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Perfekt

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Der heutige Abend ist der Wichtigste in meinem ganzen bisherigen Leben. Er muss absolut perfekt werden. Er MUSS einfach! Alles, was möglich ist, habe ich dafür getan. Ich habe alles bis ins kleinste Detail geplant und vorbereitet. Der Raum, in dem meine Geburtstagsparty steigen wird, ist auf Hochglanz gewienert. Essen, Getränke, Musik, es ist für alles gesorgt. Außerdem sind sogar meine Eltern für heute Nacht ausquartiert, so dass ich sturmfreie Bude habe. Nur für alle Fälle...

Ich habe alle Leute, die mir wichtig sind, eingeladen. Natürlich auch IHN. Leider konnte ich ihn nicht persönlich einladen, das hätte ich niemals fertig gebracht. Aber ich weiß, dass er kommen wird, weil mein Kumpel Lars fest versprochen hat, ihn mitzubringen.

Ihn. Den Jungen, dem ich heute Abend endlich gestehen will, dass ich mich hoffnungslos in ihn verliebt habe.

Seit ich ihn vor einer Weile zum ersten Mal bei Lars getroffen habe, geht mir der Name Fabio einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es hat mich von jetzt auf gleich mächtig erwischt, wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.

Fabio. Wie wunderbar allein sein Name schon klingt. Manchmal, wenn ich allein und unbeobachtet bin, sage ich leise seinen Namen, weil ich ihn so gern aus meinem Mund höre. Noch viel lieber wäre mir allerdings, wenn er ihn gern aus meinem Mund hören würde. Ich seufze. Vielleicht kommt es ja heute Abend dazu, dass er endlich bemerkt, wie gut es sich anhört, wenn ich ihn sage.

Ich bin fürchterlich aufgeregt, weil ich nicht weiß, wie er reagieren wird. Ich weiß nicht mal mit Sicherheit, ob er auch schwul ist, aber ich habe so etwas läuten hören. Das muss genügen, denn mehr Sicherheit werde ich nicht bekommen. Ich kann ihn ja schlecht vorher fragen. Ich werde es also einfach drauf ankommen lassen müssen. Aber ich bin absolut bereit, es zu riskieren.

Noch einmal checke ich mein Spiegelbild. Es ist ungefähr das hundertste Mal heute. Ich habe mich extra in meine allerliebsten Lieblingsklamotten geworfen. Sie geben mir Sicherheit, darin fühle ich mich wohl. Wohl genug jedenfalls, um es wirklich zu wagen, ihn anzusprechen.

Meine schwarze Hose sitzt perfekt, genau wie das helle, leicht transparente Shirt mit dem Drachenprint auf der Brust. Mein dunkelbraunes Haar hat den Ernst der Lage erkannt und sich genau in die Form legen lassen, in die ich es haben wollte. Locker fallen mir ein paar lange Fransen über die braunen Augen, der Rest ist halbchaotisch zerwühlt. Ich hoffe nur, er findet mich auch so unwiderstehlich, wie ich für ihn gern sein möchte.

Er allerdings ist noch viel unwiderstehlicher, als ich es je sein kann. Sein blondes, nicht allzu kurzes Haar ist leicht gewellt, und ich finde - ohne dabei peinlich klingen zu wollen - dass er dadurch ein bisschen wie ein Engel aussieht. Oh weia, ich fürchte, ich klinge gerade doch ziemlich peinlich. Aber das liegt nur daran, dass ich so fürchterlich in ihn verschossen bin.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei seinem blonden Haar. Ich weiß gar nicht genau, wie ich es beschreiben soll. Ich weiß nur, dass ich pausenlos hineingreifen möchte. Es ist bestimmt wunderbar weich und duftet nach Kokos. Bei Letzterem bin ich mir sogar sicher, denn als ich letzte Woche bei Lars war, habe ich einmal so dicht neben ihm gestanden, dass ich es riechen konnte.

Und erst seine Augen! Seine Augen sind so unbeschreiblich blau, dass mir kein passender Vergleich einfällt, außer vielleicht ein Sommerhimmel über dem Meer am späten Nachmittag, wenn man die Sonne im Rücken hat. Es ist so ein richtiges Urlaubsfoto-Himmelblau. Am liebsten würde ich in ihnen versinken, aber meistens traue ich mich kaum, ihm nur mal für eine Sekunde hinein zu sehen, weil ich Angst habe, mich damit zu verraten. Ach, diese Augen...

