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Mein bester Feind

Teil 3

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Obwohl ich, wie so häufig in dieser Woche, auch in der Nacht von Freitag auf Samstag wegen meiner nächtlichen Tour zu wenig Schlaf abbekommen hatte, war ich schon um kurz nach neun Uhr auf den Beinen. Mama und Papa, die gerade frühstückten, wunderten sich darüber nicht schlecht. Denn üblicherweise stand ich an Wochenenden eher zwischen Elf und Zwölf auf, wenn mich der Hunger aus dem Bett trieb.

„Das trifft sich ja gut, dass du schon wach bist“, begrüßte mich mein Vater mit der Kaffeetasse in der Hand. „Wie wäre es, wenn wir heute noch dein Zimmer streichen?“

„Hmmm, das ist schlecht“, grummelte ich. „Ich hab für heute schon etwas mit Nils abgemacht. Wir wollen mit seinen Eltern nach Stuttgart in die Wilhelma fahren. Ich glaube, sein Bruder geht auch mit.“

Papa schaute mich mürrisch an, weil ich gerade seinen Plan durchkreuzt hatte, bei dem er es nicht für nötig gehalten hatte, sich rechtzeitig mit mir abzustimmen.

Dafür schien Mama die Idee zu gefallen: „Das klingt ja schön. Nils scheint nette Eltern zu haben.“

„Nicht so nett, wie meine Eltern“, schmeichelte ich und meine Charme-Offensive zeigte Wirkung.

Selbst Papa musste grinsen: „Du kleiner Schleimer... Aber wenn du dich mit Nils so gut verstehst, könnten unsere Familien ja auch einmal gemeinsam etwas unternehmen.“

„Ich schlage es ihnen später vor“, log ich, denn schon alleine beim Gedanken daran sträubten sich mir die Nackenhaare. Ich aß noch eine halbe Zimtschnecke, den Rest steckte ich gemeinsam mit einer Mineralwasserflasche in meinen Rucksack. Dann machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof, bevor Papa auf die Idee kommen konnte, mich doch noch fürs Streichen einzuspannen.

 

Die zweistündige Fahrt, erst mit einem urigen Schienenbus, der nicht so richtig ins 21. Jahrhundert passte, nach Schelklingen, von dort nach Ulm und weiter nach Göppingen, war zwar entspannend, aber auch ein bisschen langatmig. Doch damit, was mich in den folgenden Stunden erwarten sollte, hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich sollte eine Stadt im Ausnahmezustand erleben. Schon, als der Zug im Bahnhof einrollte und gleich am Bahnsteig dick gepanzerte Polizeigruppen bereit standen, um die Neuankömmlinge zu sortieren und zu filzen, bekam ich eine Ahnung, dass die nächsten Stunden ungemütlich werden konnten.

„Was willst du hier?“, fragte mich ein Polizist barsch auf dem Weg zur Bahnhofshalle, während er meinen Rucksack checkte, in dem sich aber nur noch Mineralwasser und eine Packung Mentos befanden.

„Meine Tante besuchen“, antwortete ich etwas bockig, weil mich die Prozedur nervte.

Zumindest kam ich danach problemlos in die Bahnhofshalle und aus dem Bahnhof hinaus, wo es auf dem Vorplatz auch von Polizisten, teils sogar auf Pferden, wimmelte. Von Rechtsradikalen war hier jedoch weit und breit nichts zu sehen. Dafür war der Bahnhofsvorplatz und die Strecke zur Innenstadt von Gegendemonstranten bevölkert. Die meisten waren 'Normalos' in jeder Altersgruppe. Von Jugendlichen bis zum Rentner-Ehepaar, die es sich nicht bieten lassen wollten, dass dieses schöne Städtchen von Neonazis in Beschlag genommen wurde.

Aber andere, die zum Teil ganz in schwarz gekleidet waren, waren offensichtlich auf Krawall gebürstet. Sie hatten sich Halstücher und Schals um den Hals gebunden, die sie zum vermummen nur noch hochziehen mussten und legten eine klare Grund-Aggressivität an den Tag. Ich vermutete, dass es sich dabei um Teile der linksradikalen Szene handelte. Es wurden schon um diese Zeit Polizisten beschimpft und Flaschen geworfen. Ab und zu war von irgendwoher das Knallen von Böllern zu hören, aber im Großen und Ganzen herrschte noch so etwas ähnliches wie eine Volksfeststimmung.

Ich ging nun durch die Marktstraße, einem Teil der Fußgängerzone, die mit ihrer Breite und den Bäumen, die in regelmäßig Abständen gepflanzt waren, an normalen Tagen wohl zumindest einigermaßen idyllisch wirkte. Aber heute war für Idylle zu viel Trubel und die Stimmung schien mit jedem Schritt, den ich weiter ging, aufgeheizter zu werden. Die Böller-Schläge kamen nun näher. Ein Grüppchen Vermummter hetzte durch die Straße und verschwand Momente später wieder aus meinem Sichtfeld, während ihnen die Leute um mich herum nervös lachend hinterher schauten. Keine Ahnung, ob sie vor Polizisten flüchteten oder gerade im Angriffsmodus waren.

Kurz vor dem Marktplatz kam ich bei einem Straßenhändler vorbei, der T-Shirts, Schals und Flaggen mit antirassistischen Sprüchen und Motiven verkaufte, deren Aufdrucke teilweise ziemlich witzig waren.

'Vielleicht hole ich mir auch ein Shirt', dachte ich mir, während ich gemeinsam mit anderen stöberte. Und ich wurde tatsächlich fündig. Das T-Shirt war zwar eigentlich für Frauen gedacht, aber es passte einfach zu perfekt zur Situation zwischen Nils und mir, als dass ich die Finger davon lassen konnte und ich war mir sicher, dass Nils den Humor verstehen würde. Ein schwarzes Shirt mit fettem weißen Aufdruck: KEIN SEX FÜR NAZIS.

Vorerst packte ich das Shirt zwar in meinen Rucksack, denn ich muss zugeben, dass mir das selbst ein bisschen peinlich war. Aber ich nahm mir vor, mich so am Rand der Proteststrecke zu positionieren, dass Nils mich sehen konnte, wenn er mit dem Aufmarsch vorbeikam. Doch dieses Vorhaben schien zum Scheitern verurteilt. Denn am Marktplatz war eine Polizeiabsperrung errichtet und dahinter waren mobile Sichtschutzwände aufgestellt, um die Gruppierungen voneinander zu trennen. Ich schaute mich um, aber es schien nirgends ein durchkommen zu geben.

Hier, an der Absperrung, begann die Lage auch immer mehr zu eskalieren. Vermummte Linksradikale griffen die Polizisten mit immer größeren Gruppen an und bewarfen die mit Schutzanzug gepanzerten Polizisten mit Flaschen, Holzlatten und Feuerwerkskörpern. Als Antwort setzte die Staatsmacht Tränengas und sogar Schlagstöcke ein. Man hörte Leute schreien, Glas zerspringen und irgendwo weiter hinten redete auf einer Gegenkundgebung ein Gewerkschaftssprecher zu seinen Zuhörern. Zersplitterte Gruppen des linksextremen schwarzen Blocks sammelten sich wieder und setzten erneut zum Angriff auf die Polizisten an. Dieses Mal hatten sie sich an einer nahen Baustelle mit faustgroßen Steinen eingedeckt.

Ich selbst hatte genug gesehen und bekam auch Angst um meine eigene Gesundheit. Ich gab meinen Plan auf, direkt an die Wegstrecke der Nazis zu kommen und entfernte mich von der Absperrung. Dafür ging ich zur Gegenkundgebung, wo eine kleine Bühne aufgebaut war, vor der sich die zivilisierten Protestler versammelt hatten und einer flammenden Rede gegen Fremdenfeindlichkeit zuhörten und zujubelten. Ich stellte mich dazu und gab meinem Puls endlich wieder Gelegenheit, sich zu beruhigen.

Der Platz vor der Bühne war zwar gut gefüllt mit hunderten von Menschen, aber die waren nicht dicht gedrängt, so dass man sich einigermaßen wohl fühlen konnte. Neben mir stand eine kleine alte Frau, die ich auf deutlich über 70 schätzte und die mir nur etwa bis zur Schulter reichte. Sie machte aber einen resoluten Eindruck, wie sie mit energischem Blick zum Redner hochschaute und immer wieder Applaus klatschte, obwohl sie in der rechten Hand eine Rossmann-Einkaufstüte trug, die beim Klatschen wild geschüttelt wurde. Zuerst trafen sich nur immer wieder unsere Blicke. Ich lächelte zu ihr herab, sie lächelte zu mir hoch, wir nickten uns zustimmend zu, wenn der Redner etwas sagte, das wir beide für gut hielten und nach einiger Zeit sprach sie mich an.

„Kommen Sie auch aus Göppingen?“

„Nein. Aus Münsingen.“

Ich hätte nicht geglaubt, dass die Dame überhaupt wusste, wo das liegt, aber ihre Augen strahlten das Gegenteil aus: „Oh. Da hatten Sie ja eine weite Anreise.“

„Ja“, antwortete ich mit einem Hauch Stolz in der Stimme. „Mit der Bahn waren das mehr als zwei Stunden.“

Die alte Dame musste nun zwar schreien, um den Redner und die zustimmenden Rufe um uns herum zu überbieten, aber ihre Stimme war dafür kräftig genug: „Das ist schon eine Schande, dass diese Nazis ausgerechnet in unserer Stadt wieder marschieren dürfen. Ich bin übrigens Hedwig.“

Sie streckte mir die Hand entgegen und ich nahm den überraschend festen Händedruck an: „Miguel“, stellte ich mich vor. „Ein Klassenkamerad von mir marschiert bei denen mit. Ich wollte mich eigentlich direkt an der Strecke aufstellen, um ihm meinen Protest zu zeigen. Aber da gibt es leider kein Durchkommen.“

Hedwigs Blick ließ erkennen, dass sie von meinem Engagement beeindruckt war. Sie klopfte mir mit ihrer Einkaufstüte an den Ellbogen: „Komm mit. Vielleicht schaffen wir es ja doch, Michel.“

„Miguel“, berichtigte ich sie, aber Hedwig drückte sich schon durch die Menschen hindurch und ich sputete mich, ihr zu folgen.

