Stories
Stories, Gedichte und mehr
Quersummen
Teil 5 - Tür zu, es riecht
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Quersummen
- Autor: Tasfarel
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
...und was man so zu sagen hat
So wie immer an dieser Stelle ein paar kleine Worte von mir. Dieses Mal geht das dicke Danke auf jeden Fall an meine drei Vorturner, die sich schon vorab durch das Kauderwelsch gekämpft haben und mir doch den ein oder anderen sehr guten Rat gegeben haben. Ich hab versucht, die meisten eurer Anmerkungen umzusetzen, an manchen Stellen habe ich das aber auch nicht gemacht, aber das seht ihr mir bestimmt nach. Dann darf natürlich das übliche Dankeschön an den Herrn mit der Kommatüte nicht fehlen, der bestimmt wieder unglaublich viel Spaß gehabt hat, bevor ihr die Seiten zu sehen bekommt. Und ganz zuletzt noch einen Gruß an das Honigkuchentier, das immer in regelmäßigen Abständen nachfragt, wann ich denn endlich mal fertig bin. So wie es aussieht, ist das jetzt grade in diesem Moment der Fall.
In dem Sinne wünsche ich viel Spaß und ein paar kurzweilige Minuten.
14
Ich könnte kotzen. Warum kann ich nicht ein einziges Mal auf meine innere Stimme hören? Es ist ja nicht so, als ob sie ab und an Recht hätte. Nein, sie hat ständig Recht! Und was mache ich? Natürlich immer genau das Gegenteil. Und was habe ich davon? Kopfschmerzen zu aller erst einmal, ein nichtexistentes Liebesleben kann ich auch mein Eigen nennen, und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, springt der Grund allen Übels auch noch ständig in meiner Nähe herum. Ich schaffe es ja nicht einmal, einen einzigen Tag lang meinen Kopf freizubekommen. Egal was ich mache, immer und immer wieder habe ich dieses Bild vor Augen, das mir zeigt was nicht ist, nicht sein kann und nicht sein darf. Es ist einfach zermürbend, nicht einmal mehr gaffen und anhimmeln ist noch drin, weil ich ständig nur am vergleichen bin, und wer dabei gewinnt dürfte ja wohl klar sein. Wäre ich bloß nie zu dieser dämlichen Party mitgegangen. Ich frage mich echt, was mich da eigentlich wieder geritten hat. Es war doch schon vorher klar, dass dieser Abend in einem Desaster enden muss.
Natürlich ging es ganz lustig los, Jojos Affentanz wegen unserer Klamotten war kein schlechtes Schauspiel und auch die Feier an sich war nicht schlecht. Sogar den Auftritt dieses verrückten Mädchens konnte man durchaus als „zum Brüllen“ bezeichnen. Aber was wäre mein Leben schon für ein Leben, wenn es mir nicht zum krönenden Abschluss des Abends noch einmal richtig schön eins auf die Fresse gegeben hätte.
Ich kriege es ja nicht einmal auf die Reihe herauszufinden, was genau er mit mir angestellt hat. Eigentlich lief doch alles perfekt. Nach den ersten wirklich abartig ätzenden Wochen hatten wir uns darauf geeinigt, unsere alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen, genauso wie ich mir das auch schon vorher eingebläut hatte. Und trotzdem, irgendwo hatte mein Plan einen kolossalen Fehler, denn schließlich war nun genau das passiert, was ich eigentlich verhindern wollte. Weiß der Geier zu welchem Zeitpunkt er meine kolossal gute Abwehr geknackt hat, passiert ist es jedenfalls, und seitdem fährt mein Herz freundlicherweise ständig Achterbahn. Das wirklich Geniale daran ist aber, dass ich es natürlich vor der gesamten Welt verheimliche, damit nicht das völlige Chaos ausbricht, schließlich habe ich ja eindeutig festgestellt, dass es nicht so ist, wie es scheinbar irgendwie schien. Und was lernen wir aus dem Ganzen? Ohne ihn sind meine Tage beschissen, mit ihm sind meine Tage beschissen und, dass meine Nächte sowieso immer beschissen sind, muss ich ja nicht extra erwähnen. Es ist echt zum Auswachsen, am liebsten würde ich mir ständig die Haare raufen, wenn das nicht irgendwann zu unschönen kahlen Stellen auf der Kopfhaut führen würde. Und so wie der gute Homer J. will ich nun auch nicht enden.
Das Einzige, was mir wohl noch bleibt, ist, unter die Fälscher zu gehen, denn wie Falschgeld aussieht weiß ich inzwischen, schaue mich ja auch jeden Tag im Spiegel an.
Wieso ich... wieso er... und wieso verdammt noch mal jetzt?
Wie wir nach Hause gekommen sind weiß ich nicht mehr wirklich. Das Ganze lief irgendwie auf einem anderen Kanal, und ich habe nur in den Werbepausen meiner eigenen billigen Hollywoodschnulze mal in die reale Welt zurückgeschaltet. Getrunken hatten wir ja beide ausreichend, und dementsprechend wäre es wohl einfacher gewesen, gemeinsam schwankend der Haltestelle zuzustreben, aber warum das nahe liegende tun, wenn man doch besser irgendwelche Filme schieben kann? So stapften wir beide, jeder für sich, irgendwelche dunklen Straßen entlang. Beinahe hätten wir deswegen auch unsere Bahn verpasst, allerdings hatten wir einen netten Fahrer erwischt, der doch tatsächlich noch einmal anhielt, als er uns heranstürzen sah. Mehr als das laute „Danke!“ in Richtung des Fahrers brachten wir auf der Fahrt dann aber auch nicht mehr zustande. Irgendwie war einfach der Wurm drin, und keiner von uns beiden traute sich seine Klappe aufzumachen. Aber was erwartete er eigentlich? Dass ich ihm mein Verhalten erklärte? Das hätte er wohl gern, und schon deshalb konnte er ewig darauf warten. Schließlich war der ganze Abend ja auch nicht meine bescheuerte Idee gewesen. War es doch nicht, oder?
Inzwischen schläft er seit einer halben Stunde, während ich noch immer wach liege und mir den Kopf zerbreche. Ich werde aus ihm einfach nicht schlau. In der einen Sekunde ist er so und dann ist er plötzlich ein völlig anderer Mensch. Wer soll denn aus so jemandem schlau werden? Ich vielleicht? Ich komme ja nicht einmal mit meiner eigenen kleinen bunten Welt klar, und dann soll ich auch noch ihn durchschauen und verstehen?
Wieso zur Hölle musste er mich denn unbedingt umarmen und danach gleich wieder alles mit diesem vollkommen dämlichen Gequatsche kaputtmachen? Na klar hat mir unsere tolle Show gefallen. Ich finde das auch echt super, wie er mit meinen Gefühlen umgesprungen ist, von denen er zwar nichts wusste, aber er hätte wenigstens den Bruchteil einer Sekunde mal über seine Aktionen nachdenken können. Heten. Echt mal, so was von typisch. Die konnten solche Aktionen bringen, ohne sich auch nur ein kleines Bisschen über die Folgen im Klaren zu sein. Warum konnte er sich nicht einfach denken, wie so etwas auf mich wirken würde, oder wohl eher wirken musste? Wieso sah er in letzter Zeit eigentlich so verdammt gut aus, während er mir gleichzeitig immer vor Augen führte, dass ich das, was ich einzig und allein für mich haben wollte, nicht haben konnte? Warum konnte er nicht einer dieser 0815 Heteros sein, die man kurz einmal scharf findet eine Woche anhimmelt und dann wieder vergisst? Warum musste gerade er sich da festkrallen, wo ich ihn nicht vertreiben konnte?
Unglaublich, aber wahr. Ich habe es tatsächlich geschafft, sechs Stunden zu schlafen, obwohl ich mich eher so fühle, als ob es maximal drei Stunden gewesen sind. Flo schläft immer noch tief und fest seinen Schlaf der Gerechten und hat keine Ahnung, was er gestern wieder angestellt hat. Eigentlich kann ich es ihm ja nicht einmal vorwerfen. Er wollte ja nur nett sein, und wenn ich nicht so betrunken gewesen wäre, dann hätte ich die Umarmung auch nicht völlig in den falschen Hals bekommen und mich nicht schon wieder wie ein Vollpfosten benommen.
Es ist echt zum aus der Haut fahren! Der sieht beim Schlafen richtig niedlich aus, auch, wenn er gleichzeitig irgendwie ein kleines bisschen unglücklich aussieht. Ich glaube ich sollte so langsam lieber aufstehen und eine kalte Dusche nehmen, sonst verabschiedet sich mein Hirn wohl endgültig. Und wenn ich einmal dabei bin, dann kann ich mir gleich diese abstrusen Gedanken aus meinem Kopf herausspülen. Wir sind Freunde, und das ist gut so!
Es könnte zwar sein, dass ich mir jetzt Erfrierungen zweiten oder dritten Grades geholt habe, aber eine kalte Dusche war es, und mein Kopf funktioniert nun auch langsam wieder wie gewünscht. Flo pennt immer noch fröhlich vor sich hin, also habe ich noch ein paar Minuten Ruhe, um mich zu sammeln. Auf die Aktion mit der weggezogenen Decke verzichte ich heute mal lieber, schließlich kann das ja zu unerwartet peinlichen Situationen für alle Anwesenden führen. Allerdings könnte ich... ja das ist eine sehr gute Idee.
5 4 3 2 1 Action
Ich hätte nicht gedacht, dass man die Szene in der Kneipe noch überbieten kann, aber Flo hat es wirklich hinbekommen. Ich brauche jetzt zwar einen neuen Wecker, aber das war mir die Sache wert. Nachdem ich meinen kleinen Freund direkt neben seinem Gesicht platziert und die Uhr richtig eingestellt hatte, blieb mir gerade noch genug Zeit, mein Handy entsprechend vorzubereiten. Dann setzte ich mich in die hinterste Ecke meines Bettes und harrte der Dinge, die da folgen würden. Und wie sie folgten. Kaum hatte mein Radiowecker angefangen zu brüllen, regte sich Flo verschlafen und versuchte mit leicht geöffneten Augen den Unruheherd auszumachen. Genau an dieser Stelle setzte Teil zwei meines teuflischen Planes an. Und wie ich es vorausgesehen hatte, quiekte es auf der Matratze und innerhalb der nächsten Nanosekunde sprang er erst in die Luft und dann aus dem Bett. Was ich allerdings nicht erwartet hatte war, dass er drei Sekunden später mit meinem Baseballschläger wieder auf der Matte stand und munter auf den Wecker eindrosch. Ich hatte bis dahin nicht einmal mehr gewusst, dass ich solch ein Gerät besaß, oder besser gesagt, ich hatte mein tollstes Geburtstagsgeschenk von vor drei Jahren total vergessen, weil ich eh nie jemanden gefunden hatte, der mit mir Baseball spielen wollte. Dafür war er wohl Florian sofort ins Auge gefallen, und er hatte sich nach der Begegnung mit meiner Plastikspinne, die ich im Übrigen ganz zufällig direkt auf dem Wecker platziert hatte, sogleich daran erinnert.
Ja, es war ein Bild für die Götter. Anders kann ich es einfach nicht beschreiben. Schließlich sieht man nicht alle Tage einen halbnackten Jungen durch das eigene Zimmer turnen, der nebenbei auch noch einen altindianischen Kriegstanz mit Keule durchführt. Vielleicht hätte ich vorher noch selbst Hand anlegen und die Kriegsbemalung auftragen sollen, aber auch so hatte das Video eigentlich alles was es brauchte, um ein Kracher zu werden.
Gerade noch rechtzeitig verschwand mein Handy wieder in meiner Hosentasche und ich konnte mich vollends meinem Lachkrampf hingegeben, der Flo bereits dazu gebracht hatte, mit seinem Werk innezuhalten und mich völlig konsterniert anzustarren, während in seinem Hirn wohl so langsam ein Bild entstand. Dementsprechend amüsant war er auch weiterhin, oder besser gesagt seine ständig wechselnde Gesichtsmimik verhinderte, dass ich mich in den nächsten Minuten wieder ein bekam. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und aus heiterem Himmel blieb mir plötzlich vor Schreck die Luft weg, da sich irgendwer auf mich geworfen hatte und nun durch flinke und äußerst gesetzwidrige Bewegungen seiner Finger meinen Lachanfall ungewollt verstärkte. War Folter nicht von irgendwem verboten worden? Ihn schien es nicht weiter zu stören, und trotz meiner Einwände und Hinweise auf die Unrechtmäßigkeit von Folter kitzelte mich Flo einfach weiter durch, bis ich die Kontrolle über mich verlor.
Sekunden später lag Flo lachend und gleichzeitig die Nase rümpfend neben mir auf dem Bett, während ich vollkommen rot anlief. Meine Güte, war das peinlich, das war mir das letzte Mal passiert, als Jojo irgendetwas mir völlig Schleierhaftes beweisen wollte.
Einer dieser Augenblicke, in denen die Zeit stehen bleibt. Ein Blick. Eine Sekunde. Eine Geste. Ein Lächeln. Ein Wunsch. Angst. Vorbei.
Nachdem wir das Mittagessen hinter uns gebracht hatten, verkrümelten wir uns wieder in mein Zimmer und taten das, was Leute in unserem Alter immer und überall tun, nämlich zocken. In dieser Hinsicht war ich nämlich dank meiner doch recht gut verdienenden Eltern sehr ordentlich ausgestattet, und wir brauchten auch nur eine halbe Stunde, um uns auf etwas zu einigen. Was hätte man an einem Sonntag auch sonst tun können, außer vielleicht Hausaufgaben zu erledigen? Aber wie man so schön sagt: Sonntag ist Ruhetag, und daran hielten wir uns. Nun ja, wir hielten uns daran den Tag ruhig zu verbringen, wobei unsere Lautstärke ab und an wohl jenseits von Gut und Böse war, was mir der kurze Schreianfall meines seines Mittagsschlafes beraubten Vaters durchaus bildlich vor Augen führte. Es hat uns aber nicht daran gehindert, weiterhin unser gegenseitiges Spielverhalten durchaus im Grenzbereich des verbal Vertretbaren zu kommentieren, deswegen wagte sich wahrscheinlich auch keiner meiner Erziehungsberechtigten in mein Zimmer.
Der Nachmittag mit Flo war einfach nur spitze. Vor einer halben Stunde ist er nach Hause aufgebrochen, und ich bin wieder zurück in meinem höchstpersönlichen Jammertal. Ich habe es den Nachmittag über tatsächlich geschafft, nicht daran zu denken, aber kaum ist er weg, ist mir wieder langweilig und ich kann nichts mit mir anfangen.
Folgerichtig liege ich, nachdem ich mich kurz zum Essen und zurück geschleppt habe, auf meinem Bett herum und lausche, ja wem lausche ich da eigentlich? Egal, die Musik passt, und ich kann mein beschissenes Leben in Ruhe betrachten. Zum Glück haben mir meine Eltern den Spruch mit den Nachwirkungen der gestrigen Abendaktivitäten abgenommen. Wenn die wüssten, was ich hier tue, würden sie mich wahrscheinlich gleich wieder zum nächsten Psychofritzen schleifen. Diese Typen sind zwar anfangs immer recht lustig, aber irgendwann wird auch das schönste Spiel öde und man gerät dummerweise in Gefahr, doch mal etwas preiszugeben, was eigentlich privat ist. Von daher greife ich lieber zu einer kleinen Notlüge, um meine Ruhe zu haben, und mir kann sowieso keiner erzählen, dass nicht jeder in meinem Alter mal solche Abende hat, aus welchen Gründen auch immer.
Es gibt halt diese Stunden, in denen alles Scheiße ist und nichts etwas bedeutet. Diese Stunden, in denen man sicher ist, dass niemand, sei er auch noch so verständnisvoll und bemüht, einen verstehen könne. Diese Augenblicke, in denen man sich nur noch in sich selbst zurückziehen will und alles andere einfach nur vollkommen egal ist. Was hat eine Welt schon zu bieten, in der nichts als Neid, Unfriede und Angst herrscht, da kann man auch gleich den ganzen Tag im Bett bleiben und sich von der leichten Kost des Fernsehers dahin treiben lassen, oder auch Stunden vor dem Computer verbringen, unzählige Seiten, deren Inhalt man schon nach wenigen Sekunden wieder vergessen hat, besuchen, um sich nachher sichtlich erschüttert zu fragen, wo denn die ganze Zeit geblieben ist. Das Wichtigste jedoch ist, dass diese Stunden begrenzt sind, jedenfalls meistens, und man immer einen Weg zurückfindet. Zumindest ich hatte ihn immer gefunden, fast immer.
Den Wind spüren. Die Weite des Landes überblicken. Den Blick genießen. Loslassen. Springen. Freiheit. Feigheit?
Irgendwie war ich wohl während des Nachdenkens eingeschlafen, nur, um mitten in der Nacht aufzuwachen und festzustellen, dass ich mich in meinen Klamotten inzwischen reichlich unwohl fühlte. Nach harten Sekunden hatte ich mich entschieden, aufzustehen, kurz noch einmal das Badezimmer aufzusuchen und mich bettfertig zu machen. Der Uhrzeit, die mein Handy mir standhaft zeigte, machte mir zwar klar, dass ich in Kürze wohl wieder aus dem Bett müsste, aber wenigstens den Rest der Nacht wollte ich ruhig schlafend hinter mich bringen und nicht wieder irgendwelchen Nonsens träumen.
