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Integrationsklasse

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Informationen

 

"The Indians were decimated by the whites, some tribes even exterminated?"

Langsam schlummerte ich ein. Eigentlich mochte ich ja Englisch, aber irgendwie hatte Herr Schmidt es drauf, jedes Jahr dieselben Themen zu bringen. Indianer hatten wir mindestens zum dritten Mal. Neben mir war plötzlich ein Schnarchen zu hören.

"Jan, bitte wach auf und folge dem Unterricht!" Herr Schmidt hatte es also auch gehört. Mein bester Freund Jan wachte tatsächlich auf.

"Grins nicht so blöd", flüsterte er mir zu.

"Ich grinse nie blöd, sondern immer hyperintelligent", gab ich zurück.

"Pah!"

Nach diesem Aktionsausbruch dämmerten wir weiter vor uns hin. Jedenfalls für fünf Minuten, denn dann hörte Herr Schmidt, der nebenbei unser Klassenlehrer war, plötzlich mit dem Englischgesäusel auf.

Sofort waren alle hellwach. Herr Schmidt beendete den Unterricht? Mehrere Minuten vor dem Ende der Stunde? Das hatte es ja noch nie gegeben. Sonst überzog er immer.

"Ich habe noch eine Ankündigung zu machen."

Aha, da kam also doch noch was.

"Wie ihr sicher schon wisst, wird unsere Schule im nächsten Schuljahr ein paar Integrationsklassen eröffnen."

Wir wussten es noch nicht.

"Je nachdem, um welche Altersstufe es dann geht, könnte auch diese Klasse davon betroffen sein."

Allgemeines Getuschel. Florian meldete sich.

"Herr Schmidt?"

"Ja bitte?"

"Was ist eine Integrationsklasse?"

"Eine Integrationsklasse ist eine Klasse, in der behinderte und nicht behinderte Schüler zusammen lernen?"

Jetzt kam richtig Unruhe auf, alle warfen plötzlich Fragen in den Raum.

"Wir sind doch schon 26 in der Klasse, sollen jetzt noch 20 Behinderte dazu?"

"Um was für Behinderte geht es denn?"

"Warum gerade unsere Klasse?"

"Jetzt bitte erst mal Ruhe! Integrationsklassen sind mit allen möglichen Behinderungen möglich, wir haben noch gar nicht ausdiskutiert, was für Schüler wir aufnehmen. Es geht auch um höchstens zwei pro Klasse. Und eure Klasse haben wir ausgewählt, weil ihr im Vergleich zu euren Parallelklassen wenig Probleme mit anderen Lebensstilen habt."

Das konnte ich allerdings bestätigen.

"Wie gesagt, wir wissen noch nicht, um was für Schüler es gehen wird. Wir wissen auch noch nicht, ob sich überhaupt Schüler in eurem Jahrgang anmelden. Jedenfalls ist sowieso noch nichts endgültig entschieden."

Beim Mittagessen in der Schulkantine war die Ankündigung natürlich allgemeines Gesprächsthema. Ich folgte dem Hin und Her eher beiläufig. "Wenig Probleme mit anderen Lebensstilen", ja das traf es gut. Ich hatte jedenfalls wahnsinniges Glück mit meiner Klasse, als ich vor zwei Monaten zwangsgeoutet wurde.

Wie viele junge Schwule hatte ich mich bei Gayromeo angemeldet (wobei ich mein Alter auf 18 "aufrunden" musste), in der Hoffnung, ein paar andere junge Schwule kennenzulernen, ansonsten kannte ich ja keinen. Tatsächlich lernte ich bald darauf Johannes kennen. Er war ein paar Jahre älter als ich, sah aber total gut aus und schien nett zu sein. Ein paar Mal trafen wir uns und irgendwann gingen wir auch miteinander ins Bett. Am Anfang war das total schön, aber dann meinte er nur: "Ich will dich ficken", und fing an, mir seine Finger in den Arsch zu stecken. Mir tat das höllisch weh, ich jammerte er sollte aufhören, aber er hörte nicht auf. Irgendwann gelang es mir, mich ihm zu entwinden. Ich zog mich an und flüchtete aus seiner Wohnung. Von da an schrieb er mir ständig Nachrichten vom Typ "Ich will dich entjungfern." Inzwischen wusste ich von anderen Usern, dass es ihm nur um die "Erstbesteigung" von Jungs ging, und ich antwortete ihm barsch, dass ich kein Interesse habe. Darauf schrieb er mir nur zurück: "Das zahle ich dir heim." Auf der Party zu meinem 16. Geburtstag tauchte er dann auf, verkündete laut: "Lukas ist schwul und hat mit mir geschlafen", und verschwand wieder. Alle hatten es gehört, nicht nur alle Gäste, sondern auch meine Eltern und mein Bruder, die im Haus waren. Ich weiß nur noch, dass ich auf dem Boden saß und geheult habe – und meine Eltern und meine Freunde, zumindest die, die noch da waren, sich rührend um mich gekümmert haben.

In dieser Nacht habe ich jedenfalls gelernt, dass ich mich auf meine Eltern immer verlassen konnte. Mein pubertierender kleiner Bruder, er war vierzehn, machte zwar öfter mal blöde Bemerkungen, meinte die aber nicht böse.

Viel Schlimmeres erwartete ich in der Schule. Als ich am nächsten Montag zitternd ankam, bestätigten sich auch gleich meine schlimmsten Befürchtungen. Matthias mit seiner Halbstarkenclique aus der Parallelklasse rief mir schon am Schultor "schwule Sau" hinterher. Als ich schon zweifelte, ob ich mich überhaupt in den Unterricht trauen sollte, kam Florian aus meiner Klasse auf seinem Skateboard angerollt. Er war immer freundlich und lustig, eigentlich kannte ich ihn aber kaum. Er war der King der Skater, nahm seinen Sport viel wichtiger als die Schule und war einer der wenigen in der Klasse, die rauchten. Kurz, er tat so ziemlich alles, was ich nicht tat, deshalb hatten wir auch nie viel miteinander zu tun. "Lass dich nicht von ein paar Idioten ärgern." Ich sah ihn skeptisch an. Im Vorbeirollen klopfte er mir auf die Schulter. "Hey Mann, bist doch cool." Flo mochte ja in einer ziemlich anderen Welt leben als ich, aber eigentlich war er doch ein guter Kerl. Die meisten reagierten zwar nicht ganz so offen, manche entfernten sich auch etwas von mir, aber nach zwei Wochen hatten sich eigentlich alle in der Klasse an die neue Situation gewöhnt und alles ging wieder seinen normalen Gang.

Und auf meine wirklichen Freunde konnte ich mich immer verlassen. Meine wirklichen Freunde, das waren die, mit denen ich jetzt zusammen am Tisch saß: Jan, mein allerallerallerbester Freund schon seit Sandkastenzeiten, seine Freundin Lisa, mit der er jetzt schon über ein Jahr zusammen war, Kevin, ein ungeheuer geduldiger, ruhiger und gutmütiger Kerl, und Julia, die, soweit ich als Schwuler das beurteilen konnte, enorm gut aussah, aber bisher nie einen Freund hatte. Sie ließ jedenfalls die Schulmachos alle abblitzen. Ich kannte alle lange genug, um zu verstehen, dass sie am liebsten mit Kevin zusammen wäre. Vielleicht kommt das ja noch.

"Lukas, bist du noch da?" Lisa holte mich aus meinen Träumereien zurück. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei der Vielleicht-Integrationsklasse.

"Wie soll das gehen? Rollstuhlfahrer kommen hier doch gar nicht durchs Haus, es gibt keinen Fahrstuhl, kein behindertengerechtes Klo?", warf Julia in die Runde. "Oder die müssen erst groß umbauen, genug Platz ist ja eigentlich da, aber das wird richtig teuer."

"Vielleicht kriegen wir dann auch endlich Seifenspender auf dem Klo." Diesen Seitenhieb auf unsere Schulverwaltung konnte ich mir nicht verkneifen.

"Müssen ja keine Rollstuhlfahrer sein, kann ja sein, dass Blinde kommen", meinte Jan.

"Na aber für die braucht man Leitsysteme, und wie sollen die denn lesen, was an der Tafel steht?"

"War überhaupt von Körperbehinderten die Rede?", warf Lisa in die Runde. "Können ja auch geistig Behinderte oder Lernbehinderte sein."

"Aber nächstes Schuljahr sind wir in der 11. Klasse. Gibt es denn Lernbehinderte, die es so weit schaffen?"

Wir sahen uns ratlos an. Eigentlich mussten wir zugeben, dass wir vom Thema keine Ahnung hatten. Wir beschlossen also, uns nicht weiter über Dinge aufzuregen, die erst später aktuell werden sollten. Wenn überhaupt. Wir hatten sowieso wichtigeres im Kopf, schließlich waren nur noch ein paar Tage bis Weihnachten.

"Ich habe mit Herrn Schmidt telefoniert, um den Termin für die Elternversammlung zu klären."

Na toll, gerade nach Hause gekommen und dann hört man schon wieder was von Schule. Hatte ich schon erwähnt, dass meine Mutter Elternsprecherin ist?

"Er hat gesagt, dass ihr möglicherweise eine Integrationsklasse werdet."

"Ja, wir sind schon alle schwer begeistert."

"Nun wart doch erst mal ab. Bis jetzt ist doch sowieso noch nichts entschieden."

Meine Mutter mal wieder. Sie schaffte es, an allem das Gute zu sehen.

"Was, ihr kriegt Mongos in die Klasse?"

Mein kleiner Bruder kam gerade mit einem Handtuch um die Hüfte aus dem Bad direkt in die Küche.

"Alexander!" Meine Mutter sah ihn scharf an.

Oh, da musste sie schon echt böse sein, wenn sie den Kleinen Alexander nannte. Sonst war er für alle nur Alex. Ich wusste natürlich, dass er genauso tolerant erzogen war wie ich und in seiner pubertierenden Art nur provozieren wollte. "Lass mal Mama, der will nur spielen."

Alex streckte mir die Zunge raus und spannte ein bisschen seine Muskeln an, damit wollte er mich wohl neidisch machen. Eigentlich sahen wir uns recht ähnlich mit den hellbraunen Augen und dem braunen Wuschelhaar, aber sportlicher als ich war Alex schon immer, und seit einiger Zeit machte er noch Hanteltraining, wohl um bei den Mädchen zu landen. Ich meine, ich war nicht wirklich unsportlich, aber eher der schlanke Typ. Ich konnte mich zwar im Schwimmbad sehen lassen, ohne peinlich zu wirken, aber zu großen, sportlichen Ehren habe ich es nie gebracht. Zum Glück wurden wir im Sportunterricht nicht nach Klassen unterrichtet, sondern die Jungs in drei Gruppen aufgeteilt, eine gute, eine mittlere und eine schwächere. Ich war immer in der mittleren Gruppe, da musste ich wenigstens nicht mit den großen Sportfreaks konkurrieren.

"So, ihr zwei Rabauken, ich geh dann mal los, noch ein paar Weihnachtseinkäufe machen."

Schwupps, und schon war Mama weg. Das konnte bei ihr sehr schnell gehen.

"Was hast du dir eigentlich von Mama und Papa zu Weihnachten gewünscht, Kleiner?"

Alex grinste dreckig. "Ein paar Bräute zum Ficken natürlich."

Er verschwand in seinem Zimmer.

"Und du meinst, du kriegst sie?", rief ich ihm hinterher.

"Na hoffentlich, wie soll ich die Weihnachtstage ohne Vögeln überstehen?"

"Du hast über 14 Jahre ohne Vögeln überstanden?"

Aus seinem Zimmer flog mir ein Kopfkissen an den Kopf. Auch wenn meine ersten sexuellen Erfahrungen nicht berauschend waren, zog ich ihn gerne mal damit auf, dass er sein erstes Mal noch nicht hatte.

Die Weihnachtstage waren dann ruhig und gemütlich. Mein Bruder bekam natürlich keine Mädchen geschenkt, aber viele andere Dinge, über die er sich freute. Ansonsten war es ein ganz normales Weihnachtsfest mit Weihnachtsbaum, Lametta, Weihnachtsmusik und gutem Essen. Nichts Neues, aber Weihnachten lebt ja davon, dass alles so ist wie immer.

"Kawumm!"

Eigentlich mochte ich Böller ja nicht, aber zu Silvester musste das sein. Wir standen hinter dem Haus von Jans Eltern auf der Wiese und warteten auf den Jahreswechsel. Nur noch ein paar Minuten, dann war das neue Jahr da.

"Wisst ihr, was ich von meiner Tante gehört habe?"

Alle drehten sich nach Julia um. Julias Tante arbeitete in der Schulbehörde, so dass wir immer mit den neuesten Informationen versorgt wurden, aber dass es ausgerechnet zu Silvester etwas Neues aus der Schule geben sollte, war dann doch erstaunlich.

"Wir sollen schon zum Halbjahreswechsel einen behinderten Schüler in unsere Klasse kriegen."

"Was?"

"Ohne jede Vorbereitung?"

"Wieso das denn?"

"Es heißt, er würde mit seiner Familie neu hierherziehen, und weil es keine geeignete Spezialschule hier für ihn gibt und seine Mutter ihn nicht auf ein Internat schicken will, und weil das Schiller ihn nicht aufnehmen will, kommt er halt zu uns."

Das Schiller-Gymnasium war das andere Gymnasium in der Stadt. Wir waren auf dem Kant-Gymnasium, das natürlich das viel bessere von beiden war. Meinten wir jedenfalls.

"Und was für ein Behinderter soll das sein?"

"Keine Ahnung."

Oje, na da konnten wir ja gespannt sein, was das neue Jahr bringen würde. Und das begann jetzt gerade mit Gejohle, Böllern und Feuerwerk ringsum. Was wünschte ich mir eigentlich für dieses Jahr, überlegte ich, während vor mir eine Rakete aufstieg. Eigentlich nur eins: einen Freund. Einen Freund zum Kuscheln, zum Schmusen, zum zusammen Einschlafen. Würde der Wunsch in Erfüllung gehen? Ich glaubte es nicht. Aber ich wünschte es mir.