„Weißt du, Michel?“

„Miguel...“

„Ich habe vor siebzig Jahren erleben müssen, wie die Nazis hier marschiert sind und ihr Unwesen getrieben haben. Es ist schrecklich, dass es heute wieder soweit ist.“

Ich nickte betreten und versuchte mir auszumalen, wie sich an so einem Tag jemand fühlen musste, der die Gräuel des Dritten Reichs wirklich miterlebt hatte.

„Wann sind Sie geboren?“

„1935. Und wenn du noch einmal 'Sie' zu mir sagst, trete ich dir in den Hintern.“

„Aye aye, Hedwig“, sagte ich übertrieben stramm und Hedwig schaute ironisch lachend zu mir hoch, während sie mich zügigen Schrittes ein Stück weit aus dem Hexenkessel der Innenstadt herausführte.

Ich glaubte zwar nicht, dass wir noch in der Nähe der Marschroute waren, aber trotzdem kamen wir nach ein paar Minuten an eine Polizeiabsperrung, die jedoch weit abseits des Trubels war. Vier Polizisten standen dort und langweilten sich. Sobald wir in Sichtweite der Absperrung gekommen waren, ging etwas sonderbares mit Hedwig vor sich. Sie drückte mir ihre Rossmann-Tüte in die Hand, sackte in sich zusammen, weil ihr Körper jegliche Körperspannung verlor und gebeugt wie ein altes Mütterchen schlurfte sie auf die Polizisten zu. Ehe ich den Plan checkte, hatte sie sich schon bei mir eingehakt und hing nun schwer an meinem Arm, während wir im Schneckentempo auf die Polizeiabsperrung zu trotteten.

„Sind Sie Anwohner?“, fragte uns einer der Polizisten in einem fast schon entschuldigenden Tonfall, nachdem wir angekommen waren.

Es kostete mich jetzt Mühe nicht zu lachen. Denn Hedwigs Stimme klang nun auf eine mitleiderregende Weise dünn und gebrechlich: „Ja. Und das ist mein Nachbarjunge Michel. Er ist so ein netter Junge und hilft mir immer beim einkaufen.“

Der Polizeibeamte warf mir nur einen anerkennenden Blick zu und schob das Gitter ein Stück zur Seite, so dass ich mit Omi... Pardon... mit Hedwig die Absperrung passieren konnte.

„Das war ja einfach“, lästerte Hedwig, als wir außer Sichtweite der Polizisten gekommen waren.

Jetzt konnte ich endlich offen lachen: „Naja, die kommen vielleicht mit Randalierer und Chaoten gut zurecht. Aber einer Schummel-Omi sind sie nicht gewachsen.“

Hedwig schaute mich verschmitzt an: „Das war doch noch harmlos, Michel. Du solltest mich mal beim Canasta-Abend erleben.“

„Lieber nicht. Weißt du eigentlich, wo wir hin müssen?“

Hedwig wusste es. Sie führte mich durch kleine Gässchen eines Wohngebiets, wo es dank der Absperrungen ruhig zuging. Es war wohl so etwas wie eine Pufferzone, die verhindern sollte, dass Rechte und Linke überhaupt aufeinander treffen konnten.

Aber auch hier lag die Spannung fast schon stofflich in der Luft. Die Leute, denen wir begegneten, wirkten alle angespannt. Von weit hinten war von der Bühne, vor der ich Hedwig begegnet war, nun Musik zu hören, weil dort scheinbar eine Band spielte. Das ferne Explodieren von Feuerwerkskörpern war inzwischen viel häufiger, als am früheren Vormittag und das alles war unterlegt vom stetigen Heulen von Martinshörnern und dem Rattern eines Polizeihubschraubers, der in der Luft kreiste.

Meine gewiefte Begleiterin legte tatsächlich ein Insider-Wissen an den Tag, das hier nur wenige hatten. Wir kamen von hinten an eine kleine Wiesenfläche zwischen zwei Bürogebäuden, die zur Straße hin abfiel, auf der die Nazi-Demonstration stattfinden sollte. Hier hatte sich schon ein kleiner Haufen Schaulustiger beinahe picknick-mäßig mit Decken, Snacks und teilweise auch Dosenbier eingerichtet. Ich schätzte, dass es sich zum allergrößten Teil um Anwohner des Wohngebiets handelte. Auch Hedwig und ich setzten uns auf dieser Wiese ins Gras. Es war der perfekte Platz, um die Demo zu beobachten und vielleicht sogar von Nils gesehen zu werden. Wir waren etwas oberhalb der Straße, knappe zwanzig oder dreißig Meter entfernt, und nur provisorisch aufgestellte Barrieren trennten uns davon.

Als es dann losging, war die Nazi-Bande, die ihren Aufmarsch in der Nähe des Bahnhofs startete, schon von Weitem zu hören. Stumpfe Parolen, die an Widerwärtigkeit nicht zu überbieten waren, wurden teilweise aus Megaphonen gekrächzt oder waren einfach dumpfes Gegröle. Man merkte, wie auch hier bei uns auf der Wiese die Stimmung in eine Art trotzigen Widerstand umschlug, von dem auch ich mich anstecken ließ. Ich zog mir nun mein 'KEIN SEX MIT NAZIS' T-Shirt über den Pulli und erntete von den Leuten um mich herum anerkennendes Gelächter.

Auch Hedwig sagte trocken: „Da hast du recht. Das Lumpenpack soll sich nur nicht weiter vermehren.“

Ich nickte nur grinsend. Den tieferen Sinn behielt ich lieber für mich.

Die Nazis waren zwar noch nicht zu sehen, aber sie kamen immer näher. Die Skandierungen des Mobs, der sich in seinen Rufen selbst als 'Nationaler Widerstand' bezeichnete, wurden besser verständlich und damit auch immer verabscheuungswürdiger. Als dann der Pöbel um eine Kurve in unser Sichtfeld kam, bezweifelte ich im ersten Augenblick, dass ich für Nils jemals wieder Sympathien empfinden konnte. Es war eine widerliche und furchteinflößende Meute, die da die Geislinger Straße entlang auf uns zukam. Eingekeilt von Polizisten in schwerer Montur marschierte eine Gruppe aus etwa 150 zumeist in schwarz gekleideter hassverzerrter Fratzen. Die Männer in der vordersten Reihe hielten Banner mit Aufschriften, die ich hier nie und nimmer zitieren möchte und im Pulk wurden Schwarz-Weiß-Rote Fahnen geschwungen.

In diesen Momenten hielt ich das Konzept der Einsatzkräfte für einen genialen Schachzug. Die Strecke war nämlich so abgeriegelt, dass der Aufmarsch bis auf ein paar Anwohner, die das Pack oft aus den offenen Fenstern heraus beschimpften, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Es war wohl die beste Idee und für die Nazis am schmerzhaften, wenn man ihnen einfach keine Bühne bot.

Als der Pulk der Rechtsradikalen an unserer kleinen Wiese vorbei kam, ging es auch bei uns ab. Die Leute um mich herum schrien Beschimpfungen, viele der Nazis schimpften zurück und machten aggressive und drohende Gesten. Einer versuchte sogar das Polizei-Spalier zu durchbrechen, wurde aber rüde zurückgestoßen. Hedwig pfiff neben mir mit den Fingern im Mund die Rechten aus und ich suchte die Gruppe nach Nils ab.

Das war gar nicht so leicht. Viele trugen Kapuzenpullis mit über den Kopf gezogenen Kapuzen oder Sonnenbrillen oder beides. Und aus der schwarzen Masse heraus (schwarze Kleidung schien das Tagesmotto zu sein) war es irgendwie sowieso schwer, einzelne Gesichter auszumachen. Ich hatte auch eine verzweifelte Hoffnung, dass er vielleicht gar nicht dabei sein könnte, aber diese Hoffnung wurde schon bald zerschlagen.

Da war er nämlich. Nils trug blank polierte Springerstiefel, eine enge hochgeschlagene Jeans und eine schwarzes Sweat-Shirt mit der Aufschrift 'Thor Steinar Legion', einer hundertprozentigen Neonazi-Marke. Ich hätte Nils für diesen Auftritt in diesem menschenhassenden Haufen eigentlich verachten können. Aber seine Augen verhinderte das. Alle der 'Autonomen Nationalisten' standen unter Strom. Die einen brüllten ihre Parolen, andere legten sich mit uns Zuschauern an oder mit den Polizisten, die sie eskortierten, wieder andere putschten sich gegenseitig hoch. Nur Nils trottete mit leerem und irgendwie verlorenen Blick dazwischen. Wie jemand, der gerne irgendwo anders wäre, nur nicht hier. Auf einmal tat er mir eher leid, denn ich wusste, dass dieses geistlose asoziale Gebrüll so gar nicht seine Welt war. Ich versuchte auch herauszufinden, wer sein Bruder und sein Vater sein konnte, aber die Leute um ihn herum sahen alle ziemlich gleich aus. Ich konnte nur mutmaßen.