Der Gedanke war gut, aber die Umsetzung vollkommen gescheitert. Obwohl ich noch eine halbe Stunde hätte schlafen können, war ich eben schweißgebadet und ich glaube auch schreiend aufgewacht. Ein paar Liter Wasser später ging es mir zwar wieder halbwegs, aber den Traum hatte ich immer noch nicht wirklich verkraftet. Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, schon jemals so etwas Abstruses und gleichzeitig erschreckend Reales geträumt zu haben.
Halbwegs munter und schon wieder einigermaßen klar im Kopf schleppte ich mich danach zum Frühstück in die Küche und konnte die forschenden Blicke meiner Eltern sofort auf mir spüren. Um möglichen Fragereien gleich aus dem Weg zu gehen, warf ich ihnen einfach ein: „Ja hab ich“ entgegen und befasste mich eingehender mit meinem Brötchen. Zum Glück ließen mich die beiden auch dieses Mal gewähren, aber so, wie ich sie kannte, würde ich mich spätestens heute Abend erklären müssen. Seit der Sache waren sie eben übervorsichtig geworden und interpretierten in jede meiner Launen sofort eine mittelschwere Tragödie hinein, und das nervte doch schon ziemlich, auch, wenn ich sie irgendwo doch ein klein wenig verstehen konnte. Trotzdem war es mehr als lästig, sich für jede Stunde schlechte Laune rechtfertigen zu müssen.
Ich weiß weder wie noch wann ich unser Haus verlassen habe. Aber auf jeden Fall habe ich es getan, denn ich habe gerade mitbekommen, dass ich mich auf direktem Weg zur Schule befinde. Gott sei Dank habe ich trotz meines scheinbar akuten Anfalls geistiger Umnachtung daran gedacht, mein Schulzeug mitzunehmen. Nicht auszudenken, was das für ein Trara gegeben hätte, wenn ich ohne aufgetaucht wäre. Straßenschuhe und normale Klamotten habe ich zum Glück auch an, nicht auszudenken, wenn es anders gewesen wäre. Ich wäre sofort gestorben oder im Erdboden versunken, aber mindestens vollkommen Tomate wäre ich geworden.
In diesem Moment stellt sich mir allerdings gerade die äußerst wichtige Frage, was mich eigentlich aus meiner geistigen Umnachtung herausgerissen hat.
Wo kommt denn Flo auf einmal her? Hat er mich angesprochen? Mir irgendwelche Fragen gestellt, die ich ihm aufgrund geistiger Abwesenheit nicht beantwortet habe? In Sekundenbruchteilen wurde mir erst heiß und dann wieder kalt, ich gab hier echt die totale Kasperveranstaltung, so völlig im Strom durch die Gegend zu laufen, noch nicht einmal betrunken, sondern einfach nur so aus heiterem Himmel. Irgendwie werde ich wohl doch so langsam vollkommen ein Fall für die Herren mit den tollen weißen Anzügen.
Wenigstens Flo hat nichts von meiner Apathie mitbekommen, so wie der stur und unfreundlich vor sich hin stierend neben mir herläuft. Außerdem hat er seine Kopfhörer im Ohr, und von daher hat er wohl auch nicht mehr als ein „Morgen“ in meine Richtung gegrummelt, und ohne eine Antwort abzuwarten seine Ohren wieder verstöpselt. Also kann ich auch getrost weiter im Zauberwald herumhoppeln und mir überlegen, wie ich mich wieder zurück in die Spur bekomme.
Moment mal. Seit wann haben wir beide eigentlich den gleichen Schulweg? Flo wohnt doch in einer komplett anderen Ecke und wir treffen uns normalerweise erst auf dem Schulhof.
Irgendwann bemerkte Flo schließlich, dass plötzlich niemand mehr neben ihm lief, und so blieb auch er erst einmal stehen, um sich verwundert umzuschauen. Gerade so genug Zeit, um mich wieder zu fangen, also holte ich wieder zu ihm auf, während er mich fragend anschaute und sogar einen seiner Ohrstöpsel aus selbigem zog. Und da ich ihn nicht dumm sterben lassen wollte, schob ich, sobald ich nah genug war, meine Frage hinterher.
„Wie kommt es eigentlich, dass wir heute den gleichen Schulweg haben? Du wohnst doch in einer ganz anderen Ecke.“
War das da etwa Unsicherheit in seinen Augen? Einen Keks für deine Gedanken, einen riesigen Schokoladenkeks, mit viel Schoko und noch mehr lade.
„Ich war bei Lara und da lag die Haltestelle hier am besten.“
„Ach so.“ Das war ja wohl mal vollkommen die falsche Antwort! Allerdings sagt mir sein Blick, dass ich in Zukunft wohl etwas mehr auf meine Betonung achten sollte, denn wenn ich den Blick, den er mir gerade zugeworfen hat, richtig gedeutet habe, wovon ich ausgehe, dann muss meine Antwort Bände gesprochen haben. Und das ist genau das, was ich im Moment ungefähr so dringend brauche wie einen Einlauf. Er hat meine zwei Worte natürlich richtig interpretiert, auch wenn er sich da wohl nicht sicher ist, aber ich bin ja auch kein hormongesteuerter Fleischklumpen, der nur die drei Buchstaben in sein Hirn eingebrannt hat, ich kann nämlich die einmal abgesteckten Grenzen durchaus akzeptieren, auch, wenn ich sie am liebsten niederreißen würde. Lassen wir das lieber, sonst fange ich am Ende wirklich noch ein Streitgespräch mit mir selber an, und auch das brauche ich im Moment genauso dringend wie einen... na, ihr wisst schon.
Also schnell die Flucht nach vorn angetreten und vom nahe liegenden Sachverhalt abgelenkt.
„Du musst mir deine Freundin übrigens unbedingt mal vorstellen. Ich bin ja gespannt, wen du dir da Schnuckeliges geangelt hast.“
Und das wollte ich auch wirklich, ohne Scheiß. Schließlich musste ich mir die Tussi mal genauer anschauen, die mir meinen Flo weggeschnappt hatte. Wenn die nicht mindestens so gut wie ein Topmodel aussah, dann würde ich ihr wohl die Augen auskratzen und den Nagellack mit Sandpapier entfernen, oder mich zumindest hemmungslos betrinken müssen.
Was ist denn da los? Meine simple Bitte hat Florians Köpfchen aber ganz schön zum Rauchen gebracht. Dieses Mal biete ich einen ganz frisch gebackenen Kirschkuchen für seine Gedanken, mit mindestens fünf Kirschen und ganz viel Kuchen drum herum. Nicht? Wie unfair!
Wenigstens bekam ich von Flo dann nach einer halben Ewigkeit, oder anders gesagt, nach einer Minute intensiven Nachdenkens, eine Antwort, die zwar wiederum alles und nichts bedeuten konnte, aber man nimmt ja was man kriegen kann. Und so schlecht klang es ja auch gar nicht, dass sich das mit dem Treffen sicher demnächst mal ergeben würde. Wahrscheinlich war sie doch kein Topmodel und er musste sie erst etwas aufpeppen, damit er sie draußen vorzeigen konnte. Dann würde es mir wahrscheinlich auch keiner übel nehmen, wenn ich sie ganz still und heimlich umbrachte und mich an ihre Stelle begab. Das würde garantiert keinem auffallen, der nicht mindestens blind oder blöd oder beides war. Na ja es war halt so ein Gedanke.
Da sich unsere kommunikativen Fähigkeiten für den heutigen Morgen damit wohl wieder erschöpft hatten, legten wir den restlichen Schulweg dann auch schweigend zurück. Der Rest der Bagage erwartete uns auf dem Schulhof und wusste zum Glück schon, dass er nicht mit mehr als einem kurzen Gruß von Flo zu rechnen hatte. Und ich hielt es heute genauso. Das gab zwar erstaunte Blicke, denn sonst neigte ich scheinbar ganz leicht zur Quasselstrippe, aber man schob es scheinbar aufs Wetter und ließ mich erst einmal in Ruhe.
Und dann brach er über uns herein. Gar schrecklich gewaltig und ohne Gnade. Der Schulalltag. Der erste Schock traf mich, als Frau Schaller davon anfing, dass sie gerne von einem der Anwesenden die Aufgabe an der Tafel vorgerechnet bekommen würde. Ich wollte am liebsten im Boden versinken, und Flo wollte natürlich seine Hand heben. Das war dann einer der Momente, in denen ich ihn liebend gerne ein klitzekleines bisschen getötet hätte, doch Frau Schaller rettete ihm, ohne es zu wissen, das Leben. Manchmal sind Lehrer halt auch zu etwas nütze.
„Flo, du kannst die Hand wieder runter nehmen und Peter, du kannst sie gleich unten lassen. Ihr seid für andere Aufgaben prädestiniert“, meinte sie zu uns beiden, während sie in ihrem Hefter kramte, aber nur so laut, dass es die anderen nicht mitbekamen. Den riesigen Gefallen, den sie mir damit tat, konnte sie wohl selbst nicht ermessen, aber wer war ich denn, mich über solch glückliche Fügung des Schicksals aufzuregen? Was sie aber mit den Kondomen gemeint hatte, konnte ich mir nicht wirklich schlüssig erklären.
Vom Rest des Unterrichts bekam ich immer nur dann etwas mit, wenn mir mein Nachbar mal wieder unsanft gegen mein Knie trat. Ansonsten war ich vielmehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt und versuchte, erst einmal herauszufinden, warum ich das Wort Glück gerade dann am meisten benutzte, wenn es mir eigentlich vollkommen beschissen ging und von Glück eigentlich weit und breit nichts zu sehen war. Die fällige Antwort auf meine Frage wollte sich allerdings auch in der folgenden Pause nicht einstellen, und so versuchte ich, standhaft weiter eine Antwort auf diese weltbewegende Frage zu finden, was mir natürlich nicht einmal im Ansatz gelang. Wäre ja auch zu schön gewesen. Das einzige Positive daran war, dass während meiner Überlegungen der Schultag einfach so herumgegangen war und ich nun endlich nach Hause konnte, um weiter nachzugrübeln, über was auch immer. Da fand sich sicherlich irgendetwas.
Und es wäre auch zu schön gewesen, wenn mich mein Glück bis nach Hause nicht verlassen hätte, aber das tat es natürlich genau in dem Moment, in dem ich es noch ganz kurz gebraucht hätte, nämlich, als mir Flo den Weg verstellte und wissen wollte, in welchem Zauberwald ich mich denn herumtrieb. Logischerweise ließ ich erst einmal eine ganze Menge Fragezeichen über meinem Kopf entstehen und stellte mich kolossal dumm, na ja, ich wusste im ersten Moment echt nicht, was er von mir wollte. Nett, wie er war, erklärte mir Flo dann aber auch sogleich, dass ich heute doch wie ein Zombie durch die Schule gelaufen wäre, was ich natürlich ohne Anflug eines schlechten Gewissens sofort entschieden von mir wies. Vielmehr versuchte ich, ihm glaubhaft klarzumachen, dass ich heute wohl etwas in Gedanken gewesen wäre, ihm das aber nicht so recht erklären könnte. So recht wollte ihm die Antwort zwar nicht passen, aber bevor noch mehr Einwände von seiner Seite kamen, verdrückte ich mich mithilfe einer kleinen Ausrede ganz schnell nach Hause
Lärm... Lachen... Wieso hatte er das getan?... Ich hatte ihm nichts getan. Ich wollte doch nur einen Freund. Was war daran so schlimm? Was so erschreckend? Musste man mich deshalb hassen? Sollte ich mich selbst dafür hassen? Angst... Flucht...
Noch so eine Nacht und ich nehme mir einen Strick. Zum Glück hat das keiner gehört, sonst hätte ich jetzt schon fünf Psychofritzen an der Backe, die versuchen würden, alles mögliche an mir herumzutherapieren. Wenigstens bin ich inzwischen wieder halbwegs klar im Schädel. Hat zwar bis zur dritten Stunde gedauert, aber ich bin die von Jojo unterschriebene Entschuldigung ohne irgendwelche Beanstandungen losgeworden. Ich hab mir eben doch die richtigen Freunde herausgesucht, und Jojo hat auch schon früher ein gewisses Talent im, nennen wir es „kopieren fremder Handschriften“, an den Tag gelegt. Außerdem dürfen meine Eltern unter keinen Umständen erfahren, dass ich so vollkommen neben mir stehe. Es ist mir ja selbst ein Rätsel, und ich kann mir auch keinen Reim darauf machen, wieso das alles gerade jetzt wieder hochkommen muss. Ich hatte diese Scheiße doch schon längst hinter mir zurückgelassen, und alles lief prima. Gut, vor den Ferien hätten mich solche Nächte echt nicht verwundert, da hatte ich sogar wirklich damit gerechnet, aber selbst zu der Zeit ging es mir nicht annähernd so beschissen wie in den letzten zwei Tagen.
Zumindest hatte es geholfen, darüber mit Jojo zu reden. Er war der einzige, der die ganze Geschichte in allen Einzelheiten kannte, selbst meinen Eltern hatte ich nicht alles aufs Brot geschmiert, schließlich waren es meine Eltern. Und der Psychotante, die sie für mich engagiert hatten, hatte ich erst recht einen Scheiß erzählt. Sie hatte sich zwar bemüht, aber ich wollte einfach nicht und von daher wurde auch nix aus ihren Versuchen, mich zu therapieren. Ein kleines Problem war heute allerdings aufgetaucht. Normalerweise schaffte es Jojo immer, mich wieder in die richtige Spur zu kriegen, aber heute hatte das nicht geklappt. Es tat zwar immer noch unheimlich gut, jemanden zu haben, mit dem ich über die Sache reden konnte, aber trotzdem, irgendwie...
Als ich mich neben ihn setzte, schaute Flo mich reichlich skeptisch an. Scheinbar sah ich immer noch ziemlich beschissen aus. Zum Glück sprach er es nicht aus, denn diesen Satz hatte ich mir heute früh auch schon von Jojo anhören dürfen. Andererseits war dieser Satz aus seinem Munde um diese Uhrzeit für Jojo ja schon mehr als human, wenn ich bedachte, wie er mich sonst begrüßte, wenn ich ihn seiner Meinung nach mitten in der Nacht aus den Federn holte. Also musste ich wohl definitiv ziemlich scheiße ausgesehen und er sich seinen Teil gedacht haben.
Nachdem er dann seinen ersten Kaffee hintergeschüttet hatte, schüttete ich ihm mein Herz auf den Teller, und es war wirklich schwer zu verdauen, obwohl er sich redlich bemühte.
Fünfundvierzig Minuten später war meine Schonfrist dann vorbei, denn Flo hatte scheinbar allen Mut zusammengenommen und fragte mich das Offensichtliche. Logischerweise erzählte ich ihm daraufhin den größten Bockmist von wegen schlecht geschlafen und Vollmond und zuviel Zucker im Tee. Man kennt das ja. Typ fragt Typ etwas Wichtiges. Typ antwortet Typ was völlig beknacktes, was Typ zwar mitkriegt, aber nicht offen ausspricht, damit Typ sich nicht noch mehr in die Ecke gedrängt fühlt. Willkommen im Beknacktoversum. Aber zu meiner Verteidigung möchte ich anführen, dass ich das mit dem Vollmond nicht wirklich gesagt habe, aber sehr viel besser ist meine Ausrede wohl auch nicht gewesen.
Zumindest war ich mit dem, was ich in meiner offensichtlichen geistigen Umnachtung von mir gegeben hatte, wenigstens relativ nahe an der Wahrheit geblieben, auch, wenn ich Flo über die Ursache vollkommen im Dunklen ließ. Folgerichtig standen wir uns bis zum Ende der Pause gegenüber und schwiegen uns mehr oder weniger an. Ich wusste, dass ich ihn so ziemlich angelogen hatte, er wusste es auch, aber die Klappe hat deswegen trotzdem keiner von uns aufbekommen. Ich, weil ich mir sicher war, dass dann wahrscheinlich alles vorbei wäre, und er, weil er wohl nicht genau wusste, was für eine Antwort er von mir bekommen und ob sie ihm gefallen würde.
