt.“

„Ääääh. Der Wüstrach wieder“, brummelte Baier genervt, und Hubert schlug sich mit der Hand an die Stirn. Konstantin grinste bierselig. Erst zu Baier, dann zu Max. Max schmunzelte zurück. Er sah an diesem Abend Konstantin zum ersten Mal sternhagelvoll. Und das fand er ziemlich lustig. Konstantins Gesicht war noch röter als seine Haare und das Dauergrinsen steckte auch die anderen Betrunkenen an. Alle, bis auf Stahl, dessen Blick immer düsterer wurde, je fröhlicher sich Karlitz gab.

Max blinzelte Konstantin an, stets bemüht nicht herauszulachen und Konstantin schmollte unter schweren Augenlidern heraus zurück. Mit der Stiefelspitze kitzelte er an Max' Wade zum Knie nach oben und als er am inneren Oberschenkel ankam, wäre er beinahe mitsamt seines Stuhls rückwärts umgekippt. Max lachte und Hubert klopfte Konstantin mit der flachen Hand auf den Schenkel. 'Hör auf!' formten seine Lippen. Konstantin warf Hubert einen unterwürfigen Blick zu, wie er unglaubwürdiger nicht hätte sein können. Irgendwo ganz hinten im Verstand kapierte Max zwar, dass Hubert gerade dabei war, ihm und Konstantin das Leben zu retten, aber um dafür dankbar zu sein, war er zu voll. Unter Karlitz' Trinkerblick begannen Konstantins Augen schon wieder zu turteln. Max konnte nicht anders, als mitzuspielen und Hubert boxte Konstantin auf den Oberarm.

„Au!“

„Ich glaube, du musst ganz dringend an die frische Luft.“

„Gar nicht wahr. Rollmops. Hehehe.“ Sofort stieg Baier in das dreckige Lachen ein. Karlitz stand auf und schwankte zur Tür, wohl um aufs Klo zu gehen. Konstantins versoffener Lausbubenblick blitzte wieder auf. „Aber vielleicht müssen wir ja alle an die frische Luft.“

Max, Hubert und Baier schauten Konstantin blöde an, aber Stahl hatte verstanden. „Jetzt ist der Karlitz fällig“, raunte er. In Huberts und Baiers Augen blitzte Verständnis auf, und auch Max kapierte es schließlich. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um Papentin zu rächen. Ohne sich absprechen zu müssen, standen die Fünf auf, und niemand schenkte ihnen viel Beachtung, als sie den Raum verließen. Auch im Flur blühte das besoffene Leben, als die Treppen ansteuerten. Sie folgten den Stufen nach unten in den Keller, wo sich neben dem Waschraum die Toiletten befanden, und postierten sich vor der Tür. Baier hatte noch immer die Likörflasche in der Hand.

Als Karlitz herauskam, schaute er die fünf Wartenden verständnislos an. „Was macht ihr hier?“

Stahl wollte schon aus der Haut fahren, aber Baier war schneller. Er hielt ihm die Kräuterlikör-Flasche entgegen. „Uns bei dir bedanken. Du warst ja ein guter Truppführer. Das haben wir, glaub ich, nicht so richtig gewürdigt.“

Karlitz lächelte hochmütig. „Wenn das so ist?“

„Kommst du mit nach draußen?“, fragte Konstantin. „Frische Luft zum Gesöff tut doch auch gut.“

„Die beste Idee, die ich jemals gehört habe“, nuschelte Karlitz mit schwerer Zunge. Stahl legte ihm einen Arm um den Nacken und gemeinsam schwankten sie den anderen voraus ins Freie.

„Ich kenne eine gute Stelle“, sagte Konstantin, tauschte einen Blick mit Max, und dann brachten die beiden den Rest der Truppe zu ihrer Steinlinde.

„Echt gut“, brummte Karlitz. Baier sagte etwas zu laut: „Dann mal hopp“ und gab die Flasche an den Truppführer weiter. „Pscht“, zischten Max und Hubert gleichzeitig, und Baier nickte eindringlich. Selbst in seinem Zustand kapierte er, dass sie hier leise sein mussten, um nicht irgendeinen übereifrigen Unteroffizier auf das Trinkergrüppchen aufmerksam zu machen.

„Trink“, feuerte Hubert Karlitz flüsternd an, als dieser die Flasche ansetzte, und Karlitz ließ sich nicht lumpen. Die Flasche ging im Kreis, und jeder nippte daran, ehe Karlitz wieder an der Reihe war.