Es klingelt, die ersten Gäste sind da. Ich atme noch mal tief durch, denn jetzt geht die Show los. Insgesamt habe ich ungefähr zwanzig Leute aus meiner Stufe eingeladen. Und weil ich ausnahmsweise mal so richtig mutig war, dazu noch zwei Jungs aus dem schwulen Jugendtreff, in den ich seit ein paar Wochen ziemlich regelmäßig gehe. Sollte heute der Abend sein, an dem ich vor meinen Freunden geoutet werde, dann soll es eben so sein. Für ihn werde ich dazu stehen, egal wie peinlich das wird.

Nach und nach füllt sich der Raum und die Stimmung steigt. Mit ihr steigen auch die Lautstärke und natürlich der Alkoholkonsum. Alle scheinen sich blendend zu amüsieren, aber ich bin immer noch angespannt. Die für mich wichtigste Person des Abends fehlt nämlich noch.

Lars kommt spät, fast hatte ich schon befürchtet, er würde gar nicht mehr auftauchen. Aber jetzt ist er endlich da und er hat IHN dabei, wie er es versprochen hat. Mein Herz schlägt einen kleinen Salto.

Ich habe mir ganz genau ausgemalt, wie ich ihn begrüßen werde. Als perfekter Gastgeber werde ich ihm zunächst formvollendet die Jacke abnehmen, ihm etwas zu trinken anbieten, ihn dann einigen Kollegen vorstellen und schließlich locker und ungezwungen mit ihm plaudern.

"Hi Fabio" ist dann aber leider alles, was ich heraus bringe, als er vor mir steht. Und bewegen kann ich mich auch irgendwie nicht mehr. Oh Mann, er sieht so unfassbar gut aus heute. Ach, was sage ich, er sieht immer unfassbar gut aus. Heute allerdings sieht er wirklich sensationell aus! Mein Herz klopft wie blöde und bestimmt habe ich eine Mordsbombe, obwohl exzessives Erröten eigentlich überhaupt nicht auf meinem Plan stand.

Anstatt mich anzulächeln und in meinen Augen zu versinken, wie mein perfekter Plan es vorgesehen hatte, tritt er unbehaglich auf der Stelle und sagt unsicher: "Hi Marcel."

Natürlich. Er weiß ja noch nicht, warum er eigentlich hier ist. Und eigentlich kennen wir uns ja nur durch Lars. Es muss ihm seltsam erscheinen, dass ich ihn eingeladen habe. Um meine plötzlich auftretende Gehirnerweichung zu kaschieren, bitte ich die beiden erst mal herein und streiche die ersten Punkte des perfekten Plans ersatzlos.

Gut. Die Begrüßung ist also deutlich weniger perfekt verlaufen, als geplant. Aber das kann ich kompensieren. Alles andere wird funktionieren, da bin ich sicher. Jetzt muss ich ihm erst mal etwas zu trinken anbieten.

Bei dem Versuch, ihm sein Bierglas so zu überreichen, dass sich für einen winzigen Moment unsere Fingerspitzen berühren, so dass kleine blaue Funken durch den Raum zu blitzen scheinen und unsere Herzen für einen kleinen Moment stocken, entglitscht mir dieses saudämliche Drecksglas und ich kippe den Inhalt in einem Schwung über sein Shirt UND(!) seine Hose. Entsetzt sieht er an sich herunter.

"Oh nein! Das tut mir so Leid! Das wollte ich nicht", stammle ich anstatt des gehauchten "Bitte sehr, Fabio", das an dieser Stelle eigentlich vorgesehen war.

"Shit", schimpft er anstelle des leisen und von einem Schlafzimmerblick begleiteten "Danke schön, Marcel", das ich mir als Antwort erhofft hatte.

Ich falle in eine Art Panikstarre, die ich erst wieder aufheben kann, als er mich leicht genervt fragt, ob er mal ins Bad kann, um den Mist wenigstens ein bisschen raus zu waschen. So ein Dreck! Eigentlich sollten wir uns jetzt gerade ganz tief in die Augen sehen.

"Äh, ja. Klar. Komm mit." Ich muss mich mächtig konzentrieren, um wieder in die Wirklichkeit zurück zu finden. Ich zeige ihm das Badezimmer, wo er sich einschließt, um seine Sachen wenigstens ansatzweise von dem Bier zu befreien. Wie in Trance gehe ich zurück und versuche den Faden, der sich durch den perfekten Abend ziehen sollte, wieder aufzunehmen. Nach einigem Suchen finde ich ihn.