Es gab Dinge, die sich auch im neuen Jahr nicht änderten. Zum Beispiel, dass man zur Schule musste. Die Nachricht, dass wir in ein paar Wochen einen Neuen in der Klasse haben würden, verbreitete sich im üblichen Tempo. Vor der ersten Stunde wurden die ersten Informationen weitergereicht, nach der zweiten Stunde redete die ganze Schule darüber. Zumindest die Schüler, die Lehrer sagten nämlich keinen Ton zum Thema.

Vielleicht wollen die noch ein paar Tage mit der Info warten, dachten wir uns alle.

Aber nach ein paar Tagen kam immer noch kein Wort von den Lehrern, auch nach einer Woche nicht, und nach zwei Wochen saßen wir immer noch genauso ahnungslos in Herrn Schmidts Englischunterricht.

"Warum sagt der eigentlich nichts?", flüsterte Jan mir zu.

"Vielleicht war an der Information doch nichts dran?"

"Die Information ist völlig wasserdicht", flüsterte Julia von hinten.

"Hat jemand von euch das Klassenbuch in die Hände gekriegt? Vielleicht steht der Neue da ja schon drin."

Allgemeines Kopfschütteln.

Durch ein Klopfen an der Tür wurden wir aus der Diskussion gerissen. Die Tür öffnete sich und unsere Direktorin Frau Stein erschien im Türrahmen. Um genau zu sein, sie füllte ihn aus. Schulleiterinnen mussten wohl immer ihre Bedeutung durch ihren Körperumfang untermauern.

"Herr Schmidt, ich störe Sie nur sehr ungerne, aber es ist ein ganz dringender Anruf für Sie."

Upps, so was kam selten vor.

Herr Schmidt ging mit Frau Stein ins Sekretariat. Das war unsere Chance! Vorne lag das Klassenbuch. Also hineinsehen, blättern, Klassenliste suchen? Und siehe da: Der Neue stand tatsächlich drin! Sehr vielsagend war das aber nicht, mehr als Name und Geburtsdatum stand da nicht. Wir wussten jetzt immerhin, dass er Thomas Neumeier hieß. Und er war 16 wie wir, also offenbar nie sitzengeblieben. Lange diskutieren konnten wir auch nicht, denn Herr Schmidt kam schon wieder rein und fuhr ungerührt mit seinem Einschlafentspannungsprogramm – oh sorry – seinem Unterricht fort.

Als er am Ende der Stunde, d.h. natürlich drei Minuten nach Ende der Stunde, seine Sachen zusammenpackte, hielt ich es nicht mehr aus.

"Herr Schmidt, stimmt es, dass wir einen behinderten Schüler kriegen?"

Herr Schmidt stutzte einen Moment. "Oh, Nachrichten machen hier ja schnell die Runde. Eigentlich wollten wir das mit euch und ihm zusammen besprechen, wenn er da ist. Ja das stimmt."

"Aber wir haben hier doch gar nicht die Voraussetzungen, um einen Körperbehinderten oder einen Blinden aufzunehmen?"

"Er ist ja auch weder körperbehindert noch blind."

Oje, der sagte uns ja tatsächlich fast nichts. Jetzt ging er auch schon wortlos in Richtung Tür.

"Herr Schmidt?"

"Ja?"

"Was für eine Behinderung hat er denn nun?"

"Er ist gehörlos."

"Und wie soll er dann dem Unterricht folgen?"

"Er kann wohl recht gut von den Lippen ablesen. Außerdem hat er ein paar Förderstunden bei einer Gehörlosenpädagogin, die mit ihm die Lücken füllt, wenn er was nicht verstanden hat. Alles andere werden wir aber wirklich sehen, wenn er da ist."

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Klassenraum.

Ein Gehörloser? An diese Möglichkeit hatten wir gar nicht gedacht.

"Meint ihr das klappt, dass er alles mitkriegt?"

"Weiß nicht", meint Lisa, "ich glaube, die Idee dabei ist, dass wir ihm helfen sollen."

"Vielleicht ist es ja ein total gutaussehender, dann hilft Lukas ihm sabbernd bei jeder Aufgabe", grinste Jan mich an.

"Pah, vergesst es."

Obwohl, vielleicht hatte er ja recht, so einen richtig gut aussehenden Schüler gab es bislang in unserer Klasse nicht? Abgesehen davon, dass ich natürlich nie sabbere.

Na ja, was soll‘s, erst mal abwarten. Vielleicht war er ja auch das größte Ekel der Welt, dann würde ich sowieso nichts mit ihm zu tun haben.

Die folgenden zwei Wochen zogen sich mit der gewohnten Ereignislosigkeit hin. Schultag reihte sich an Schultag und es gab Halbjahreszeugnisse mit so ziemlich den erwarteten Noten.

Der folgende Montag begann schon mal gut, mit Mathe bei Herrn Mausbach. Mathe war eins meiner Lieblingsfächer, ich ließ mich auch durch unbeliebte Themen nicht abschrecken und kämpfte mich tapfer durch die Logarithmen. Wie war das jetzt nochmal, brauchte ich hier den natürlichen oder den dekadischen Logarithmus?

Meine Überlegungen wurden durch ein unharmonisches Klopfen an der Tür gestört. Herein kamen Frau Stein, Herr Schmidt, eine Frau, die ich nicht kannte, und dahinter? Boah, ich wäre fast vom Stuhl gefallen. Mein absoluter Traumtyp! Hellblonde Haare, dunkelbraune Augen, im linken Ohr ein Ohrring, breite Schultern, soweit man das unter der schwarzen Jacke erkennen konnte. Hatte ich schon erwähnt, dass ich total auf Muskeln stehe? Also, keine ekligen Bodybuilder, aber bei durchtrainierten, athletischen Typen konnte ich sofort schwach werden. Und genau so eine Statur schien dieser Typ zu haben. Und dazu hatte er auch noch ein richtig süßes, irgendwie total liebes Gesicht. Wenn er lächeln würde, könnte er bestimmt mein Herz zum Schmelzen bringen. Im Moment sah er sich aber nur ziemlich unsicher um.

"Sabber nicht", grinste Jan mich an.

"Ich sabber nicht!"

"Doch!"

"Das hier ist Thomas", erklärte Frau Stein. "Ihr wisst ja schon, dass er ab jetzt zu eurer Klasse gehört. Ich wünsche mir, dass ihr ihn möglichst tatkräftig unterstützt. Und das hier", sie drehte sich zu der Frau um, die mit reingekommen war, "ist Frau Mayring, unsere neue Gehörlosenpädagogin. Sie wird Thomas helfen. Sie bietet aber auch für alle einen Kurs in Gebärdensprache an. Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele von euch teilnehmen. Die Termine werden noch am schwarzen Brett ausgehängt."

Bis auf Thomas verschwand die Truppe so schnell, wie sie gekommen war. Thomas ließ sich an einem freien Tisch schräg vor mir nieder, so dass ich Gelegenheit hatte, ihn ein bisschen zu mustern. Die schwarze Jacke hatte er über den Stuhl gehängt und seinen Rucksack unter den Tisch gestellt. Am Rucksack hingen ein Fahrradhelm und eine Luftpumpe, offenbar war er trotz der winterlichen Temperaturen mit dem Rad da. Genau wie ich war er offenbar kein Fan von Markenklamotten, er trug ein ganz normales weißes Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe. Und ohne Jacke konnte man noch ein kleines bisschen mehr von seinem Body erahnen, er ging offenbar regelmäßig trainieren.

"Du sabberst ja schon wieder?"

"Pah!"

"Meint ihr, der packt das bei uns?"

"Ich weiß nicht." Lisa schien sich fast schon Sorgen zu machen. "Ich hatte nicht den Eindruck, dass er viel mitgekriegt hat. Es hieß doch, er kann von den Lippen ablesen?"

"Dazu muss Herr Mausbach ihn aber auch ansehen", warf ich ein. "Er ist immer hin- und hergegangen, ich glaube, die halbe Zeit konnte Thomas nur seinen Rücken sehen."

"Vielleicht hätten wir ihm wirklich irgendwie helfen sollen."

"Wie denn? Wie soll man denn überhaupt mit ihm Kontakt aufnehmen?"

"Na du hättest ihm doch lieber geholfen sich auszuziehen." Jan grinste das dreckigste Grinsen, zu dem er fähig war.

"Stimmt doch gar nicht?"

"Na, es war nicht zu übersehen, dass er dir gefällt", meinte Julia.

Oje, bin ich so leicht zu durchschauen? Ich schielte so vorsichtig wie möglich zum Tisch in der Ecke. Dort saß mein heimlicher Schwarm zusammen mit einem Mädchen. War das vielleicht seine Freundin? Dann würde ich sie heimlich hassen.

"Das ist Klara, seine Schwester. Die geht in die Neunte und kann im Gegensatz zu ihm hören", erklärte Kevin, als hätte er meine Gedanken lesen können.

"Woher weißt du das?"

"Der Flurfunk ist schon hier am Tisch angekommen. Du hast es nur nicht mitbekommen, weil du Thomas angehimmelt hast."

"Ich habe ihn nicht …"

Oje, ich musste mir wohl wirklich mehr Mühe geben, das zu verstecken.

Ich stand auf, um mein Tablett zurückzubringen. Am Tablettregal stolperte ich fast über meinen kleinen Bruder.

"Sag mal, ist das euer Neuer?" Er deutete mit dem Kopf zu Thomas.

"Ja, wieso?"

Dass Alex sich für die Jungs in meiner Klasse interessierte, hatte ich noch nie erlebt.

"Und wer ist die Hübsche an seinem Tisch?"

Aha, daher wehte der Wind.

"Das ist seine Schwester. Jetzt erzähl mir bitte nicht wieder was von geile Bräute knallen?"

"Nee, nee. Die ist, sie ist … äh … wirklich … äh … hübsch?"

Mit leicht rötlichem Gesicht zog er stammelnd ab. Offenbar war ich nicht das einzige Mitglied der Familie Kamphaus, das für ein Mitglied der Familie Neumeier schwärmte.

Allmählich begann ich, mir um meinen heimlichen Schwarm Sorgen zu machen. Die Schultage flossen dahin und die Situation wurde nicht besser. Jedenfalls wirkte es so, als würde er nicht so wahnsinnig viel vom Unterricht mitbekommen.

Na ja, vielleicht sollte ich mir nicht so sehr den Kopf über die Probleme anderer Leute zerbrechen. Andererseits, er war ja so süß. Es hieß ja, dass Frau Mayring ihm hilft, die Lücken zu füllen. Ich konnte nur hoffen, dass das funktionierte.

Mist! Jetzt hatte ich ein viel aktuelleres Problem: Informatik war heute auf die 9. und 10. Stunde verschoben und ich hatte zwei Freistunden.

"So eine Scheiße!", meinte ich auch noch laut, als ich vor dem schwarzen Brett stand.

"Kannst ja zu dem Mongo-Kurs für Zeichensprache gehen."

Oje, Matthias der Idiot schon wieder. Zum Glück ging er an mir vorbei und machte nicht noch ein paar Bemerkungen von der Art.

Oje, zu früh gefreut. Thomas kam gerade von der Treppe her zum schwarzen Brett und Matthias empfing ihn mit ein paar Affengesten. Ich drehte mich weg, das musste ich mir wirklich nicht mit ansehen.

"Hee, was soll das?", hörte ich plötzlich Matthias schreien.

Ich drehte mich wieder um. Thomas hatte Matthias am Kragen gepackt und hochgehoben. Ui, der musste ja wirklich eine wahnsinnige Kraft haben, er ging bestimmt ins Fitnessstudio. Matthias zappelte, aber Thomas hielt ihn mit einer Hand in der Luft. Nach ungefähr einer Minute setzte Thomas ihn wieder ab. Matthias trollte sich. Offenbar hatte er gemerkt, dass er sich mit Thomas besser nicht anlegen sollte.

Trotzdem stand ich immer noch vor dem Problem, was ich mit meinen beiden Freistunden anfangen sollte. Hm, vielleicht sollte ich wirklich zu dem Gebärdensprachkurs gehen. Wenn es mir nicht gefiel, konnte ich ja auch wieder wegbleiben.

Als ich mit dem Klingeln in den Klassenraum kam, stellte ich fest, dass der Kurs wohl auf kein großes Interesse stieß. Außer mir waren noch ein paar Oberstufenschüler da, ansonsten keiner.

"Hallo!", tönte es. Oder vielmehr, es tönte nicht. Frau Mayring formte das Wort nur mit den Lippen und winkte dabei. Offenbar war das die korrekte Begrüßung unter Gehörlosen.

Bevor es mit weiteren Gebärden losging, begann sie allerdings erst mal mit ein paar Erklärungen.

"In Deutschland benutzen Gehörlose die Deutsche Gebärdensprache. Außerdem gibt es noch das Lautsprachebegleitende Gebärden, bei dem die Lautsprache eins zu eins in Gebärden umgesetzt wird. Die Deutsche Gebärdensprache hat dagegen einen Satzbau, der sich deutlich von der deutschen Sprache unterscheidet.

In der Gehörlosenpädagogik gibt es zwei Meinungen. Die einen vertreten die lautsprachliche Erziehung. Dabei sollen die Schüler möglichst viel von den Lippen ablesen und auch selbst sprechen lernen, was den meisten aber schwerfällt, weil sie ja ihre eigene Stimme nicht hören können. Die andere Richtung vertritt den Unterricht in Deutscher Gebärdensprache. Das hat den Vorteil, dass die Kommunikation leichter ist. Der Nachteil ist aber, dass es schwerer wird, mit Hörenden in Kontakt zu treten. Außerdem fällt es vielen schwer, deutsche Texte zu schreiben, weil sie ja an eine völlig andere Grammatik gewöhnt sind. Das sollte man aber nicht verallgemeinern, ich kenne auch Gehörlose, die ein sehr gutes Deutsch schreiben.