„Zeig mal, wie ein Truppführer saufen kann“, flüsterte nun Max, und Karlitz tat ihm den Gefallen. „Meisterklasse“, ulkte Konstantin. „Wie ein echter Offizier.“

Karlitz wollte etwas erwidern, aber das war nicht zu verstehen.

Die Flasche ging immer weiter im Kreis, und Karlitz blieb der Einzige, der wirklich trank. „Weißt du schon, was mal aus dir werden soll?“, fragte Konstantin harmlos, und Karlitz antwortete: „Nnn' richtiger Kommandant. Nnn Hauptmann. Odern Major.“

„Wie der Lorenz?“, hakte Konstantin nach.

„Mmmh“, bestätigte Karlitz. „OdernOberstleutnant. Wie mein Vadder.“

„Oh.“

„Der willmaln Oberst werden.“

„So, wie du bist, wirst du bestimmt ein General“, sagte Baier und Max musste beinahe laut lachen, über den Trinkerstolz, der in Karlitz' Gesicht geschrieben stand. „So pflichtbewusst, wie du mit dem Papentin umgegangen bist.“

Karlitz brummte genervt.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wo der jetzt gerade ist?“

„Lass mich“, nörgelte Karlitz.

„Oder ob er überhaupt noch lebt?“

„Is doch mirnegal.“

„Was war das?“, hakte Baier nach, und Karlitz guckte ihn aus abgesoffenen Augen hart an.

„Is mir'n scheißegal, was ausndiesm Schweinesau geworden is.“

Alle lachten. „Schweinesau“, äffte Baier ihn nach, und Konstantin tat empört: „Hast du den Führer gerade Schweinesau genannt?“

„Nnnnnnnein.“

„Das müssen wir aber melden“, zischte Konstantin und schaute die anderen an. „Ob der Lorenz noch hier in der Kaserne ist?“

„Nein. Habndasnicht gesagt“, lallte Karlitz.

„Ich hab das aber auch gehört“, sagte Baier, und Max stimmte zu. „Ich auch.“

„Sorgen wir dafür, dass die Sau aufgeknüpft wird“, zischte Stahl, der der Einzige war, der die Situation nicht zum Totlachen fand, und Karlitz gab einen jämmerlichen Laut von sich.

„Oder“, tat Baier nachdenklich. „Wir regeln das gleich hier und jetzt.“

„Klingt vernünftig“, sagte Konstantin. Karlitz versuchte, Konstantin herrisch anzuschauen und lallte: „Isn ja klar dass das Zuckerpüppchen vorne-vorneweggeht. Schwule Arschficksau.“

Max bekam nicht einmal richtig mit, wie seine eigene Faust an Karlitz' Wange krachte. Der Schmerz schoss in seine Fingerknöchel, und dann ging es los. Stahl trat Karlitz in den Magen und Baier zog dem Truppführer, der viel zu betrunken war, um Gegenwehr zu leisten, das Hemd aus, knüllte es zusammen und steckte es ihm als Knebel in den Mund. Konstantin schaute verblüfft zu Max, während Baier Karlitz in den Schwitzkasten, und Stahl und Hubert mit der Abreibung für den Verrat an Jupp Papentin begannen. Max und Konstantin mischten im nächsten Moment auch mit, wobei eine Hemmschwelle Max daran hinderte, noch einmal so fest zuzuschlagen, wie zuvor. Karlitz stöhnte dumpf in sein als Knebel missbrauchtes Hemd hinein, während ihn die Fäuste seiner Gruppen-Kameraden malträtierten.

Als Karlitz zu Boden ging, sich zu einem Embryo kauerte und fast lautlos wimmerte, während Hubert, Stahl und Baier auf ihn eintraten, hatte Max genug. Er war der Erste, der versuchte, die Gewalt zu beenden wie auch Konstantin Sekunden später. Dessen Gesicht sprach Bände: Haben wir es übertrieben? Ein kurzer Blickwechsel reichte aus, dann bremsten sie gemeinsam Hubert und Baier ein. Zu viert mussten sie Stahl zurückhalten, der weiter wie ein Berserker auf Karlitz eindrosch. Für Max sah es aus, als würde es Stahl darauf anlegen, Karlitz totzutreten. Als sie ihren dermaßen zugerichteten Truppführer in seinem Selbstmitleid und seinem Gewimmer zurück ließen, fühlte sich wohl keiner der fünf Rächer gut. Für Max war es das erste Mal, dass er gewalttätig gewesen war. Und er fragte sich, ob er nun ein bisschen mehr so geworden war, wie Major Lorenz ihn und seine Kameraden haben wollte.