Fabio kommt mit immer noch nassem Shirt und nasser Jeans zurück in den Raum und fühlt sich sichtlich unbehaglich. Würde ich auch, wenn ich mit versauten Klamotten in einem Raum voller Fremder sein müsste. Ich bin aber auch so ein Trampel!

"Tut mir wirklich Leid", sage ich noch einmal. Eigentlich stand jetzt lockeres und ungezwungenes Plaudern auf meinem Plan, aber davon sind wir noch meilenweit entfernt. Mein Kumpel Sascha, der mir glücklicherweise hinter dem Bartresen hilft, versorgt Fabio jetzt mit einem frischen Bier, und das sogar unfallfrei.

Er trinkt einen Schluck, dann schaut er sich um. Mich ignoriert er weitgehend und ich habe das Gefühl, dass er nur darauf wartet, dass ich ihn endlich in Ruhe lasse. Also tue ich ihm den Gefallen. Zumindest vorerst. Ich muss mich erst wieder sammeln. Dann werde ich einen zweiten Versuch machen.

Nachdem ich mich eine ganze Zeit lang um meine anderen Gäste gekümmert habe und mir währenddessen ziemlich nervös und viel zu rasch zwei oder drei Bier reingekippt habe, stelle ich fest, dass Fabio immer noch an der gleichen Stelle steht, wie eben. Und er ist allein. Lars hat sich davon gemacht und flirtet mit Franziska. Außer ihm und mir kennt Fabio hier natürlich niemanden. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das, was vom perfekten Abend noch möglich ist, umzusetzen. Eine bessere Gelegenheit bekomme ich wohl nicht.

"Hey Fabio", bringe ich beflügelt durch den Alkohol in meinem Blut heraus. "Du stehst hier so einsam herum. Sollen wir uns vielleicht mal unters Volk mischen und tanzen?" Ich weise auf die hoffnungslos überfüllte Fläche, auf der jetzt fast alle wie wild herum hopsen.

"Hm, ja, okay. Warum nicht?", sagt er zögernd und folgt mir tatsächlich. Ich bin kurz vor einer Ohnmacht.

Ich drehe mich zu ihm um und muss kurz darauf feststellen, dass er auch beim Tanzen eine super Figur macht. Ich hatte nichts anderes erwartet, er ist eben absolut phantastisch. Es sieht außerdem aus, als würde es jetzt endlich wie geplant laufen. Zumindest bis zu dem Moment, als ich nach einer Drehung voll in ihn hinein rassle. Okay, das kann ja jedem mal passieren. Ich versuche, mich davon nicht wieder aus dem Konzept bringen zu lassen, entschuldige mich bei ihm und mache einfach weiter.

Er grinst ein bisschen gequält. "Schon okay. Ist ja nichts passiert."

"Ich glaub, ich brauch mal eine Pause", sagt Fabio, nachdem ich ihm zweimal derbe auf die Füße gestiegen bin und ihn einmal mit meiner Hand fast k.o. gehauen habe. Aber ich glaube, der eigentliche Grund für seine Flucht war der Moment, in dem mich Katja so unglücklich angestoßen hat, dass ich ziemlich unsanft gegen ihn geprallt bin. Das wäre ja echt nicht nötig gewesen! So eine ungeschickte Pute!

"Ist gut", ich nicke. Auch wenn es bisher nicht so berauschend läuft, bin ich nicht bereit, meinen Plan vom perfekten Abend - also gut, zumindest den Plan von meiner perfekten Liebeserklärung, jetzt schon aufzugeben. Ich will nicht umsonst die Sektflasche und die Gläser auf dem Weg nach draußen versteckt haben.

Er zuckt zusammen, als ich mich neben ihn an den Tresen stelle, schließlich hat er gerade wieder ein Bierglas in der Hand. Er wechselt es rasch in die andere Hand, die außerhalb meiner Reichweite ist. Sascha gibt mir auch ein Glas und ich bin schon froh, dass es nicht in tausend Teile zerspringt, als ich mit ihm anstoße. Immerhin - etwas klappt mal zur Abwechslung.

Ich schaffe es sogar, mich irgendwie mit ihm zu unterhalten, auch wenn von 'locker und ungezwungen' nicht gerade die Rede sein kann. Eher geht es in die Richtung 'verkrampft und aufgesetzt'. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, um das Ruder herum zu reißen. Ich fürchte, so richtig gut läuft es bisher nicht. Vielleicht fällt mir ja etwas ein, während er auf der Toilette ist. Ich kann irgendwie viel besser denken, wenn er mich nicht mit seiner Anwesenheit hypnotisiert.