So, jetzt aber genug Theorie für den Anfang. Jetzt wollen wir ein bisschen gebärden. Dazu benutzen wir nicht nur unsere Hände, wichtig ist auch die Mimik?"

Frau Mayring machte ein paar Gesten vor. Ich fürchtete, ich würde mich dabei albern fühlen, aber irgendwie machte das Spaß. Bald gingen wir über einen virtuellen Markt und zeigten uns gegenseitig winzige Früchte, dünnen Spargel und dicke Rüben, alles mit passenden Gebärden begleitet.

"So, damit sind wir am Schluss für heute." Die zwei Stunden waren wie im Flug vergangen.

"Nächstes Mal bilden wir dann ein paar richtige Sätze, wie gegenseitiges Vorstellen und dergleichen. Danke erst mal, dass ihr so toll mitgemacht habt."

Die Oberstufler verließen den Klassenraum, aber ich wollte Frau Mayring noch etwas fragen. Schließlich kannte sie Thomas doch schon etwas besser.

"Ist Thomas eigentlich lautsprachlich aufgewachsen oder mit Gebärden?"

"Sagen wir mal so, er wurde immer etwas hin- und hergeschoben. Er kann ganz gut von den Lippen ablesen, selbst sprechen gelingt ihm aber nicht so richtig. Jedenfalls kann man ihn praktisch nicht verstehen, er verständigt sich mit Gebärdensprache."

"Also hat er Schwierigkeiten in Deutsch?"

"Nein, er schreibt ein hervorragendes Deutsch. Er ist einfach ein hochintelligenter Schüler, bisher hatte er fast nur Einsen. Ich fürchte, hier wird das schwieriger. Ich versuche ja, ihm zu helfen, die Lücken zu füllen, aber bei Mathe und Naturwissenschaften fällt mir das schwer, weil ich da auch an die Grenzen meiner Fähigkeiten komme. Da müsst ihr schon mithelfen."

Ich bedankte mich bei Frau Mayring und ging zur Tür.

"Lukas?"

Ich drehte mich nochmal um.

"Warum fragst du das alles Thomas eigentlich nicht selbst?"

"Weil … äh … keine Ahnung."

"Weil du nicht weißt, wie du mit ihm Kontakt aufnehmen sollst?"

"Ja, so ungefähr."

"Mein Gott, versuch es mit Gesten, oder schreib ein paar Zettel oder sowas. Ich dachte auch immer, ihr jungen Leute würdet sowieso ständig im Internet chatten, geht sowas nicht auch mit ihm?"

Hm, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Chat wär eine Möglichkeit. Aber in welchem Chat denn?

Als ich zu Hause ankam, fuhr ich den Computer hoch. Vielleicht war er ja bei Jappy zu finden. Ich benutzte Jappy selten, ich traf mich mit meinen Freunden lieber in echt, aber vielleicht fand ich Thomas ja. Also schnell unsere Postleitzahl und das Alter 16 in die Suche eingegeben, mal sehen was da so kommt. Unsere Stadt war nicht so groß, die Ergebnisse waren überschaubar. Es gab da halt ein paar Leute, die ich schon kannte, und noch zwei oder drei, die ich nicht kannte, aber Thomas war nicht dabei. Ich klickte noch die Profile ohne Bild durch, aber da war auch nichts, was auf ihn passte. Enttäuscht schaltete ich den Computer wieder aus.

Am Abend lag ich auf meinem Bett und dachte nach. War es wirklich so eine gute Idee, Thomas bei uns aufzunehmen, so ohne Vorbereitung und ohne jedes Konzept? Schließlich war nicht zu übersehen, dass er ernsthafte Schwierigkeiten hatte. Das Schiller-Gymnasium hatte es ja auch abgelehnt, ihn aufzunehmen, hatte Julia erzählt. Wahrscheinlich hatten die die Schwierigkeiten vorausgeahnt. Moment mal … das Schiller? Vielleicht wohnte er ja da in der Gegend. Dann hatte er gar nicht unsere Postleitzahl, sondern die andere, die es in der Stadt noch gab.

Obwohl es schon spät war, fuhr ich nochmal den Rechner hoch und fand mich auch schnell in der Jappy-Suche wieder. Und … Bingo! Da war er. Mit einem netten Profilbild, auf dem er fröhlich lachte. Oh mein Gott, wie süß er da aussah! Mir fiel auf, dass ich ihn noch nie fröhlich gesehen hatte, offenbar fühlte er sich doch sehr fremd bei uns.

Oh, er war sogar noch online. Einen Moment zögerte ich noch, dann schickte ich ihm eine kurze Nachricht: "Hey!" Etwas Besseres war mir nicht eingefallen.

Kurz danach kam eine Nachricht zurück: "Hey"

"Auch noch wach?"

"Ja, aber nicht mehr lange. War ein anstrengender Tag."

"Unsere Schule ist sehr anstrengend für dich, stimmt‘s?"

"Ach, geht so."

Ich war sicher, dass er seine Probleme hier stark untertrieb.

"Ich kann dir gerne mal helfen, bei Mathe oder so?"

"Danke, brauch ich nicht."

Offenbar war er zu stolz, sich helfen zu lassen. Ich überlegte schon, wie ich ihn noch überzeugen könnte, als noch eine Nachricht von ihm kam:

"Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht."

Und weg war er. Ich war auch reif fürs Bett, aber erst sah ich mich noch ein bisschen auf seinem Profil um. Es war fast genauso inhaltsleer wie meins. Immerhin stand da, dass er single war. Ansonsten hatte er aber praktisch nichts angegeben, auch nicht, ob er Mädchen oder Jungs suchte. Aber was zerbrach ich mir auch den Kopf darüber, die Chance, dass er schwul war, war verschwindend gering.

Einen Blick warf ich noch auf seine Fotos. Das Profilbild schien das einzige Aktuelle zu sein. Ansonsten hatte er zwei Ordner, die beide schon vor zwei Jahren angelegt worden waren. Im Ordner "Freunde und ich" war Thomas zu sehen, wie er sich offenbar gut gelaunt gebärdend mit anderen unterhielt. Ich klickte den Ordner "Fußball" an. Es war nur ein Bild darin, aber diese Bild … ich fiel fast vom Stuhl. Es zeigte Thomas beim Fußball spielen … mit freiem Oberkörper! Auch wenn das Bild offenbar schon zwei Jahre alt war, hatte er darauf schon einen ganz ansehnlichen Body, auch wenn er jetzt sicher noch viel besser aussah. Natürlich war er im Sportunterricht in der Gruppe für die besten Schüler, so dass ich ihn noch nie beim Sport gesehen hatte.

Später lag ich in meinem Bett und versuchte einzuschlafen, aber es gelang mir nicht. Immer wieder stellte ich mir Thomas ohne Hemd vor, wie er wohl aussehen würde, und was er für tolle Muskeln hätte. Mein Schwanz war schon die ganze Zeit so hart wie Granit und es blieb mir nichts anderes übrig, als mir einen zu rubbeln.

"Vielleicht habe ich ja die Chance, ihn im Sommer mal oben ohne zu sehen", dachte ich mir, während ich mir mit einem Taschentuch mein Sperma vom Bauch wischte. "Vielleicht kann ich …" Weiter kam ich nicht, ich schlief endlich ein.

Oh, shit! Heute war ich ja wirklich knapp dran zur Schule. Ich rannte die Treppe hoch und schaffte es gerade noch mit dem Klingeln in den Klassenraum.

Puh, gerade noch geschafft. Aber keine Panik, Herr von Ochsbrink, unser Geschichtslehrer, schrieb gerade erst noch die Tafel voll. Es würde noch mindestens fünf Minuten dauern, bis er mit dem Unterricht anfing.

Beim Vorbeigehen winkte ich Thomas mit dem "Hallo" zu, das ich gestern gelernt hatte. Er blickte überrascht auf, zögerte und antwortete dann auch mit "Hallo".

Ich ließ mich auf meinen Platz neben Jan fallen. "Na, hast du endlich die Aufmerksamkeit von deinem Schwarm?"

"Er ist nicht mein Schwarm."

"Offenbar ja doch."

Ich gab es auf. Jan merkte halt immer, dass ich Thomas ansah. Aber heute war etwas anders. Thomas saß etwas mehr zur Klasse gedreht und aus den Augenwinkeln blickte er öfter zu mir rüber. Leider wich er meinem Blick immer wieder aus, wenn ich ihn ansah.

"Na immerhin scheinst du sein Interesse an dir geweckt zu haben", meinte Jan, als wir nach der zweiten Stunde die Treppe Richtung Hof hinuntergingen. Ich hatte ihm schon in der Stunde im Flüsterton von den Ereignissen des vergangen Tages berichtet.

"Na ja, etwas scheu ist er dabei aber immer noch. Und helfen lassen will er sich auch nicht."

"Aber du hast doch gesehen, wie er dich angeguckt hat." Jan setzte mal wieder sein schäbigstes Schmuddelgrinsen auf. "Ich glaub, der ist scharf auf dich."

"Na, das könnte dir so passen. Ich geb ja zu, ich finde, er sieht nett aus?"

"Nett? Du träumst doch sicher den ganzen Tag von Sex mit ihm."

Mein Gott, der grinste immer noch. Und ich trat vor Schreck an der untersten Treppenstufe daneben und flog fast auf die Nase. Moment mal, wieso eigentlich nur fast? Eigentlich war ich doch gerade vornübergekippt und jetzt hing ich in der Luft. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass mich jemand mit einem kräftigen Griff festgehalten hatte und mich jetzt wieder auf die Füße stellte. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Thomas und lächelte mich freundlich an. Er hatte mich angelächelt! Thomas hatte mich angelächelt! Ziemlich bedröppelt ging ich auf den Hof. Was hatte Jan gesagt? Ich will Sex mit Thomas? Ja, das auch irgendwie vielleicht. Aber am liebsten wollte ich ihn knuddeln und streicheln und an ihn gekuschelt einschlafen. Leider würde das wohl ein Traum bleiben.

Am Abend guckte ich wieder bei Jappy rein. Leider war Thomas nicht angemeldet. So ging das ein paar Tage weiter. In der Schule sah er mich inzwischen freundlicher an, lächelte sogar mal, aber mit ihm ins Gespräch gekommen war ich bisher nicht, wie auch. Aber bei Jappy jeden Tag das Gleiche – kein Thomas.

Es dauerte fast eine Woche, bis ich ihn wieder online erwischte.

"Hey, da bist du ja wieder."

"Ja, bin nicht oft hier online."

"Das hab ich gemerkt."

Plötzlich hatte ich eine Idee. Vielleicht könnte ich ihn ja mal nach seinem Verhältnis zu Mädchen befragen.

"Also benutzt du Jappy nicht, um eine Freundin zu suchen?"

"Nee, wieso?"

"Ich dachte nur so? Wegen dem oberkörperfreien Bild, ich dachte, das soll Mädchen anlocken."

"Nee, das war nur so beim Fußball."

"Ach so, du ziehst dir beim Fußball immer nur so das Shirt aus?"

"Das mach ich sehr gerne, nicht nur beim Fußball, überhaupt draußen, wenn es warm ist."

Wow! Ich stellte mir gleich vor, wie ich mit Thomas draußen wäre, und er würde sich das Shirt ausziehen. Mir wurde schon vom Gedanken heiß.

"Und dann laufen dir nicht alle Mädchen hinterher?"

"Nee"

Mein Gott, aus dem war ja wirklich nichts rauszukriegen. Aber einen Versuch musste ich noch wegen der wirklich wichtigen Sachen machen.

"Sag mal, soll ich dir nicht wirklich mal mit Mathe helfen?"

"Nee, nee, lass mal. Ich bin jetzt off."

Oje, der wollte sich wirklich nicht helfen lassen. Irgendwie konnte ich ihn ja verstehen. Er war ja früher wohl immer ein sehr guter Schüler gewesen und konnte es jetzt nicht verwinden, auf Hilfe angewiesen zu sein. Aber so wie jetzt konnte es doch auch nicht weitergehen.

Das konnte ich am nächsten Morgen schon wieder sehen. Der Tag begann mit Mathe. Mathe ist ja eigentlich schön, heute bekamen wir allerdings die Klassenarbeit wieder, dir wir vor kurzem geschrieben hatten. Das heißt, für mich war das trotzdem schön, ich konnte mir meine Eins abholen. Thomas saß allerdings ziemlich bedröppelt da. Es war jedenfalls offensichtlich, dass er die Arbeit versemmelt hatte.

"Bevor wir jetzt mit dem Unterricht weiter machen, möchte ich noch was an der Sitzordnung ändern."

Oh, was hatte Herr Mausbach denn jetzt vor?

"Ich musste bei der Korrektur feststellen, dass einige von euch wohl nicht nur ihren Grips, sondern auch die Lösungen ihrer Sitznachbarn benutzt haben. Kann das sein, Florian?"

Flo senkte schuldbewusst den Blick, jedenfalls sah es so aus. So richtig konnte man das unter seiner Baseballmütze nicht sehen, die er immer und überall trug. Eigentlich kannte ich ihn nur mit Mütze.

"Es wäre vielleicht besser, wenn Lisa nicht mehr neben dir sitzt. Ich glaube, Lisa wäre glücklich neben Jan."

Ja, das konnte ich mir vorstellen. Aber was war dann mit mir?

"Lukas, du könntest dich hier neben Thomas setzen, da ist ja noch ein Platz frei."

Ok, damit konnte ich leben. Während ich mich mit all meinen Sachen umsetzte, sah Herr Mausbach mich an und zog leicht eine Augenbraue hoch. Mir war der Sinn dieser Aktion sofort klar. Er wollte Unterstützung für Thomas, ohne ihn jetzt vor der Klasse bloßzustellen.