10

Obwohl sein Schädel vom nächtlichen Gelage noch brummte, war Max schon wieder hellwach. Mit einer beinahe kindlichen Ehrfurcht bewunderte er die Lokomotive an der Spitze des Zuges, der ihn und seine Kameraden ins Rheinland bringen sollte. Aus allen Ventilen trat zischend und tosend der Dampf. Weil sein Heimatdorf Herdelsheim viele Kilometer von der nächsten Eisenbahnstrecke entfernt lag, war er nur sehr selten mit den Urgewalten solcher Stahlkolosse in Berührung gekommen. Direkt hinter der Lokomotive waren die Personenwaggons – vorne ein Salonwagen für die Offiziere und dahinter abgewirtschaftete Donnerbüchsen für das „Fußvolk“. Dahinter liefen etliche Flachwagen mit schweren Geschützen und Panzern, wo Ladearbeiter noch die letzten Handgriffe an die Verzurrung legten.

Während manche der Kameraden sich noch von den Mädchen verabschiedeten, mit denen sie in ihrer Zeit als Rekruten angebandelt hatten, standen Stahl und Baier bei Hubert neben dem Zug. Max und Konstantin hatten sich ein wenig abgesondert.

„Schau dir den an“, sagte Konstantin, wobei seine Worte vom Geräusch der Dampflok fast verschluckt worden wären, die in diesem Moment fauchte wie ein wütendes Raubtier. Max folgte Konstantins Blick zu ihrem Anführer Karlitz, der mit einer Zigarette im Mundwinkel teilnahmslos auf dem Boden saß und düsteren Blickes vor sich hinbrütete. Den ganzen Morgen hatte er kaum ein Wort geredet. Seine linke Gesichtshälfte war nach der nächtlichen Abreibung ein einziger blauer Fleck. Doch keiner ihrer Vorgesetzten hatte während der kurzen Zeit bis zur In-Marschsetzung mehr als spöttische Blicke für ihn übrig gehabt. Es gehörte dazu, dass Soldaten ihre Reibereien unter sich regelten und Max' Hoffnung schien sich zu bestätigen, dass Karlitz es wegen des zwar erfundenen, aber nichtsdestotrotz todbringenden Vorwurfs, er hätte den Führer beleidigt, es nicht wagen würde, sich zu beschweren.

„Da bekommt man beinahe Mitleid“, murmelte Max und schenkte Konstantin ein verhaltenes Lächeln. „Aber eben nur beinahe.“

„Dafür, was er dem Papentin angetan hat, ist der Verräter gut davon gekommen“, entgegnete Konstantin kühl.

„Schon. Ich hoffe nur, das rächt sich nicht.“ Max seufzte. „Wieso muss ausgerechnet der Karlitz jetzt unser großer Führer sein?“

Konstantin lächelte sein weiches Konstantin-Lächeln, bei dem Max jedes Mal aufs Neue das Herz aufging. „Immer mit der Ruhe, Maxl. Das ist er ja nur für ein paar Stunden, und dann ist der Spuk vorbei.“ Max schmunzelte noch über das 'Maxl', während Konstantin weiterredete. „Und so ratzevoll wie der Karlitz gestern war, kann ich mir vorstellen, dass er das selbst glaubt, was wir ihm da untergeschoben haben.“

„Was war's? Schweinehund?“, fragte Max lachend und Konstantin lallte wie betrunken: „Schwweinesssau.“

„Ach ja. Schweinesau. Wollen wir nur hoffen, dass er bis Düren die Klappe hält“, sagte Max. Hoffentlich behielt Konstantin recht. Als Teil der Marsch-Kompanie war die ehemalige zwölfte Gruppe während des Transports gen Westen nun eine gefechtsbereite Kampfeinheit unter dem Kommando des ehemaligen Truppführers und jetzigen Gruppenführers Karlitz, die sich im Falle eines Angriffes verteidigen können musste. Aber das galt nur so lange, bis sie in Düren angekommen und auf ihre zukünftigen Einheiten verteilt sein würden.