Am Besten, ich frage ihn, ob er mit raus kommt, wenn er zurück ist. Hier zwischen den anderen funktioniert es irgendwie nicht. Ich fühle mich schrecklich beobachtet und kann mich einfach nicht entspannen.

Der Teil, wenn wir allein sind und ich ihm gestehe, dass ich ihn gern habe, kann aber trotz allem immer noch perfekt werden, da bin ich ganz zuversichtlich. Als er zurück kommt, drehe ich mich auf einem Barhocker sitzend in seine Richtung und treffe sein Schienbein mit meinem Fuß so unglücklich, dass er beinahe der Länge nach hinfällt. Er kann sich so gerade noch abfangen und stößt sich lediglich das Knie an der Bar. Auch das tut mir wieder unendlich Leid, was ich ihm sofort sage. Ich will meine Hand dabei auf seine Schulter legen, aber er wehrt mich missmutig ab. Dann reibt er sich mit zusammen gebissenen Zähnen die Kniescheibe.

Inzwischen kann ich fast verstehen, dass er langsam ein wenig sauer wird. Heute geht aber auch alles schief! Und ich hatte mir doch alles so schön ausgemalt. Ich bin schon fast den Tränen nahe. So ein elender Mist!

"Fabio? Magst Du mal mit rauskommen?", frage ich ihn total aus dem Zusammenhang gerissen. Eigentlich wollte ich ihn das fragen, wenn wir vom Tanzen erhitzt sind und dringend frische Luft gebrauchen können. Ich könnte warten, bis wir uns noch einmal auf die Tanzfläche wagen, aber mir läuft so langsam die Zeit davon. Außerdem weiß ich nicht, ob ich ihn überhaupt noch mal dazu bewegen kann, mit mir auf die Tanzfläche zu gehen. Immerhin habe ich ihn bei unserem letzten Ausflug dorthin ganz schön malträtiert.

"Warum?", fragt er, und schon stehe ich ohne Antwort da. Mit einer solchen Gegenfrage habe ich nicht gerechnet.

"Äh, nur so." Ich fächle mir mit einem Bierdeckel Luft zu, während eine Gänsehaut die Härchen auf meinen Armen aufstellt.

"Es ist ganz schön heiß hier drin", sage ich fröstelnd. Ja. Natürlich. Das ist ja wohl die schlechteste Anmache, die es geben kann. Ich kriege die Krise! Heute funktioniert aber auch gar nichts. Ich bin solch ein Idiot.

Er sieht mich ganz direkt an, ich erhasche ein kleines Stück Sommerhimmel zwischen blonden Strähnen, dann sieht er schnell wieder weg. 'Das wird nichts, Marcel', denke ich. 'Die Nummer ist gelaufen. Den kannst Du abhaken.' Der Kloß in meinem Hals wächst auf Medizinball-Größe.

"Okay", sagt er dann völlig überraschend. "Geh'n wir mal ein bisschen raus."

Urplötzlich löst sich der Knoten und ich bin wieder total kribbelig aufgeregt. Jetzt kommt meine Chance! Meine letzte Chance, wie ich befürchte, aber immerhin bekomme ich eine. Jetzt muss unbedingt alles ganz perfekt funktionieren. Keine Ausrutscher mehr.

Ich gehe vor ihm her die Kellertreppe hoch und höre seine Schritte hinter mir. Bitte, bitte, klemm jetzt nicht, flehe ich die Tür in Gedanken an. Sie tut mir den Gefallen, sich nahezu geräuschlos zu öffnen, aber er hat wohl nicht mit der Kraft gerechnet, mit der sie sich hinter uns wieder zu schließen versucht, so dass er sich beinahe darin die Finger klemmt. Glück gehabt, er hat sie noch rechtzeitig zurückgezogen. Das hätte mir gerade noch gefehlt!

Anstelle des geplanten romantischen Sternenhimmels erwartet uns draußen Nieselregen. Alles scheint sich gegen mich und meinen perfekten Plan verschworen zu haben. Na, wenigstens ist es einigermaßen warm. Er hält sein Gesicht dem Himmel entgegen und lässt die winzigen Tropfen darauf herunter regnen, so dass sie auf seinen Wangen und in seinen Wimpern glitzern. Das sieht wunderschön aus. Und es ist so romantisch.

"Magst Du?", frage ich und mache mich daran, die Sektflasche zu öffnen, die ich unauffällig aus ihrem Versteck gezaubert habe. Mit einem vernehmlichen Plopp löst sich der Korken ohne Schwierigkeiten. Allerdings muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass er ihm direkt gegen die Schläfe knallt.