Thomas sah mich kurz an. Er guckte eigentlich ganz freundlich, jedenfalls schien ich willkommen zu sein. Lächeln tat er jetzt allerdings nicht, im Gegenteil, er sah ziemlich traurig aus. Das konnte ich auch verstehen, die Arbeit war für ihn ja offenbar nicht gut gelaufen. Ich versuchte, einen Blick auf seine Arbeit zu erhaschen. Oh Gott, die hatte er ja so richtig in den Sand gesetzt. Das musste ihn echt schmerzen, an solche Noten war er sicher nicht gewöhnt.

Ich schob ihm einen Zettel rüber. "Ich kann dir wirklich helfen."

Er schrieb drunter: "Brauch ich nicht."

Mein Gott, war der stur. Herr Mausbach machte jetzt mit dem Unterricht weiter. Ich versuchte, gleichzeitig dem Unterricht zu folgen und Thomas zu beobachten. Jetzt war es eindeutig: Er bekam das Tafelbild mit und einige unzusammenhängende Sätze von Herrn Mausbach. Und sonst nichts. So konnte das nichts werden.

Ich sah Thomas an. Er wandte zwar sofort das Gesicht ab, aber die halbe Sekunde hatte gereicht, um zu sehen, dass in seinen schönen, braunen Augen Tränen standen. Er wusste wohl, dass hier gerade seine Schullaufbahn den Bach runterging.

Ein paar Minuten versuchte er noch, seine Unterrichtsnotizen fortzuführen, aber dann kapitulierte er offenbar. Oje, tat der mir leid. Ein paar Minuten saß er jetzt nur noch regungslos da.

Plötzlich kam wieder Bewegung in ihn. Er schrieb etwas auf einen Zettel, und mit leicht zitternden Fingern schob er ihn mir rüber.

"Kannst du heute nach der Schule mit zu mir kommen?"

Hurra, endlich hatte er begriffen, dass ihm jemand helfen wollte. Ich schrieb ein kurzes "Ja" darunter und schickte meiner Mutter eine SMS, dass ich später nach Hause kommen würde. Thomas drückte auch auf seinem Handy rum, offenbar kündigte er meinen Besuch zu Hause an. Eigentlich eine praktische Erfindung, die SMS, das musste ihm das Leben ja deutlich erleichtern.

Erleichtern musste ich mich auch, nämlich nach der Stunde auf dem Klo. Am Waschbecken traf ich Alex, der offenbar das gleiche dringende Bedürfnis hatte. Ich erzählte ihm schnell noch, dass ich heute später nach Hause käme, weil ich noch mit zu Thomas gehen würde.

"Na dann kannst du doch endlich mit ihm poppen?" Oje, Alex‘ Grinsen war ja fast unerträglich.

"Alex!"

"Na das sieht doch jeder, dass du auf ihn stehst."

"Raus!"

Alex trollte sich tatsächlich.

Als ich in die Klasse zurückkam, schoben sich Thomas und Jan gerade ein paar Zettel zu. Irgendwie schön, dass er etwas auftaute und allmählich mit den anderen in Kontakt trat. Ich weiß nicht, was Jan ihm mitgeteilt hatte, der grinste mich an. Thomas guckte auch irgendwie anders als vorhin, irgendwie ein bisschen glücklicher, offenbar hatte er den ersten Schock über seine Arbeit überwunden.

Ein bisschen aufgeregt war ich ja schon, als wir nach der Schule losgingen und er sein Fahrrad neben mir herschob. Mein Gott, der wohnte ja echt am Ende der Welt. Wir mussten einmal durch die komplette Stadt, quer über den großen Markplatz und am Rathaus vorbei. Wir waren fast eine halbe Stunde unterwegs. Kein Wunder, dass Thomas auch im Winter mit dem Fahrrad kam, eine vernünftige Busverbindung gab es auch nicht. Irgendwie wirkte Thomas jetzt gelöster als in der Schule. Sprechen konnten wir ja schlecht miteinander, aber dafür lächelte er mich hin und wieder freundlich an, und ich lächelte zurück.

Die Neumeiers wohnten in einem netten Reihenhaus. Thomas schloss die Tür auf und im Flur erwartete uns eine Frau, die offenbar seine Mutter war. Sie sah Klara jedenfalls ziemlich ähnlich. Sie begrüßte Thomas mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange und wuschelte ihm durchs Haar. Sofort hatte ich den Wunsch, dasselbe zu tun, aber das konnte ich ja wohl kaum machen.

"Hallo Lukas", sagte sie strahlend. Ihr war also klar, wer ich war. "Schön, dass Tommy auch endlich mal jemanden von der Schule mitbringt."

Die Neumeiers schienen recht frisch eingezogen zu sein, in der Ecke standen noch ein paar zusammengefaltete Umzugskartons.

Frau Neumeier bemerkte meinen Blick. "Ja, wir sind noch recht neu in der Stadt. Aber jetzt sind wir fertig mit dem Umzug und allen Installationen. Nur die Heizung funktioniert nicht so richtig, deshalb ist es hier noch etwas kühl. Aber das wird morgen in Ordnung gebracht, eigentlich mögen wir es warm."

Es stimmt, eigentlich war es ziemlich frisch hier. Schade, ich hatte schon gehofft, Thomas im T-Shirt zu sehen?

Erst einmal zeigte Thomas mir das Haus. Es war nicht besonders groß, aber sehr gemütlich. Unten waren Küche, Bad und Wohnzimmer, und hinter dem Wohnzimmer ein kleiner Garten. Im Sommer musste es hier schön sein, der Garten war von draußen nicht einsehbar, und auf der kleinen Terrasse am Haus konnte man sicher gut liegen und sich sonnen. Ich stellte mir lieber nicht vor, was ich mit Thomas dort noch alles machen könnte.

Thomas führte mich die Treppe rauf. Oben war das Schlafzimmer seiner Mutter – mir fiel auf, dass bei ihm irgendwie kein Vater vorkam – und das Zimmer seiner Schwester. Wir warfen einen kurzen Blick rein, sie schien nicht da zu sein. Ihr Zimmer war ordentlich aufgeräumt, was man von Thomas‘ eigenem Zimmer nun wirklich nicht behaupten konnte. Er räumte schnell einige Sportsachen weg, damit wir überhaupt Platz zum Sitzen hatten. Ansonsten sah sein Zimmer aus wie das eines ganz normalen Jugendlichen, außer dass es keine Stereoanlage gab und keine Musikposter an der Wand hingen. Mir fiel eine komische Lampe über der Tür auf, deren Sinn ich mir nicht erklären konnte. Thomas bemerkte meinen fragenden Blick, ging raus und drückte auf einen Knopf. Die Lampe fing an, hell zu blinken. Aha, das war also der Ersatz für das Anklopfen, so hatte Thomas auch ein bisschen Privatsphäre in seinem Zimmer.

"Ich muss mal aufs Klo", signalisierte ich ihm. Natürlich kannte ich keine passenden Gebärden dafür, sondern musste ungefähr vormachen, was ich meinte, was mich rot werden und ihn grinsen ließ.

Unten kam ich an der Küche vorbei und Frau Neumeier guckte raus. "Ich bin wirklich froh, dass jemand Tommy hilft, bisher scheint es ja nicht so gut gelaufen zu sein."

"Ja, irgendwie hat die Schule das auch nicht richtig vorbereitet."

"Ja, zum einen das, zum anderen war er selbst ja auch nicht darauf vorbereitet. Dazu kamen dann immer die Probleme, die er mit seinem Vater hatte."

"Wo?" Ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Nach dem Vater, den es hier offenbar nicht mehr gab, wollte ich eigentlich nicht fragen.

Frau Neumeier hatte die Frage trotzdem verstanden. "Ach, du darfst ruhig fragen. Nein, er wohnt nicht hier, er hat uns verlassen. Deshalb musste ich mir ja eine Arbeit suchen und arbeite jetzt hier im Krankenhaus. Na ja, er wollte wohl immer einen perfekten Sohn haben und Tommy war für ihn immer ein Behinderter, und sein zweites Kind dann ja eine Tochter. Und dass sein Sohn dann in seinen Augen auch noch ein doppelt Behinderter … Na ja, lassen wir das, jedenfalls ist er damit nicht klargekommen."

Ich verstand zwar nicht, was sie mit doppelt meinte, aber wollte lieber nicht fragen, es ging mich ja auch nichts an.

"Ich muss jetzt leider zur Arbeit."

"Oh, Sie müssen ja wirklich ungünstige Dienstzeiten haben."

Sie lachte. "Na ja, irgendwie will das alles hier", sie zeigte auf das Haus ringsum, "ja verdient werden. Also viel Spaß heute."

Und Spaß machte das Lernen dann tatsächlich. Ich war erstaunt, wie einfach ich mich mit Thomas verständigen konnte. Mathematik ging mit Stift und Papier mühelos und ich merkte schnell, wie leicht man auch ohne Worte rumalbern konnte, was wir ausgiebig taten.

Die Zeit verging wie im Flug und ich fand es direkt schade, als ich gehen musste. Thomas war wirklich ein lieber Kerl, mit dem man viel lachen konnte.

Er brachte mich bis zur Tür. Ich überlegte noch, wie ich mich eigentlich verabschieden sollte. "Hallo" war ja im Kurs schon vorgekommen, aber Verabschieden nicht. Thomas nahm mir die Entscheidung ab … er umarmte mich und drückte mich ganz fest. Ich war mir sicher, dass das nicht die übliche Verabschiedung unter Gehörlosen war, aber ich genoss es natürlich trotzdem.

"Du gehst wieder zu Thomas?"

Alex guckte in mein Zimmer.

"Ja, wieso?"

"Könntest du nicht mal bei Klara erwähnen, dass du einen sehr netten Bruder hast?"

"Ich könnte ja erzählen, dass mein kleiner Bruder alle Bräute ficken will, die nicht bei drei auf den Bäumen sind."

"Wenn du das machst, setz ich mich an deinen Computer und lösche alle deine Pornos!"

"Bäh, die sind mit Passwort gesichert."

"Dann erzähle ich halt Thomas, dass du auf ihn stehst."

"Untersteh dich!"

"Weiß er denn überhaupt, dass du schwul bist?"

"Ich glaub nicht?"

Darüber dachte ich nach, als ich zu Thomas durch die Stadt lief. Eigentlich konnte er es nicht wissen, schließlich konnte er sich ja kaum mit den anderen in der Schule verständigen. Und ich hatte es ihm auch nicht gesagt. Hätte ich das vielleicht tun sollen? Andererseits, er begann gerade, mich als Freund zu behandeln. Und was, wenn er dann nichts mehr von mir wissen wollte? Aber irgendwann musste ich es ihm auch sagen. Oje, war das kompliziert?

Nachdenklich stapfte ich durch den Schnee. Ich hatte überlegt, ob ich den langen Weg mit dem Fahrrad fahren sollte, aber obwohl schon März war, war es bitter kalt, es lag Schnee und Glatteis. So stiefelte ich den Weg dann doch lieber zu Fuß.

Ich kam bei Thomas an und klingelte. Wobei klingeln nicht das richtige Wort ist, drinnen waren ein paar Lichtblitze zu sehen. Durch die Milchglastür sah ich eine vertraute Gestalt nahen und die Tür öffnen. Wow! Vor mir stand Thomas in einem T-Shirt und bunten Shorts. Ich hätte ihn ja am liebsten geknuddelt und geküsst. Einen Kuss gab es leider nicht, aber wieder eine Umarmung. Mann, war das geil, durch das dünne T-Shirt seine Rückenmuskeln zu fühlen!

Als er die Treppe vor mir hochging und ich seine muskulösen Beine vor mir sah, und als er sich dann in seinem Zimmer auf den Fußboden legte, die Arme hinter dem Kopf verschränkte und sich sein T-Shirt über der breiten Brust spannte, konnte ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Warum konnte dieser tolle Junge nicht schwul sein? Ich hätte ihn doch so gerne als Freund, also als richtigen Freund mit Beziehung und so, gehabt.

Das Lernen wurde aber genau so lustig wie schon beim letzten Mal. Und beim Rumalbern kam Thomas plötzlich auf die geniale Idee, mich abzukitzeln. Also nicht, dass ich mich gerne kitzeln ließ, aber jetzt hatte ich auch einen Vorwand, ihn anzufassen. Man spürte richtig schöne Muskeln durch das T-Shirt. Nur leider war Thomas natürlich viel stärker als ich und kitzelte jetzt richtig los. Er schob seine Hand unter mein T-Shirt und kitzelte meine nackte Haut! Mein Schwanz wurde sofort steinhart.

In dem Moment blinkte die Lampe über seiner Tür und wir setzten uns wieder halbwegs gesittet auf. Klara steckte den Kopf zur Tür hinein.

"Oh, hallo Lukas. Ich wollte nicht stören."

"Tust du nicht", log ich.

Sie wollte schon gehen, drehte sich aber nochmal um.

"Ach ja, was ich dich mal fragen wollte?"

"Ja?"

"Dieser Alex, ist das dein Bruder?"

"Ja?"

"Und hat der … äh … na du weißt schon?"

"Was?"

"Ich meine … hat der eine Freundin?"

"Nee, bisher nicht."

Mit leicht rotem Kopf verschwand sie. Aha, das konnte ja noch interessant werden.

Ich sah auf die Uhr, leider musste ich bald wieder gehen. Irgendwie fand ich das schade, aber andererseits freute ich mich natürlich schon auf die Umarmung, die ich wieder von Thomas kriegen würde.

"He, Lukas, tauch mal aus deinen Gedanken auf!"

Oh, Jan hatte gemerkt, dass ich im Gespräch am Mittagstisch nicht so ganz dabei war.

"Haut dich eine Zwei plus in Mathe so um?"

Oje, jetzt musste er auch noch in meinem Elend rumrühren. Eine Zwei plus empfand ich wirklich als Niederlage, zumindest in Mathe. Anderseits hätte ich mich auch freuen können. Thomas hatte es nämlich dank meiner Hilfe beim Lernen auf eine Eins minus gebracht und sah mich jetzt gut gelaunt an.