Der Lokführer streckte seinen Kopf aus einem der Seitenfenster und schrie etwas Unverständliches. Daraufhin blies der Abfertigungsmeister in eine Pfeife. „Männer! Aufsitzen!“, rief er gezogen und langsam kam Bewegung in die Truppe. Erste Soldaten stiegen schon in die Waggons, während sich andere noch schwer taten, sich von ihren Kurzzeit-Liebeleien zu trennen. Es wurden Abschiedsküsse gegeben und mit Taschentüchern gewunken. Max bemerkte sogar die eine oder andere Träne. Als er und Konstantin zu dem ihnen zugeteilten Waggon gingen, wo sie schon ihr Gepäck verstaut hatten, mussten sie direkt an Karlitz vorbei. „Schweinesau“, sang Konstantin leise vor sich hin und Karlitz musterte die beiden mit von Hass glühenden Augen. Max schluckte. Hätte Konstantin doch nur die Klappe gehalten, statt weiter Öl ins Feuer zu gießen. Seine Hoffnung, dass dieser Streit schon ausgestanden war, kam ihm nun sehr naiv vor.

Im Inneren des Waggons roch es genauso ranzig, wie das Fahrzeug von außen aussah. Hubert verzog das Gesicht, als er sich auf seinen Platz in einer der Sitzgruppen setzte und aus deren dünnem Sitzbezug wie aus Protest gegen Huberts Hintern eine Staubwolke aufwirbelte, die man sogar mit dem bloßen Auge sehen konnte. „Das sah aus wie der Furz deines Lebens, Rollmops“, lästerte Baier. Statt zu widersprechen wieherte Hubert sein unvergleichliches Lachen und machte mit dem Arm vor dem Mund ein Furzgeräusch, was sogar Soldaten zum Grinsen brachte, die die Jungen bis dahin noch gar nicht kannten. Baier und Stahl setzten sich zu Hubert in die Sitzgruppe, während der letzte freie Platz von Lutz Jogerst aus ihrer Gruppe belegt wurde. Max und Konstantin setzten sich daneben in die Sitzgruppe auf der anderen Seite des Durchgangs. Wie zum Gruß klopften Max und Hubert ihre Gewehrkolben über dem Mittelgang gegeneinander, was Max zum Schmunzeln und Hubert zu einem erneuten kurzen Wiehern brachte, was sich anhörte, wie ein schnaubendes Pferd. „Auf in den Kampf“, kommentierte Baier nicht ganz ernst das Geschehen. Doch die gute Laune der Freunde wurde im nächsten Moment getrübt, als sich Karlitz und dessen Schoßhündchen Hagerstedt Max und Konstantin gegenübersetzten.

„Macht keinen Blödsinn mit den Waffen“, motzte Karlitz. Stahl brummte: „Ave Cäsar“, und strich sich scheinbar unbedacht über die linke Gesichtsseite, die bei Karlitz so mitgenommen aussah. Hubert und Konstantin versuchten mit mehr oder weniger gutem Erfolg nicht zu kichern. Max hingegen sorgte sich, wie hier das nie hinterfragte Prinzip von bedingungslosem Respekt gegenüber einer militärischen Führungsperson untergraben wurde. Und in Karlitz' Gesicht war eindeutig zu lesen, wie wütend ihn dieser Mangel an Wertschätzung machte.

Als sich der Zug mit einem Ruck, der sie alle durchschüttelte, in Bewegung setzte, ging ein Johlen durch den Waggon. Unter dem Ächzen der Kupplungen ging es immer schneller voran. Es herrschte eine aufgekratzte Euphorie unter vielen der jungen Soldaten, jetzt endlich ins Kriegsgeschehen eingreifen zu können und dem Führer, seinem Volk und ihrem Vaterland zu dienen und sehr wahrscheinlich auch dafür zu sterben. Das war wohl das, was der alte Lehrer Grube im Schulunterricht immer als die Todesverachtung der deutschen Jugend glorifiziert hatte. Max tat sich schwer damit, diese überdrehte Begeisterung zu teilen. Schon alleine der feindselige Blick, mit dem Karlitz ihn und Konstantin musterte, hielt ihn auf dem Boden. Und so blieb es in seiner Sitzgruppe still, während daneben Baier ein Kartenspiel hervorholte und Hubert sofort mit dem Mischen begann.