Ich hatte gar nicht richtig daran geglaubt, dass Nils mich finden würde. Ich stand ja nicht direkt an der Absperrung und Nils hatte die ganze Zeit seine Augen stur auf den Boden vor seinen Füßen gerichtet. Doch auf einmal schwenkte sein Kopf unsere Wiese ab und plötzlich kreuzten sich unsere Blicke. Aus Nils' Gesicht schien auf einmal alle Farbe zu entweichen. Verschämt bis unter die Haarwurzeln und genauso erschrocken schaute er mir in die Augen. Doch als Nächstes schien er den Aufdruck auf meinem T-Shirt zu lesen, denn ein zaghaftes Grinsen huschte durch sein Gesicht, das ich erwiderte. Nils Hand ging zu seiner Hosentasche. Dort zog er bis zur Hälfte einen Gegenstand heraus, den ich sofort als sein Smartphone ausmachen konnte. Dann ließ er es wieder zurück rutschen und zeigte mit einer unauffälligen Geste mit der Hand in Hüfthöhe mit dem Zeigefinger erst auf sich, dann auf mich. Sekunden später war er schon wieder aus meinem Blickfeld entwichen. Was andere vielleicht als unterschwellige Drohung hätten deuten können, legte ich als 'Ich melde mich später bei dir' aus.

Hedwig war der Blickkontakt auch nicht entgangen: „War das dein Klassenkamerad?“

„Ja. Das war Nils“, stammelte ich den Tränen nahe. Denn die Gefühle und Emotionen wollten mich gerade übermannen.

„Der sah aber nicht so aus, als wenn er sich dort wohl gefühlt hätte“, meinte Hedwig und ich konnte einfach nicht anders, als ihr mein Herz auszuschütten.

„Nils will ja aussteigen. Aber seine ganze Familie steckt da mit drin. Das ist, wie wenn er in einer Sekte wäre. Ich würde ihm ja gerne helfen. Hab aber keine Ahnung, ob ich... ob wir das schaffen.“

„Ihr müsst das schaffen und ich glaube, ihr schafft das auch. Du willst ihn doch nicht etwa denen überlassen“, mahnte mich Hedwig eindringlich.

„Nein. Natürlich nicht.“

„Na also. Du kannst mich ja auf dem Laufenden halten. Vielleicht hat eine verschlagene Großmutter, wie ich, ja noch ein paar gute Ratschläge für euch in der Hinterhand.“

Ich musste trotz meiner Niedergeschlagenheit lächeln: „Darauf würde ich wetten. Du kannst mir ja deine Telefonnummer geben.“

„Natürlich. Oder bist du vielleicht bei Facebook?“

„Ja“, lachte ich, weil ich es für einen Witz hielt. Aber Hedwig zog tatsächlich einen Kugelschreiber und einen Zettel aus ihrer Tasche und schrieb mir ihren Facebook-Profilnamen auf.

 

Es war schon seltsam, wie gut ich mich mit Hedwig trotz eines Altersunterschied von stolzen 62 Jahren verstand. Wir saßen noch eine Weile im Gras, als alle anderen schon gegangen waren, einfach um zu quatschen. Eine gute dreiviertel Stunde, nachdem ich Nils beim Aufmarsch entdeckt hatte, summte mein Smartphone. Nils rief mich an.

„Hallo, Nils“, sagte ich mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme in mein Handy.

Nils Stimme klang hörbar nervös und gehetzt: „Hey Miguel. Ich hab's geschafft, aus dem Polizeikessel rauszukommen. Können wir uns treffen?“

Ich ließ mich von Nils' Nervosität anstecken und Hedwig warf mir einen besorgten Blick zu, weil meine Stimme ebenfalls einen angespannten Unterton hatte: „Ja klar. Wo bist du?“

Kurze Pause, in der ich mir vorstellte, wie Nils sich gerade umschaute: „Mörkestraße. Da ist eine Pizzeria Toskana.“

Ich fragte nun Hedwig: „Kennst du eine Pizzeria Toskana?“

„Ja. Die ist nur fünf Minuten von hier.“

Ich war erleichtert und sagte zu Nils ins Telefon: „Okay. Ich bin in fünf Minuten bei dir.“

„Super.“

„Und Nils?“

„Ja?“

„Pass auf dich auf.“

„Was du nicht sagst“, antwortete Nils mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme. Wir waren uns bestimmt beide darüber bewusst, in welcher Gefahr er sich mit seinem Outfit befand. Ich hoffte zwar, dass er sich immer noch im abgesperrten Bereich befand und zumindest vor den Linksradikalen in Sicherheit war, die sich, wie ich später erfahren sollte, weniger als einen Kilometer entfernt zu diesem Zeitpunkt eine heftige Straßenschlacht mit der Polizei lieferten. Aber ich schätzte, dass ihm auch einige der Anwohner hier im Sperrgebiet gefährlich werden konnten.

Deswegen ließ ich mir von Hedwig eine Wegbeschreibung geben, die wirklich einfach klang, dann fiel der Abschied von ihr leider viel kürzer aus, als es mir recht war. Ich versicherte ihr, mich bald zu melden, dann nahm ich meine Beine in die Hand. Glücklicherweise war der Weg wirklich leicht zu finden. Ich musste nur zweimal um eine Kurve biegen, danach sah ich schon das Straßenschild mit der Aufschrift 'Mörkestraße' und keine Minute später auch das Restaurant-Schild 'Toskana' an der Fassade eines Hauses auf der rechten Straßenseite. Nur von Nils war nichts zu sehen. Unruhig ging ich auf die Pizzeria, die augenscheinlich geschlossen war, zu. In meinem Kopf spielten sich Horrorbilder ab, wie Nils vielleicht von der Straße gezogen und vermöbelt worden war. An diesem Tag wäre hier nämlich alles vorstellbar gewesen.

Aber als ich mich erfolglos in alle Richtungen gedreht hatte und mir schon überlegte, ob ich testen solle, ob die Pizzeria offen ist, hörte ich hinter mir einen gezischten Pfiff. Als ich mich umdrehte, sah ich Nils, der sich hinter einem Gebüsch versteckt hatte, auf mich zukommen. Er ging etwas schwerfällig, wahrscheinlich wegen der geprellten Rippe, hatte aber ein spitzbübisches Grinsen im Gesicht.

„Mann Miguel... Ich hab dir doch gesagt, dass du zu Hause bleiben sollst.“

„Na, die Show wollte ich mir doch nicht entgehen lassen.“ Ich musterte Nils in seinem Outfit demonstrativ von Kopf bis Fuß. „Du siehst echt scheiße aus, Alter.“

Nils schaute auf mein T-Shirt: „Und du...“

„Ja?“

„Witziges T-Shirt.“

Ich musste lachen: „Danke.“

Nils nickte mit dem Kopf zur Staffel vor der Tür der Pizzeria: „Setzen wir uns da hin?“

„Ja.“

Gemeinsam gingen wir die paar Schritte und da fiel mir wieder Nils' Gang auf, der noch unrunder war, als ich ihn von der Nacht in Erinnerung hatte: „Deine Rippe scheint dir ziemliche Probleme zu machen.“

„Nee, die Rippe ist meine kleinste Sorge. Da hab ich vorhin noch zwei Ibuprofen genommen, das ist jetzt okay.“ Jetzt zeigte sich wieder das liebenswert-freche Grinsen auf seinen Lippen: „Vorhin haben ein paar Leute von uns Theater gemacht und das war dann für mich die Chance, zwischen den Polizisten durchzuschlüpfen. Das hat zwar geklappt, aber zum Abschied hat mir noch einer seinen Knüppel über den Rücken gezogen.“

„Oh je“, sagte ich nur. Im ersten Moment wunderte es mich zwar, dass Nils von den Polizisten nicht verfolgt worden war. Aber ich schätzte, ein relativ kleiner und schmächtiger Fascho, der nun auf sich gestellt war, war an diesem Tag noch das geringste Sicherheitsproblem.

Wir setzten uns nun auf die Staffel und Nils atmete neben mir schwer. Er zückte sein Smartphone und schaltete es aus.

„Was machst du da?“, fragte ich ihn.

„Damit ich für Papa und Torsten nicht mehr erreichbar bin. Ich hab mir schon meine Ausrede zurechtgelegt: Ich bin da also durch die Bullen-Kette getürmt, weil ich von außen provoziert wurde und dann haben sie mich nicht mehr zurück gelassen. Wohl oder übel musste ich durch Göppingen irren und bin dann den Linken in die Hände gefallen, die mir unter anderem das Handy abgezockt haben. Wie klingt das?“

„Klingt gut“, sagte ich und dachte: 'Da brauchst du viel Glück, um mit dieser fadenscheinigen Ausrede durchzukommen.'

Nils schien meine Gedanken in meinen Augen abgelesen zu haben: „Prügel bekomme ich schon alleine dafür, dass ich abgehauen bin. Auf eine Ohrfeige mehr oder weniger kommt es da auch nicht an.“ Jetzt zeichnete sich wieder ein zaghaftes, aber sehr schönes Lächeln in Nils' kummervollem Gesicht. „Und wenn Mama und Papa denken, mein Handy wäre geklaut, können sie es mir heute Abend nicht wieder abnehmen. Ich verstecke es unter meiner Matratze und wir können in Kontakt bleiben.“

Ich versuchte mitzulächeln. Doch obwohl ich diese Idee für gut hielt, gelang es mir nicht ganz.

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon drei, vier Zuschauer, die uns aus sicherer Entfernung betrachteten. Ein Wunder war das nicht. Wir bildeten schon ein skurriles Duo: Ein Junge mit südländischem Teint, längeren Haaren, die nach den Aufregungen des Tages ein bisschen zottelig waren und einem Anti-Nazi-Shirt, der sich einträchtig und gedankenverloren mit einem Neonazi mit Thor-Steinar-Pulli und Springerstiefel unterhielt. So einen Anblick bekommt man sicher auch nicht alle Tage. Zumindest ließen wir uns dadurch nicht stören, denn die Leute sahen normal und ungefährlich aus.