Ach das hatte ich noch nicht erwähnt? Thomas saß jetzt in der Schulkantine immer mit an unserem Tisch. Auch meine Freunde mochten ihn und sahen ihn gerne in unserer Runde, auch wenn sie immer etwas Mühe hatten, sich mit ihm zu verständigen. Zur Not musste ich mit meinen sehr rudimentären Gebärdenkenntnissen übersetzen. Ich ging regelmäßig zum Kurs, aber das meiste, was ich konnte, hatte ich von Thomas gelernt. Wer richtig Gebärdensprache lernen will, sollte sich unbedingt einen gehörlosen Freund anschaffen.

Und als Freunde bezeichneten wir uns mittlerweile. Leider nur so als Freunde, eigentlich hätte ich ja so gerne mehr von ihm gewollt, aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen.

"Nur mal so zur Aufmunterung …" Jan schreckte mich wieder mal aus meinen Gedanken hoch. "Übernächsten Sonntag ist Osterparty bei mir."

Oh stimmt, übernächsten Sonntag war Ostersonntag, aber eine Party hatten wir da noch nie gemacht.

"Osterparty?"

"Na mit Eiersuche und Osterfeuer und so."

"Cool, ich hoffe das Wetter spielt mit."

Und schon waren wir voll mit den Planungen beschäftigt. Jan nahm einen Zettel, schrieb etwas drauf und schob den Zettel zu Thomas rüber.

"Du kommst doch auch?", konnte ich kopfstehend lesen.

Thomas sah mich etwas unsicher an. Ich nickte ihm aufmunternd zu und er schrieb "ok" darunter. Ich freute mich für ihn, es wurde Zeit, dass wir ihn mal ein bisschen in unsere Gruppe integrierten. Ich hoffte, dass das Wetter bis Ostern besser werden würde, zurzeit hatten wir fünf Grad und Regen.

Offenbar wurden meine Wünsche vom Wettergott erhört. Wobei ich natürlich sicher war, dass es keinen Wettergott gab, aber meine Wünsche erfüllte er mir trotzdem. Und so kam ich bei Sonnenschein und frühlingshaften Temperaturen bei Jan an. Thomas war schon da und sah richtig glücklich aus. Irgendwie gab ihm die Einladung das Gefühl, endlich richtig dazuzugehören.

Allmählich waren auch die anderen Gäste eingetroffen, und Jan und Lisa begannen, Körbchen unter den Gästen zu verteilen.

"Ostern ohne Ostereier geht natürlich gar nicht. Deshalb haben Jan und ich … äh … hat der Osterhase im Garten Schokoladeneier versteckt. Achtung, gleich geht die Suche los?"

Beim Startsignal rannten wir alle los und suchten in Büschen und Blumenrabatten nach den Eiern. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Thomas durchs Gebüsch kroch und sich freute wie ein kleines Kind. Jan und Lisa sahen inzwischen allerdings schon etwas besorgt aus. Eins hatten sie nämlich nicht bedacht: Weil er daran gewöhnt war, sein fehlendes Gehör mit den Augen auszugleichen, hatte Thomas eine exzellente Beobachtungsgabe. Was wir gar nicht bemerkten, einen abgebrochenen Zweig etwa oder ein paar plattgetretene Grashalme, sah er sofort.

Ich ging mit meiner kärglichen Ausbeute zu Jan und Lisa.

"Ich glaube, ein großer Schatzsucher ist an mir nicht verloren gegangen."

"Dafür hat Thomas gleich für drei abgeräumt", meinte Jan.

Thomas kam gerade auf uns zu. In seinem Körbchen türmte sich ein großer Berg Ostereier. Er nahm einen Teil davon, packte ihn in mein Körbchen und strahlte mich an. Ich glaube, es war ein echtes Glücksgefühl für ihn, den Hörenden mal überlegen zu sein.

Der Abend wurde dann noch richtig lustig. Als es dunkel war, entfachten wir ein Osterfeuer. Eigentlich war es nur ein kleines Lagerfeuer, aber immerhin gab es einen schönen warmen Schein. Ich beobachtete die Szenerie. Es wurde gelacht, alle unterhielten sich angeregt, sogar Thomas machte sich mit lustigen Gesten verständlich und war glücklich, Kevin und Julia küssten sich im flackernden Licht des Feuers … Moment mal … Kevin und Julia küssten sich? Da war wohl mal wieder eine wichtige Information an mir vorbeigegangen.

Als Julia zum Haus lief, wahrscheinlich Richtung Klo, ging ich zu Kevin hinüber.

"Ist schön, dass ihr jetzt zusammen seid."

"Sind wir so richtig auch erst seit heute."

Ich blickte etwas traurig ins Feuer. Irgendwie war ich bald der einzige einsame Single in der Klasse.

Kevin musste meinen Blick bemerkt haben. "He du Topf, du findest auch noch deinen Deckel."

"Glaub ich nicht? Wo denn?"

Nach meinem katastrophalen Coming Out traute ich mich nicht mehr zu Internetdates und irgendeine nennenswerte Szene gab es in unserer kleinen Stadt gar nicht.

"Er würde doch gut zu dir passen?" Kevin deutete mit dem Kopf zu Thomas hin, der sich gerade mit ein paar Klassenkameraden mit Hilfe einiger lustiger, um nicht zu sagen obszöner, Gesten prächtig amüsierte.

"Ach was? Ich glaub nicht, dass er schwul ist?"

"Bist du sicher?" Kevin sah mich an. "Ich meine, wenn man euch so sieht? Siehst du das jetzt gerade? Er macht sich bei anderen bemerkbar, indem er sie mit dem Zeigefinger antippt. Dir legt er immer die ganze Hand auf die Schulter. Du musst also für ihn was Besonderes sein."

Das war mir noch gar nicht aufgefallen.

"Und wenn man sieht, wie er dich immer knuddelt?"

Thomas war tatsächlich dazu übergegangen, mich auch in der Schule mit einer festen Umarmung zu begrüßen und zu verabschieden, aber ich glaubte, dass das mehr damit zu tun hatte, dass ich mich halt um ihn kümmerte.

"Ich weiß nicht? Er weiß ja nicht mal, dass ich schwul bin."

"Und wann willst du es ihm sagen?"

Oje, damit hatte er mich wieder an meinem wunden Punkt getroffen. Einerseits bedeutete mir seine Freundschaft so viel, dass ich ihm so etwas Wichtiges eigentlich nicht verschweigen wollte. Andererseits hatte ich wahnsinnige Angst davor, dass er dann vielleicht nichts mehr von mir wissen wollte.

Aber heute wollte ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen. Nicht auf dieser schönen Party.

Es war schon Nacht, als ich endlich nach Hause kam. Trotzdem konnte ich nicht einschlafen und schaltete noch einmal den Computer ein. Und siehe da, bei Jappy war auch Thomas gerade online.

"Hey, König der Ostereier! Du bist ja auch noch wach."

"Ja, ja, die Eier sind meine Untertanen. Ich geh jetzt aber schlafen. Gute Nacht!"

"Gute Nacht, Thomas."

Und weg war er. Halt, da hatte er gerade noch vorher eine Nachricht geschickt:

"Für dich bin ich Tommy."

Der Frühling war leider nur ein kurzes Intermezzo. Es wurde wieder kühler und ich hatte den Eindruck, dass es wochenlang nur regnete. Auch meine Stimmung war in der Zeit oft ziemlich trübe. Einerseits vertiefte sich meine Freundschaft zu Tommy, wie ich ihn jetzt tatsächlich immer nannte, weiter, andererseits schaffte ich es einfach nicht, ihm mein kleines, oder eher großes, Geheimnis zu verraten.

Trotzdem genoss ich jede Minute, die ich mit ihm zusammen war. Leider konnten wir uns heute nicht treffen, weil er mal wieder seine Spezialstunden bei Frau Mayring hatte und danach noch ins Fitnessstudio wollte.

Wenigstens konnte ich mich heute in den Park setzen. Es war inzwischen Mitte Mai und nach der ganzen Kälte und dem ganzen Regen war heute der erste warme Tag, bestimmt 25 Grad. Ok, vielleicht auch nur 24, aber jedenfalls warm.

Bevor ich nach Hause ging, wollte ich mich natürlich noch von Tommy verabschieden. Aber wo war er? Im Klassenraum nicht mehr, auch auf dem Hof war er nicht zu sehen. Aha, wahrscheinlich war er draußen vor dem Schultor. Da gab es so eine Art Skaterparkours, den einige Schüler selbst angelegt hatten, und wo ich jetzt hinging.

Auf der Anlage rollten ein paar Siebtklässler auf ihren Brettern hin und her. Hm, wo war denn Tommy? Ich sah mich am Rund um. Huch, da saß ja Alex. Mit Klara! Händchen haltend! Da schien sich ja wirklich was anzubahnen.

Jetzt entdeckte ich auch Tommy. Er stand am Rand und sah den etwas unbeholfenen Skateversuchen der Kleinen ziemlich amüsiert zu. Jetzt lieh er sich von einem Siebtklässler ein Skateboard und rollte selbst auf die Anlage. Irgendwie sah er wirklich professioneller aus als die Kleinen.

"Der ist wirklich cool." Flo stand neben mir.

Er prüfte die Windrichtung, ging auf die andere Seite und zündete sich eine Zigarette an. Das fand ich irgendwie lieb von ihm, dass er immer nur in meinem Windschatten rauchte.

"Du findest ihn cool?"

"Na ja, er ist ein super Sportler. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch machen soll, um mit ihm mitzuhalten."

"Vielleicht aufhören zu rauchen?"

Ups, das hatte ich gar nicht sagen wollen, jedenfalls wollte ich ihn eigentlich gar nicht für irgendwas kritisieren, ich mochte ihn ja. Er sah mich aber nur nachdenklich an.

"Wahrscheinlich hast du recht." Dann, so leise, dass ich es kaum hören konnte: "Ich hoffe, ich schaff das. War blöd, überhaupt anzufangen."

Tommys Vorstellung war nun leider schon zu Ende, er rollte wieder zum Rand.

Oh, was war denn das? Jetzt zog er sich sein T-Shirt aus, rollte wieder auf die Anlage und setzte seine Show mit freiem Oberkörper fort! Das war das erste Mal, dass ich seinen Oberkörper in echt sah, seine tollen Muskeln, die sich die ganze Zeit bewegten. Hatte ich schon erwähnt, dass ich sportliche Jungs mit freiem Oberkörper total geil finde? Und jetzt war es auch noch mein Tommy! Ein Glück hatte ich eine dicke Hose an, sonst wäre mein Ständer wohl nicht zu übersehen gewesen.

Jetzt bemerkte Tommy mich und rollte auf mich zu. Er verabschiedete mich mit der üblichen Umarmung. Ich glaubte, meine Hose würde platzen, als ich so seinen nackten muskulösen Rücken unter meinen Händen hatte.

"Hübsches Paar", meinte Flo, als Tommy wieder wegrollte. Ich sah ihm in die Augen. Ich glaube, er meinte das ernst.

In den nächsten Wochen herrschte weiter schönes Maiwetter, aber meine Hoffnung, Tommy nochmal mit freiem Oberkörper zu sehen, erfüllte sich leider nicht. Vielleicht sollte ich den Wettergott mal um eine echte Hitzewelle bitten? Ach nein, den gab es ja gar nicht.

Erst im Juni änderte sich das Wetter wieder merklich. Nur kam leider keine Hitzewelle, sondern ein echter Temperatursturz mit dicken, dunklen Regenwolken. Und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten.

"Hatschi!"

Tommy sah mich mitleidig an, als ich das ungefähr fünfundsiebzigste Taschentuch an diesem Tag aus der Tasche zog. Oje, es ging mir wirklich dreckig.

"Willst du nicht lieber nach Hause gehen?", schrieb er auf einen Zettel.

Na, das war dann doch unter meiner Würde, aber als ich nach Schulschluss endlich nach Hause kam, fühlte ich mich richtig krank. Wie immer in solchen Fällen rückte meine Mutter mit dem Fieberthermometer an, las laut "38,6 Grad" vor und verordnete mir strikte Bettruhe.

Ich fühlte mich an diesem Abend ziemlich elend und bemerkte nur wie durch einen Schleier, dass Alex in mein Zimmer kam.

"Na, ist dir das Wetter nicht bekommen?"

"Hm."

"Ist Scheiße, mit Fußball war heute auch nichts."

Einige Jungs aus der Schule trafen sich im Sommer immer regelmäßig zum Fußball im Park, auch mein Bruder ging da immer hin. Ich hatte mir das noch nie angesehen, obwohl es immer hieß, dass das lustig wäre, vor allem weil da Schüler verschiedenster Jahrgänge friedlich zusammenspielten. Das interessierte mich im Moment aber gar nicht.

"Dein Fußball ist mir egal", brummte ich.

"Das wär nicht so, wenn du wüsstest, dass dein Schwarm immer mitspielt."

Jetzt war ich doch wach.

"Er ist nicht mein Schwarm."

"Du würdest dich unter den kreischenden Mädchen am Rand gut machen, die himmeln ihn alle an."

"Da kreischen Mädchen und himmeln Tommy an? Wieso das denn?"

"Na, das müsstest du doch am besten wissen. Mega-Body und spielt immer als einziger ohne Hemd. So einen Fanclub hätte ich gerne, Thomas ignoriert die ja immer."

Oje, vielleicht sollte ich mich mal doch mehr für Fußball interessieren. Aber die Vorstellung, da zwischen kreischenden Mädchen, also, ich weiß nicht. Aber wenn er sie ignorierte, vielleicht hieß das ja, dass er doch … Mein Gott war das kompliziert! Ich versuchte nachzudenken, aber es ging nicht, dazu ging es mir zu schlecht.

Und am nächsten Tag ging es mir nicht viel besser. Den Vormittag dämmerte ich nur vor mich hin, am Nachmittag kam Jan vorbei, um mich mit den Hausaufgaben und den neuesten Informationen zu versorgen. Das machte er meistens, wenn ich krank war. Allerdings konnte ich seinen Erzählungen diesmal nicht richtig folgen.