Während die Fahrt andauerte und Hubert, Stahl, Baier und Jogerst immer lauter beim Doppelkopf-Spiel diskutierten, stritten und lachten, wurde in Max' Sitzgruppe fast gar nicht geredet. Hagerstedt blickte immer wieder verstohlen zu den Kartenspielern und hätte wohl auch gerne mitgemacht. Konstantin schaute schon seit einer Weile zum Fenster hinaus auf die vorübereilenden Landschaften, Städte und Dörfer. Max hingegen tat so, als sei er in sich selbst versunken. Wenig interessiert horchte er den Heldenfantasien anderer Kameraden im Waggon zu. Bisweilen folgte er mit dem Blick den Soldaten, wenn sie in Zweier-, Dreier-, oder Vierergrüppchen durch die Tür an der Stirnseite hinaus auf die offene Plattform gingen, um frische Luft zu schnappen. Dabei musste er sich jedoch beherrschen, um nicht zu lachen. Denn obwohl Konstantin in seiner eigenen Welt zu sein schien, spürte er immer wieder, wie dessen Schenkel, der wegen der Enge an Max' Oberschenkel anlag, dauernd neckisch Druck ausübte. Max hielt dann dagegen.

Karlitz hatte sich wieder in sich zurückgezogen, so wie er es schon den ganzen Vormittag getan hatte. Es bereitete Max Unbehagen, wie der Gruppenführer nun schon seit geraumer Zeit beinahe apathisch mit seiner geladenen P.38 Pistole hantierte. Eine Apathie, die nur unterbrochen wurde, wenn er Max und Konstantin mit verbitterten Blicken durchbohrte. Selbst Hagerstedt schien das nicht zu gefallen. Denn er sagte nach einer Weile betont spaßig: „Mensch, Otto. Steck mal die Spritze wieder weg. Sonst geht das Ding noch los.“

„Und?“, brummte Karlitz, ohne sich die Mühe zu machen, aufzublicken.

„Du willst dir doch nicht selber den Sack abschießen. Oder deine Kameraden verletzen.“ Er stupste Karlitz freundschaftlich an. „Stimmt's, Schmeling?“ Sofort gefror ihm sein Lächeln auf den Lippen ein, als er erkannte, dass sein Witz über Karlitz' lädiertes Gesicht ein Rohrkrepierer war.

„Unser toller Gruppenführer will doch nur angeben, weil er jetzt mit seiner Knarre Scheiß machen kann, obwohl er uns wegen jeder Kleinigkeit anmault“, ätzte Stahl von der anderen Seite des Durchgangs. Karlitz richtete die Pistole auf Stahl und grinste diabolisch, als er „Bumm“ zischte.

„Dummer Spinner“, schimpfte Stahl; und Baier hielt seine Hand fest, als Stahl nach seinem Karabiner greifen wollte.

Karlitz knurrte: „Pass auf, wie du mit deinem Vorgesetzten redest.“

„Oder dir geht es wie dem Papentin“, fügte Konstantin humorlos lächelnd an. Ein Satz wie eine Ohrfeige. Karlitz fuchtelte mit der Pistole in Konstantins Richtung. „Du bist der Erste, dem eine Kugel in den Kopf gehört, Wüstrach.“

„Otto...“, versuchte Hagerstedt ihn zu beruhigen, aber Karlitz legte nach. „Glaubst du, ich weiß nicht, wer die verdammten Schwulen hier sind? Du und der!“, rief er und zeigte auf Konstantin und Max. „Und ihr werdet verrecken.“

Hubert zog seinen Karabiner an sich, und Stahl tat es ihm im nächsten Moment gleich. Doch als sich andere Soldaten nach ihnen umdrehten, nahm Karlitz zu Max' Erleichterung seine Pistole wieder runter.

Ein kurzer Augenblick des Durchatmens. Dann schimpfte Hubert: „Lüg dir nicht die Hucke voll. Du willst hier doch nur von deinen eigenen Schandtaten ablenken, wenn du so einen Scheiß laberst. Soll ich allen hier mal erzählen, was du gestern im Suff gesagt hast? Hä?“

Alle starrten gespannt auf Hubert und Karlitz. Max' Hand ging nun zu seinem Gewehr und eine seltsame Ruhe erfüllte ihn, im Bewusstsein, dass es jetzt zu einer Schießerei kommen würde. Einer Schießerei zwischen Kameraden. Karlitz' Daumen streichelte die Flügelsicherung seiner Pistole, die er noch auf seinem Oberschenkel liegen hatte. 'Jetzt knallt's', dachte Max. Aber das charakteristische Klacken blieb aus. Mit einem überheblichen Grinsen steckte Karlitz die Waffe weg, und die Gesichtszüge aller anderen Kameraden entspannten sich.