„Das tut mir leid, was du daheim ertragen musst“, sagte ich. Mich gruselte alleine die Vorstellung daran, wie es sein musste, wenn man fast täglich mit häuslicher Gewalt konfrontiert war. Ich drückte Nils vorsichtig genug an mich, um ihm nicht wehzutun. „So langsam müssen wir echt einen Weg finden, wie du aus all dieser Scheiße rauskommst.“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich das täte. Seit Papa mit diesen Autonomen Nationalisten zu tun hat, wird er immer radikaler und zu Hause wird es auch immer unerträglicher. Hast du die Leute gesehen, die da mitgelaufen sind? Mit so einem Pack hätte er sich vor zwei Jahren noch gar nicht abgegeben. Und jetzt zieht er mich da sogar noch mit rein.“

Ich hätte gerne einen brauchbaren Vorschlag gemacht. Aber ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Hätte es sich um Nils' Freundeskreis gehandelt, wäre es ja leicht gewesen, 'Such dir neue Freunde' zu sagen. Aber das hier war seine Familie. Und Nils war minderjährig. Nils schaute mir genauso hilflos in die Augen, wie ich mich fühlte. In seinen Augen glänzten unvergossene Tränen.

„Sollen wir gemeinsam durchbrennen?“, fragte ich, weil es das einzige war, was mir einfiel. Ich wusste selbst, dass es dumm war. Aber in diesem Moment wäre ich bereit gewesen, es zu tun.

Nils schüttelte nur mit einem sanften Lächeln langsam mit dem Kopf. Eine einzige Träne verließ nun sein Auge, verlief sich aber am Wangenknochen. Als wäre es selbstverständlich, näherten sich unsere Lippen und legten sich aufeinander. Ich war mir darüber bewusst, dass einer der Beobachter sein Smartphone gezogen hatte, um dieses unglaubliche Szenario als Bild festzuhalten. Aber weder Nils, noch ich ließen uns davon stören. Keiner von uns Beiden ahnte nur im Geringsten, wie heftig die Konsequenzen dieser Unachtsamkeit schon bald über uns hereinbrechen würden.

Nach dem Kuss saßen wir noch eine Weile schweigend und in uns selbst versunken auf dieser Staffel. Am Ende war es Nils, der zum Aufbruch drängte.

„Sollen wir schauen, wie wir nach Hause kommen?“

„Okay. Aber mit deinem Outfit überlebst du nicht mal den Weg bis zum Bahnhof“, sagte ich nachdenklich und musste dabei an die radikalen Linken denken, die Steine und Flaschen auf die Polizisten geschleudert hatten.

Nils Blick ließ erkennen, dass er mit mir eine Meinung war: „Hast du eine Idee?“

„Und ob.“

Mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht zog ich mir mein 'KEIN SEX FÜR NAZIS' T-Shirt, das ich immer noch über dem Pulli getragen hatte, über den Kopf und hielt es Nils hin. Ich hatte eigentlich mit Protest gerechnet, aber Nils schmunzelte nur dreckig mit mir und nahm mir mein T-Shirt ab. Er zog sich mein Shirt dann nicht einfach über seinen Thor-Steinar-Sweatshirt, sondern zog sich das hässliche Nazi-Teil aus und streifte sich das Anti-Nazi-T-Shirt über den nackten Oberkörper.

„Wenn das Papa sehen würde“, murmelte er. Aber Nils erweckte nicht den Eindruck, als ob ihm das leid tun würde. Stattdessen steckte er, nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, seinen Thor-Steinar-Pulli demonstrativ in einen Mülleimer am Straßenrand und verzog dabei mit einem 'Basta'-Ausdruck das Gesicht.

Ich musste lachen: „Lass mich raten: Bei deiner Ausrede haben dir den die Linken auch abgezogen.“

„Ganz genau“, lachte Nils mit.

„Ich bin echt stolz auf dich, Alter. Aus dir kann beinahe noch ein normaler Mensch werden.“

„Jetzt übertreib mal nicht.“

Bester Stimmung gingen wir nun weiter und näherten uns den Absperrungen. Aber ein paar Details wollte ich an Nils noch ändern, damit er die heiße Zone bis zum Bahnhof unbeschadet überstehen konnte.

„Bleib noch mal kurz stehen“, forderte ich ihn auf.

Nils hielt und schaute mich fragend an. Ohne zu antworten ging ich vor ihm in die Hocke und krempelte seine hochgeschlagenen Hosenbeine runter, damit die Springerstiefel nicht mehr so auffällig waren. Und zur Krönung holte ich meine Wasserflasche aus dem Rucksack und schüttete Nils einen ordentlichen Schluck Mineralwasser über die hart gescheitelten Haare, um das Gel herauszuwaschen. Ich zerwuschelte ihm die Frisur und das Ergebnis war genial. Mit den rasierten Schläfen, den chaotischen Oberhaaren und meinem T-Shirt sah Nils tatsächlich ein bisschen punkig aus.

„Boah... Sexy Boy“, lästerte ich nur halb ironisch.

„Wie sehe ich aus?“

Statt einer Personenbeschreibung zog ich mein Handy und fotografierte Nils. Gemeinsam betrachteten wir Sekunden später mein Display und lachten uns schlapp.

Wir verließen die abgesperrte Pufferzone an derselben Sperre, durch die wir gekommen waren. Der Polizist, der drei Stunden zuvor mich und Hedwig durchgelassen hatte, staunte nicht schlecht, als ich nun mit meinem Punkboy Nils herauskam. Sein Blick ließ erkennen, dass er sich an mich erinnerte und ich fühlte mich zu einem verlegenen: „Das ist mein Bruder“, hingerissen.

„Macht, dass ihr verschwindet“, raunzte er. Ihm war vielleicht gerade bewusst geworden, dass er möglicherweise von einem fast 80jährigen Großmütterchen übers Ohr gehauen wurde.

Der Weg zum Bahnhof verlief zwar problemlos, aber ich war schockiert über die Veränderungen. Es waren Scheiben an Läden und an parkenden Autos eingeworfen. Ein aufgehäufter Stapel verkohlter Paletten qualmte am Rand der Fußgängerzone noch leicht vor sich hin und es war auch ein Krankenwagen mit offener Heckklappe zu sehen. Aber ansonsten waren die Krawallstunden vorbei und flammten nur in Bahnhofsnähe immer wieder kurz auf, ehe die Polizisten wieder eingriffen. Ich kaufte für Nils noch eine Fahrkarte, denn wegen seiner spontanen Flucht hatte er kein eigenes Geld bei sich. Und kurz darauf waren sowohl er, als auch ich erleichtert, als wir in der Regionalbahn dieses schöne Städtchen, das an jenem 12. Oktober 2013 unter den politisch Radikalen so zu leiden hatte, in Richtung Ulm verlassen hatten.

In Ulm hatten wir noch einmal einen 20 minütigen Aufenthalt. Als wir durch das für einen Samstag Nachmittag typische Getummel durch die Gleis-Unterführung in die Bahnhofshalle kamen und an den Fressständen vorbeikamen, die einen mehr oder weniger dezenten Geruch verbreiteten, bekam ich augenblicklich Appetit. Außer der Zimtschnecke am Morgen hatte ich nämlich noch gar nichts gegessen. Nils schien es dabei nicht anders zu gehen, denn als wir am Nordsee-Imbiss vorbei gingen, drehte er den Kopf für einen kurzen, aber sehnsüchtigen Blick zur Auslage.

Trotzdem durchquerten wir die düstere Halle und gingen nach draußen. Am Bahnhofsplatz lockte mich dann ein Döner-Imbiss an. Es war zwar eher der Appetit, der mich dorthin zog, doch ein wenig gefiel es mir auch, Nils damit zu necken. Denn ich wusste inzwischen, dass der Döner für ihn eher ein Politikum war, das sich durch jahrelange Gehirnwäsche in seinem Verstand verankert hatte, als ein Lebensmittel. Trotzdem folgte mir Nils etwas widerwillig ins Innere des kleinen Restaurants und schaute sich reflexhaft über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass er bei diesem Tabubruch nicht beobachtet wurde.

„Willst du auch einen? Ich lade dich ein“, fragte ich scheinheilig, als ich mich an der kurzen Schlange im Laden anstellte und mir der Geruch von gegrilltem Fleisch den Mund wässrig machte.

„Nee. Ich hab im Moment keinen Hunger“, log Nils geknickt.

„Wie du meinst.“

Nachdem ich meinen Kebab bekommen hatte, gingen wir wieder zurück zum Bahnhof. An der Außenfassade neben dem Eingang setzten Nils und ich uns nebeneinander auf den Boden und lehnten unsere Rücken an die Wand. Während ich mein verspätetes Mittagessen genoss, beobachtete Nils schweigend und übertrieben konzentriert die vorübergehenden Passanten.

Ich stupste mit meinem Knie gegen seines: „Willst du mal abbeißen?“

„Nein. Kein Appetit“, stammelte Nils steif, presste dann wieder die Lippen aufeinander und fokussierte ein uninteressant wirkendes Paar mittleren Alters.

Mein breiter werdendes Grinsen bekam Nils gar nicht mit, weil er so starr geradeaus guckte: „Nicht mal einen Bissen? Das wird doch zu Hause kein Mensch mitbekommen, wenn du dich hier an einem Döner vergreifst.“

Schließlich besiegte wohl der Hunger die ideologische Erziehung und Nils stöhnte: „Dann lass mich eben mal probieren, wenn du schon so nervst.“

Ich hielt ihm den angebissenen Döner hin und Nils rümpfte pflichtbewusst die Nase, als sich seine Lippen der Drehspießtasche näherten. Einen Moment lang verzog er beim Kauen angewidert sein Gesicht, dann änderte sich sein Blick in angenehme Verblüffung. Als ich gerade selbst wieder in meinen Döner beißen wollte, nahm Nils meine Hand am Handgelenk und zog sie mitsamt des Döners wieder zu sich, um einen zweiten, dieses Mal kräftigen Biss davon zu nehmen.