"Morgen kann ich leider nicht kommen", sagte er beim Gehen, "aber ich schicke jemand anderen aus unserer Truppe vorbei."

Das kam öfter vor, dass er mal nicht konnte, und dann kam halt Lisa oder Kevin.

"Mach‘s gut und schlaf gut."

Weg war er.

Geschlafen habe ich dann tatsächlich gut und am nächsten Tag ging es mir schon deutlich besser. Heute würde ich sicher mehr von den Hausaufgaben mitkriegen. Aus Langeweile wartete ich schon seit zehn Uhr auf den Nachmittag.

Tatsächlich klingelte es kurz nach drei an der Wohnungstür und meine Mutter machte auf. Ich versuchte, aus meinem Zimmer zu horchen, wer von meinen Freunden es wohl war und hörte – nichts. Ich überlegte noch, warum die sich wohl anschwiegen, als auch schon Tommy in meiner Zimmertür stand und mich fröhlich angrinste.

Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen, dass er ja inzwischen auch zu meinen Freunden gehörte und in das Hausaufgaben- und Informationssystem voll eingebunden war.

Eine Umarmung gab es von ihm diesmal leider nicht, schließlich wollte ich ihn nicht anstecken. Er war ja zum ersten Mal bei mir und sah sich erst mal interessiert im Zimmer um. Die Musikposter an den Wänden ließen ihn sichtlich ratlos, schließlich konnte er ja keine Musik hören und hatte auch keine Ahnung davon. Ich weiß nicht, ob ihm auffiel, dass es hauptsächlich Poster von Boygroups waren.

Inzwischen hatte er meinen alten Teddybären entdeckt. Mir war das ja irgendwie peinlich, aber Tommy nahm ihn, streichelte ihm ein paar Mal über den Kopf und setzte ihn dann wieder zurück ins Regal. Mir wäre es ja lieber gewesen, wenn er meinen Kopf gestreichelt hätte.

Die Hausaufgaben hatten wir schnell erledigt und hatten wie immer viel Spaß. Zwischendurch guckte auch mein Vater mal rein und sagte guten Tag, er war gerade von der Arbeit gekommen. Kaum war er draußen, alberten wir weiter. Leider alarmierte unser Lachen meine Mutter, die gleich mal ins Zimmer gestürmt kam und daran erinnerte, dass ich meine Bettruhe brauchte.

Tommy verabschiedete sich mit einem Winken. Etwas traurig wartete ich, bis ich die Wohnungstür klappen hörte. Das tat sie auch, nach einer knappen Stunde. Wie? Fast eine Stunde? Hatten die sich noch so lange unterhalten, oder wie auch immer man das bei Tommy nennen sollte? Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Tatsächlich, Tommy fuhr gerade mit seinem Fahrrad davon. Bevor er um die Ecke bog, sah er mich am Fenster und winkte fröhlich.

"Warum hast du Thomas denn nicht schon mal mitgebracht? Der ist doch nett."

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass meine Mutter ins Zimmer gekommen war.

Hm, warum hatte ich Tommy eigentlich noch nie mitgebracht? Ich hatte selbst keine Ahnung. Das erste Mal hatte er mich ja zu sich mitgenommen und seitdem hatte es sich einfach so eingeschliffen, dass wir uns immer bei ihm trafen. Ich nahm mir vor, dass wir demnächst auch bei mir zusammen lernen würden.

Das Wochenende war so grau wie die ganze Woche. Ich stand am Fenster und sah traurig den Regentropfen zu. Irgendwann musste ich mich mal durchringen, mit Tommy über mein Schwulsein zu reden. Am liebsten hätte ich ja auch mit ihm über meine Gefühle für ihn gesprochen, aber wie würde er dann wohl reagieren? Konnte ich ihm sagen, dass er für mich einfach total scharf aussah? Und, noch viel wichtiger, dass er der absolut liebste und netteste Schnuffel war, den ich kannte?

"Nach einer verregneten Woche stellt sich die Wetterlage in den nächsten Tagen komplett um. Bereits morgen erreicht uns ein Hochdruckgebiet, so dass sich die Bewölkung auflöst und die Temperaturen steigen. Übermorgen erwartet uns ein schöner Sommertag mit wolkenlosem Himmel und Temperaturen um 28 Grad. Ab Freitag gelangt schließlich sehr heiße, trockene Luft in unser Sendegebiet und es muss mit Hitze weit über 30 Grad gerechnet werden."

Mein Vater stellte das Radio aus.

Inzwischen war Dienstag und wir saßen beim Abendessen. Auch wenn ich noch nicht ganz wieder hergestellt war, ging es mir schon viel besser, und ich konnte endlich das Essen wieder richtig genießen.

Irgendwas fehlte aber. Ich prüfte alles. Hm, mein Besteck war vollständig. Käse und Wurst waren da, Tomate und Gurke auch. Also was fehlte dann?

Jetzt merkte ich es.

"Wo ist denn Alex?"

"Der übernachtet heute bei Klara. Die wollen sich erst noch eine lange DVD ansehen."

Ich überlegte, ob ich die Frage aufwerfen sollte, was die beiden wohl danach machen würden, ließ es aber lieber bleiben.

In dieser Nacht lag ich ziemlich lange wach. Ich freute mich für meinen Bruder, der jetzt sicher gemütlich mit Klara zusammen einschlief. Aber irgendwie waren meine Gedanken mehr bei dem tollen Jungen, der jetzt wahrscheinlich nur durch eine dünne Wand von den beiden getrennt lag und hoffentlich friedlich schlief. Ich musste einfach endlich mal mit ihm reden, das war ja nicht mehr zum Aushalten. Aber wie sollte ich das anstellen? Ich glaube, wenn ich es versuchen sollte, würde mich im letzten Moment doch wieder der Mut verlassen.

Am nächsten Morgen waren meine dunklen Gedanken wie weggeblasen, als ich das Fenster öffnete und die Sonne zwischen den letzten verbliebenen Wolken zum Vorschein kam.

Leider hielt dieses Stimmungshoch nicht lange an und als Jan am Nachmittag vorbeikam, war ich kurz vor einer echten Depression. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken.

"Was ist denn mit dir los?"

Ok, ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

"Wieso?"

"Du bist kaum ansprechbar und das Erdkundebuch hältst du gerade falschrum."

Ich seufzte. Jan konnte ich halt doch nichts vorspielen.

"Es hat mit Thomas zu tun, stimmt‘s?"

Jan konnte ich wirklich nichts vorspielen.

"Ihr werdet sicher mal ein süßes Paar."

"Jan, jetzt ist aber gut. Du tust ja schon so, als wenn Tommy auch schwul wäre."

"Na, wie er dich ansieht?"

"Was, wie er mich ansieht?"

"Hast du nicht gemerkt, dass er dich eigentlich nie aus den Augen lässt? Und als du krank geworden bist, hat er mich so nach deinem Zustand ausgequetscht, da hat man gemerkt, der macht sich echt Sorgen, jedenfalls mehr, als ein normaler Freund es tut."

"Ich glaube, du interpretierst da zu viel rein. Erst mal müsste ich ihm sagen, dass ich schwul bin, und ich hab einfach Angst, dass er dann nichts mehr mit mir zu tun haben will."

Jan sah mich eine ganze Weile still an.

"Lukas, das weiß er."

"Waaaas? Woher denn das?"

"Ich habe es ihm gesagt."

"Du hast was? Bist du verrückt geworden?"

"Ich weiß, es war nicht fair. Aber ich habe mir Sorgen gemacht, dass ihr euch anfreundet und er es dann hintenrum erfährt und vielleicht nicht damit klarkommt, und das hätte ein riesiges Desaster gegeben. Deshalb hab ich lieber gleich reinen Tisch gemacht."

"Und wann war das?"

"Damals nach der Mathestunde, als Herr Mausbach dich neben Thomas gesetzt hat, bevor du das erste Mal mit zu ihm nach Hause gegangen bist."

"Er hat also so lange schon …"

Ich konnte nicht mehr weitersprechen. Tommy wusste also, dass ich schwul bin. Und das nicht erst seit gestern, sondern von Anfang an. Und in dieser Zeit war er mein Freund geworden, hatte mich angelächelt, mich gekitzelt und mich regelmäßig umarmt. Sogar als er halb nackt war.

Jetzt war ich wirklich verwirrt. Entweder war Tommy hetero. Dann hatte er offenbar überhaupt keine Berührungsängste mit Schwulen. Dafür hätte er wirklich meinen vollen Respekt. Oder aber? Nein, an dieses Oder wagte ich gar nicht zu denken?

Mit den Hausaufgaben kamen wir an diesem Tag kaum voran und so war es schon spät, als ich mich an der offenen Wohnungstür von Jan verabschiedete. Auch meine Eltern standen daneben.

"Kommst du morgen wieder zur Schule?"

"Weiß ich noch nicht, kommt darauf an, wie es mir morgen geht. Wenn ich nicht da sein sollte, könntest du Tommy ein bisschen mit Mathe helfen? Er müsste inzwischen einige Lücken haben."

"Hat er nicht, wir haben uns schon alle in den letzten Tagen um ihn gekümmert."

"Danke."

"He keine Sorge, wir lassen deinen Schwarm schon nicht …"

Er biss sich auf die Zunge. Er hatte ganz vergessen, dass meine Eltern neben mir standen.

Ich konnte immer mühelos raushören, wenn meine Mutter sich freute.

"Heißt das, Thomas wird unser Schwiegersohn?"

Hm, was sollte ich darauf antworten?

"Das könnte euch wohl passen", grummelte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

"Oh ja!" Meine Eltern nickten freudig.

Oh Gott, das konnte ja was werden.

"Ich glaub, ich geh jetzt lieber?"

Jan verschwand peinlich berührt durch die Tür. Das heißt, er versuchte es. In der Tür stieß er mit Alex zusammen, der gerade nach Hause kam und die letzten Sätze mitgehört haben musste.

"Thomas nehmen wir wirklich gerne", meinte mein Vater, als die Tür endlich zu war.

"Jetzt hört endlich auf! Dazu muss er ja erst mal schwul sein."

"Aber er ist ja …" Alex biss sich auf die Zunge.

Jetzt reichte es. Ich verschwand in meinem Zimmer. Ich wollte nur noch allein sein. Das war ich dann auch. Für zwei Sekunden.

Alex stiefelte direkt hinter mir her und machte hinter sich die Tür zu.

"Lukas, ich muss dir was erzählen."

Eigentlich hatte ich heute schon genug unerwartete Neuigkeiten gehört.

"Ja?"

"Ich habe Klara ein bisschen über ihre Familie ausgequetscht, so warum sie keinen Vater hat und so."

"Und? Hat sie dich rausgeschmissen?"

"Nein, ich bin diplomatisch vorgegangen."

Ich seufzte. Das Wort "diplomatisch" passte zu meinem Bruder ungefähr so gut wie "filigran" zu einem ausgewachsenen Blauwal.

"Und?"

"Na ja, der Vater hatte wohl immer schon Probleme damit, dass Tommy in seinen Augen kein vollwertiger Sohn war."

Er nannte ihn auch schon Tommy. Offenbar war er schon in die Familie Neumeier aufgenommen worden.

"Ja, das weiß ich schon."

"Er hat jedenfalls versucht, Tommy so streng wie möglich zu erziehen, obwohl Susanne immer versucht hat, das zu verhindern."

"Wer ist Susanne?"

"Frau Neumeier."

"Ach so."

Offenbar war man schon beim Du angekommen.

"Der Vater wollte unbedingt, dass Tommy richtig spricht, und ist wohl immer ausgerastet, weil er das nie konnte. Dann wollte er wenigstens einen ganzen Kerl aus ihm machen und ihn zum Boxsport schicken. Aber Tommy wollte lieber Fußball spielen und laufen und schwimmen und ins Studio, aber nicht boxen."

Das konnte ich mir gut vorstellen. Tommy war zwar sehr sportlich und muskulös, aber aggressive Sportarten passten irgendwie gar nicht zu ihm.

"Jedenfalls hat der Vater die Zügel noch fester angezogen. Als Tommy dann auf Klassenfahrt war, hat sein Vater sein Zimmer durchsucht, um zu sehen, ob er irgendwas findet, was Tommy seiner Meinung nach nicht haben durfte, wie Zigaretten oder so was."

"Tommy ist Nichtraucher."

"Er hat ja auch keine gefunden, aber dafür was Anderes."

"Was denn?"

"Einen Stapel Pornohefte."

"Und das weiß Klara alles?"

"Nicht offiziell, sie hat den Streit der Eltern mit angehört, das muss sehr laut gewesen sein."

"Und was war so schlimm an den Pornoheften? Mit dem Stapel unter deinem Bett konnten die doch bestimmt nicht konkurrieren."

Alex wurde etwas rot.

"Nichts gegen meine Hefte, ich hab deine auch schon entdeckt."

Jetzt wurde ich rot.

"Aber das wichtigste kommt ja noch: Tommys Hefte waren von der gleichen Sorte wie deine."

"Was?"

"Ja, es waren alles Schwulenpornos. Und der Vater meinte dann, mit einem behinderten Sohn, der auch noch schwul ist, will er nicht unter einem Dach leben. Und dann ist er ausgezogen, bevor Tommy überhaupt von der Klassenreise zurück war."

"Und Tommy weiß, warum?"

"Wohl nicht wirklich. Susanne hat mit Klara darüber gesprochen, dass sie wüsste, dass Tommy schwul ist, aber dass sie ihn nicht darauf ansprechen will, sondern dass sie warten will, bis Tommy von selbst damit rausrückt. Sie meint, das wäre für ihn der beste Weg."

Das sah ich allerdings auch so, vor allem nach meinem Outing.

In meinem Kopf drehte sich so ziemlich alles? Mein Schwarm war schwul und er wusste, dass ich schwul war? Oh mein Gott?

Alex ging zur Tür. Da fiel mir noch was ein.