„Gut, Otto“, raunte Hagerstedt, und Karlitz verzog sich wieder in sein Schneckenhaus.

Während der nächsten Zeit kam Max die gute Stimmung, die in Huberts Sitzgruppe herrschte, sehr künstlich vor. Konstantin schaute zwar wieder auf eine Art aus dem Fenster, als hätte ihn dieses unschöne Zwischenspiel kalt gelassen, aber das Zittern, das Max an dessen Bein fühlte, bewies ihm das Gegenteil. Wieder verging einige Zeit. Sie hatten Speyer, wo der Zug einen Zwischenhalt gemacht hatte, hinter sich gelassen und schaukelten durch die Ebenen der Rheinpfalz, als Konstantin Max anrempelte. „Lass mich mal raus, ich muss mal an die Luft. Hier erstickt man ja.“

„Gut. Ich komme mit“, sagte Max, mit dem Gefühl, eher an der angespannten Atmosphäre als an der schlechten Luft ersticken zu müssen, und legte sein Gewehr zu Konstantins Gewehr auf den Sitz, nachdem er sich aufgerichtet hatte.

„Die Waffen bleiben am Mann!“, schnauzte Karlitz sie an. Konstantin verdrehte die Augen und reichte Max den Karabiner. Dann balancierten die beiden hintereinander durch den hin und her wiegenden Waggon. Kurz nach ihnen griff sich auch Hubert sein Gewehr und folgte den beiden. Es tat Max tatsächlich gut, als sie durch die Stirntür aus dem Tabakgestank hinaus auf die offene Plattform in die Sommerluft traten. Hubert schloss die Tür hinter ihnen und Max strich sich die Haare aus der Stirn, die ihm der Wind hinein wirbelte.

„Die Waffen bleiben am Mann!“, äffte Konstantin Karlitz nach und Hubert schrie gegen den Fahrtwind und das Klappern des Wagens an: „Dir würde es nichts schaden, wenn du dich mal zusammenreißt, Wüstrach. Wenn der Karlitz dir ein Widerspenstigkeits-Verfahren aufbrummt, geht’s dir an den Kragen. Und Max und mich ziehst du da auch noch mit rein.“

„Ach, den haben wir in der Hand mit seiner Schweinesau“, erwiderte Konstantin, aber Hubert tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Brust.

„Sei dir da nicht zu sicher. Der Karlitz ist eine hinterhältige Ratte. Wenn er die Gelegenheit wittert, sind wir alle dran. Vor allem ihr Zwei.“

Max traute sich gar nicht, nachzuhaken, aber Konstantin schon. „Und wieso ausgerechnet Max und ich?“

„Weil ihr es miteinander treibt, vielleicht?“

„Dummschwätzer“, brummte Max.

„Ich weiß das, und der Karlitz ahnt es zumindest. Hört auf mit eurem Getue. Ich hab's euch schon mal gesagt, aber ich bin ja für euch nur der Idiot! Wenn … wenn ich mit der Hand dazwischen ginge, würdet ihr mir sogar zwischen den Fingern durchmausen! Ihr ...“

Max rempelte Hubert an, der gerade dabei war, sich in Rage zu reden, und Hubert stockte sofort, als er durch das Fenster der Stirntür sah, wie Karlitz durch den Mittelgang schwankte und direkt auf sie zukam. „Was will der jetzt schon wieder“, brummte Konstantin.

Max wollte etwas sagen, aber dazu kam er nicht. Donnernder Motorenlärm übertönte auf einmal alles. Die Jungen rissen ihre Köpfe hoch und starrten in den blauen Himmel, wo sich jedoch nichts weiteres als der Rauch der Lokomotive wie ein pechschwarzer Kometenschweif abzeichnete. Trotzdem wusste Max sofort, was jetzt passieren würde, und fast im selben Moment gab es einen markerschütternden Knall. Unter heftigem Schlingern und dem darauf folgenden Kreischen von Metall sprangen die Wagenachse aus den Schienen. Energisch stieß Hubert sowohl Konstantin als auch Max von der Plattform. Um ein Haar hätte die Mündung seines eigenen Gewehrs Max ein Auge ausgestochen, als er auf den Schotter prallte und dann den Bahndamm hinunterstürzte. Ein Schatten verdunkelte für den Bruchteil einer Sekunde den Himmel, dann fegte die Druckwelle einer fürchterlichen Explosion über Max hinweg.