„Gar nicht mal soooo schlecht“, urteilte Nils dumpf mit vollem Mund.

Ich warf einen Blick auf die Seite und konnte nicht anders als zu kichern, als ich sah, wie Nils mit Hamsterbacken und selbstzufriedenem Blick kaute. An seinem Mundwinkel klebte ein weißer Klecks der Dönersoße.

„Was denn?“, fragte Nils, verwundert über mein Lachen.

„Ach, nichts.“ Ich wischte ihm mit dem Zeigefinger die Joghurt-Soße vom Mundwinkel und im nächsten Moment schnappte Nils' Zunge heraus und leckte mir die Soße von der Fingerkuppe. Daraufhin wurde mein Kichern nur noch unkontrollierbarer. Wir mussten nun beide lachen. Manche Leute, die vorbeikamen warfen verwundert-belustigte Blicke auf uns, wie wir nebeneinander auf dem Boden saßen und albern wie kleine Kinder einfach nicht mehr aufhören konnten, zu kichern. Wenn es uns einmal zu gelingen schien, mussten wir uns nur in die Augen schauen und es ging wieder von vorne los.

Als wir aufstanden, um zum Zug zu gehen, hatten wir beide vom Lachen Tränen in den Augen. Mit dem Essen waren wir noch nicht viel weiter gekommen, aber auf dem Weg zum Gleis und am Bahnsteig vertilgten wir unseren Döner. So nahm dieser dramatische Samstag doch noch ein schönes und unbeschwertes Ende. Nils und ich waren uns ein gutes Stück näher gekommen, bis wir, wegen Münsingens saumäßig schlechter Verkehrsanbindung, nach einer Bimmelbahnfahrt bis Schelklingen und einer anschließenden Busfahrt wieder in unserer Heimatgemeinde angekommen waren.

An der Bushaltestelle am Münsinger Bahnhof trennten sich dann unsere Wege. Nils zog sich mein T-Shirt aus und ich steckte es mir in den Rucksack. Gerne hätte ich ihn zum Abschied noch einmal geküsst, aber das wäre keine gute Idee gewesen. Das Risiko, dass uns jemand dabei beobachten konnte, der uns kannte, war viel zu groß.

Also klopfte ich ihm noch einmal kumpelhaft auf die nackte Schulter: „Viel Glück mit deiner Ausrede.“

„Danke. Kann ich gebrauchen.“

Dann ging Nils davon und ich schaute ihm nach, wie er bei dem kühlen Wetter mit nacktem Oberkörper die Bahnhofstraße entlang ging. Ich konnte mir nun beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nils mit seiner Ausrede durchkommen würde. Sie schien mir sowieso schon an den Haaren herbeigezogen. Und nun, wo er noch behaupten wollte, er sei oben ohne (und dazu noch ohne Geld) von Göppingen nach Münsingen nach Hause gefahren, klang mir das alles viel zu dramatisch, um glaubhaft zu sein.

Als ich zehn Minuten später selbst zu Hause war, waren meine Eltern mit ihren Einrichtungsarbeiten ein gutes Stück vorangekommen. Ich zog mir aus dem Kühlschrank ein Wiener Würstchen und ging damit ins Wohnzimmer, wo Mama auf der Coach lag und Papa auf dem Sessel saß, um fernzusehen. Die Heute-Nachrichten hatten gerade begonnen, aber meine Eltern widmeten sich vorerst eher mir, als dem Programm.

„Hattest du einen schönen Tag mit Nils' Familie?“

„Ja. Das war heute echt spannend.“

„Ahja. Vielleicht können wir da auch mal hingehen.“

„Hmh.“

Irgendwie verlief sich der Smalltalk. Papa war sowieso ein Nachrichten-Junkie und wahrscheinlich war ihm das gerade recht.

Ich ließ mich von den Tagesneuigkeiten mitberieseln, aß selig mein Würstchen und hätte mich an einem Bissen fast verschluckt, als im Nachrichten-Kurzblock tatsächlich von den Ereignissen in Göppingen berichtet wurde. Es wurde von mehreren Verletzten und einem Sachschaden in den Hunderttausenden berichtet.

„Kranke Welt“, murmelte Papa nicht wirklich interessiert und Mama brummte ein zustimmendes „Hmmm“.

Nach 20 Uhr zog ich mich in mein Zimmer zurück, legte mich aufs Bett und schaltete den Fernseher an. Ich dachte viel an Nils und fragte mich, wie es ihm wohl ginge. Ich hatte eine riesige Angst um ihn.

Um 20:42 brummte mein Handy.

Eine Nachricht von Nils: 'Hey'

Aufgewühlt und mit zittrigen Fingern tippte ich ein: 'Hallo Nils. Ist alles okay?'

'Total. Meine Alten haben mir die Ausrede voll abgenommen. Hab nicht mal Prügel gekriegt :-D'

'Das ist ja geil. Wie hast du das denn hinbekommen?'

'War einfach. Ich hab's ein bisschen dramatisiert und Papa hat sich super aufhetzen lassen. Er schimpft den ganzen Abend über die Bullen, die Linken und sogar die Bahn. Aber mich lässt er in Ruhe'

'Geil, du Schlawiner'

'Hehehe'

Wir schrieben noch fast zwei Stunden launig miteinander, ehe wir beide beschlossen, den verpassten Schlaf der vergangenen Tage nachzuholen.

'Schlaf gut. Wir sehen uns hoffentlich am Montag', war das Letzte, was mir Nils schrieb.

Und in dieser Nacht schlief ich tatsächlich gut.


Mann, hatte das gut getan, endlich einmal auszuschlafen. Nachdem ich mich an dem Sonntag nach der Demo aus dem Schlaf geräkelt hatte und die Erinnerungen Tropfen für Tropfen in meinen Verstand zurück rieselten, ging meine Hand zum Smartphone, das auf meinem Nachttisch lag. Die Uhrzeit, die das Display anzeigte, erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung: 11:26 Uhr. Ich konnte mir noch ein paar Minuten Zeit nehmen, um richtig wach zu werden, danach noch eine Dusche nehmen und ich würde genau richtig zum Mittagessen auftauchen, das es bei uns sonntags immer um Zwölf Uhr gab.

Aber richtiges Herzrasen bekam ich, weil auch das Whatsapp-Symbol in der Statusleiste eingeblendet war. Natürlich hoffte ich auf eine Nachricht von Nils. Ich musste am Morgen sehr fest geschlafen haben. Denn es waren sogar zwei Nachrichten, die ich bekommen hatte. Und obwohl das Smartphone immer noch auf Vibro-Alarm gestellt war, hatte mich das Brummen dieses Mal nicht geweckt.

Die erste Nachricht kam von Sophie.

8:23 Uhr: 'Hallo Miguel. Ist bei euch zu Hause alles in Ordnung? Hast du etwas Neues von Nils erfahren? Kiss'

'Hab Nils gestern noch kurz getroffen. Alles okay soweit. Ihm geht es gut', schrieb ich zurück, weil ich die Geschichte des zurückliegenden Tages für zu umfangreich hielt, um sie über Whatsapp zu schreiben.

Prompt vibrierte das Handy in meiner Hand.

Sophie: ':-D. Bis morgen.'

Ich sendete ihr noch haargenau die gleiche Nachricht zurück, aber dann widmete ich mich der zweiten Nachricht, die während meines Schlafs eingegangen war. Die war nämlich von Nils und hob meine Laune augenblicklich an.

9:16 Uhr: 'Guten Morgen, Mausi'

Ich musste laut lachen, nachdem ich den Satz gelesen hatte. Irgendwie passte es zwar gar nicht zu Nils, der immer sehr selbstbeherrscht und taff daher kam, mir so einen Kosenamen zu verpassen. Aber zu seinem trockenen Humor passte es andererseits fantastisch.

Mit breitem Grinsen im Gesicht tippte ich meine Antwort ein: 'Guten Morgen, Spatz'

Ich hoffte auf einen Konter, aber der ließ auf sich warten. Mit dem Handy in der Hand schlappte ich in meinen Unterhosen, die ich in der Nacht getragen hatte, um die Hüfte und einer Wechselunterhose unter der Achsel über den Flur zum Badezimmer, das schräg gegenüber lag und hatte auch da mein Smartphone in der Hand. Schon während diesen Schritten stieg mir das leckere Aroma des Mittagessen in die Nase, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Die Dusche hatte ich schnell hinter mich gebracht und pünktlich um 12:03 Uhr tauchte ich in frischen Klamotten und mit noch nicht ganz trockenen Haaren am schon gedeckten Esstisch auf.

„Jetzt wird’s aber Zeit, Muchacho. Wie kann man nur so lange schlafen? Ich dachte schon, wir müssen dich an den Füßen aus dem Bett ziehen“, lästerte Papa statt einer Begrüßung und brachte mich mit dem frechen Kosewort natürlich direkt zum lachen.

„Ich brauche eben meinen Schönheitsschlaf. Sonst sehe ich mit 39 am Ende noch so aus wie du“, konterte ich.

„Hey, du...“, wollte Papa erwidern, aber Mama fiel ihm ins Wort: „Gutes Argument.“

Papa tat jetzt gespielt verzweifelt: „Jetzt fall du mir doch nicht auch noch in den Rücken, Ines.“

Doch alle drei waren wir nun mächtig am Lachen, als meine Mutter die Lasagne, ich die Salatschüssel und mein Vater die Verantwortung aus der Küche ins Esszimmer trugen. Die gute Stimmung war für unsere Familie ein typisches Bild für einen Sonntagmorgen (in meiner Zeitrechnung zählte kurz nach 12 Uhr sonntags nämlich noch zum Morgen) und hielt sich auch beim Essen.