"Alex?"

"Ja?"

"Wie war denn dein erstes Mal?"

Jetzt wurde er richtig rot.

"Äh, wir haben noch nicht …"

"Obwohl du bei ihr übernachtet hast?"

"Na ja, wir wollten ja eigentlich, aber dann wussten wir wieder nicht so richtig wie, und irgendwie war uns das dann peinlich."

"Darf ich dir einen Tipp geben?"

"Gerne."

"Mach dir nicht zu viele Gedanken. Erlaubt ist, was beiden Spaß macht. Solange du Kondome benutzt, natürlich. Hast du Kondome?"

Er wurde noch ein klein bisschen roter.

"Ja, aus der Drogerie."

"Wie viele?"

"20."

"Na, das dürfte für die erste Nacht ja wohl reichen."

Jetzt musste selbst mein kleiner, unsicherer Mini-Casanova grinsen und ließ mich alleine mit meinen Gedanken. Und die kreisten schnell wieder um meinen eigenen heimlichen, oder auch nicht mehr ganz so heimlichen, Liebling.

Ich schaltete den Rechner ein, vielleicht war er ja noch online. Und tatsächlich, sein Name war gerade grün unterlegt.

"Hey"

"Hey, wieder unter den Lebenden?"

"Ja, geht schon wieder gut."

Eigentlich war ich ja nicht in den Chat gegangen, um über mein Wohlbefinden zu schreiben, aber irgendwie fiel es mir schwer, eine passende Formulierung zu finden.

Schließlich riss ich mich zusammen und schrieb: "Jan meinte, er hätte dir schon gesagt, dass ich schwul bin?"

Oje, war das plump formuliert, aber besser konnte ich es nicht.

"Ja, ist schon lange her."

"Und du hast kein Problem damit?"

"Nee, natürlich nicht."

Ok, das war der leichtere Teil der Übung. Das schlimmste hatte ich jetzt noch vor mir, wie sollte ich das bloß schreiben, ohne ihn zu verschrecken? Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen.

"Ich weiß wirklich nicht, wie ich das fragen soll, nach deiner Orientierung, ich meine, ob du auch … Oje, das fällt mir echt schwer."

Ich schickte die Nachricht ab. Und wartete. Nach mehreren Minuten kam immer noch keine Mail zurück. Hatte ich ihn verletzt? Oder rang er jetzt selbst einfach um Worte?

Nach einer halben Ewigkeit kam eine Antwort: "Lukas, versprichst du mir bitte, dass du nie, nie, nie, nie meiner Mutter davon erzählst?"

Oh. Das hieß, er war wirklich schwul.

"Du weißt, dass mein Bruder jetzt praktisch zu eurer Familie gehört?"

"Ja klar, aber was hat das damit zu tun?"

"Weil ich über die Connection weiß, dass deine Mutter es weiß."

"Was? Oh. Und woher will sie das haben?"

Oje, was sollte ich jetzt schreiben? Von seinen Pornos wollte ich jetzt lieber nichts erzählen. Die würden wir uns vielleicht später mal zusammen ansehen? Oh, jetzt fing ich an zu träumen.

"Keine Ahnung. Aber sie will halt warten, bis du es ihr sagst."

"Und ich hab mich die ganze Zeit nicht getraut."

"Aber deine Mutter wirkt doch ausgesprochen tolerant?"

"Ja klar, aber ich glaube, dass mein Vater abgehauen ist, hat irgendwas damit zu tun, dass er geahnt hat, dass ich anders bin. Er hat mich ja schon immer für einen Krüppel gehalten, weil ich nicht hören kann, und jetzt auch noch das? Und dann hatte ich solche Angst, meine Mutter auch noch zu verlieren. Irgendwie meinte ich dann, sie hätte einen besseren Sohn verdient oder so ähnlich, ach, das lässt sich einfach nicht erklären."

"Sie hat den besten Sohn der Welt und das weiß sie auch."

Ups, der Satz war schneller geschrieben, als ich nachdenken konnte. Das war ja eine echte Liebeserklärung und das würde Tommy wohl auch so verstehen. Bevor er antworten konnte, schrieb ich also lieber schnell weiter.

"Jedenfalls solltest du es ihr möglichst bald beibringen, dann quälst du dich nicht so lange."

"Ich weiß, aber du weißt auch, dass das verdammt schwer ist."

"Ja, aber du weißt auch, dass sie gut reagieren wird. Das schlimmste ist die Zeit vorher und die solltest du kurz halten."

"Sie kommt jetzt gerade nach Hause. Meinst du, ich soll es ihr gleich sagen?"

"Ja, sei mutig!"

"Ich versuch‘s?"

"Bist du danach nochmal on?"

"Leider nicht, wir kriegen noch Besuch."

"Dann alles Gute! Du schaffst das!"

"Denk an mich."

"Mach ich."

Und er war weg.

Natürlich guckte ich am Abend noch fünfzigmal, ob er vielleicht doch noch mal on kam, aber er kam nicht.

Und auch am nächsten Tag nicht. Ich fühlte mich inzwischen wieder topfit, aber meine übervorsichtige Mutter meinte, es wäre besser, wenn ich sicherheitshalber noch einen Tag zu Hause bliebe. Sie glaubte wohl, ich würde mich darüber freuen, aber ich verbrachte den ganzen, schönen, warmen Donnerstag damit, immer wieder zum Rechner zu laufen und nachzusehen, ob Tommy eine Nachricht geschrieben hatte. Hatte er aber nicht. Am Nachmittag nicht und auch nicht am Abend. Anrufen ging ja nicht. Und eine SMS schien mir zu kurz und unpassend. Also musste ich wohl oder übel auf den Freitag warten.

So ungeduldig war ich wirklich noch nie zur Schule gegangen. Es war Freitag, ich war zumindest physisch völlig wieder hergestellt, und es war tierisch warm. Der Wetterbericht hatte schlappe 36 Grad angekündigt und ich fühlte mich schon jetzt am frühen Morgen mit meiner kurzen Hose und dem dünnen T-Shirt irgendwie zu dick angezogen.

In der ersten Stunde hatten wir Bio bei Frau Mehdorn. Wir nannten sie immer Frau Mehlwurm, weil das einfach besser zu Bio passte.

Ich wollte jetzt unbedingt wissen, ob Tommy sich nun getraut hatte, mit seiner Mutter zu sprechen. Als ich in den Bioraum kam, war er leider nicht da. Allmählich wurde ich unruhig. Es klingelte – kein Tommy. Frau Mehlwurm erschien in der Tür – immer noch kein Tommy.

Als sie schon die Tür hinter sich schließen wollte, kam er doch noch reingehastet. Ich musste mir schon Mühe geben, nicht wirklich loszusabbern. Er trug eine kurze rote Sporthose und ein schwarzes Muskelhemd, das auch noch eng an seinem Körper anlag. Er machte ein paar entschuldigende Gesten, die uns wohl sagen sollten, dass sein Fahrrad kaputt war und ließ sich neben mir auf seinen Stuhl fallen.

Frau Mehlwurm fing mit ihrem Unterricht an, aber der interessierte mich im Moment gar nicht. Ich drehte mich zu Tommy um. Er nahm meine Hand, drückte sie und strahlte mich an.

Damit war es klar. Er hatte es geschafft! Ich konnte dem Unterricht gar nicht mehr folgen, ich freute mich nur noch. Nach ein paar Minuten ließ Tommy sein rechtes Bein etwas weiter nach rechts wandern, so dass sein nacktes Knie meins berührte. Wow, so konnte er ruhig die ganze Stunde bleiben. Und so blieb er auch die meiste Zeit. Wenn er sich zwischendurch mal bewegte, war sein Knie auch sehr schnell wieder an meinem.

Nach einiger Zeit schob er mir einen Zettel rüber.

"Nach der Schule kommst du mit zu mir."

Oh, das war ja schon keine Frage mehr, sondern ein Befehl. Dem ich natürlich liebend gerne nachkommen würde.

Irgendwie wollte der Schultag gar nicht vorbeigehen. Mein Gott, war ich ungeduldig! Ich wollte endlich mit Tommy allein sein.

Eigentlich wäre ja ein passender Tag für Hitzefrei gewesen. Ich meine, wann soll es denn Hitzefrei geben, wenn nicht bei 36 Grad? Leider hing das Schulthermometer offenbar im Kühlschrank der Sekretärin und so wurden wir durch unser volles Programm gequält. Und das Ganze endete mit einer Doppelstunde Sport, wo ich noch nicht mal mit Tommy zusammen sein konnte, weil wir ja in unterschiedlichen Gruppen waren. Und dann stand auch noch Bodenturnen auf dem Programm. In unserer kleinsten und ältesten Turnhalle. Ich hätte kotzen können.

Aber auch die schlimmste Doppelstunde ist mal zu Ende.

"Und was machst du heute … Freibad?", fragte ich Kevin, als wir frisch geduscht in unsere Sachen stiegen.

"Nee, dazu ist es zu warm. Ich leg mich mit Julia auf den Balkon."

"Na dann viel Spaß"

"Dir auch viel Spaß mit deinem Schatz."

"Äh?"

Ich wollte noch irgendwas sagen, aber Kevin war schon weg.

Ungeduldig lief ich hinüber zur großen Turnhalle, wo heute die besseren Sportler Sport hatten. Draußen kam mir Flo auf seinem Brett entgegen.

"Ist Tommy noch da?"

Natürlich war er noch da. Sonst würde er ja hier draußen auf mich warten.

"Ja, der ist der Letzte."

Flo rollte einmal um mich herum.

"Ihr passt wirklich gut zusammen."

Offenbar wusste alle Welt, dass wir jetzt fest zusammen waren. Außer uns beiden natürlich.

Flo klopfte mir auf die Schulter. "Sei lieb zu Tommy, er mag dich wirklich sehr."

Er rollte mit einem beachtlichen Tempo davon.

Im Umkleideraum fand ich tatsächlich Tommy vor und wieder stockte mir der Atem. Er war schon fast fertig mit umziehen. Er stand schon in seiner roten Sporthose da, nur das schwarze Muskelhemd hielt er noch in der Hand. Ich hoffte, dass ich meinen Schwanz unter Kontrolle halten konnte, wenn er in dem Ding neben mir herlief.

Er bemerkte mich und lächelte mich fröhlich an. Das Hemd packte er in seinen Rucksack, setzte den Rucksack auf und kam mit mir raus.

Der lief echt mit freiem Oberkörper mit mir durch die Stadt! Ich konnte einfach nicht anders, als ihn immer wieder anzusehen. Und er guckte dabei auch noch so fröhlich!

Und dann ging er noch weiter. Er nahm meine Hand. Oh mein Gott! Ich hatte die ganze Zeit davon geträumt, mit ihm zusammen zu sein, und jetzt gingen wir echt Hand in Hand durch die Stadt!

Ich sah mich vorsichtig um, ob sich Leute nach uns umdrehten. Tat aber keiner, jedenfalls taten alle so, als fänden sie das normal. Allerdings waren auch nur wenig Leute unterwegs.

Der Marktplatz war wie leergefegt. Nur ein paar Skater lungerten mit ihren Brettern am Brunnen rum, schienen aber in der Gluthitze keine rechte Lust aufs Skaten zu haben. Normalerweise hätte ich sie wahrscheinlich angestarrt, weil sie alle ihre Hemden ausgezogen hatten, aber heute hatte ich nur noch Augen für Tommy.

Mitten auf dem Platz blieb Tommy plötzlich stehen. Was hatte der denn jetzt vor? Er drehte sich zu mir um, legte mir seine Arme um die Schultern und drückte mir einen Kuss auf den Mund.

Ich sah mich vorsichtig um. Ok, schien keiner zu bemerken, also nochmal. Diesmal öffneten wir unsere Münder und ließen unsere Zungen miteinander spielen.

Als wir uns endlich lösten, merkte ich, dass unser Kuss doch nicht unbemerkt geblieben war. Einer der Skater rollte auf uns zu. Kurz bevor er bei uns ankam, nahm er die Sonnenbrille ab. Oh, das war ja Flo! Er rollte an uns vorbei, lächelte uns fröhlich an und zeigte mit dem Daumen nach oben. Normalerweise wäre mir die Situation peinlich gewesen, aber jetzt fand ich es irgendwie total schön, dass sich jemand mit uns freute.

Als wir bei Tommy zu Hause ankamen, hatten wir uns noch mehrmals abgeschleckt und waren dementsprechend bester Laune. Seine Mutter begrüßte uns im Flur.

"Oh, guten Tag Frau Neumeier."

"Ich heiße Susanne."

Oh, jetzt war ich offenbar auch in die Familie aufgenommen.

Sie begrüßte Tommy wie üblich, in dem sie ihm durchs Haar wuschelte. Sie schien sich nicht zu wundern, dass ihr Sohn halb nackt zu Hause aufkreuzte, offenbar war das wirklich sein gewöhnliches Outfit für heiße Tage. Ich hoffte, es würde ein heißer Sommer werden.

"Ihr wollt jetzt sicher erst mal eure Hausaufgaben machen."

Wollten wir eigentlich nicht. Sie hatte meinen Gesichtsausdruck offenbar richtig verstanden und lachte.

"Für alles andere habt ihr hinterher noch Zeit. Morgen ist Wochenende und du bleibst ja sicher über Nacht."

"Ich … äh?"

Damit hatte ich gar nicht gerechnet.

"Das ist kein Problem. Alex übernachtet auch wieder hier."

"Ach, der kommt auch?"

"Er ist schon hier. Die beiden sitzen oben und lernen Erdkunde."

Wir gingen hoch in Tommys Zimmer. Das heißt, erst guckten wir mal kurz bei Klara rein. Also nach Erdkunde sah das nun ganz eindeutig nicht aus. Die beiden fuhren auseinander und sahen uns mit rötlichen Gesichtern an. Wobei offenbar noch nichts Aufregendes passiert war. Alex hatte außer seinem T-Shirt noch nichts ausgezogen und Klara sah auch noch jugendfrei gekleidet aus.