Es ist inzwischen Donnerstag, wenn ich mich nicht ganz irre, und ich stehe immer noch so was von im Wald, das passt auf keine Kuhhaut. Gerade eben bin ich dem Verhör meiner Eltern entkommen, die mich doch tatsächlich eine Stunde im Wohnzimmer festgenagelt haben. Natürlich hab ich versucht, mich sofort irgendwie herauszureden, aber leider sind die Herrschaften nun auch nicht vollkommen dumm, auch, wenn ich mir das in der Situation ab und an doch wünschen würde. Jedenfalls haben sie so lange gebohrt , bis ich wenigstens ein Stück weit mit der Wahrheit herausgerückt bin. Ich habe ihnen aber nur erzählt, dass ich in letzter Zeit ziemlich schlecht schlafe und deshalb so neben mir stehe. Darauf, dass ich ihnen den Grund für meine Schlaflosigkeit sage, können sie aber lange warten, denn dann weisen die mich bestimmt gleich stationär ein. Die wollten mich ja schon wegen dem kleinen bisschen Schlafmangel wieder zu meiner alten Psychotante schleppen, und das kann ich im Moment mal so was von überhaupt nicht gebrauchen, dass ich es ihnen auch gleich wieder ausgeredet habe. Ich meine, die Frau konnte mir auch das letzte Mal nicht wirklich helfen, obwohl sie sich ja redlich bemüht hat, aber Jojo war da viel hilfreicher, auch ohne abgeschlossenes Psychostudium. Es ist halt nur eine Sache, die mir im Moment noch ein wenig Kopfschmerzen bereitet. Bisher hat das mit Jojo und dem besser fühlen immer gut geklappt, aber nun klappt es nicht mehr. Wir haben kurz vor dem Verhör telefoniert, und ich hab mich natürlich wie immer gefreut seine Stimme zu hören, aber sie hatte nicht mehr den Effekt wie früher, und Jojo hatte leider auch nicht das passende Rezept, um meine kleine verkackt beknackte Welt wieder in Ordnung zu bringen. Ich glaube, ich sollte mal wieder versuchen zu schlafen, sonst wird das mit den Augenringen noch eine dauerhafte Angelegenheit.
„Wir kriegen dich, und dann bist du fällig, du kleiner Schwanzlutscher!“
„Bleib einfach stehen, dann sind wir auch schnell mit dir fertig!“
„Mach’s dir selber nicht so schwer. Wir erwischen dich so oder so.“
Die Straßenbahnhaltestelle war nicht mehr weit weg. Sie würden mich auf keinen Fall kriegen. Scheiße Tobi! ... Flo
Das Gesicht im Spiegel kann einfach nicht mir gehören, das geht ja mal überhaupt nicht. Ich sehe aus wie ein verdammter Zombie, und dabei bin ich mir sicher, dass mein Herz noch schlägt. Kann mich nicht mal einer aus diesem Albtraum herausholen? Es ist inzwischen Freitag, und noch so eine Woche halte ich definitiv nicht aus, und wenn ich noch so eine Nacht wie die heutige erlebe, dann spring ich vom Teppich. Mein Befinden hat sich fantabastischer Weise auch schon auf meine Eltern ausgewirkt, die inzwischen auch aussehen wie drei Tage Regenwetter. Ich bin eben aus der Küche geflohen, weil ich diese mitleidigen, bestürzten, verwirrten, traurigen und weiß der Geier was sonst noch Blicke nicht mehr ertragen habe. Die beiden sahen ja echt aus, als ob die halbe Neustadt soeben abgesoffen wäre, und nein, die liegt nicht etwa in einem Tal, sondern aufm Hügel, so ein bisschen jedenfalls, ach egal. Zwischen dem ersten und dem zweiten Bissen von meinem Brötchen, die nur ungefähr fünf Minuten auseinander lagen, habe ich sogar versucht, herauszufinden, was denn mit meinen Eltern los ist. Allerdings hab ich von meinem Vater dann die total beknackte Antwort bekommen, dass er Stress im Büro hätte. Also ich bitte euch, ich bin doch nicht auf der Wurstbrühe her geschwommen, und ich hasse es außerdem, wenn mich jemand anlügt und ich das in seinen Augen lesen kann. Ob meine Eltern das bei mir auch können? Bin ich auch so ein offenes Buch?
Auf dem Weg zur Schule dachte ich, mich trifft der Schlag, denn als ich irgendwann aus meinen Gedanken aufschreckte und mich nach links umsah, dachte ich, neben mir würde ein Spiegel hergetragen. Dem war letztlich doch nicht so, denn ich hatte ja weder meine Haare gefärbt, noch meinen Namen geändert. War wohl eine harte Nacht bei Lara gewesen. Was die wohl alles veranstaltet hatten, wollte ich mir definitiv überhaupt nicht und vor allem nie und nimmer jetzt in diesem Moment vorstellen. Auf jeden Fall sah Flo genauso fertig aus, wie ich mich fühlte.
„Alles klar bei dir?“
„Hm geht so. Du siehst aber auch ziemlich beschissen aus.“
„Hatte ne beschissene Nacht.“
„Ging mir ähnlich.“
Soviel dann zum Thema Kommunikation, denn nach diesen paar abgehackten Sätzen kam von keinem von uns mehr was, und man konnte das Gespräch getrost als „im Sande verlaufen“ ad acta legen. Eigentlich war ich darüber nicht einmal sonderlich böse, denn so blieb ich wenigstens von irgendwelchen Fragen verschont. Wie schon an den letzten Tagen versuchte ich mich auch heute, mit eher mäßigem Erfolg, auf das Unterrichtsgeschehen zu konzentrieren. Die drei Kreuze in meinem Kalender waren auch schon gebongt, weil, hätten wir in den letzten Tagen irgendwelche Klausuren oder sonstigen Heckmeck auf dem Plan gehabt, ich hätte das Pferdegespann so was von dermaßen mit mindestens hundert Sachen gegen den Baum gesetzt, das ging ja mal gar nicht. Was ich heute allerdings ausnahmsweise mal mitbekam, war, dass es scheinbar nicht nur mir so ging, denn Flo schien sich auch vollkommen im Zauberwald zu befinden. Vielleicht war ja etwas mit Lara vorgefallen und ich Vollpflaume hatte natürlich bisher nicht den leisesten Gedanken daran verschwendet, dass da irgendetwas nicht stimmen könnte. Es konnte ja auch keinem anderen schlecht gehen, wenn es mir doch so schlecht ging. Das mit den Freunden und keine Feinde mehr brauchen stimmte also auch vollkommen, ganz klassisch verkackt Herr Steinberg. Wie dem auch sei, die Erkenntnis kam mir natürlich erst in der vorletzten Stunde, bevor ich endlich ins Wochenende verschwinden konnte, und passender Weise hatte Flo natürlich vor dieser Stunde Schluss gehabt und war inzwischen sicher wer weiß wo, sodass ich nicht einmal mehr nachhaken konnte, was denn mit ihm los war. Aber am Ende lebten wir ja im Zeitalter der mobilen Kommunikation und ich hatte auch schon vor einiger Zeit gelernt, ein Tastentelefon zu bedienen, von daher schmiedete ich auch umgehend den Plan, sobald ich zu Hause angekommen war, den Telefonhörer zu greifen und Flo anzurufen.
Das mit dem Anruf konnte ich mir dann aber doch sparen, denn als ich endlich Schluss hatte und nichts weiter als nach Hause wollte, stand Flo am Tor und wartete entweder auf mich oder auf besseres Wetter. Da aber die Sonne schien, blieb wohl nur die erste Möglichkeit, was mich nun jedoch nicht unbedingt ärgerte, denn schließlich wollte ich ihn ja fragen, was mit ihm los sei. Als ich dann vor ihm stand, ließ ich den Plan jedoch erst einmal fallen, denn da erwartete mich ein verflixt fröhliches Kerlchen und nicht der kleine Zombie von heute morgen. Ob Flo inzwischen angefangen hatte Drogen zu nehmen oder, noch schlimmer, Kaffee getrunken hatte? Ich konnte es nicht sagen und stand erst einmal einfach vollkommen im Wald, denn das hatte ich ja in letzter Zeit dauernd geübt und wartete auf eine Erleuchtung, die sich leider nicht einstellen wollte.
Dafür ballerte mir Flo eine Frage vor den Latz, die mich schnell wieder aus meinen Gedanken herausriss.
„Kommst du mit zu mir?“
Wie jetzt? Wieso das denn? Keine Lust auf gute Laune. Und da mit Flo scheinbar wieder alles in Ordnung war, hatte ich auch vor, ihm genau das so zu sagen.
Scheiße. Ende. Aus. Ich gebe auf. Der kann den Blick! Der Arsch!
Nein, natürlich wollte ich nicht mit zu ihm, ich wollte lieber weiter mit mir alleine sein und endlich herausbekommen, was mit mir los war, aber, wenn man so treudämlichniedlichdoof angeschaut wird, will ich sehen, wie da jemand hart bleibt und nein sagt. Außerdem, es war Flo.
Da ich nun einmal zugestimmt hatte ihn zu begleiten, wollte ich wenigstens herausfinden, warum er denn heute früh so zugegebenermaßen vollkommen Scheiße ausgesehen hatte. Aus dem sollte mal einer schlau werden. Erst zu Tode betrübt und dann wieder die komplette Kehrtwende, und das alles innerhalb von zwei Stunden, den Namen seines Dealers musste er mir unbedingt verraten.
Eine klare Antwort bekam ich allerdings nicht auf meine Fragen, und bevor ich mich dazu durchgerungen hatte, den Versuch ein zweites Mal zu starten, standen wir plötzlich vor einem mir noch dunkel bekannt vorkommenden Gebäude. Der würde doch nicht... der würde, und wie. Er machte es tatsächlich schon wieder. Er missbrauchte mich ohne Vorwarnung und ohne Entschuldigung schon wieder als Packesel für den Wochenendeinkauf der Familie Gerber. Hatte ich nicht erwähnt, dass man keine Feinde braucht, wenn man gute Freunde hat? Hatte ich. Scheinbar traf das für beide Seiten zu. Also schleppte ich, gut erzogen, wie ich nun leider einmal bin, gefühlte fünfhundert Kilo Nahrungsmittel zu Flo, der sich bestimmt nur halb so viel in seine Tüten geladen hatte. Wenigstens bekam ich für meine Mühen und meinen geschundenen Rücken auch dieses Mal etwas Leckeres zu essen. Das war aber auch das Mindeste, sonst hätte ich ihn wohl noch an Ort und Stelle die Hammelbeine lang ziehen müssen.
Das eine musste man ihm jedenfalls lassen: Auch, wenn ich mir fast einen Bruch gehoben hatte, die Bratkartoffeln waren nicht von schlechten Eltern und entschädigten mich doch ziemlich für meine Mühen. Das ich mich danach allerdings die Treppe hoch quälen musste, hätte ich ihm fast wieder übel genommen, aber er meinte, dass wir bei ihm im Zimmer besser Musik hören könnten und vor allem unsere Ruhe hätten, also gab ich mich geschlagen und rollte gefügig die Treppe nach oben. Der Herr hatte natürlich wie immer etwas vergessen und ließ mich erst einmal in seinem Chaos stehen.
Das war die eine Sache, die mich an Flo gleichzeitig irritierte, für dich ich ihn bewunderte und wegen der er mir doch auch ein wenig Angst machte. Wie konnte man einen so kleinen Raum in einer so kurzen Zeit in ein solch umfassendes Chaos stürzen? Es war mir schier unbegreiflich, aber seit meinem letzten Besuch hatte sich dieser Zustand scheinbar exponentiell verschlimmert. Wenn man sich hier auf die Suche nach irgendetwas Bestimmten machte, würde man sicher Jahre brauchen, um das Gesuchte zu finden, dabei aber mindestens hundert andere Sachen entdecken, von deren Vorhandensein man überhaupt nichts mehr gewusst hatte. Ich hatte da ja noch eine relativ einfach zu lösende Aufgabe vor mir. Das Bett konnte man auch in dem sehr fortgeschrittenen Zustand der Unordnung gut erkennen, und ich musste mir ja nur ein kleines Stückchen frei räumen. Gerade, als ich dieses Kunststück vollbracht und dabei nur ein klein wenig mehr Chaos verursacht hatte, stand Flo auch schon mit Chips und Cola bewaffnet in der Tür.
„Sehr gut, du hast mir ja schon einen Platz frei geräumt.“
Dem ging es wohl eindeutig zu gut. Es war schon schwer genug gewesen, hier nicht irgendetwas umzureißen, als ich mir das kleine Stück Sitzfläche freigeschaufelt hatte. Hier lag nämlich wirklich überall irgendetwas herum. Ein Wunder, dass ich bis hierher gekommen war, ohne irgendetwas zu zertrampeln, einzudellen oder zu verbiegen. Schon allein deshalb konnte er es sich getrost an die Bommel schmieren, dass ich hier sein Putzlieschen spielte, und außerdem hatte ich garantiert kein S auf dem Rücken. Deshalb knallte ich mich auch sofort selbst auf die von mir frei geräumte Ecke des Bettes und strahlte ihn fröhlich an.
„Kannst du mir bitte auch noch ein Stück Bett frei räumen, ich hab grad irgendwie die Hände voll.“
„Oh, du kennst das Zauberwort, na, dann will ich mal nicht so sein.“
Was es daran nun zu Grinsen gab, wusste ich auch nicht. Und da es mir zu blöd war danach zu fragen, tat ich einfach das, worum er mich gebeten hatte, allerdings auf meine Art. Ich räumte den Rest des Bettes nämlich innerhalb einer Sekunde ab, indem ich einfach kurz die Decke anhob und den ganzen Kram auf den Fußboden beförderte. Die Idee hätte mir eigentlich gleich kommen können.
Das leicht empörte Schnaufen in meinem Rücken ignorierte ich geflissentlich und grinste meinen Gastgeber frech an, nachdem ich die Decke wieder an ihren Platz befördert hatte.
„So, fertig!“
„Das sehe ich, aber du hättest nicht gleich alles auf dem Boden verteilen müssen.“
„Du hast mir ja leider keine klaren Anweisungen gegeben, also habe ich das gemacht, was am einfachsten war. Außerdem hättest du dich ja auch selbst bemühen können, schließlich ist die Colaflasche nicht angeklebt.“
„Hast ja Recht. Fang!“
Maximal fünf Nanometer vor meiner Nase konnte ich die Packung stoppen, bevor mir der ganze Kram ins Gesicht geklatscht wäre. Kaffee, das musste einfach Kaffee sein, was er sich da intravenös in die Adern gespritzt hatte. Während ich noch damit beschäftigt war Flos Drogenkonsum zu analysieren, ließ der sich neben mich aufs Bett plumpsen, nur, um ungefähr fünf Sekunden später wieder aufzuspringen und sich zu seiner Anlage durchzukämpfen.
‚Bloß keine Deprimucke! Bloß nix Melancholisches! Bitte! Bitte! Na toll!’
„Hast du nix Schnelleres?“
„Hab ich jetzt keinen Bock drauf. Außerdem, schneller ist lauter, und ich wollte mich eigentlich mit dir unterhalten.“
OK, gute Laune ade. Gerade eben war es ja richtig lustig gewesen, aber nach diesem Satz meldete sich sofort meine innere Stimme. Er wollte also mit mir reden, und über was konnte ich mir auch schon ziemlich gut vorstellen. Dass mir das logischerweise überhaupt nicht in den Kram passte, war natürlich verständlich. Ich musste also so schnell wie möglich hier weg, sonst würde es wohl unweigerlich ziemlich unangenehm werden.
„Scheiße, schon so spät. Meine Eltern killen mich, wenn ich nicht schleunigst zu Hause auftauche.“
Gesagt, getan. Dachte ich jedenfalls. Denn, noch während ich mich erhob, war Flo schon aufgesprungen und hatte sich mir in den Weg gestellt, was nun wiederum mir überhaupt nicht in den Kram passte.
„Was soll das jetzt werden? Sind wir im Kindergarten? Lass mich durch!“
Da hatte einer wohl ein bisschen zuviel Zucker im Kaffee gehabt.
„Ich lass dich hier nicht weg, bevor wir uns nicht unterhalten haben, und bevor du mir weiter was von deinen Eltern vorheulst, die wissen bereits, dass du bei mir bist. Ich mache mir verdammt noch mal Sorgen um dich. Du läufst schon die ganze Woche herum wie ein Zombie und sagst mir nicht, was los ist.“
Was sollte denn der Scheiß? Mir ging es bestens. Und außerdem hatte ich erstens keinen Bock mich zu unterhalten, und zweitens hatte ich keinen Bock mich zu unterhalten. Nebenbei bemerkt was bildete sich Flo eigentlich ein, mir den Weg zu versperren, und wieso zum Geier hatte der meine Eltern angerufen?
„Sag mal, welche Schraube ist denn bei dir abgebrochen? Geht’s dir irgendwie zu gut, oder warum rufst du einfach so meine Eltern an? Wenn ich irgendetwas zu erzählen hätte, würde ich es schon erzählen, also was soll die ganze Scheiße hier?“
„Das kann ich dir ganz einfach erklären. Ich will wissen was mit dir los ist. Denkst du vielleicht, ich bin irgendwie blind oder blöd? Glaubst du, ich kriege nicht mit, dass du wie ’ne Tüte Falschgeld rumläufst? Außerdem benimmt sich Jojo komisch, wenn ich auch nur auf dich zu sprechen komme. Du hast jetzt also genau zwei Möglichkeiten: Entweder, du erzählst mir, was Sache ist, oder wir beide versauern hier drin, denn freiwillig werde ich dich sicher nicht vorbeilassen.“
Dem mussten sie akut ins Hirn gekackt haben, da waren nämlich so einige Sicherungen durchgebrannt. Flo führte sich ja tatsächlich hier auf, als wäre er meine Mutter oder ein wahnsinnig gewordenes Huhn, dabei gingen ihn meine Probleme ja wohl mal so was von einen feuchten Dreck an. Wo kommen wir denn da hin, wenn ich Hinz und Kunz von meinen Problemen vorheule. Außerdem war die Sache schon lange wieder vergessen, na ja, nicht ganz, aber es ging ihn trotzdem nichts an, und wenn ich denn den unstillbaren Drang gehabt hätte, ihm mein Herz auszuschütten, dann ja wohl aus eigenem Willen und nicht unter Zwang. Der konnte warten bis er schwarz wurde, von mir gab es auf sein blödes Gelaber nämlich ganz sicher keine Antwort. Stattdessen versuchte ich, mich an ihm vorbei zur Tür durchzudrängeln, was er allerdings zu verhindern wusste. Also anders.