Ich kam ein bisschen ins Stottern, weil meine Eltern mich über den Wilhelma-Besuch ausfragten, den ich als Notlüge vorgebracht hatte, um meinen Ausflug zur Nazi-Demo zu vertuschen. Aber die Tatsache, dass ich schon seit Jahren erfolgreich meine wahre Identität verleugnete, hatte mich zu einem routinierten Lügner gemacht.

„War ziemlich cool. Ich hätte gar nicht geglaubt, dass man in einem Zoo so viel Zeit verbringen kann, ohne dass man sich langweilt. Aber mir hat es dann doch gut gefallen“, leierte ich herunter.

„Und hast du dich mit Nils auch wieder gut verstanden?“, fragte Papa, wohl hauptsächlich um das Gespräch in Gang zu halten. Aber ich musste selbst mit Erstaunen feststellen, dass mich schon alleine die Erwähnung des Namens zum Lächeln brachte. So fühlte es sich also an, verliebt zu sein. Ich kam mir dabei selbst ein bisschen blöde vor, weil ich grinsen musste, wie ein Honigkuchenpferd. Ich wollte das zwar nicht, aber ich konnte es auch nicht verhindern.

„Ja. Wir haben uns gut verstanden.“

Papa nahm einen Happen von der Lasagne, aber Mama lächelte mich nun an, als ob sie mich durchschaut hätte. War ja kein Wunder, wenn man grinst wie ein Idiot, nur weil der Name Nils gefallen war. 'Aber was soll's', dachte ich mir. Ich hatte ja schon seit Jahren auf die eine, richtige Gelegenheit gewartet, um mich bei meinen Eltern zu outen. Und nun, in meinem Hochgefühl, war mir auf einmal klar, dass dieses 'Irgendwann' genau jetzt sein sollte.

Ein seltsames Gefühl aus nervöser Euphorie schien aus meinem Bauch nach oben in meinen Kopf zu steigen.

Ein letztes Mal durchatmen.

„Mama... Papa... Ich muss euch etwas sagen.“

Vier Augen schauten mich an. Mamas Augen ein bisschen gespannter, als die von Papa.

Boah... War das hart. Die drei magischen Worte lagen mir schon auf der Zunge. Das kribbeln im Bauch war nun fast unerträglich. Ich leckte mir mit der Zungenspitze über die Lippen, die sich viel zu trocken anfühlten und holte Luft.

„Ich...“, stotterte ich und kam dann ins Stocken. Ich schaffte es einfach nicht.

Wahrscheinlich war das nur Einbildung, aber es kam mir so vor, als ob meine Mutter und mein Vater mich nun mit einer ungeduldigen Erwartungshaltung anstarrten.

Ich saugte noch einmal Luft in meine Lunge für den zweiten Anlauf, aber nun hatte ich schon den Glauben an mich selbst verloren. Wie zur Erlösung kitzelte mich der Vibrations-Alarm meines Smartphones am Oberschenkel. Das konnte nur die ersehnte Antwort von Nils sein. Von einem Augenblick auf den anderen wich alle Spannung aus meinem Verstand und ich fühlte, dass der magische Moment vergangen war. Erleichtert, dass ich nun vor mir selbst eine Ausrede hatte, zückte unter den kritischen Blicken meiner Eltern mein Smartphone, denn die Nachricht von Nils war mir nun wichtiger, als alles andere.

Es waren nur zwei Emojis, die mir Nils gesendet hatte. Ein Tränen lachendes Smiley und ein Herz. Vor allem Papa mochte es zwar normalerweise gar nicht, wenn ich während des Essens mein Handy herausholte, aber mein seliges Lächeln, mit dem ich auf das Display schaute, schien ihn anzustecken.

„Lass mich raten, wer dir geschrieben hat“, sagte er heiter, als hätte es dieses Zwischenspiel, das sich zumindest für mich sehr dramatisch angefühlt hatte, nie gegeben.

Ich warf ihm einen auffordernden Blick zu, während ich mein Smartphone wieder in die Tasche steckte: „Dann lass mal hören.“

„Deinem Grinsen nach zu urteilen kann das nur Sophie gewesen sein. Kann es sein, dass ihr gerade ein Date ausgemacht habt?“

„Ja. Ganz genau“, seufzte ich. Der Tonfall klang dabei etwas genervt, weil mich Papas Schlussfolgerung runtergezogen hatte.

Doch er schien das nicht mitbekommen zu haben oder er ignorierte es einfach: „Klasse, Muchacho. Da merkt man, dass du mein Sohn bist. Los, schlag ein.“

Er hielt mir über den Tisch die Hand entgegen und ich schlug pflichtgemäß mit einem Klatschen ein. Mama warf uns beiden einen belustigten Blick mit ironischem Kopfschütteln zu. Und ich fragte mich, welcher Teufel mich eigentlich geritten hatte, dass ich es für eine gute Idee gehalten hatte, mich als schwul outen zu wollen.

„Und was wolltest du uns so Wichtiges sagen?“, hakte meine Mutter nach.

„Ich... ähm... Kann sein, dass ich morgen nach der Schule Nils wieder zum Essen mitbringe. Ist das okay für euch?“

„Na klar.“ Mama warf mir zwar noch einen fragenden Blick zu, weil sie wohl etwas weltbewegenderes erwartet hatte, aber ich hatte mich inzwischen schon wieder in mein mentales Schneckenhaus zurück verkrochen.

Nach dem Essen und dem Abwasch zog ich mich schon bald wieder in mein Zimmer zurück. Erstens hatte ich noch Arbeiten für die Schule zu erledigen und musste auch noch lernen. Und zweitens hatte mir mein Beinahe-Coming-Out ganz schön zugesetzt. Ich war durcheinander und musste mit mir selbst erst einmal klären, ob es nun gut oder schlecht war, dass ich im letzten Augenblick den Schwanz eingezogen hatte.

Ziemlich zerknirscht hing ich dann über meinem Geschichtsbuch, um zu büffeln. Aber wirklich viel vom Inhalt bekam ich nicht in meinen Kopf hinein, denn meine Gedanken drehten sich unaufhörlich um das Mittagessen. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass mein Rückzieher feige gewesen war. Eine Stimme in meinem Kopf forderte mich zwar auf, das nachzuholen – am Besten jetzt sofort – aber diese Stimme blieb ungehört. Weder meine Beine, noch mein Verstand, der sich nun etwas träge anfühlte, gehorchten. Ich blieb sitzen, versuchte zu lernen, chattete zwischendurch immer mal wieder mit meinen alten Freunden in Freiburg und haderte mit mir selbst. Von Nils hörte ich in der Zwischenzeit nichts. Aber darüber machte ich mir nicht allzu viele Sorgen. Denn ich wusste ja, dass er sein Smartphone vor seinen Eltern versteckte. Und deshalb musste er sicherlich auch vorsichtig sein und konnte nicht ständig schreiben.

Erst viel später am Nachmittag, es musste schon nach 17 Uhr gewesen sein, verließ ich mein Zimmer und ging zu meinen Eltern ins Wohnzimmer. Auch für Mama und Papa war das ein fauler Sonntag. Während der Woche hatten auch die Beiden wegen des Umzugs viel zu tun gehabt, wobei unsere neue Wohnung so langsam eine Wohlfühl-Atmosphäre annahm. Außerdem hatte Papa nur noch den folgenden Montag frei, denn am Dienstag musste er seine neue Stelle antreten und auch Mama hatte am morgigen Tag um Elf ein Bewerbungsgespräch bei der örtlichen Sozialstation, wo sie als ambulante Altenpflegerin durchstarten wollte. An solchen Tagen hatten die Beiden auch kein schlechtes Gewissen, sich mal auf die faule Haut zu legen.

Nach einem Abstecher in die Küche, wo ich mir ein Stück Käsekuchen herunter schnitt, das ich mir auf einen Teller legte, gesellte ich mich zu den Beiden. Mit dem Teller in der Hand setzte ich mich aufs Sofa und starrte mit ihnen auf die Glotze. Papa brummte mir einen kaum verständlichen Gruß zu, den ich mit einem ähnlichen Brummen erwiderte und Mama strafte mich mit einem strengen Blick, weil sie es nicht gerne sah, dass ich mit dem Kuchen auf dem Sofa saß. Aber die Stimmung war auf eine träge Art, die wohl nur die Mitglieder unserer Familie verstehen konnten, zu angenehm, als dass sie mich maßregelte. Etwa zur selben Zeit, als mein Vater im Sessel lümmelte und scheinbar immer wieder in einen Halbschlaf versank, meine Mutter mit angezogenen Beinen auf dem einen Ecksofa-Teil saß und ein Sudoku in einer Frauenzeitschrift löste und ich mit leeren Augen und mit Käsekuchen gefüllten Hamsterbacken auf die Mattscheibe starrte, brach keine zwei Kilometer entfernt, in einer spießigen Doppelhaushälfte, die Hölle los.

Alles wäre ungestört schön gewesen, wenn mich nur diese altbekannte Stimme der Vernunft in meinem Kopf nicht ständig genervt hätte, die mir ständig 'Sag es endlich' zurief. Aber es kostete mich keine große Mühe, mein schlechtes Gewissen zu ignorieren und vor mich hinzudämmern. So verfloss wieder fast eine Stunde, in der seliges Schweigen herrschte, bis Mama scheinbar zu sich selbst brummelte: „Vor dem Bewerbungsgespräch morgen hab ich schon ein bisschen Angst.“

Sie hatte das zwar sehr nebensächlich gesagt, trotzdem hatte sie nun die volle Aufmerksamkeit von Papa und mir: „Davor musst du doch keine Angst haben, so charmant wie du bist“, schmeichelte Papa und schaffte es damit, Mama zum Lächeln zu bringen.