Grinsend verzogen wir uns in Tommys Reich. Und auch wenn es keiner glaubt, widmeten wir uns tatsächlich erst mal den Hausaufgaben. Na ja, ok, ein paar Mal küssten wir uns natürlich schon. Und Geschichte Lernen lief so, dass wir uns beide über das Buch beugten und Tommy dabei meinen Kopf kraulte. Das schien er gerne zu machen. Offenbar passten wir wirklich gut zusammen, ich fand das nämlich total schön.

Wir waren gerade fertig, als die Lampe an der Tür blinkte und Susanne den Kopf reinsteckte.

"Essen ist fertig. Beeilt euch, sonst wird es kalt."

Wir flitzten runter und fanden einen gewaltig gedeckten Tisch vor. Und dann schmeckte es auch noch super. Susanne hatte sich echt Mühe gegeben.

"Es ist Tommys Lieblingsessen, zur Feier des Tages."

Oh, na dann schmeckte es gleich nochmal doppelt so gut.

Die Stimmung am Tisch war locker und es wurde richtig lustig. Susanne schaffte es immer irgendwie, einen Mischmasch aus Sprache und Gebärden hinzukriegen, dem alle folgen konnten.

Ich fühlte mich schnell in die Familie aufgenommen und wie zu Hause. Na ja, vielleicht noch nicht ganz so wie Alex, der Tommys Vorbild folgte und mit nacktem Oberkörper am Tisch saß, aber er gehörte ja auch schon ein paar Wochen länger zur Familie als ich. So weit war ich dann doch noch nicht. Alex und Klara hatten auch kein Problem damit, sich am Tisch zu küssen. Genauer gesagt, die beiden knutschten regelrecht. Das trauten wir uns dann doch nicht, obwohl Susanne uns aufmunternd ansah.

Nach dem Essen musste Susanne zur Nachtschicht. Mein Gott, die hatte ja wirklich blöde Arbeitszeiten.

Dafür hatten wir das Haus jetzt für uns. Es war inzwischen schon sehr spät und wir beschlossen, schlafen zu gehen. Nachdem ich halbwegs frisch aus dem Bad kam, stand ich vor einem Problem: Ich hatte natürlich keine Schlafsachen mitgebracht. Tommy saß inzwischen in Schlafshorts mit Micky Maus drauf auf seinem Bett. Er hatte offenbar schon an mein Problem gedacht und warf mir eine ähnliche Hose zu, mit Donald-Duck-Motiv. Als er auch aus dem Bad zurückkam, hatte ich die auch angezogen. Ich hatte ja befürchtet, dass eine Hose von Tommy zu weit für mich wäre, aber sie passte mir erstaunlich gut.

Tommy legte sich ins Bett und machte das Licht aus. Von einer Lichterkette unten im Garten kam etwas Licht herein, so dass wir uns noch gut sehen konnten. Ich zog mein T-Shirt aus und kroch zu ihm ins Bett.

Was folgte, war die schönste Nacht, die ich je erlebt hatte. Endlich durfte ich alles an Tommy streicheln, die breite Brust, den Bauch, die Schultern. Und Tommy küsste mich und streichelte mich auch und wuschelte mir durchs Haar und küsste mich wieder und umarmte mich und drückte mich ganz fest. Langsam wanderten unsere Hände weiter nach unten und bald flogen unsere Hosen in hohem Bogen durch den Raum.

Tommy hielt kurz meine Hand fest. Es dauerte einen Moment, bis ich seine Gebärden verstanden hatte. Er wollte mir bedeuten, dass es sein erstes Mal war. Na dann musste ich mir ja besonders viel Mühe geben, damit es schön für ihn wurde.

So aufgeregt wie er war, fürchtete ich, dass er sofort abspritzen würde, deshalb streichelte ich nur ganz sanft seinen Schwanz. Er hatte einen wunderschönen Schwanz. Ich meine, eigentlich hatte er einen ganz normalen Schwanz, so wie du und ich, aber es war Tommys Schwanz, also war er wunderschön. Und steinhart. Er war wohl so richtig doll erregt, an der Eichel glänzte schon ein Tropfen. Ich streichelte ihn vorsichtig weiter, kraulte sanft seine Eier und streichelte weiter. Bald wurde sein Atem schneller, seine Muskeln spannten sich an und sein Sperma spritzte auf seinen Bauch. Er fing gar nicht erst an, es wegzuwischen, sondern griff sofort nach meinem Schwanz, der inzwischen mindestens so hart wie Diamant war. Er streichelte und wichste immer abwechselnd. Mein Gott, wie sanft der mit seinen großen Pranken sein konnte. Mein Schwanz war kurz davor zu zucken, als Tommys Lippen meine berührten. Bei einem intensiven Zungenkuss spritzte ich ab. Mein Gott, das war wirklich etwas ganz anderes als alleine zu wichsen. Es war auch kein schnöder Sex, es war echte Liebe.

Tommy hatte schon Taschentücher bereit gelegt und wir wischten uns unsere Sahne ab. Wir küssten und streichelten uns noch ein bisschen und schliefen dann aneinandergekuschelt ein.

Schnöder Sex, ging es mir im Traum durch den Kopf. Bei uns nicht. Oder doch. Die Fickgeräusche waren deutlich zu hören. Ich öffnete die Augen. Moment mal. Fickgeräusche? Ich sah mich um. Nein, ich lag noch in Tommys Bett. Und Tommy lag friedlich schlummernd neben mir. Die Geräusche kamen von nebenan! Das leise Stöhnen war auch eindeutig Klaras Stimme. Und außerdem war auch noch ein Atmen zu hören, das jetzt schneller wurde. Und jetzt hörte ich auch noch eine vertraute Stimme leise aufstöhnen. Eindeutig: Mein kleiner Bruder hatte gerade einen Orgasmus. Irgendwie freute ich mich für den Kleinen, jetzt hatte er es auch geschafft und war ein Stück erwachsener.

Ich schlief wieder ein. Und schlief durch bis zum frühen Morgen, als ich aufwachte, weil etwas in meinem Mund steckte. Es war – eine Zunge! So ein Blödsinn, natürlich steckte meine Zunge in meinem Mund, die steckte immer da. Halt! Da war ja auch noch Tommys Zunge und die spielte gerade fröhlich mit meiner. Ich war sofort wach. Und wir machten genau da weiter, wo wir am Abend aufgehört hatten, mit Küssen und Streicheln und Knuddeln. Schließlich lag ich auf Tommy, unsere harten Schwänze zwischen uns. Ich begann, mich zu bewegen und unsere Schwänze zwischen uns zu reiben. Oh Mann, war das geil! Es dauerte nicht lange und wir kamen gleichzeitig.

Ich musste lachen und Tommy sah mich fragend an. Er konnte ja nicht hören, dass nebenan noch zwei weitere Liebende einen weiteren Höhepunkt hatten.

Wir dämmerten noch ein paar Stunden vor uns hin, während draußen die Sonne aufging.

Plötzlich blinkte das Licht über der Tür. Ich wollte mich schon unter der Decke verstecken, aber Tommy hielt mich fest und achtete nur darauf, dass unsere Weichteile, die im Moment tatsächlich weich waren, unter der Decke versteckt waren.

Susanne kam herein. Sie schien nicht besonders überrascht zu sein, uns nackt zusammen im Bett vorzufinden. Wobei sie natürlich nicht sehen konnte, dass wir ganz nackt waren. Allerdings konnte ihr kaum entgangen sein, dass unsere Shorts auf dem Fußboden lagen.

Wie immer sagte sie alles doppelt, gebärdet und in Sprache. Wobei ich inzwischen auch die Gebärden verstand, ich hatte wirklich viel von Tommy gelernt.

"Gleich gibt‘s Frühstück, die Aufbackbrötchen sind schon im Ofen!"

Sie verschwand wieder. Ok, also gegen Frühstück hatte ich nichts einzuwenden. Hm, also schnell anziehen. Schwupps hatten wir wieder unsere bunten Shorts an. Ich griff nach meinem T-Shirt, aber Tommy nahm es mir gleich wieder aus der Hand und warf es in die Ecke. Dann nahm er mich an der Hand und führte mich runter in die Küche.

Es wurde ein sehr entspanntes Frühstück. Wobei ich nicht weiß, wie Alex und Klara überhaupt zum Essen kamen, das sah eher nach Dauerknutschen aus.

Susanne machte ein paar Gebärden in unsere Richtung, sinngemäß "Habt euch nicht so."

Vorsichtig küssten wir uns auch. Susanne blickte etwas spöttisch. Ok, dann ließen wir halt alle Hemmungen fallen und schmusten auch heftigst los.

Nach dem Frühstück trug ich einiges Geschirr hinter Susanne her in die Küche.

"Susanne?"

"Ja?"

"Stört es dich wirklich nicht, wie wir hier so eindringen und einfach so hier übernachten?"

"Nein, natürlich nicht, wieso? Wenn man so ein Leben hatte, wie ich es bisher mit meinem Mann hatte, dann ist nur noch eins wichtig: glückliche Kinder zu haben."

"Na ja, ich mein ja nur, weil ich halt einfach hier so ankomme, Tommy abknutsche, mit ihm zusammen in seinem Bett schlafe?"

Ich erwähnte lieber nicht, dass wir da nicht nur geschlafen hatten, aber das konnte sie sich sicher denken.

"Glaub mir, Tommy hatte es bisher wirklich schwer. Als er zu euch in die Klasse kam, habe ich befürchtet, er würde immer ein Außenseiter bleiben und nie Anschluss finden. Und als gehörloser Schwuler, ich dachte mir, da würde er auch nie einen Partner finden. Und jetzt sehe ich ihn so glücklich, das finde ich einfach toll."

Ihr war in diesem Moment anzusehen, wie sehr sie ihren Sohn liebte.

"So, jetzt muss ich aber schlafen gehen, es war eine lange Nachtschicht. Ich würde euch bitten, nicht allzu laut zu sein. Ihr könnt euch aber gerne in den Garten legen, mein Schlafzimmerfenster geht ja nach vorne raus."

Sie verschwand nach oben und ich ging durchs Wohnzimmer auf die Terrasse. Jetzt im Sommer war der Garten wirklich wunderschön. Man konnte von draußen nicht reinsehen, alles war grün, ein paar Vögel zwitscherten und ein kleiner Brunnen plätscherte vor sich hin.

Auf der Terrasse standen zwei breite Gartenliegen. Auf der einen hatten Alex und Klara es sich schon bequem gemacht. Für den schönen Garten hatten die beiden offenbar keinen Blick übrig, sie waren nur mit sich beschäftigt.

Tommy zeigte auf die andere Liege. Hm, passten wir da beide rauf? Tommy war ja doch etwas breiter. Aber doch, das ging ganz gut, wir mussten uns halt nur sehr eng aneinanderkuscheln, und etwas anderes hatten wir sowieso nicht vor.

Ich stand nochmal auf, um aufs Klo zu gehen. Im Bad sah ich mich im Spiegel an. Ich fand mich ja ganz präsentabel, aber eigentlich wollte ich auch endlich mal ein bisschen muskulöser aussehen. Ich nahm mir vor, Tommy mal zu bitten, mich mit ins Studio zu nehmen, oder mir zumindest mal ein paar Trainingstipps zu geben.

Als ich zurückkam, fiel mir die Lokalzeitung auf, die Susanne mitgebracht hatte, und die jetzt auf dem Wohnzimmertisch lag. Aufgeschlagen war eine Seite im Lokalteil.

Integrationsklassen vor dem Aus?

Das städtische Kant-Gymnasium hatte es sich so schön gedacht: In Integrationsklassen sollten behinderte und nicht behinderte Schüler miteinander und voneinander lernen. Jetzt ist das Projekt aber offenbar schulintern in die Kritik geraten, bevor es überhaupt begonnen hat.

Ansatzweise hat es dabei eigentlich schon angefangen, wenn auch nur ganz klein: Seit Beginn dieses Halbjahres wird ein gehörloser Schüler am Kant-Gymnasium unterrichtet. Offenbar stellte sich dabei heraus, dass der Aufwand für Vorbereitung und Konzeption erheblich unterschätzt wurde.

"Wir haben dem Schüler eine Gehörlosenpädagogin zur Seite gestellt, aber das ist eindeutig zu wenig", sagt Marianne Stein, die Schulleiterin des Kant-Gymnasiums. "Wenn wir mehr Schüler, vielleicht auch welche mit schwereren Behinderungen, aufnehmen wollen, brauchen wir mehr Personal, das dafür qualifiziert ist. Auch die Planungsphase muss wesentlich gründlicher verlaufen."

"Eine Spezialpädagogin kann nicht alle Lücken füllen", fügt Werner Schmidt, der Klassenlehrer des betreffenden Schülers, hinzu. "Unser Schüler kommt inzwischen sehr gut klar bei uns. Er wird sicher auch bis zum Abitur bei uns bleiben. Das geht aber nur in diesem Fall zufällig gut, weil ihn hörende Schüler intensiv unterstützen."

Aber ist nicht gerade das der Sinn einer Integrationsklasse?

"Ja, natürlich", meint Lehrer Schmidt. "Aber nicht jede Klasse ist so hilfsbereit wie diese. Und da braucht man, gewissermaßen als Backup, auch genug speziell ausgebildete Lehrer."

"Dazu brauchen wir auch eine wesentlich bessere Personalausstattung", fügt Schulleiterin Stein hinzu. "Und ob wir die bekommen, steht noch in den Sternen. Jedenfalls müssen wir unser Integrationskonzept gründlich überdenken."

Ich ging zurück auf die Terrasse, packte mich neben Tommy auf die Liege und legte meinen Kopf auf seine Brust. Ah, war das schön. Einfach so in der Sonne zu dösen, während Tommy meinen Kopf kraulte und sich sein Brustkorb unter mir langsam hob und senkte.

Integrationskonzept überdenken? Meinen Tommy hatte ich in mein Leben integriert.

Alles andere war egal.

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