„Wenn du mir nicht gleich aus dem Weg gehst, dann kracht es, aber ganz gewaltig. Was glaubst du eigentlich wer du bist? Bloß, weil du grade irgendeinen Mutter Theresa Film schiebst und mir irgendwelche Probleme andichtest, müssen die noch lange nicht existieren, und wenn doch, muss ich mich nicht wirklich bei dir ausheulen. Also letzte Warnung, mach Platz, sonst klatscht es.“
Aber anstatt irgendeine Regung zu zeigen, blieb der Sack einfach stoisch vor der Tür stehen. Reden ging nicht, drohen brachte nix, dann halt auf die harte Tour.
Ich sah mich kurz um und fand ein geeignetes Ziel, das ich mit einem geheuchelten „Huch, wie ärgerlich“ durch Flos Zimmer kickte. Da auch das zu keinerlei Regung führte und ich nicht wirklich darauf aus war, seine Sachen zu zerlegen, blieb mir nur noch eine Möglichkeit.
„Wenn du dich nicht sofort von dieser scheiß Tür verpisst und mich raus lässt, prügle ich dich davor weg.“
Keine Reaktion.
„Verdammt Flo, lass mich raus!“
Keine Regung.
„Flo, lass mich raus... bitte.“
Ich konnte ihm keins auf die Fresse geben, beim besten Willen nicht, so sehr ich mich auch reingesteigert hatte, das ging nicht. Allerdings konnte ich ihm auch nicht einfach vor den Latz knallen, dass ich in ihn verschossen war und, dass mich nebenbei noch meine herzallerliebst beschissene Vergangenheit eingeholt hatte, die ich eigentlich schon lange aus meinem Schädel verdrängt geglaubt hatte.
Trotzdem musste ich so schnell wie möglich hier heraus, sonst würde er alles erfahren, denn irgendwann fängt jeder Mensch an zu reden, einfach, um sich endlich mal jemandem mitzuteilen, seine Gedanken zu offenbaren und so um Rat und Hilfe zu bitten. In dieser Sache konnte mir Flo allerdings nicht helfen, denn er war ein Teil des Problems und ich musste das allein lösen. Also startete ich einen letzten Versuch, stapfte auf Flo zu, griff ihn mir am Kragen und zerrte ihn ein Stück zu mir heran, was mich den Rest an Selbstbeherrschung kostete, den ich noch hatte.
„Lass mich bitte raus“, bat ich ihn leise ein letztes Mal.
„Nein“, kam es ebenso leise zurück.
Das war’s dann. Ende. Aus. Ich ließ Flo los und setzte mich aufs Bett. Mir waren die Alternativen ausgegangen, also hieß es einfach abwarten, denn ewig würde er wohl nicht vor der Tür stehen bleiben. Spätestens, wenn seine Mutter kam, würde er mich gehen lassen müssen.
Ob es an der Musik lag oder einfach daran, dass ich fertig war bis zum geht nicht mehr, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall schlief ich irgendwann ein. Wie lange genau ich geschlafen hatte wusste ich nicht, immerhin war es noch hell draußen. Allerdings hatte ich zum ersten Mal seit letztem Samstag einfach nur geschlafen, ohne, dass sich irgendwelche Bilder meiner Vergangenheit in meinem Kopf manifestiert hatten.
Erst nach und nach wurde ich wieder so richtig munter und bemerkte innerhalb eines Augenblickes zwei Sachen: Zum einen stand Flo nicht mehr vor der Tür, und zum anderen lag ich nicht alleine auf dem Bett, sondern eben mit Flo, der mich... festhielt. Scheinbar war auch er eingeschlafen, und so blieben mir erst einmal ein paar Minuten, um wieder richtig zu mir zu kommen. Als ich mich dann zu regen begann, wachte auch Flo aus seinem scheinbar ziemlich leichten Schlaf auf.
Er brauchte nur wenige Sekunden, um sich zu orientieren, dann flüsterte er mir mit noch leicht vom Schlaf belegter Stimme leise seine Frage nach dem Grund für mein Verhalten ins Ohr, während er den Griff um meinen Bauch ein wenig lockerte. Er tat es schon wieder, ohne es zu wissen, ohne es böse zu meinen jagte er einen wohligen Schauer nach dem anderen durch mich durch. Der einzige Gedanke, zu dem ich noch fähig war, war der Wunsch, mich an ihn anzulehnen und einfach für immer so liegen zu bleiben. Stattdessen rückte ich ein Stück von ihm ab, jedoch ohne ihn anzuschauen.
„Ich kann dir das nicht erzählen.“ Er musste das einfach verstehen. Es würde alles zwischen uns verändern, alles kaputt machen.
„Erzähl mir von damals.“
Sofort stellten sich meine Nackenhärchen auf.
Wie kam er jetzt so plötzlich darauf?
Was wusste er schon von meiner Vergangenheit?
Was hatte ihm Jojo alles über mich erzählt?
Er hatte es gewusst, als er mich vom Brückengeländer gezogen hatte, vielleicht wusste er alles. Langsam drehte ich mich zu Flo um und bereute es sofort bitterlich. Diesen Ausdruck hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Seine Augen zeugten von soviel Traurigkeit, soviel von... von allem einfach. Wer war dieser Mensch, der da mit mir auf dem Bett saß eigentlich?
„Was hat dir Jojo alles über mich erzählt?“
„Wenig. Er hat mir von einem Jungen erzählt, den er kennen gelernt hatte. Einem Jungen, der keinen anderen Ausweg mehr wusste und versucht hat, sich umzubringen. Er hat mir erzählt, dass es dieser Junge nicht geschafft hat, und, dass sie sich angefreundet haben. Dem Jungen ging es dann auch wieder besser, bis er mich getroffen hat, denn da fing sein Spießrutenlauf von vorne an und ich weiß nicht, ob ich das je wieder gutmachen kann, denn ich glaube, dass ich an seinen jetzigen Problemen auch Schuld bin.“
Er wusste es. Er wusste, dass er der Grund war, und doch wusste er nicht, wieso er der Grund war. Ich konnte es ihm nicht erzählen. Aber ich konnte ihm erzählen, wie es war. Er würde es verstehen und egal wie... wir würden Freunde bleiben.
15
„Was soll ich schon groß erzählen? Man kann viel und eigentlich auch nichts sagen, es kommt aufs Gleiche raus. Es gab schöne Sachen und es gab beschissene Sachen in den letzten Jahren, und im Grunde sind die Erlebnisse stets die gleichen. Sie sind entweder gut oder schlecht. Die Personen und die Situationen sind zwar verschieden, letztlich ändert sich jedoch nichts am Ergebnis. Die einen gehen halt mehr durch die Scheiße und die anderen weniger, der einzige Unterschied, der besteht, ist der, dass wir uns für das Schicksal einzelner Menschen mehr interessieren als für das anderer, doch daran ist nichts verwerfliches, es ist sogar notwendig. Aber da du es ja scheinbar wirklich wissen willst...
Als mir meine Eltern sagten, dass ihr wegziehen würdet, ist damals einfach eine Welt für mich zusammengebrochen. Ich konnte es einfach nicht verstehen, warum du wegziehen musstest. Wer konnte denn so was einfach entscheiden? Die Erwachsenen mussten doch sehen, dass wir die allerbesten Freunde waren und man uns nicht trennen durfte. Doch noch während ich mir meine Gedanken über die Sache machte, stand schon euer Umzug ins Haus. Deine Eltern taten uns das also wirklich an. Wieso? Hatten wir sie irgendwie verärgert? Ich wusste es einfach nicht.
Mein Vater erzählte mir später dann, als ich nach einiger Zeit noch mal auf das Thema zu sprechen kam, dass ihr irgendwelche Geldprobleme hattet. Es schien ihm irgendwie unangenehm zu sein, über das Thema zu reden. Warum das so war, wollte er mir nicht sagen, und ich habe auch nicht mehr nachgefragt. Inzwischen glaube ich, dass sich unsere Väter wegen irgendeiner Geldsache in den Haaren hatten, aber sicher bin ich mir da nicht.
Tja, so war es dann also. Du warst weg und ich alleine. Das an sich war ja schon schlimm genug, doch ich hatte mir schnell die Hoffnung gemacht, dass ich dich ja besuchen könnte, denn in der gleichen Stadt wohnten wir ja immer noch. Nachdem ich aber zwei Wochen lang erfolglos versucht hatte, meine Eltern zu überreden, dass ich dich besuchen dürfe, bin ich einfach alleine losgezogen, um dich zu suchen. Eure neue Adresse hatte ich beim Stöbern im Notizbuch meiner Mutter gefunden. Da ich aber weder meine Mutter noch meinen Vater fragen konnte, wo denn genau diese Adresse war, fragte ich einfach unsere damalige Klassenlehrerin, wohin ich müsste um zu dieser Straße zu gelangen. Natürlich wollte sie wissen, was ich denn da wollte, aber als ich ihr sagte, dass ich vorhatte dich zu besuchen, trug sie mir nur auf, dir einen schönen Gruß auszurichten und hat mir viel Spaß gewünscht. Ich hab mich dann am gleichen Nachmittag noch auf den Weg gemacht, denn sie hatte mir ja gesagt, welche Straßenbahnen ich nehmen musste. Bei euch angekommen traf ich allerdings nicht auf dich, sondern auf deinen Vater, und der schien alles andere als begeistert zu sein, mich zu sehen. Er hat mich dann auch gleich im Hausflur angeblafft und gefragt, was ich denn hier wolle. Natürlich sagte ich ihm, dass ich meinen besten Freund besuchen wollte, woraufhin er mir einfach so vor den Latz knallte, dass du nicht mehr mit mir befreundet sein wolltest und sie deshalb von uns weggezogen wären. Nachdem er das gesagt hatte, drehte er sich um und sagte, dass ich mich wegscheren soll.
Und ich war logischerweise vollkommen am Ende, weil wir uns vor eurem Umzug ja eigentlich nie wirklich gestritten hatten. Also fuhr ich so schnell wie möglich wieder nach Hause, wo ich auf meine Eltern wartete. Ihnen erzählte ich dann völlig aufgelöst, was am Nachmittag passiert war und fragte sie, warum du mich denn nicht mehr leiden könntest. Sie redeten daraufhin eine ganze Weile mit mir und versuchten mir zu erklären, dass das Ganze gar nicht so wäre, ich dich aber nicht mehr besuchen dürfe, weil dein Vater etwas dagegen hätte. Auch das habe ich nicht wirklich verstanden, aber irgendwann haben sie mich dann ins Bett geschickt. Da ich allerdings noch ziemlich aufgedreht war, schlich ich heimlich wieder nach unten und belauschte durch Zufall meinen Vater beim telefonieren. Es ist schon eine Weile her, aber die Wut, die ich damals in seiner Stimme gespürt habe, war ziemlich beängstigend. So wütend habe ich ihn bis heute selten erlebt, und auch, wenn ich die meisten Sätze nicht verstanden habe, bin ich nach fünf Minuten doch lieber wieder ins Bett geschlichen. In den nächsten Tagen habe ich meinen Vater dann ganz genau beobachtet, um herauszukriegen, ob er denn jetzt immer wütend werden würde, aber dem war zum Glück nicht so und ich war nach einigen Tagen beruhigt.
Ich habe ihm auch später nie verraten, dass ich sein Telefonat mitgehört habe, aber inzwischen bin ich mir fast vollkommen sicher, dass er sich mit deinem Vater am Telefon gestritten hat.
Auf jeden Fall stand ich dann erst einmal ziemlich allein da auf weiter Flur. Dein Vater hatte mir einen Besuch ja sozusagen verboten und meine Eltern waren auch nicht unbedingt begeistert von meiner Idee gewesen, also beließ ich es bei diesem einen Versuch, weiter den Kontakt zu dir aufrecht zu erhalten. Wir waren ja auch nach deinem Weggang noch zu dritt, also verbrachten wir unsere Nachmittage von da an als Trio. Aber irgendwie war das alles nicht mehr das Selbe, nachdem du weg warst. Wahrscheinlich warst du das entscheidende Bindeglied in unserer Gruppe gewesen, und so verliefen sich unsere Wege mit der Zeit mehr und mehr, bis wir letztlich überhaupt nichts mehr zusammen unternahmen. Von da an verbrachte ich meine Nachmittage mit mir selbst, denn wirklich Lust, mir neue Freunde zu suchen, hatte ich nicht. Meine Eltern redeten mir zwar in der Hinsicht immer ins Gewissen, aber ich hatte eben meinen eigenen Kopf. Mit der Situation an sich war ich zwar selbst auch nicht ganz glücklich, aber letztlich fehlte mir trotzdem der Antrieb, um an meiner Situation etwas zu ändern.
Das änderte sich erst, als ich aufs Gymnasium wechselte. Neue Schule, neues Glück. Von meinen alten Freunden war ja niemand mehr übrig, und da ich endlich wieder mit jemand anderem als mir selbst spielen wollte, versuchte ich, neue Freundschaften aufzubauen. Das gestaltete sich allerdings recht schwierig, da sich die meisten Kinder schon untereinander kannten und ich bis dahin eher ein Außenseiter gewesen war.
Das Blatt wendete sich erst zwei Wochen nach Schuljahresbeginn, als ein neuer Schüler in unsere Klasse kam. Sein Name war Tobias. Sein Vater war eben erst hierher versetzt worden, und die Familie war eben mit umgezogen. Wir hatten also etwas gemeinsam. Keiner von uns beiden hatte wirklich Freunde hier. Zu dieser Einsicht schien auch unsere Klassenlehrerin gekommen zu sein, denn sie setzte ihn neben mich. Anfangs gestaltete sich unser Verhältnis noch ein wenig schwierig, da Tobi nicht allzu begeistert davon war, ab jetzt hier zu wohnen, aber im Laufe der nächsten Wochen lernten wir uns dann langsam besser kennen und wurden von Banknachbarn zu Freunden. Wir hingen von da an immer öfter an den Nachmittagen zusammen bei ihm oder bei mir rum und spielten.
Ein halbes Jahr später trat ich dann auch in den Basketballverein ein, den Tobi schon kurz nach seinem Umzug gefunden hatte und der bis dato der einzige Grund für ihn gewesen war, einen Nachmittag mit mir abzusagen. Ich hatte vorher mit Sport bis dahin eher weniger zu tun gehabt und ging anfangs auch nur mit, weil eben Tobi da war und auch immer wieder erzählte, wie toll es doch wäre. Kurze Zeit später verstand ich seine Leidenschaft, denn sie hatte auch mich erwischt, und wir gingen nicht nur regelmäßig zum Training, sondern spielten auch bei Wind und Wetter auf einem der Freiplätze, die in unserer Gegend lagen. Dabei lernte ich dann nach und nach auch die anderen Leute aus unserem Verein besser kennen, die sogar zu einem großen Teil zu dieser Zeit die gleiche Schule wie wir besuchten. Natürlich hatte ich gleich am Anfang gewusst, dass sie auch auf unsere Schule gingen, aber ich hätte mich nie getraut, sie einfach so mal anzusprechen. Dafür hatte ich Tobi, der in der Beziehung keine Berührungsängste kannte und mich einfach überall mit hinschleppte. Und wider Erwarten waren die Leute auch alle in Ordnung, und ich konnte nach und nach ein paar mehr Leute zu meinen Freunden zählen.
Einer der netten Nebeneffekte des Vereins war, dass wir uns nun auch in der Schule ab und an mit zu den Großen stellen und mit ihnen über Basketball reden konnten. Das wiederum brachte uns natürlich bei unseren Mitschülern einen gewissen Status ein, und den genoss ich für meinen Teil ausgiebig. Plötzlich kannten meine Mitschüler meinen Namen, ich wurde auch auf alle möglichen Geburtstagsfeiern eingeladen, und im Laufe der Zeit schienen sich auch einige Mädchen für mich zu interessieren, und nicht nur für mich, sondern auch für Tobi, dem das Interesse ziemlich gefiel.
Aber wie es nun einmal mit Sachen ist, die schön sind, meistens sind sie schneller vorbei als es einem selbst lieb ist. Der erste Hammer war, dass unser Trainer von heute auf morgen in eine andere Stadt zog und unserem kleinen Verein damit ungewollt das Genick brach. Natürlich hatte er sich vor seinem Umzug noch um einen Nachfolger bemüht, aber der stellte sich als absolute Katastrophe heraus.