"Au!" Er hebt die Hand an den Kopf und taumelt rückwärts. Gleichzeitig stoße ich in meiner Panik die Gläser um, die von der Mauer fallen und klirrend in tausend Stücke zerspringen.

In diesem Moment zerspringen nicht nur die Gläser auf dem gepflasterten Boden, sondern auch all meine Träume und Hoffnungen. Ich habe alles ruiniert! Er wird sich niemals auf mich einlassen. Er muss mich ja für eine wandelnde Katastrophe halten. Jetzt schießen mir wirklich die Tränen in die Augen. Ich mache mich hier zum absoluten Volltrottel!

"Fabio!"

Ich strecke die Arme nach ihm aus, um ihn - keine Ahnung - aufzufangen, abzufangen, in die Arme zu schließen? Ich weiß es nicht mal wirklich. Es ist wie ein letztes Aufbäumen, bevor ich mir die Niederlage wirklich eingestehen will. Nur um Haaresbreite verfehle ich ihn dabei mit der Flasche, die ich immer noch halte.

"Stopp!", sagt er in einem scharfen Tonfall und ich erstarre mit weit aufgerissenen Augen. Ich würde ihm nicht mal übel nehmen, wenn er mir jetzt eine scheuern und dann von hier verschwinden würde. Stattdessen hält er erst einmal meine Handgelenke fest, bevor ich ihn erreichen kann. Vorsichtig nimmt er mir die Flasche aus der Hand und stellt sie auf den Boden. Dann sieht er mich an. Er hält immer noch eins meiner Handgelenke. Trotz aller Schrecklichkeit fühlt es sich wundervoll an, dass er mich endlich berührt. Hilflos starre ich ihn an. Mir fällt nichts mehr ein.

"Um Himmels Willen, Marcel", sagt er leise und in einem erstaunlich ruhigen Tonfall. "Hör damit auf, bevor Du mich noch umbringst." Mit der freien Hand reibt er den roten Fleck an seiner Schläfe. Ich kann nicht antworten. Ich bin total paralysiert, wie das Kaninchen vor der sprichwörtlichen Schlange.

"Was ist los mit Dir? Was machst Du denn nur?", fragt er und sieht mir wieder direkt in die Augen. Viel länger als eben. Auf seinen Wimpern glitzern winzige Wassertröpfchen wie unzählige Diamanten.

"Ich..." Mehr bringe ich nicht heraus. Weg. Es ist alles weg. Alles, was ich tun, alles, was ich sagen wollte. All die perfekten Worte sind nicht länger in meinem Kopf. Ich kann ihn nur noch ansehen und in seinen Augen versinken. Für einen winzigen Moment erlaube ich mir, zu hoffen, dass er mich auch mag. Dann warte ich ergeben darauf, dass er mich von sich weg stößt.

Er lässt die Hand, mit der er seine Schläfe gerieben hat, herab sinken und nimmt meine Hand. Seine Berührung ist so federleicht, dass ich mich dagegen fühle, wie ein Holzklotz. Mein Magen rotiert so sehr, dass ich beinahe befürchte, ich werde ihm zum krönenden Abschluss auch noch auf die Schuhe kotzen.

"Was machst Du... ", fragt er erneut und wirkt irgendwie abwesend, während er immer noch in meine Augen sieht. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen und trete ein klein wenig näher an ihn heran, so dass wir nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. Mein Herz klopft so fest, dass er es bestimmt spüren kann.

"... mit mir?", haucht er die Frage zu Ende. Bevor ich antworten kann, reckt er den Kopf ein klein wenig vor und küsst mich. Es ist nur ein winziger, unschuldiger Kuss, nach dem er sich sofort wieder zurückziehen will, aber ich lasse ihn nicht. Ich löse mein Handgelenk vorsichtig aus seiner jetzt erschlafften Hand und lege sie ihm leicht in den Nacken. Sein Haar ist wirklich weich und seidig und ich kann einen leichten Kokosduft wahrnehmen. Ganz sanft schmiege ich mich an ihn.

Auch meine andere Hand entzieht sich seiner und legt sich wie von selbst auf seine Hüfte, während auch er seine Arme endlich um mich legt. Mühelos flechten wir uns umeinander wie zwei Puzzleteile, die zusammen gehören. Dann küsst er mich noch einmal. Es ist einer von diesen Küssen, die das ganze Leben verändern. Die alles um einen herum verblassen lassen und das Blut zum Kochen bringen. Er ist einfach...

... perfekt.

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