„Du hast gut reden. Aber ich mag solche Situationen nicht. Das macht mich immer so nervös.“

„Wir können ja üben“, schlug Papa vor, und brachte nun auch mich zum Grinsen.

„Vergiss es“, raunzte Mama mit schlecht unterdrücktem Lachen. Denn wir alle drei wussten, dass es bei so einer Übung keiner schaffen würde, ernst zu bleiben. Aber als sonntägliches Unterhaltungsprogramm fand ich so ein kleines Familienrollenspiel nicht schlecht.

„Ach komm schon, Mama“, schmollte ich. „Es kann dir doch nur helfen. Und bei mir geht es in zwei, drei Monaten auch mit den Bewerbungsgesprächen los. Da kann mir so ein Spiel auch nicht schaden.“

„Also gut“, willigte Mama mit einem leicht genervten Unterton ein und Papa schaltete den Fernseher aus.

Es wurde nun echt lustig, als mein Vater und ich vom Wohnzimmer ins Esszimmer wechselten, uns als die 'Chefs' an den zum Schreibtisch umdeklarierten Esstisch setzten und meine Mutter vor die Zimmertür musste.

Sie klopfte an.

„Herein?“, rief Papa übertrieben blasiert.

Er und ich tauschten ein breites Grinsen aus, dann trat meine Mutter ein.

Sie lächelte uns beide charmant, aber auch professionell an: „Guten Tag, meine Herren.“

Papa stand auf und trat mir auffordernd auf den Fuß. Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, stand auch auf und ging genauso wie mein Vater um den Tisch herum, auf meine Mutter zu.

„Guten Tag, schöne Frau. Sie sind doch bestimmt Frau Garcia“, antwortete Papa weiterhin mit der versnobten Stimme, nahm die Hand meiner Mutter, führte sie zu seinem Mund und gab ihr einen feuchten Handkuss.

Ich stand daneben und kicherte amüsiert, aber Mama zog sauer ihre Hand zurück: „Wenn ihr nur Blödsinn machen wollt, können wir es auch gleich ganz sein lassen. Für mich ist das eine ernste Sache.“ Sie drehte sich ab und motzte eher zu sich selbst: „Mein Gott. Wie die kleinen Kinder.“

„Entschuldigung, Ines“, säuselte Papa in seinem Herzensbrecher-Ton, den ich für schmalzig hielt. Aber ihrem Blick nach ließ sich meine Mutter auch nach all den Jahren noch davon erweichen. „Wollen wir es nochmal probieren? Jetzt richtig?“

Mama warf Papa von unten herauf einen Schmollblick zu, der es in sich hatte: „Okay. Ihr bekommt noch eine allerletzte Chance.“

Wir schauten Mama dankbar hinterher, als sie hinausging. Doch als Papa und ich uns wieder hinter den Tisch setzten, uns anschauten und unsere Lippen schon bebten, weil wir es kaum schafften, das Lachen zu unterdrücken, war eigentlich schon klar, dass dieser Versuch auch wieder in die Hose gehen würde. Ernsthaftigkeit war vielleicht nicht gerade die größte Stärke der Garcia-Männer.

Wieder ein Klopfen an der Zimmertür.

„Herein“, riefen Papa und „Ja, bitte?“, ich gleichzeitig

Noch einmal öffnete sich die Tür und Mom kam herein. Wieder standen wir auf und gingen um den Tisch. Dieses Mal mit dem festen Vorsatz, ernst zu bleiben. Aber auch Mamas Lippen wackelten jetzt schon.

Papa legte beim Handschlag dieses Mal um einiges seriöser los: „Guten Tag, Frau Garcia. Schön, dass Sie...“

Dann wurde er unterbrochen, denn es klingelte an der Tür. Wir schauten uns alle verdutzt an, weil wir um diese Zeit keinen Besuch erwarteten und hier ja auch noch so gut wie niemanden kannten. Während Mama, Papa und ich noch mit den Blicken ausknobelten, wer die sechs Meter bis zum Gegensprecher gehen sollte, klingelte es schon wieder. Dreimal ungeduldig hintereinander.

„Was soll das denn jetzt?“, murrte mein Vater genervt und ging selbst durch die Tür zum Wechselsprechhörer neben der Wohnungstür.

„Ja?“, hörte ich ihn in den Hörer fragen und drei Sekunden später streckte er den Kopf durch die Zimmertür. „Es ist Nils.“

Mein Herz machte einen Sprung und ich hörte Papas etwas eingeschnapptes: „Sag ihm aber, dass wir nicht taub sind“, kaum.

Ich ging durch die Wohnungstür ins Treppenhaus und dort Nils entgegen, hinter dem unten gerade die Haustür zugefallen war. Mein Verliebte-Jungs-Grinsen zog sich quer durch mein Gesicht. Aber als im mittleren Treppenabsatz Nils um die Ecke und in mein Blickfeld kam, gefror mir dieses Lächeln auf den Lippen ein und es fühlte sich an, als würden sich mir die Eingeweide im Bauch umdrehen.

„Nils...“, sagte ich nur entsetzt. Mehr brachte ich in diesem Schockmoment nicht heraus.

Nils schaute nur mit leeren, blutunterlaufenen Augen zu mir herauf und stammelte ein erschreckend emotionsloses: „Hilf mir.“

Ich kam jetzt zu ihm, legte ihm einen Arm um die bebende Schulter und führte ihn die Treppen hoch. Nils bot einen erbärmlichen Anblick. Obwohl es an diesem Abend relativ frisch war, trug er nur eine blaue knielange Trigema-Schlüpfhose, ein weißes T-Shirt, und seine Füße waren barfuß.

„Mensch, was ist denn los mit dir?“, fragte ich aufgewühlt, als ich ihn die letzten Stufen hoch führte. Aber ich bekam nur ein gluckerndes Brummen als Antwort. Nils stand unter Schock. Das drückte nicht nur sein Gesicht aus, das bleich mit ungesunden roten Stress-Flecken war und von einem frischen Veilchen unter dem linken Auge entstellt wurde. Die geröteten Augen und verkrustete Spuren an den Wangen ließen erahnen, dass er bis vor wenigen Minuten noch geweint hatte. Und auch sein Gang, wie er jetzt die Treppen hochging, war so kraftlos und gebeugt, dass das nicht nur die Nachwirkungen der geprellten Rippe und des Gummiknüppel-Schlags auf den Rücken sein konnten.

„Hey Nils, du...“, legte Papa fröhlich los, als wir durch die Tür traten, aber auch er verstummte augenblicklich. Denn obwohl ich Nils so an ihm und meiner Mutter versuchte vorbei zu bugsieren, dass sie seinen apathischen Zustand nicht erkennen konnten, gelang mir das natürlich nicht mal ansatzweise. Immerhin zeigten beide so viel Taktgefühl, dass sie nicht versuchten, sich einzumischen, als ich Nils in mein Zimmer brachte, die Tür hinter uns schloss und ganz gegen meine Angewohnheiten, den Schlüssel im Schloss drehte.

Wie ferngesteuert setzte sich Nils auf die Kante meines Bettes und ich mich neben ihn. Ich kniff ihn aufmunternd in den Oberschenkel: „Jetzt erzähl mal... Spatz... Was ist denn passiert?“

Der Spatz zwang Nils tatsächlich ein elendes Lächeln auf die Lippen, das sofort wieder verblasste. Kurz fiel sein Blick wieder in diese schreckliche Ausdruckslosigkeit zurück, ehe Nils endgültig einen Nervenzusammenbruch erlitt. Seine Mundwinkel zuckten ein paar Mal und brachten mich sogar zum grinsen, weil es so aussah, als ob Nils lachen wollte. Aber im nächsten Augenblick füllten sich die Augen mit Tränen und Nils begann fürchterlich zu weinen.

Wahrscheinlich waren die nun folgenden Minuten die schlimmsten in meinem Leben. Es war grauenvoll, Nils so schrecklich weinen zu sehen. Nils, den ich bis dahin als Wunder der Selbstbeherrschung erlebt hatte - der mit einem Lachen erzählen konnte, wie er zuhause vermöbelt worden war, obwohl ich genau wusste, dass ihm auch damals schon zum Heulen zumute gewesen war.

Eher aus einem Instinkt heraus legte ich meine Hand in Nils' Nacken und drückte seine Stirn sanft an meine Schulter. Während er sein Gesicht in meinem T-Shirt vergrub und es mit seinen Tränen und seiner Rotznase durchnässte, schaute ich mich überfordert um und murmelte nichtssagende Phrasen wie „Alles wird gut“, und „Wir kriegen das schon hin.“

Ich weiß nicht, ob es die Berührung war, meine blöden Worte oder einfach die Zeit, die vergangen war. Aber nach ein paar Minuten hob Nils seinen Kopf und schaute mich mit gefassteren Augen, als zuvor, an: „Sie wissen es.“

Die drei Worte trafen mich wie ein Tritt in den Magen. Mein Zwerchfell verkrampfte sich und ich konnte plötzlich sekundenlang nicht mehr atmen. Auf einmal hatte ich eine furchtbare Angst davor, zu erfahren, was wer auch immer wusste. Ich saß da und knetete Nils tröstlich den Nacken, während ich eine irrsinnige Hoffnung hegte, dass er einfach weiterhin vor sich hin wimmern und niemals weiter reden würde. Doch natürlich ging diese Hoffnung nicht in Erfüllung. Nils drückte sich ein bisschen fester an mich und leise und mit zittriger Stimme begann er zu reden.

„Mama und Papa wissen, dass wir uns geküsst haben.“

Mehrere Sekunden stand dieser Satz wie ein schwarzes Loch im Raum, ehe mir nicht mehr, als ein kehliges: „Das kann doch nicht sein“, entwich.