Wir spielten damals in zwei verschiedenen Altersgruppen und die Älteren waren durchaus erfolgreich, während für uns doch eher der Spaß im Vordergrund stand. Das wiederum passte unserem neuen Trainer nicht wirklich in den Kram, und so fing er an, uns hin und her zu scheuchen und uns diesen Spaß nach und nach auszutreiben. Na klar, könnte man jetzt sagen, der Mann war einfach erfolgsorientiert und er wollte unser Potential wecken, aber der wollte uns einfach nur schinden, und die Sprüche die er manch einem von uns gegenüber brachte, waren jenseits von Gut und Böse. Als die anderen das dann mitbekamen, mischten sie sich natürlich ein, und er schmiss daraufhin die beiden Wortführer, die nebenbei auch noch die besten Spieler unserer ersten Mannschaft waren, einfach raus.
Keine Ahnung, warum der Verein ihm dabei nicht auf die Finger klopfte, aber sie taten es nicht, wohl, weil wir nur eine kleine Sektion in einem großen Verein waren. Damit hatte unser neuer Trainer die Richtung klar gemacht, und logischerweise verabschiedeten sich nach und nach auch die meisten anderen Spieler und wechselten in einen anderen Verein. Am Schluss waren dann nur noch ein paar von uns Kleineren übrig, die sich bisher durch die Launen des Trainers nicht hatten vertreiben lassen.
Auch Gespräche, die unsere Eltern mit ihm führten, brachten rein gar nichts, und so setzten sie letzten Endes doch durch, dass er gegangen wurde. Leider kam das schon zu spät, denn die meisten Spieler waren wie gesagt schon weg, und es fand sich auch kein neuer Trainer. Ergo war Schicht im Schacht und nichts mehr mit Basketball.
Mich traf das schon ziemlich, weil ich mich eigentlich ständig unter irgendwelchen Körben herumtreiben wollte. Tobi hingegen hatte schon in den Wochen davor immer weniger Interesse am Basketball gezeigt, was wohl auch daran lag, dass er inzwischen eine Freundin hatte und sich mehr und mehr in ihren Freundeskreis einbrachte. Zu Beginn schleppte er mich meistens noch mit, aber da mir seine neuen Freunde doch reichlich suspekt waren, klinkte ich mich bei solchen Sachen meist frühzeitig aus.
Außerdem beschäftigte mich zu der Zeit noch eine ganz andere Sache. Während nämlich Tobi sein Interesse für Mädchen entdeckte, entdeckte ich meins für Tobi. Natürlich hielt ich die Sache vollkommen geheim, kapselte mich deswegen aber auch mehr und mehr in der Schule ab und verbrachte meine Zeit wieder des Öfteren allein. So hatte ich wenigstens genug Zeit, um zu grübeln, bis mir die Birne qualmte.
Die Gefühle, die mich da überfahren hatten, konnte ich anfangs überhaupt nicht richtig einordnen und versuchte, mir den ganzen Scheiß, so, wie ich es damals für mich nannte, nach dem Motto, dass mir einfach noch nicht die Richtige über den Weg gelaufen und diese Schwärmerei für Tobi einfach nur eine Phase war, auch immer wieder auszureden. Dieses Spielchen spielte ich auch eine ganze Zeit, obwohl mir die Tatsachen eigentlich schon eine ganze Weile klar waren, und wäre ich nicht so ein Meister des Leugnens gewesen, hätte ich es mir wohl auch eingestanden. Es war immer schön, aber sobald ich fertig war, kam der Ekel. Der Ekel über die Sache an sich und der Ekel vor mir selber.
Wahrscheinlich hätte ich noch ewig so weiter gemacht, aber irgendwann machte es dann plötzlich klick. Woran es genau gelegen hat, weiß ich nicht mehr. Es war irgendein Abend, an dem ich mal wieder vor meinem PC hockte, und plötzlich, aus heiterem Himmel, machte es klick und mir war klar, wer ich war, und, dass daran nichts Schlimmes zu finden war.
Den ersten Schritt hatte ich also gemacht, und in der Folgezeit fing ich an, mich über die ganze Sache zu informieren, hier und da zu surfen und mir selbst ein Bild zu machen. Ich war erschreckt, bestürzt, begeistert, und eine tiefe Sehnsucht machte sich so langsam in mir breit. Und dann machte ich einen Fehler.
Das Verhältnis zwischen mir und Tobi war, während ich mich größtenteils mit mir selbst beschäftigte, langsam wieder besser geworden, was ich vor allem daran festmachte, dass er sich von seiner Freundin getrennt und auch den Kontakt zu ihren Freunden abgebrochen hatte, jedenfalls dachte ich das. Von seiner Freundin hatte er sich zwar wirklich getrennt, aber mit den Typen aus ihrem Freundeskreis unternahm er ab und an noch das ein oder andere, was ich allerdings nicht wusste. Aber das wäre mir zu der Zeit auch egal gewesen. Vielleicht hätte ich etwas mehr nachgedacht, wenn ich es gewusst hätte, aber ich hatte meinen besten Freund wieder und endlich wieder jemanden zum Reden.
Wir unternahmen also wieder öfter etwas zusammen, wenn es denn unsere Zeit zuließ. Das lag inzwischen aber meistens an mir, da ich mich in einem neuen Basketballverein angemeldet hatte, um genau zu sein, dem Verein, in dem einige Spieler aus unserer alten Mannschaft untergekommen waren. Das Training da machte sogar noch mehr Spaß als in unserem Verein, und so verbrachte ich auch außerhalb der normalen Trainingseinheiten so viel wie möglich Zeit mit ihnen auf Freiplätzen. Tobi hingegen hatte keine Lust mehr, sich mit Basketball zu beschäftigen, er hatte sich in der Hinsicht verändert und ließ Sport inzwischen Sport sein.
An einem Freitag, an dem ich mich den Nachmittag über mal wieder auf dem Freiplatz herumgetrieben hatte, erwartete mich Tobi schon zu Hause und wollte mich unbedingt auf irgendeine Party mitschleppen, zu der ich natürlich nun überhaupt nicht wollte. Da ich aber schon immer ziemlich schlecht im nein sagen war, bekam Tobi nach einer kurzen Diskussion schließlich seinen Willen und ich machte mich auf die Suche nach ein paar halbwegs vorzeigbaren Klamotten.
Eine Stunde später hatten wir es dann geschafft, waren aufgebrochen und auch angekommen an irgendeiner Hausnummer einer Reihenhaussiedlung, der Ecke, wo wir zur Geburtstagsparty der Mädchen waren, nicht sehr unähnlich. Die Feier selbst lief ziemlich gut an, weil erstens die Leute, obwohl ich keinen von ihnen kannte, recht nett schienen, es zweitens reichlich Alkohol zu vernichten gab und ich drittens etwas mit Tobi unternehmen konnte. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass sich mein bester Freund ungefähr fünf Minuten nach Ankunft an eines der Mädchen auf der Party heran schmiss. Vielleicht war sie nett, am Ende sah sie auch gar nicht so schlecht aus, aber ich wollte ihr, nachdem sie meinem Tobi ihre Zunge in den Hals gesteckt hatte, am liebsten sofort sehr unsanft ins Gesicht springen.
Das Tobi auf Mädchen stand, hätte mir ja eigentlich klar sein müssen, aber, nachdem er sich von seiner ersten Freundin getrennt hatte, hatte ich mir halt doch wieder Hoffnungen gemacht, und die zerstörte diese blöde Kuh nun wieder. Folgerichtig begab ich mich umgehend zur Bar und füllte mich in Windeseile selbst ab.
Irgendwann in der Nacht weckte mich Tobi dann auf und ich ließ mich, immer noch stockbesoffen, von ihm nach Hause schleifen. Womit ich aber nicht gerechnet hatte, war, dass er mir, als wir dann endlich bei mir angekommen waren und er beschlossen hatte, die Nacht bei mir zu verbringen, unbedingt noch ein Gespräch ans Knie nageln musste.
„Sag mal, warum hast du Sandra eigentlich heute Abend verjagt, als sie sich mit dir unterhalten wollte?“
Was für eine Sandra? Wieso sollte ich mich mit einer Wildfremden unterhalten, und wieso hatte ich sie weggejagt? Die Fragezeichen über meinem Kopf mussten wohl überdeutlich gewesen sein, denn Tobi schob gleich noch eine Erklärung hinterher.
„Na ja, du hattest schon etwas getrunken, und Trixi meinte, dass Sandra, eine ihrer besten Freundinnen, dich ziemlich süß fand. Als sie mich dann mit den üblichen Fragen gelöchert hat, habe ich ihr natürlich erzählt, dass du solo bist und so. Sie hat sich dann auch zu dir gesetzt, ist aber nach zehn Minuten plötzlich aufgestanden und hat sich ganz schnell nach draußen verkrümelt.“
Die blöde Kuh hieß also Trixi, und ich fragte mich sofort, wie man mit einem Mädchen mit so einem doofen Namen nur etwas anfangen konnte. Aber darum ging es ja im Moment überhaupt nicht, und Tobi wartete irgendwie schon auf eine Antwort, also dachte ich angestrengt nach, und so langsam dämmerte es mir. Da hatte sich wirklich ein Mädchen neben mich gesetzt und hatte versucht, ein Gespräch mit mir anzufangen. Allerdings war ich schon angetrunken und zudem auch so gefrustet gewesen, dass ich sie, als sie mir doch tatsächlich ihr Patschehändchen auf meinen Oberschenkel legen musste, ziemlich unwirsch abgefrühstückt hatte. Was ich genau gesagt hatte, wusste ich zwar nicht mehr, aber es musste recht heftig gewesen sein, denn sie verschwand ziemlich zügig, nachdem ich meinen kurzen Monolog beendet hatte.
„Hm, die war nicht so mein Fall.“
„Alter, so etwas Wählerisches wie dich hab ich ja schon lange nicht mehr erlebt. Sandra sieht doch wirklich verdammt niedlich aus, also ich hätte sie nicht von der Sofakante geschubst.“
„Ich bin aber nicht du, und außerdem hast du doch Trixi.“ Die blöde Kuh mit dem komischen Namen
„Sorry, war kein Angriff gegen dich, aber sag mal, auf was für einen Typ stehst du denn?“
Tja, und dann passierte es. Ich war immer noch ziemlich benebelt und deshalb flutschte es mir einfach heraus, bevor ich überhaupt richtig nachgedacht hatte.
„Auf dich.“
„...“
Tobis Schweigen brachte mich dann ziemlich schnell wieder zu Verstand. Während ich von der einen auf die andere Sekunde plötzlich wieder vollkommen nüchtern war, lief es mir siedend heiß den Rücken herunter. Hatte ich ihm eben tatsächlich gesagt, dass ich auf ihn stand? Unsicher schaute ich von meinem Bett auf seine Matratze hinunter, und er starrte mich mit offen stehendem Mund und aufgerissenen Augen an.
„Shit.“ Zu mehr war ich in dem Moment nicht mehr fähig. Und Tobis Reaktion gab mir dann noch den Rest. Statt irgendetwas zu sagen, zog er sich wieder an und verschwand keine Minute später aus meinem Zimmer. Ich wollte ihn aufhalten, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte mit ihm reden, aber meine Zunge war wie festgeklebt. Ich hasste mich für meine eigene Blödheit. Wieso hatte ich Volltrottel ihm das nur erzählen müssen, wo ich doch wusste, wie die meisten Menschen auf so ein Geständnis reagierten. Aber Tobi war doch nicht irgendwer, er war mein bester Freund, und auch wenn er mir nicht das geben konnte, was ich mir von ihm wünschte, so würde er es doch auf jeden Fall verstehen. Dachte ich zumindest.
Dass ich mich mit meiner Einschätzung mehr als irrte, merkte ich am darauf folgenden Montag. Hatte ich noch bis Freitag einen Banknachbarn besessen, so saß dieser nun zwei Reihen hinter mir und würdigte mich keines Blickes. Als ich ihn in der Pause darauf ansprechen wollte, ging er einfach an mir vorbei, ohne mich überhaupt wahrzunehmen, was mich logischerweise vollkommen fertig machte. Auch in den nächsten Pausen versuchte ich es wieder, immer mit dem gleichen Ergebnis. Nach unserer letzten Stunde hatte ich die Faxen dann endgültig dicke. Als Tobi wieder an mir vorbeigehen wollte, hielt ich ihn einfach am Ärmel fest.
„Tobi, kann ich bitte mit dir reden?“
Doch statt einer Antwort bekam ich seine Faust in den Magen, und während ich noch damit beschäftigt war, meinen Magen zu sortieren, schenkte er mir ein überlegenes Lächeln, wobei der undeutbare Ausdruck in seinen Augen seine Lippen Lügen strafte.
„Fass mich nie wieder an, du kleine beschissene Schwuchtel. Wir sind keine Freunde mehr, und du solltest mir in Zukunft aus dem Weg gehen, sonst garantiere ich für nichts.“
Damit ließ er mich links liegen und verschwand aus dem Klassenzimmer. Seine Aktion hatte bis auf mich niemand mitbekommen, da Tobi sich an diesem Tag um die Tafel gekümmert hatte und wir somit die letzten im Zimmer gewesen waren. Wenigstens das beruhigte mich ein klein wenig, obwohl gerade meine kleine halbwegs heile Welt vollkommen zusammengebrochen war. Ich konnte mir nicht erklären, wieso er mich dafür hasste wie ich war, er hatte doch bisher auch kein Problem mit mir gehabt, und nun, wo er wusste, dass ich mich eher zu Jungs hingezogen fühlte, hatte er plötzlich ein riesiges Problem mit mir. Dieses eine kleine beschissene Wort machte mir mein ganzes Leben kaputt. Jetzt, wo ich mich endlich so akzeptiert hatte wie ich war, kam das.
Nach Hause kam ich an diesem Tag irgendwie, denn ich wachte am nächsten Morgen in meinem Bett auf. Was ich allerdings noch gemacht hatte, da fehlte mir jegliche Erinnerung, mein Spiegelbild sprach allerdings Bände, und ich war anfangs davon überzeugt gewesen, dass mich da ein fremder Typ anstarrte. Ich sah ungelogen aus wie halbtot und fühlte mich auch nicht wirklich besser. Folgerichtig verkroch ich mich sofort wieder in mein Bett, und nachdem mich meine Eltern mit eigenen Augen gesehen hatten, fiel die Diskussion über die Schulpflicht ganz schnell ins Wasser. Die nächsten beiden Tage nutzte ich dann auch für ausgiebiges Selbstmitleid gepaart mit einer Portion Selbsthass und dem dringenden Bedürfnis, die Welt in Schutt und Asche zu legen.
Zwei Tage später war ich zwar noch nicht wirklich weiter in meinen Überlegungen, aber meine Eltern hatten beschlossen, dass es nun langsam mal wieder an der Zeit wäre, in die Schule zu gehen. Dass ich von ihrem Plan überhaupt nicht begeistert war, schien dabei etwas völlig Nebensächliches zu sein, und da sie auch keinen Meter von ihrer Meinung abrücken wollten, stand ich eine gute Stunde später auf dem Schulhof und erwartete irgendwie alles und nichts. Klar war mir nur, dass es wohl keinesfalls schön werden würde, und umso erstaunter war ich, als nichts geschah, und zwar überhaupt nichts, gar nichts, nada, niente. Ich wurde zwar gefragt, warum ich denn die letzten beiden Tage gefehlt hatte, aber sonst schaute mich weder jemand komisch an, noch wurde hinter meinem Rücken getuschelt. Na gut, ich saß immer noch alleine, aber anscheinend hatte Tobi nichts von meinem Schwulsein weitererzählt.
Vielleicht hatte er ja nur ein wenig Zeit zum Nachdenken gebraucht, vielleicht hätte ich ihm gleich ein wenig mehr Zeit geben müssen, aber darin lag eben wieder mein Problem. Außer Tobi hatte ich in der Schule keine wirklichen Freunde. Es gab zwar eine ganze Reihe an Bekannten, aber niemand, mit dem man jede Pause herumhängen oder quatschen konnte, sie waren eben in Ordnung, nicht mehr und nicht weniger. Der Großteil der restlichen Leute, die ich als Freunde bezeichnete, war mit mir im gleichen Basketballverein und nicht, oder nicht mehr, an meiner Schule. Ich war also wieder da angekommen, wo ich nach deinem Umzug gelandet war.
So lange ich allerdings meine Ruhe hatte, war mir das relativ egal. Ich konnte es ja inzwischen durchaus verstehen, warum keiner etwas mit mir zu tun haben wollte. Einerseits hatte ich wohl einen ziemlich schwierigen Charakter, und andererseits schaffte ich es immer wieder, meine besten Freunde so zu nerven, dass sie mich schließlich hassen mussten. Jedenfalls bei dir musste es ja so gewesen sein, wenn ich mich recht an das Gespräch mit deinem Vater erinnerte, und, dass ich es mir bei Tobi verscherzt hatte, war mir inzwischen auch klar geworden. Warum musste auch unbedingt ich auf Typen stehen und konnte nicht einfach genauso normal sein, wie all die anderen Jungen? Ich wollte nicht so sein. Alles, was ich mir in den Wochen davor mühsam eingestanden und für mich selbst akzeptiert hatte, war mit einem Mal wieder wie weggewischt.
Zwei Wochen, nachdem mir Tobi unmissverständlich klargemacht hatte, was er von mir hielt und, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, geschah dann das, was ich anfangs erwartet hatte, inzwischen aber eigentlich vollkommen verdrängt und als unwahrscheinlich abgetan hatte. Tobi hasste mich zwar, aber aufgrund unserer früheren Freundschaft hatte er sich wohl entschieden, mein kleines schmutziges Geheimnis für sich zu behalten, jedenfalls dachte ich das und irrte mich damit so sehr, wie man es nur konnte.