„He!“, hörte er Huberts Stimme von irgendwoher rufen. Über ihm dröhnten Propeller. Maschinengewehre ratterten. Die Explosion einer weiteren Granate zerriss ihm fast das Trommelfell. Nur nebensächlich registrierte Max die Schmerzen, die ihn geiselten, als er auf allen Vieren ungeschützt auf das Gestrüpp zukrabbelte, wo sich Hubert und Konstantin Augenblicke vor ihm verschanzt hatten. Max warf sich in die Brennnessel an der Vorderseite des Gestrüpps neben Hubert, und als er seinen Karabiner anlegte, bekam er die Ausmaße des Tieffliegerangriffs zu Gesicht. Der Zug war entgleist und Bomben und Granaten hatten ihn binnen Sekunden zu einer Todesfalle gemacht. Der Waggon, von dessen Plattform sie gerade gesprungen waren, hatte einen Volltreffer erlitten und war aufgerissen wie eine Sardinenbüchse. Über ihnen kreisten drei Jagdbomber – Gabelschwanzteufel, wie Max zu erkennen glaubte – wie ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen und nahmen die Soldaten ins Visier, die versuchten, sich aus den Trümmern zu retten. Wie aus dem Nichts kamen Karlitz und ein anderer Soldat, den Max nicht kannte, Schulter an Schulter über die 20 Meter breite Grasfläche gerannt, über die Max gerade gekrabbelt war. „Hier her!“, riefen Hubert, Max und Konstantin durcheinander ihren Kameraden zu. Ein Jagdbomber zog nur wenige Meter über dem Boden über das Wrack des Zuges hinweg, und während Max, Konstantin und Hubert mit ihren Karabinern ohne Wirkung Löcher in die Luft schossen, hämmerte die Maschinengewehrsalve des Bombers Krater in den havarierten Waggon; Schottersteine barsten, Grasfetzen peitschten in die Luft und Karlitz und der andere Soldat verrenkten synchron ihre Körper und fielen zu Boden.

Max sah die Einschläge der Kugeln mit einer ungeheuerlichen Geschwindigkeit direkt auf sich zukommen. Immer näher. Er schloss die Augen, mit der Gewissheit, dass es nun um ihn geschehen wäre. Dreck und kleine Steinchen prasselten ihm ins Gesicht. Dann hörte es auf. Die Propeller der Lightning dröhnten tief, als sie abdrehte. Nach etwas mehr als einer Minute, nachdem Max und seine Freunde von der Plattform gesprungen waren, war der Angriff schon wieder vorbei. Der Zug war zerstört und viele der Kameraden tot.

Erst jetzt, als Max sich aufrichtete, übermannten ihn die Schmerzen wegen des Sturzes vom fahrenden Zug und das fast ebenso unerträgliche Jucken wegen der Brennnessel. Sein Bein wollte im ersten Moment nachgeben und Max glaubte, es wäre gebrochen. Aber nach dem ersten Schock ließ das Stechen nach und Max konnte es belasten. Hubert und Konstantin taten es ihm gleich. Unsicher sahen sie zum Himmel. Doch der war blau und leer, als hätte es die Jäger nie gegeben. Im Gänsemarsch gingen sie zu den beiden Kameraden, die nebeneinander im Gras lagen. Den Unbekannten hatte es beinahe in zwei Hälften zerrissen und die leblosen Augen starrten gen Himmel. Karlitz' leises Wimmern war in den aufkommenden Schreien der Verwundeten und Helfer kaum zu hören. Seine Uniformweste war an der rechten Flanke blutgetränkt. „Haut ab ... Schweine“, keuchte er tonlos, als Konstantin sich hinter ihn kniete und seinen Kopf auf den Schoß legte. Max drückte seine Hand auf die klaffende Wunde, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, und Huberts Stimme überschlug sich, als er den Kopf in alle Richtungen drehte und wieder und wieder nach Hilfe schrie. Es kam Max wie eine Ewigkeit vor, doch dauerte es wohl nur wenige Minuten, bis andere Unversehrte mit Sanitätstaschen kamen, um ihnen zu helfen, Karlitz' Leben zu retten.

Lesemodus deaktivieren (?)