„Doch. Erinnerst du dich daran, als wir gestern nach der Demo in Göppingen geknutscht haben? Da hat uns doch der eine Typ fotografiert.“

Natürlich erinnerte ich mich daran. Aber nachdem ich mehrere Sekunden lang nur Luftlöcher gestarrt hatte, in denen sich mein Mund zu trocken anfühlte, um zu antworten, redete Nils weiter.

„Die Bilder sind in den Netzwerken aufgetaucht.“

„In welchen Netzwerken?“

Nils wies auf mein Laptop und ich verstand den Wink. Mit bleischweren Beinen richtete ich mich auf, startete Windows und setzte mich damit neben Nils. Nils nahm mir das Notebook ab, legte es auf meinem linken und seinem rechten Oberschenkel ab und tippte im Internetbrowser eine Adresse ein, die sich als Online-Forum für Neonazis aus Süddeutschland entpuppte. Dort war die Kundgebung vom Vortag in Göppingen groß thematisiert. In den Themen-Überschriften ging es um Diskussionen, ob die Demo ein Erfolg oder eher ein Reinfall war, es wurde über Bullen-Schweine, Lügenpresse und Volksverräter-Politiker gehetzt, die den Kameraden einen Strich durch die Rechnung gemacht und sie von der Öffentlichkeit abgeschieden hatten, über das linke Pack, und...

Und dann klickte Nils auf eine Überschrift, die 'Schwulenschande von Göppingen' lautete. Es öffnete sich eine Bild-Datei, die zugegebenermaßen sehr ausdrucksstark war. Das Bild zeigte zwei Jungs, die sich küssten. Ein blonder gescheitelter Neonazi mit kurzgeschorenen Schläfen, 'Thor Steinar Legion' - Sweat-Shirt und blank polierten Springerstiefeln und einen offensichtlichen Südländer mit längeren und unsortierten schwarzen Haaren, mediterran-brauner Haut und einem T-Shirt mit der Aufschrift 'KEIN SEX FÜR NAZIS'. Die Lippen der beiden Jungen lagen in dem Moment, in dem der Fotograf abgedrückt hatte, nicht direkt aufeinander. So dass man die Zungen, die sich berührten, mehr als nur erahnen konnte. Die Gesichter waren in dem Winkel zwar nicht perfekt getroffen, aber gut genug, dass Leute, die uns schon kannten, Nils und mich auf dem Foto erkennen würden.

Unter dem Foto hatte der Typ, der es gepostet hatte, die reißerische Schlagzeile: 'NETZFUNDSTÜCK!!! WER KENNT DIESE DRECKSÄUE?' geschrieben. Bis jetzt wurden bei den Antworten zwar nur Hasstiraden gegen die unbekannten Schwuchteln verbreitet, aber das Thema war auch erst knappe drei Stunden online. Ich konnte mir vorstellen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Nils identifiziert und bloßgestellt werden würde.

„Oh Gott“, brachte ich nur heraus.

„Papa war vorhin in dem Forum, um sich auf dem Laufenden zu halten. Da hat er das Bild gefunden.“

Nun rückte Nils mit seiner Geschichte heraus.


Wie so häufig hatte er sich an diesem Nachmittag in sein Zimmer zurückgezogen, um zu lesen und seinen Eltern aus dem Weg zu gehen. Nils war gerade in sein Buch 'Der Talisman' vertieft, das ihm half, ein Stück weit der Realität zu entfliehen und schon richtig am träumen, als ein wutentbrannter Schrei seines Vaters beinahe sein Herz zum Stillstand gebracht hatte.

„Niiiiiiiiiiiiils!!!!“ - Im nächsten Augenblick wurde eine Tür, die wahrscheinlich die des Arbeitszimmers seines Vaters war, so brutal zugeschlagen, dass die Erschütterung die Bücher auf Nils' Hängeregal zum wackeln brachte, dann wurde die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgerissen. Mit feuerrotem Kopf und verzerrtem Gesicht kam sein Vater auf ihn zugeschnaubt und wedelte mit dem Tablet in seiner Hand.

Nils richtete sich aus seiner Liegeposition ins Sitzen auf: „Papa, was ist...“

Ehe er seine Frage zu Ende stellen konnte, knallte die Faust seines Vaters auf Nils' Wangenknochen und warf ihn zurück auf sein Bett. Sein Papa kam direkt hinterher, stemmte sein Knie in Nils' Magengrube drückte mit der rechten Hand an Nils' Kinn seinen Hinterkopf auf die Matratze und hielt ihm mit der linken sein Tablet vors Gesicht, wo dieses unheilvolle Foto eingeblendet war.

„Lässt du dich von dem Kanaken ficken, du schwule Sau?“, brüllte er wie ihm Wahn auf Nils ein und Speicheltröpfchen regneten dabei auf Nils herab.

„Papa. Ich...“, wollte Nils jammern, aber eine schallende Ohrfeige unterbrach ihn.

„Weißt du, welche Schande du über deine Familie bringst?! Aber diese Flausen prügle ich dir aus deinem Schädel. Das kannst du mir glauben! Mein Sohn ist nicht die Schlampe von 'nem Kanaken!“

Im selben Augenblick, als sein Vater zu einem Faustschlag ausgeholt hatte, der voll auf Nils' Gesicht gezielt war und ihm vielleicht die Lichter ausgeknipst hätte, kam seine Mutter verzweifelt schreiend durch die Tür gestürmt. Sie hatte wohl zum Glück erkannt, dass ihr Mann übergeschnappt war und klammerte sich heulend mit beiden Händen an seine Faust. Sein Vater konnte sich zwar leicht befreien und seine Frau grob zur Seite stoßen, aber diese Ablenkung hatte Nils die nötigen Sekunden verschafft, um sich aufzurappeln und zur Tür zu rennen. Als ihn sein Vater abfangen wollte, bekam Nils nur noch aus dem Augenwinkel mit, wie sich seine Mutter mit einem verzweifelten Schluchzer auf seinen Vater stürzte, dann war Nils aus dem Zimmer gesprintet.

„Wenn du zurückkommst, schlag ich dich tot“, schrie ihm sein Vater hinterher, dann war Nils durch die Haustür. In seinem lächerlichen Outfit irrte er noch einige Minuten ziellos umher. Zuerst, um einen Abstand zwischen sich und seinen Vater zu bringen, später, weil er nicht wusste, wo er hingehen konnte. Doch als die Kälte begann, unter die Haut zu gehen, schlug er den Weg ein zu dem einzigen, dem er noch vertrauen konnte. Nämlich zu mir.


Ich schaute Nils fassungslos an: „Der Typ, der uns fotografiert hat, hat doch gar nicht ausgesehen, wie ein Nazi. Wie konnte das Bild in dem Forum landen?“

Nils zuckte ideenlos mit der Schulter, während ich schon einen Schritt weiter dachte. Ich öffnete Google und zog das Foto auf die Bilder-Rückwärtssuche und als ob das alles noch nicht schlimm genug gewesen wäre, erlebten Nils und ich nun den nächsten Schock. Google lieferte nämlich sogleich mehrere Dutzend Ergebnisse von Seiten, auf denen unser Kussfoto veröffentlicht worden war. Das Bild war scheinbar gerade dabei, sich viral zu verbreiten. Ich stieß auf Foren, in denen über uns gehetzt und sogar offen gedroht wurde und andere, in denen wir als Lichtblick dieses schrecklichen Samstags in Göppingen gefeiert wurden. Aber alle Diskussionen, auf die Nils und ich auf die Schnelle stießen, hatten zwei Grundfragen: Wer war das und welche Geschichte steckte hinter dem Bild.

Nils drückte sich entsetzt die Handballen an die Stirn und sprach aus, was ich dachte: „Das kann doch nicht wahr sein. Wir müssen das stoppen.“

„Wie denn?“, stammelte ich ohne Stimme. Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, als ob es mir von einem Moment auf den anderen den Boden unter den Füßen weggerissen hätte.

Wir schauten uns beide entsetzt an, ohne dass uns etwas einfiel. Dann holte ich tief Luft und schlug das vor, was ich eigentlich am wenigsten tun wollte: „Wir müssen es meinen Eltern sagen – jetzt gleich.“

Nils schaute mich entgeistert an: „Bist du wahnsinnig?!“

„Wir müssen das tun! Das wächst uns doch alles über den Kopf. Die bekommen doch bestimmt bald unsere Namen raus. Und was meinst du, wie lange es dauert, bis das Bild auch in der Schule auftaucht? Drei Tage?! Eine Woche?!“ Meine Stimme überschlug sich hysterisch bei diesen Sätzen, obwohl sie aus Angst, dass meine Eltern im Wohnzimmer (oder an der Tür lauschend) mithören konnten, gedämpft war, und führte dazu, dass sich Nils von meiner Panik nur noch weiter anstecken ließ.

„Deine Eltern jagen mich doch dann zum Teufel. Dann habe ich GAR NIEMANDEN mehr, wo ich hingehen kann! Wo soll ich dann heute Nacht schlafen?! Im Wartehäuschen von der Bushaltestelle vielleicht?!“

„Nein. Die werden dich nicht zum Teufel jagen. Die werden das akzeptieren.“

„Und da bist du dir absolut sicher“, knurrte Nils sarkastisch.

„Ja. Da bin ich mir sicher“, log ich mit geheuchelter Überzeugung und hängte ein genuscheltes: „Und wenn nicht, brennen wir gemeinsam durch. Ich lasse dich nicht allein“, an

Wir schauten uns nun sehr lange verzweifelt und entkräftet an. Dann nickte Nils und murmelte ein kaum hörbares: „Okay.“

Ich drückte seine Wange an meine Wange: „Dann sollten wir es gleich hinter uns bringen, bevor wir es uns anders überlegen.“

„Ich habe Angst.“

„Ich auch.“

Wir tauschten noch den kläglichen Versuch eines aufmunternden Blickwechsels aus, dann standen wir auf, und ich schloss die Zimmertür auf.

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