Es war ein Montag, an dem ich mich wie immer ziemlich knapp vor dem Stundenklingeln in den Klassenraum schob. Wir hatten wie jede Woche um diese Uhrzeit mal wieder Physik, und meine bestialische Freude auf zwei Stunden Langeweile oder Frust muss ich nicht wirklich genauer beschreiben, denn entweder verstand ich mal wieder überhaupt nichts von dem, was uns unser Lehrer da vorne erklären wollte, oder er kam, was zum Glück nur recht selten geschah, mal wieder auf die seltendämliche Idee, das ich mein meist nicht vorhandenes Wissen doch einmal anwenden sollte. An besagtem Montag bekam ich allerdings nicht wirklich etwas vom Physikunterricht mit, denn irgendetwas schien ganz und gar nicht zu stimmen, das wäre sogar einem Blinden aufgefallen, nur eben unserem Lehrkörper nicht. Der war nämlich in irgendeine völlig abstruse und nebenbei auch gänzlich belanglose Versuchsanordnung vertieft und versuchte, uns auf seine unglaublich verschrobene und nicht nachvollziehbare Art etwas über physikalische Gesetze und Gegebenheiten beizubringen.
Natürlich war ich meinerseits bemüht, etwas über die komische Stimmung herauszubekommen, und die beiden Quatschtanten vor dem Herrn saßen glücklicherweise direkt in meiner Nähe. Aber ich bekam zu meinem größten Erstaunen aus keiner von beiden auch nur die kleinste nützliche Information heraus. Ob es daran lag, dass sie nichts wussten oder mir einfach nicht antworten wollten, konnte ich nur raten. Dafür machte sich ein undefinierbares Bauchgrummeln bei mir bemerkbar, während die Pause einfach nicht näher rücken wollte.
Sobald unser Lehrer dann aber das Schlachtfeld geräumt hatte, begann der Affentanz. Das erste, was ich mitbekam, war, dass mir Tobi einen ziemlich eindeutigen Blick zuwarf und dabei mit seiner Zunge eindeutige Gesten machen. Ich ging allerdings nicht darauf ein und reagierte auch nicht auf das gehustete „Schwuchtel“ eines anderen, den ich schon vor Jahren als geistig zurückgeblieben eingestuft hatte. In der nächsten Stunde machte dann ein Zettel die Runde, der zur allgemeinen Belustigung meiner Mitschüler durchaus beitrug. Ich wollte eigentlich überhaupt nicht wissen, was genau auf dem Zettel stand, aber andererseits wollte ich es natürlich wissen, und irgendwann gelangte der Zettel auch so zu mir, ohne, dass der gerade Dienst habende Lehrkörper näher auf die Unruhe im Klassenzimmer eingegangen wäre. Was ich nun auf diesem Zettel sah, hätte mich wirklich fast geschafft. Gut getroffen war ich auf keinen Fall, aber das hatte der Künstler dadurch ausgebügelt, dass er meinen Namen über das gekritzelte Männchen geschrieben hatte, und so, wie es scheinbar aussehen sollte, hatte ich ziemlich viel Spaß dabei, irgendeinem Typen einen zu blasen. Normal hätte mich das vollkommen kalt gelassen, aber der Spruch, der darunter stand, kostete mich so ziemlich alles an Selbstbeherrschung, was ich hatte.
Nur ein Zehner für eine halbe Stunde.
Welches Arschloch hatte sich diesen Scheiß ausgedacht? Suchend blickte ich durch den Klassenraum und entdeckte wieder Tobi, der mich mit einem abfälligen Grinsen bedachte. Das war zu viel des Guten, nach der Stunde würde ich ihn mir vorknöpfen.
Sobald es geklingelt hatte, machte ich mich auf den Weg zu seinem Tisch und wollte ihn zur Rede stellen. Aber statt mich eines Blickes zu würdigen ging er einfach an mir vorbei, ich ging ihm natürlich hinterher und wurde von Wort zu Wort lauter, bis ich ihn schließlich am Arm festhielt und ihm meine Frage nach dem Sinn dieser bekloppten Aktion ins Gesicht schrie. Doch statt einer Antwort bekam ich wieder einmal seine Faust in die Magengrube und sackte augenblicklich zusammen. Und damit es auch alle in unserer Umgebung mitbekamen, brüllte nun er mich an und schrie mir ins Gesicht, dass er mir schon beim letzten Mal gesagt hatte, dass ich beschissene Schwuchtel ihn gefälligst nicht anzufassen hatte. So gut ich konnte raffte ich mich wieder auf und schleppte mich langsam zurück ins Klassenzimmer, wo ich den Rest der Pause damit beschäftigt war, meine Fassung wiederzuerlangen. Meine restlichen Klassenkameraden hatten den Vorfall natürlich mitbekommen, und so konnte ich mir sicher sein, dass in spätestens zwei Stunden die ganze Schule davon wissen würde, dass ich schwul war. Beschissener konnte der Tag ja nun auf keinen Fall mehr werden. Dachte ich jedenfalls.
Die nächsten Stunden und Pausen waren die reinste Zerreißprobe, während Tobi und seine Spaten weiter keine Gelegenheit ausließen, mich anzumachen, hielten sich die anderen komplett heraus. Es schien ihnen egal zu sein, obwohl ich die meisten von ihnen schon eine halbe Ewigkeit kannte. Der Hammer kam dann aber erst zum Schluss des Tages, als, wie jeden Montag, Sportunterricht auf dem Plan stand. Ich hatte mir extra mehr Zeit gelassen, um nicht sofort auf den Pulk von Jungs zu treffen, aber, als ich dann schließlich in die Kabine gehen wollte, war selbige von innen verschlossen, und auch auf mein erst höfliches Klopfen und später wütendes Schlagen öffnete mir keiner meiner Mitschüler die Kabinentür. Als ich es dann von der anderen Seite versuchte, schmissen sie mich sofort wieder raus. Erst unser Sportlehrer beendete das Kaspertheater, indem er Tobi so zusammenfaltete, dass dieser am Ende ziemlich kleinlaut in die Halle verschwand. Doch damit war es nicht vorbei. Im Unterricht bekam ich dann den ein oder anderen Ball gegen den Kopf, und als ich, als letzter, die Kabine wieder betrat, fand ich meine Klamotten unter der laufenden Dusche.
Damit war ich dann vollkommen satt und durch mit der Welt. In Kürze würde meine gesamte Schule über mich Bescheid wissen, und ich konnte mich auf keinen Fall wieder hier blicken lassen. Zum Basketball brauchte ich auch nicht mehr zu gehen, denn da würde es mir wohl kaum anders ergehen als hier, und so hockte ich einfach heulend in der Kabine, sah zu, wie meine Klamotten immer weiter durchgeweicht wurden und wusste nicht mehr ein noch aus. Ich hatte mich keinen Zentimeter bewegt, als mich dann unser herzensguter Sportlehrer fand und mich ohne viel Federlesen aus der Kabine scheuchte, mit der nett gemeinten Bemerkung gewürzt, dass ich mich in meinem Alter doch nicht wie ein kleines Mädchen benehmen sollte. Ich hätte ihm dafür am liebsten in die Fresse geschlagen, eigentlich hätte ich am liebsten der ganzen Welt links und rechts eine mitgegeben, aber ich schleppte mich einfach, immer noch heulend, nach Hause, wo mich meine Eltern zum Glück nicht erwarteten.
Doch sehr lange hielt ich es auch da nicht aus. Ich konnte mir schon ganz genau vorstellen, wie meine Eltern reagieren würden, wenn sie von ihrem abartigen Sohn erfuhren, und so machte ich mich schleunigst wieder auf den Weg in die Stadt. Wo genau ich hinlief wusste ich nicht, und es war mir auch herzlich egal. Tobi hasste mich, meine Klassenkameraden verachteten mich, und meine Eltern würden mich wahrscheinlich hochkant aus dem Haus werfen, wenn sie die Wahrheit herausbekamen.
Irgendwann stand ich dann vor der Tür eines renovierten Altbaus. Warum es mich gerade heute hierher verschlagen hatte, wusste ich auch nicht. Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte die Adresse des Jugendtreffs ziemlich am Anfang meiner Informationssuche gefunden und sie mir auch notiert, mich allerdings nie getraut, einmal vorbeizugehen. Heute war es wahrscheinlich der perfekte Ort, und trotzdem verschwand ich schnellstens wieder aus dem Eingangsbereich, um mich an einer nahe gelegenen Straßenbahnhaltestelle niederzulassen. Während ich meinen Gedanken weiter nachhing, bemerkte ich, dass ab und an Leute, Jungs in meinem Alter, durch die Tür nach drinnen verschwanden. Einer von ihnen musste mich und meinen Gesichtsausdruck wohl bemerkt haben, denn fünf Minuten, nachdem er im Inneren verschwunden war, kam jemand nach draußen und setzte sich neben mich. Wir schwiegen uns eine geschlagene Viertelstunde an, bevor er mich schließlich doch fragte, ob ich denn nicht mit nach drinnen kommen wolle. Ich starrte ihn zuerst an wie ein Auto und rastete dann vollkommen aus, beleidigte ihn aufs Übelste und rannte schließlich weg. Allzu weit brachte mich meine Flucht allerdings nicht, denn nachdem ich mir überlegt hatte, was ich da gerade angestellt und gesagt hatte, dass ich mich selbst beleidigt und eine dargebotene Hand weg geschlagen hatte, war mir klar, dass es so nicht weitergehen würde. Ich brauchte unbedingt jemanden zum reden, bei dem ich nicht befürchten musste, dass er mich sofort ablehnen würde, und dieser Ort war nun einfach mal die beste Möglichkeit, jemanden dafür zu finden.
Eine halbe Stunde später hatte ich mich dann endlich dazu durchgerungen, zurückzugehen und meinen alten Platz an der Straßenbahnhaltestelle wieder einzunehmen. Dort wartete ich, ich weiß es nicht mehr genau, aber es kam mir ziemlich lange vor. In meinem Kopf spielten sich die wüstesten Szenarien ab, während ich darauf wartete, dass er wieder herauskam, doch er kam nicht wieder, auch, wenn nach und nach die Leute, die ich vorher beim hineingehen beobachtet hatte, den Jugendtreff wieder verließen. Frustriert ließ ich meinen Kopf hängen, denn was ich nun machen sollte, wusste ich auch nicht mehr. Er war mein letzter Anlaufpunkt gewesen, auch, wenn ich nicht einmal seinen Namen erfahren hatte. Aber was hatte ich denn erwartet? Nachdem ich ihn so angeblafft hatte, war er wahrscheinlich auch bedient gewesen und abgehauen.
„Ich bin übrigens Jojo, und du bist anscheinend doch einer von uns perversen Arschfickern.“
Sein Satz sollte sicherlich ironisch klingen, aber ich sah den Schatten in seinen Augen, als ich erschrocken aufblickte, nachdem er mich wieder angesprochen hatte. Es war der gleiche Junge wie schon ein paar Stunden zuvor. Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, wie er sich mir genähert hatte, aber ich war unendlich froh, dass er es getan hatte.
Sagen konnte ich ihm das allerdings nicht, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Löcher in die Gegend zu starren. Ob er vielleicht Zeit für mich hatte? Ob ich vielleicht mit ihm reden konnte?
Er hatte mich wohl schon eine Weile kritisch gemustert, denn mit einem Mal zog er mich hinter sich her in den Jugendtreff. Mich dagegen zu wehren fiel mir im Traum nicht ein, ich war vielmehr froh, dass ich ihn nicht hatte fragen müssen. Drinnen angekommen machte er mir erst einmal einen Tee, während ich immer noch versuchte, meine Gedanken irgendwie zu ordnen. Ich war hier, und ich hatte jemanden, der mich verstehen würde, schließlich hatte er ja vorhin mehr als deutlich zugegeben, dass er genauso fühlte wie ich. Trotzdem wusste ich nicht, wie ich anfangen sollte, also schaute ich mich erst einmal verstohlen um. Außer uns beiden war niemand weiter hier, was natürlich daran lag, dass er vorhin extra aufgeschlossen hatte. Für eine Sekunde war mir diese Situation unheimlich, doch so schnell, wie er gekommen war, so schnell hatte ich diesen Gedanken auch wieder weggewischt. Als der Tee dann fertig war, setzte er sich mir gegenüber hin und wartete, wartete einfach so lange, bis ich endlich den Mut gefunden hatte und anfing zu erzählen.
Es gibt so Situationen, in denen man sich einfach alles von der Seele reden will, vielleicht sogar muss, und genau das tat ich. Ich erzählte Jojo von Tobi, von dem, was in der Schule vorgefallen war, dass ich wusste, dass die Schuld dafür bei mir lag, und auch, dass ich Angst davor hatte, nach Hause zu gehen, weil ich wusste, wie meine Eltern reagieren würden, nämlich genauso wie Tobi und der Rest meiner Mitschüler. Sie würden mich hassen, weil ich so war wie ich war, und dann sagte ich ihm auch, dass ich ja alles tun würde, um wieder normal zu sein.
Bisher hatte sich Jojo alles mehr oder weniger ruhig angehört, auch, wenn er des Öfteren scharf Luft einsog. Als ich jedoch anfing, mich selbst zu therapieren, unterbrach er mich ziemlich höflich mit einem recht lauten: „Halt mal bitte kurz die Schnauze.“ Mir war natürlich das Gesicht eingeschlafen, und ich wollte gerade sauer werden, als Jojo damit anfing, mir gehörig den Kopf zu waschen. Als erstes erzählte er mir ein paar Sachen über normale Leute, und dann zerpflückte er nach und nach genüsslich meine Selbstanklage. Während er sprach, gab es einige Momente, in denen ich ihm wütend unterbrechen und ihm den Mund verbieten wollte, aber dazu kam ich gar nicht, weil er immer schon beim nächsten Punkt angekommen war, bis ich mir endlich ein stichhaltiges Argument überlegt hatte. Letzten Endes hatte er mich dann soweit, dass ich selbst nicht mehr wusste, wie ich denn auf diesen dämlichen Selbsthasstrip gekommen war. Er hatte ja auch vollkommen Recht mit seinen Worten. Wenn die Idioten in der Schule mich nicht so akzeptieren wollten, wie ich nun einmal war, dann konnten sie mir gestohlen bleiben.
Trotzdem blieb noch die Sache mit meinen Eltern. Sie würden es ja sowieso demnächst erfahren, dafür würden meine lieben Mitschüler schon sorgen. Deshalb musste ich das Gespräch mit meinen Eltern wohl oder übel demnächst führen, wenn ich es ihnen denn persönlich sagen wollte, und dazu riet mir auch Jojo. Das Problem an der Sache war, dass ich nicht wusste, wie sie reagieren würden, und ich hatte ziemlich viel Schiss, dass sie mich nach dem Gespräch aus dem Haus werfen oder sonst etwas mit mir anstellen würden. Um mich zu beruhigen erzählte mir Jojo zwar, wie es sich bei ihm zugetragen hatte und versuchte, mir damit Mut für das mir bevorstehende Gespräch zu machen, aber wirklich beruhigen konnte er mich damit nicht. Er kannte meine Eltern ja auch nicht. Sie liebten mich zwar, aber ich wusste eben auch, dass sich die meisten sehr schwer mit so einem Geständnis taten, wenn sie nicht sogar angewidert reagierten.
Logisch gesehen blieb mir allerdings sowieso nichts anderes übrig, als das Gespräch zu führen, denn wie gesagt, es gab da ja ein paar Leute, die es meinen Eltern sowieso bald auf die Nase packen würden. Mit diesem Argument hatte mich Jojo dann schließlich soweit. Wir machten uns gemeinsam auf den Weg zu unserem Haus, denn, alleine wollte ich den Weg ganz sicher nicht zurücklegen. Es würde eh schon tierischen Stress geben, denn ich war ungefähr viel zu spät, aber so was von.
Als wir dann endlich vor meiner Haustür standen, erwartete mich der Zoff schon in Form meines Vaters hinter der Tür. Ich hatte meinen Eltern natürlich keinen Zettel geschrieben, bevor ich in die Stadt gestürzt war, dementsprechend war es nicht verwunderlich, dass mein Vater sofort im Flur auftauchte, nachdem ich die Tür aufgeschlossen hatte.
„Wo zur Hölle kommst du her?“
Scheiße, ich hatte es doch gleich gesagt, und Jojo hatte sich geirrt, meine Eltern waren schon informiert und wollten mit mir nichts mehr zu tun haben.
„Ich... ich...“
„Junge, mach, dass du reinkommst, sonst vergesse ich mich, und dein Freund da geht jetzt besser wieder.“
Das konnte er nicht machen, ohne Jojo würde ich kein einziges Wort herausbekommen, und ich wollte meinen Eltern auch nicht ganz allein gegenübertreten.
„Das... das geht nicht.“
„Und ob das geht. Mach das du reinkommst, was denkst du dir denn überhaupt, weißt du nicht, was sich deine Mutter für Sorgen gemacht hat?“
„Entschuldigung, dass ich mich ungefragt einmische, aber es ist sozusagen meine Schuld, dass Peter so spät kommt, und ich, beziehungsweise er, würde das auch gerne erklären.“
Damit war Jojo meinem Vater ziemlich in die Parade gefahren, und normalerweise nahm er es ziemlich krumm, wenn man sich ungefragt in ein Gespräch einmischte. Dieses eine Mal jedoch schien er zu überlegen und bat dann auch Jojo herein, der mir ins Wohnzimmer folgte. Sofort, als ich meine Mutter sah, machte sich das schlechte Gewissen in mir breit. Sie hatte sich die Tränen zwar weggewischt, aber man sah ihr immer noch sehr deutlich an, dass es ihr in den letzten Stunden nicht unbedingt gut gegangen war. Im Grunde wohl auch verständlich, hatte ich doch bisher nie so eine Aktion gebracht.
„Setzt euch. Und nun erklären sie mir doch bitte einmal, warum mein Sohn solange wegbleibt und wer sie eigentlich sind.“
Und dann ebnete mir Jojo ein wenig das Feld. Er hatte in solchen Sachen wohl schon etwas Erfahrung.
„Also, mein Name ist... alle die mich kennen rufen mich einfach Jojo. Tja, und ihren Sohn, den habe ich heute Nachmittag kennen gelernt. Erst war er wohl nicht so begeistert, meine Bekanntschaft zu machen, aber irgendwie haben wir uns dann doch geeinigt und uns dann ziemlich lange unterhalten. Dabei haben wir wohl die Zeit vollkommen vergessen, und genau deshalb bin ich auch gleich mit hierher gekommen, oder besser gesagt, deswegen bin ich unter anderem mit hierher gekommen, aber das sollte er ihnen wohl besser selber erzählen.“
Fragezeichen über dem Kopf meiner Mutter, eine hochgezogene Augenbraue bei meinem Vater, und ich vollkommen alleine in der Schusslinie. Na prima. Also machte ich das, was mir in dieser Situation erst mal das Einfachste schien: Ich hielt meinen Mund und starrte zwischen meinen Eltern und der hässlichbunten Blumenvase in der Vitrine hin und her, bis ich Jojos Ellenbogen in die Seite bekam. Da konnte er lange drauf warten. Meine Stimme hatte sich irgendwo zwischen Wohnungstür und Wohnzimmer verabschiedet, und mein Mut hatte mich schon drei Meter vorher verlassen. Ich wollte es ja erzählen, aber das ging einfach nicht, ich hatte Angst.
Schließlich hatte meine Mutter endlich ein Einsehen und durchbrach die ziemlich unangenehme Stille durch ein paar Fragen, die sie Jojo stellte. Der plapperte natürlich sofort drauf los und begann mit meinen Eltern einen lustigen Smalltalk, während ich tausend Tode starb. Es war ja gut und schön, ein paar Sachen über ihn zu erfahren, er hieß nämlich eigentlich Johannes wurde aber irgendwann mal von einem Freund Jojo genannt und hatte sich seither auf diese Abkürzung festgelegt, allerdings waren wir ja eigentlich hier, um über mich zu reden.
„Sagen Sie mal, Joha... Jojo, haben Sie eigentlich eine Freundin?“
„Ich bin schwul.“
Ruhe. Totenstille. Irgendwo fiel die Stecknadel und alle schauten mich an. Jojo grinsend und meine Eltern irgendwie komisch, aber nicht negativ komisch, sondern irgendwie gut komisch. Als die Stille dann doch peinlich zu werden drohte, nahm Jojo wieder das Heft in die Hand.
„Ich halte das wie ihr Sohn. Ich mag auch eher die männlichen Exemplare der Gattung Mensch.“
Und wieder dieses peinliche Schweigen. Keiner von uns dreien traute sich etwas zu sagen. Ich, weil ich nicht wusste, wie meine Eltern denn nun zu mir standen, und meine Eltern, weil sie wohl gerade damit beschäftigt waren, zu begreifen, was ich eben gesagt hatte.
„So, die haben dich ja nicht aufgefressen, wie ich es gesagt habe, also geh ich jetzt mal in die Küche und mache Kaffee, und ihr könnt euch in Ruhe unterhalten.“
Gesagt, getan. Jojo stand auf und machte sich auf die Suche nach unserer Küche, und meine Mutter ließ ihn gewähren, obwohl sie in der Hinsicht normalerweise etwas eigen war. Uns drei überließ er uns selbst, und wieder sagte keiner ein Wort. Vielmehr versuchte ich, in den Augen meiner Eltern eine Reaktion zu erkennen. Meine Mutter schien mir auf jeden Fall nicht böse zu sein, aber bei meinem Vater konnte ich keinerlei Regung erkennen. Vielmehr musterte er mich genauso wachsam wie ich ihn.
„Tja, nun ist es raus.“ Kurz und prägnant war ich wenigstens.
„Und wir dachten schon, du hättest irgendetwas angestellt.“ Na, jetzt war ich aber völlig im falschen Film angekommen, war es meinen Eltern denn egal, dass sie von mir nie irgendwelche Enkelkinder zu erwarten hatten?
„Ja, schau mich nicht an wie ein Auto. Was sollten wir denn auch denken, nachdem du dich in letzter Zeit fast vollkommen von uns zurückgezogen hast? Denkst du etwa wir sind blind, blöd oder beides, sodass wir nicht mitbekommen, das unser Sohn nicht einmal fünf zusammenhängende Sätze an einem Tag mit uns wechselt?“
Platt wie eine Flunder trifft es wohl am ehesten, und ich hatte gedacht, dass ich mich sehr gut verstellt hatte und keinem mein verändertes Verhalten ernsthaft aufgefallen war, aber in der Hinsicht hatte ich meinen Eltern wohl ein wenig zu wenig zugetraut.
„Ihr habt kein Problem damit?“
„Sieht das so aus? Na, dann wäre ja auch das geklärt.“
Meine Eltern akzeptierten mich, ohne alles zu hinterfragen. Wenn da nicht die andere Sache gewesen wäre, dann hätte ich jetzt wahrscheinlich Luftsprünge in unserem Wohnzimmer gemacht, aber auch so war meine Freude riesengroß. Für eine Umarmung reichte es aber auf jeden Fall, und gerade, als wir mittendrin waren, kam Jojo mit dem frischen Kaffee hereingepoltert.
„Na, alles geklärt? Wunderbar, Kaffee ist nämlich fertig.“
„Moment. Ich hätte da noch eine Frage. Kannst du mir erklären, wieso sich Tobi am Telefon so komisch benommen hat?“
Mist. Das hätte ich mir denken können, dass mein Vater bei meinen Freunden herumtelefoniert, aber warum gerade bei Tobi? Wahrscheinlich, weil wir bis vor zwei Wochen die besten Freunde gewesen waren, aber das mit dem waren wussten meine Eltern nicht. Ich hatte vorher mit Jojo abgeklärt, dass er meinen Eltern nichts über die Sache in der Schule erzählen würde, denn das wollte ich nicht. Er war zwar nicht wirklich davon begeistert gewesen, aber an diesem Punkt hatte ich mich durchgesetzt, und nun kam diese Frage. Jojos Blick sagte ungefähr soviel wie: Jetzt erzähl ihnen endlich den Scheiß, aber ich konnte meinen Eltern doch nicht vorheulen, dass meine Mitschüler sich in Arschlöcher verwandelt hatten, nachdem sie über mich Bescheid wussten.
Letztlich erzählte ich doch, unterstützt von Jojos bösen Blicken, was grob in der Schule vorgefallen war. Mein Vater sagte gar nichts mehr, während meine Mutter immer erschreckter drein blickte. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich wollte eigentlich, dass meine Eltern mich so akzeptierten, wie ich war, aber scheinbar funktionierte das eine ohne das andere nicht, und als ich fertig war, explodierte mein Vater plötzlich.
„Dieses kleine miese Arschloch!“
Hatte mein Vater das eben wirklich vom Stapel gelassen? Elch, komm her und knutsch mich nieder. Mein Vater, der sonst eigentlich immer höflich blieb, war gerade eben wirklich ausfallend geworden. Danach kam er allerdings gleich zum Punkt und sagte mir, dass er am Morgen sofort meinen Direktor anrufen wolle, um die Sache zu bereinigen. Natürlich freute es mich, dass meine Eltern so bedingungslos hinter mir standen, aber andererseits passte es mir nicht wirklich in den Kram, dass mein Vater anfing, meine Probleme zu lösen. Wie stand ich denn dann da? Aber wie sollte ich in dem Moment etwas dagegen sagen? Sie machten sich natürlich Sorgen um mich, und das war ja auch gut gemeint von ihnen, aber das waren nun halt einmal meine Probleme. Natürlich hatte mein Vater diesen Gedankengang auch schon durchdacht, und das teilte er mir auch mit, als ich gerade zu einem Widerspruch ansetzen wollte. Er versicherte mir, dass er seine Aussagen möglichst allgemein halten und auch niemanden direkt beschuldigen würde, aber ein dezenter Hinweis betreffend Gewalt an der eigenen Schule machte die meisten Direktoren doch recht schnell nachdenklich und vor allem aufmerksam. Ich versuchte ihm das natürlich auszureden, denn egal, wie er es auch drehte, am Ende kam man doch wieder auf mich, und das wollte ich vermeiden. Zu meinem Leidwesen war es, als ob ich mit einer Wand redete, und so beließ ich es irgendwann dabei und beschränkte mich darauf, zu hoffen, dass ich den Stress der deswegen entstand, irgendwie halbwegs überstehen würde.
Die Aufregung und die Sorge, die mich am Anfang regelrecht aufgeputscht hatten, wandelten sich dann mit einem Mal in heftigste Müdigkeit, und ich verschwand nach Kurzem freiwillig ins Bett. Zuvor hatte mir Jojo noch seine Handynummer gegeben und mir gesagt, ich solle mich melden, wenn etwas wäre. Er hingegen blieb auch nach meinem Abgang noch zusammen mit meinen Eltern in unserem Wohnzimmer. Er hat mir später dann erzählt, dass sich meine Eltern tierische Vorwürfe gemacht hätten, weil ihnen das alles gar nicht aufgefallen wäre, und, wie sehr es ihnen Leid täte, was ich alles in der Schule hätte ertragen müssen, und natürlich stellten sie ihm auch ziemlich viele Fragen zum Thema Homosexualität, da sie trotz allen Verständnisses sich doch bisher nicht wirklich mit der Thematik auseinandergesetzt hatten.
Da ich von diesen Gesprächen allerdings nichts mehr weiter mitbekommen hatte, traf mich am nächsten Morgen der sprichwörtliche Schlag. Schon, bevor ich die Augen aufgemacht hatte, wusste ich, dass etwas anders war als sonst, und als ich mich schließlich dazu durchgerungen hatte, etwas Licht an meine Pupillen zu lassen, erkannte ich meine Eltern, die vor meinem Bett saßen. Nicht nur die beiden saßen da vor mir auf dem Fußboden, nein, sie hatten doch tatsächlich gleich noch den Frühstückstisch, beziehungsweise das, was normalerweise auf selbigem stand, mitgebracht. Noch bevor ich etwas sagen oder anderweitig reagieren konnte, hatte meine Mutter auch schon das Wort ergriffen und sagte mir, dass sie die ganze Nacht darüber nachgedacht hätten, was sie denn falsch gemacht hätten. Ich konnte es mir schon denken, zu welchem Ergebnis sie bei ihren Überlegungen gekommen waren und welche Lösungen sie wohl für mein Problem ausbaldowert hatten. Denn das war die einzige Möglichkeit, sie hatten sich die ganze Sache noch einmal genau angeschaut und festgestellt, dass ihre erste Zustimmung doch falsch gewesen war und sie mich besser wieder auf den rechten Weg bringen müssten. Das harmloseste Szenario, das dabei in meinem Kopf ablief, war die berühmte Rede mit der Phase, und das Schlimmste, dass dies mein Abschiedsessen war und ich danach nicht mehr wiederzukommen brauchte, bis ich von meiner abartigen Neigung geheilt wäre. Nichts von dem geschah, vielmehr eröffneten mir meine Eltern, dass sie trotz stundenlanger Überlegung nicht herausgefunden hatten, warum ich ihnen denn nicht vertraute und mich mit meinen Problemen vor ihnen versteckt hätte. Meine Mutter wollte tatsächlich von mir wissen, ob sie mir je das Gefühl gegeben hätten, dass sie mich nicht mehr lieben würden oder nicht mehr so sehr wie früher. Natürlich hatten sie das nicht, aber dennoch war ich so ehrlich, zuzugeben, dass ich bezüglich ihrer Reaktion mehr als nur unsicher gewesen sei und auch, dass ein Grund dafür gewesen war, warum ich mich immer mehr zurückgezogen hatte. Es war aber eben auch so, dass sie nun einfach mal meine Eltern waren, und ab einem gewissen Alter sind die Eltern halt nicht mehr der richtige Ansprechpartner, vor allem bei so einem heiklen Thema wie es das für mich eben gerade da war.
Darüber, dass ich eigentlich in der Schule und meine Eltern wohl auf Arbeit hätten auftauchen sollen, verloren wir an diesem Morgen kein Wort. Wir blieben einfach auf dem Boden hocken und frühstückten ungefähr zwei Stunden lang, während meine Eltern mich, neugierig wie sie waren, so dermaßen ausfragten, dass mir mehrmals die Schamesröte ins Gesicht schoss oder ich auch einfach keine Antwort auf ihre Fragen wusste, weil ich mich damit überhaupt noch nicht auseinandergesetzt hatte. Geistig machte ich mir natürlich an den entsprechenden Stellen Notizen, denn das wollte ich alles so schnell wie möglich von Jojo herausbekommen. Ein Tag ohne Schule also, quasi ein perfekter Tag, wenn mir mein Vater nicht noch gesagt hätte, dass er meinen Direktor angerufen und ihm mein Problem grob geschildert hatte, mit der Bitte, sich doch darum zu kümmern, dass so etwas nicht wieder vorkäme. Das war natürlich nett gemeint von ihm, aber ich fand die Aktion ziemlich panne und wagte den Erfolg dieser Maßnahme doch ein klein wenig zu bezweifeln.
Am nächsten Morgen wurde ich dann umgehend in das Büro des Rektors bestellt, der mich noch einmal ins Gebet nahm und mir sagte, ich solle mich sofort an ihn wenden, wenn denn ein Problem auftauchte.
Das Angebot nahm ich nie an, auch, wenn es im Nachhinein betrachtet wohl besser gewesen wäre, aber ich... ich weiß nicht wirklich, wieso ich es nie annahm, ich dachte wohl, ich könnte alles alleine regeln, oder es würde sich alles irgendwann wieder halbwegs einrenken. Weit gefehlt. In den nächsten Wochen wurde alles nur noch schlimmer, was ich aber vor meinen Eltern und auch vor den Jungs aus der Jugendgruppe zu verheimlichen wusste. Jojo hatte zwar anfangs seine Bedenken und nahm mir meine Superlaune nicht wirklich ab, aber dieses Mal spielte ich meine Rolle besser. Ich gab mir im Umkreis meiner Feinde nie eine Blöße, und in der Nähe meiner Freunde und Familie schon gar nicht. Warum ich das tat, weiß ich heute selbst nicht mehr so richtig. Vielleicht, weil ich niemanden belasten wollte, oder aber, weil ich mir sicher war, dass mir keiner von ihnen hätte helfen können.
Die Schule wurde zwar immer mehr zur Qual, aber ich erlaubte mir einfach nicht aufzugeben, und ich dachte auch gar nicht daran, zuzulassen, dass mich jemand anders fertig machte. Es war zwar alles andere als leicht, aber ich hielt mich, denn, was am Anfang mit harmlosen Beleidigungen angefangen hatte, steigerte sich mit zunehmendem Maße. Wenn ich das Klassenzimmer in der Pause doch einmal verließ, konnte ich sicher sein, dass bei meiner Rückkehr wieder irgendeine Scheiße vorgefallen war. Ob es eine ausgelaufene Flasche Saft in meiner Tasche, ein paar nette Sätze in meinen Heftern oder auf meiner Bank waren, meine lieben Mitschüler hatten immer eine neue Gemeinheit für mich auf Lager. War ich in der Schule vorher schon eher ruhiger gewesen, so wurde ich nun wieder vollkommen zum Außenseiter. Dabei hatte ich so gehofft, dass sich der Großteil meiner Klassenkameraden auf meine Seite stellen würde, schließlich hatte ich das doch so oft in den Geschichten im Internet lesen können, dass sich die Mehrheit schließlich gegen ein paar Idioten durchsetzte. Aber diese Geschichten waren scheinbar nicht bis zu meiner Schule durchgedrungen. Die meisten Leute hier standen meinem Schwulsein ziemlich negativ gegenüber. Einem Teil war es ziemlich egal, und der Teil, der mich normalerweise unterstützt hätte, traute sich wahrscheinlich aus der Angst heraus, selbst zum Opfer der ständig schlimmer werdenden Attacken zu werden, nicht, den Mund aufzumachen.
Nach und nach gingen Tobi und seine Freunde dann auch dazu über, mich wo sie nur konnten anzurempeln, mir die Beine wegzuziehen und all den Kleinkindscheiß, den man so macht, wenn man jemanden richtig fertig machen will, aber natürlich alles so, dass es keiner der Lehrer mitbekam. Als sie dann doch einmal erwischt wurden, verlegten sie ihre Aktionen mehr und mehr auf die Zeit nach dem Unterricht. Sobald ich das Schulgelände verließ, erwartete man mich an der nächsten Kreuzung und der Spießroutenlauf konnte beginnen. Und was soll ich sagen, nach und nach bekamen sie mich wirklich mürbe. Nach außen hin hielt ich meine starke Fassade natürlich aufrecht, meinen Eltern spielte ich immer noch kräftig heile Welt vor, und auch Jojo hatte meine Geschichte gefressen. Aber es gab eben genau zwei Sachen, die mich regelmäßig wieder aufbauten. Zum einen war da das Training, zu dem ich nun doch wieder regelmäßig ging, und zum anderen war da noch Jojo, der mich durch seine unvergleichliche Art immer wieder aufbaute, auch, wenn ich ihm das nie richtig zeigte und dankte. Die Nachmittage mit ihm waren einfach Erholung pur und gaben mir die Kraft, wieder ein paar Tage in der Schule durchzustehen.
Sie hatten mich zwar fast so weit bekommen, aber ganz würden sie mich nicht schaffen können, solange ich noch etwas hatte, das mir Spaß machte, aber genau da setzten sie an...
Das Training war schon eine ganze Weile vorbei, aber ich war noch etwas länger geblieben und hatte noch eine Runde für mich alleine Körbe geworfen. Als ich dann endlich nach Hause aufbrach, war sonst niemand mehr im Gebäude, und dunkel war es sowieso schon seit ein paar Stunden.
Dass ich nicht alleine war, merkte ich erst ziemlich spät, denn ich hatte mal wieder Musik im Ohr und kein Auge für meine Umwelt. Irgendwann hatte ich mich zufällig umgedreht, und da hatte ich sie entdeckt. Zwei von ihnen kannte ich aus der Schule, die anderen drei kannte ich hingegen überhaupt nicht, aber vor allem sie machten mir ziemlich Angst. Als sie mir immer näher kamen, bin ich schließlich gerannt, während sie mir ihre üblichen Sätze hinterher brüllten. Ich hatte einfach nur wahnsinnige Angst und wusste auch zunehmend nicht mehr, wo genau ich eigentlich hinrannte.
Als ich wieder einmal um die Ecke bog, kam mir plötzlich Tobi entgegen. Ich hatte ihn sofort erkannt, doch bei ihm dauerte es einige Momente. Nachdem er mich schließlich auch erkannt hatte, legte sich sofort wieder dieses abfällige Grinsen auf sein Gesicht, während ich vollkommen am Durchdrehen war. Tobi vor mir und diese Schläger hinter mir. Viel Zeit zum Überlegen hatte ich sowieso nicht, als es plötzlich bei mir aussetzte. Ich wollte ihm genau das zurückgeben, was er mir in den letzten Wochen geschenkt hatte, meinen blanken Hass. Während er sich aufbaute, um mir mal wieder eine hämische Bemerkung ins Gesicht zu spucken, hatte ich mir das Netz meines Balles gegriffen. Noch bevor er etwas sagen konnte, war ich heran und knallte ihm meinen Ball mit Schmackes ins Gesicht. Tobi ging zu Boden und ich ließ meinen Ball Ball sein und rannte so schnell ich konnte weiter.
Während ich ihn langsam hinter mir zurückließ, hörte ich meine Verfolger, die scheinbar über Tobi gestolpert und stehen geblieben waren. Was sie mir hinterher brüllten, konnte ich nicht genau verstehen, und doch verstand ich es nur allzu gut. Sie würden mich schon irgendwann kriegen...
Als ich zu Hause ankam, war alles dunkel. Meine Eltern waren an diesem Abend ausgegangen und hatten deswegen auch nicht mitbekommen, dass ich geschlagene zwei Stunden zu spät aufgetaucht war. Kaum war die Tür hinter mir zu, ließ ich mein Zeug fallen und rutschte langsam an der Wand runter. Ich hatte meinem ehemals besten Freund die Nase gebrochen, denn so hatte sich das Knacken angehört. Das Bedauern darüber, dass ich nun auch nicht mehr besser als sie war, wurde aber schnell von aufkeimender Angst abgelöst. Die Aktionen in der Schule waren ja schon ziemlich derb, aber wenn sie mir nun auch noch nach dem Training auflauerten oder, wann immer ich zur Tür hinauswollte, das konnte doch kein Mensch durchhalten.
Warum tat ich mir den ganzen Stress eigentlich überhaupt noch an?
Ich hatte durch meine Ehrlichkeit nichts gewonnen. Vielmehr war alles den Bach runter gegangen. Also wozu dieser ganze Scheiß? Ein paar Leute standen zu mir und mochten mich so wie ich war, aber der ganze Rest hasste mich einfach.
Wozu also noch?
Es war doch eh egal!
Kurz vor Mitternacht kam ich endlich an. Ich hätte es mir fast noch einmal anders überlegt und Jojo angerufen, aber der hätte mir auch nicht helfen können. Wieso ich auf die Idee gekommen war, es genau so zu machen, wusste ich nicht, ich wusste nur, dass sich Tabletten und Alkohol nicht gut vertrugen. Deshalb hatte ich irgendeinen hochprozentigen Alkohol und eine Packung Tabletten eingesteckt, von der ich wusste, dass mein Vater sie immer dann nahm, wenn es ihm absolut dreckig ging. Für meinen Plan sollte das also vollkommen ausreichend sein.
Es war noch ruhiger und schöner bei Nacht. Du hast es ja nur bei Tag gesehen, und schon da ist es so friedlich. Ich wollte den Blick und die Ruhe noch ein letztes Mal genießen. Ein paar Jahre vorher hatte ich diese Ecke durch Zufall gefunden und mich seitdem immer mal wieder dorthin zurückgezogen, wenn mir alles über den Kopf zu wachsen drohte. In letzter Zeit war ich allerdings selten dort gewesen, denn Ruhe bedeutete Nachdenken, und wenn ich noch mehr Zeit zum grübeln gehabt hätte, wäre meine Fassade wahrscheinlich doch zerbrochen.
In dieser Nacht war es egal. Ich ließ einfach alles raus, während ich die Tabletten mit dem Rum herunterspülte. Ich sagte ihnen allen die Meinung, diesen miesen kleinen Feiglingen, diesen dreckigen kleinen Arschlöchern, und vor allem Tobi. Nun hatte er ja endlich erreicht, was er wollte, ich würde ihm nie wieder unter die Augen treten.
Das einzig Traurige war, dass ich mich von Jojo nicht verabschiedet hatte. Meinen Eltern hatte ich einen Brief geschrieben und ihnen alles erklärt, ihnen gesagt, dass es keinesfalls ihre Schuld war und sie sich keinen Kopf machen sollten, denn so wäre es das Beste. Jojo hatte ich nichts geschrieben. Ich hatte ihm schon vor einer Weile versprochen, ihn mal mit hierher zu nehmen, aber gehalten hatte ich mein Versprechen nie, leider.
Ich hatte es fast geschafft, aber eben nur fast. Jojo hatte mich auf der Brücke gefunden. Ich weiß bis heute nicht, wie er darauf gekommen und vor allem, wie er den Weg überhaupt gefunden hatte, aber er hatte es, und er erzählte mir auch, was an dem Abend und den Tagen danach vorgefallen war. Er zeigte mir, was ich da eigentlich fast angerichtet hätte. Ich hatte nur an mich gedacht, natürlich, aber es gab eben doch Menschen um mich herum, denen ich wichtig war, und genau die hatte ich mit diesem Schritt beinahe auch in den Abgrund gestoßen.
Meine Eltern waren wohl auch irgendwann gegen Mitternacht nach Hause gekommen, hatten mich aber weder in meinem Zimmer, noch im Wohnzimmer vorgefunden. Dafür fand meine Mutter allerdings den Brief, den ich auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte und war zusammengebrochen, nachdem sie den ersten Teil gelesen hatte. Mein Vater rief sofort die Polizei und danach Jojo an.
Während mein Vater dann herumtelefonierte, war Jojo sofort wieder aufgebrochen und hatte alle möglichen Ecken, die ihm einfielen, erfolglos abgeklappert. Gerade, als er meine Eltern informieren wollte, fiel ihm dann die Brücke ein, von der ich ihm erzählt hatte. Sie fanden mich gleichzeitig. Mein Vater hatte es nicht mehr ausgehalten, nachdem ihm Jojo von seinem Gedanken berichtet hatte, und war selbst losgefahren. Ich war wohl kurz davor, als mein Vater mich vom Boden aufsammelte. Er hielt mich einfach nur fest, während Jojo erst den Krankenwagen rief und meinen Vater dann hinter sich herschleifte.
In den nächsten Tagen wechselten sie sich ab. Jojo hat mir das Ganze genau beschrieben. Es war immer einer von ihnen am Bett, sie saßen einfach nur da und warteten, wechselten nur, wenn der andere irgendetwas erledigen musste. Sie funktionierten nur noch. Keiner von beiden schlief scheinbar mehr als eine Stunde am Stück. Es konnte sie aber auch niemand von meinem Bett vertreiben. Erst, nachdem ich zum ersten Mal meine Augen aufgemacht hatte, ließen sie sich von Jojo abwechseln und gingen schlafen.
Die nächsten Wochen waren ziemlich beschissen. Der einzige Besuch, den ich empfangen durfte, bestand aus Jojo und meinen Eltern, denen ich nicht ins Gesicht schauen konnte, weil mir Jojo sofort, nachdem ich halbwegs bei mir gewesen war, die Hölle heiß gemacht und mir alles auf den Tisch gepackt hatte, und jemand anderen durfte das Krankenhauspersonal nicht zu mir vorlassen, das hatte mein Vater den Krankenschwestern und Pflegern wohl eindeutig klargemacht. Es waren zwar zwei oder drei Leute da, die jedoch nicht vorgelassen wurden. Ich hätte gern gewusst, wer es denn gewesen war, aber ich bekam es leider nicht heraus.
Wenigstens Jojo kam mich regelmäßig besuchen und verbrachte die Nachmittage mit mir. Nachdem er mir bei seinem ersten Besuch gesagt hatte, dass er mich höchstpersönlich vierteilen würde, wenn ich so eine Scheiße auch nur noch einmal in Erwägung zog, war er einfach für mich da. Das war, ich glaube, seine Art, mir zu sagen, dass er sich wahnsinnige Sorgen um mich gemacht hatte.
Dafür, dass er, seit er mich kennt, immer für mich da war, wenn ich ihn brauchte, auch wenn ich seine Hilfe nicht zu brauchen glaubte, ich glaube dafür liebe ich ihn, so wie ich ihn auch dafür liebe, dass er mich eigentlich immer zum Lachen bringen kann.
Während ich noch im Krankenhaus lag, hatten meine Eltern derweil den Familienumzug geplant, von dem sie mir allerdings erst etwas erzählten, als sie schon auf gepackten Koffern saßen, und während meine Familie kräftig mit dem Umzug beschäftigt war, wurde ich bei Frau Angermann abgeladen. Frau Angermann war Mitte dreißig und meine Psychotante. Mit ihr durfte ich mein bisheriges Leben aufarbeiten, und gemeinsam suchten wir nach den Auslösern für meinen Selbstmordversuch. Nun gut, sie suchte, und ich redete kräftig um den heißen Brei herum, was sie natürlich mitbekam, aber zwingen konnte und wollte sie mich nicht. Ich klärte derlei Probleme lieber mit Jojo, und es wirkte. Nach und nach bekam ich mich wieder in den Griff, und mein Leben auch. Meine Eltern hatten mir auch eine neue Schule gesucht, und an der haben wir beide uns dann wieder getroffen. Den Rest der Geschichte kennst du ja zum großen Teil schon.
Die Schule und unser Verhältnis sind ja beide nicht wirklich gut angelaufen, und so sehr ich mich auch zusammengerissen habe, irgendwie hat auch das wieder an mir genagt. Zwar habe ich, anders als an meiner alten Schule, hier schnell neue nette Leute kennen gelernt, denen es auch egal ist, ob ich nun eher auf Frauen oder auf Männer stehe, aber du hast mir eben die Ablehnung wieder vor Augen geführt, und ich würde lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass mich das ziemlich getroffen hat. Deshalb habe ich auch Jojo, dem ich eigentlich versprochen hatte, ihn in den Ferien zu begleiten, abgesagt, und mich stattdessen zu Hause verschanzt.
Kurz vor seiner Abreise stand er noch einmal bei mir auf der Matte und wollte wissen, was los ist. Bis dahin war ich wieder in mein altes Muster zurückgerutscht und hatte ihm nichts von meinen Problemen erzählt. Da ich aber genau wusste, wohin das am Ende führen würde, habe ich Jojo von dir erzählt. Ich habe keine Namen genannt, denn sonst wäre der Gute wohl Amok laufend bei dir vorbeigekommen, aber ich habe ihm im Groben alles geschildert. Er musste mir versprechen, dass er es nicht meinen Eltern sagt, denn sie hätten aus den einzelnen Bruchstücken, die Jojo kannte, das ganze Bild rekonstruieren können, und dann wäre die Kacke richtig am dampfen gewesen. Er ist dann gefahren, und ich hab mich ein bisschen zusammengerissen und auch ab und an etwas unternommen.
Irgendwann in den Ferien ist er dann plötzlich eines Abends bei uns aufgetaucht und hat mich einfach in eine Kneipe geschleppt. Dort hat er mich dann ausgequetscht und wollte wissen, was ich so getrieben habe die Tage, und er hat mich auch ein wenig über dich ausgehorcht, wenn ich es mir jetzt gerade recht überlege. Er hat dann bei uns übernachtet und ist am nächsten Nachmittag wieder abgehauen. Hattet ihr euch da schon kennen gelernt?“
16
Sie hatten sich da schon gekannt. Jojo und Flo waren gleich in der ersten halben Stunde aneinandergerasselt, weil sich jeder eben typisch verhalten hatte. Flo hatte das Arschloch gespielt und Jojo konnte es nicht lassen, solche Leute bis aufs Blut zu reizen. Warum aber sich gerade Flo da in den Ferien aufhielt, sagte er mir nicht. Er meinte nur, dass er seine Geschwister hatte begleiten müssen, weil seine Mutter die beiden nicht alleine hatte da lassen wollen. Die Erklärung kam mir zwar reichlich schwammig vor, aber ich gab mich fürs Erste damit zufrieden. Nach und nach rückte er dann auch mehr mit der Sprache raus. Er erzählte von dem Brief, den er für seine Geschwister da gelassen hatte, als er abhauen wollte und auch von Jojos Reaktion. Nachdem sie wieder zurückgekommen waren, hatte er dann das Foto von Jojo und mir gesehen. Er erzählte mir in einigen knappen Sätzen, was dann passiert war, und ich konnte mir ein klein wenig besser denken, warum Jojo an dem Abend plötzlich vor unserer Haustür gestanden hatte. Flo erzählte mir, wie er sich danach doch noch langsam mit Jojo angefreundet hatte und, dass er sich auch wieder mit seinen Geschwistern vertragen hatte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass da Streit geherrscht hatte, aber vielleicht hing das ja alles mit dem unfreiwilligen Besuch des Ferienlagers zusammen. Ich würde ihn irgendwann darauf ansprechen. Dann musste er mir allerdings auch noch von Lara erzählen, die er ja auch dort kennen gelernt hatte. Mein Interesse an dieser Geschichte war in dem Moment ziemlich gering, und so driftete ich langsam wieder in meine eigene Gedankenwelt ab.
Flo hielt mich noch immer fest, und ich genoss seine Berührung. Von mir aus hätte in diesem Moment die Welt untergehen können. Es wäre mir vollkommen egal gewesen, denn ich hatte alles, was ich haben wollte, was mir aber leider auch nie wirklich gehören würde. Der Moment zerbrach, alles wurde mit einem Mal wieder gequirlte Scheiße, und nur mit Mühe konnte ich den letzten Rest Selbstbeherrschung, der mir noch geblieben war, aufrechterhalten, denn das durfte ich hier, bei ihm, nicht zulassen. Ich konnte es ihm nicht sagen, es ihm auch nicht zeigen, denn es würde alles, was wir uns langsam aufgebaut hatten, wieder zerstören.
Als er mich seufzen hörte, ließ er mich los und versuchte, hinter mir hervor zu kommen.
„Und was ist nun in den letzten Tagen mit dir los gewesen?“
Warum zur Hölle musste er mich das gerade jetzt fragen? Konnte er meine Gedanken erahnen? Woher wusste er, wie es in mir aussah?
„Na ja, du kennst meine Geschichte ja jetzt, und die ist in den letzten Tagen halt wieder richtig böse hochgekommen. Ich weiß ehrlich nicht wieso. Ich war mir eigentlich sicher, das Ganze hinter mir gelassen zu haben, aber dem ist scheinbar doch nicht so.“
Natürlich wusste ich ganz genau, warum mich dieser Scheiß schon wieder plagte, oder besser gesagt, es war mir während des Erzählens klar geworden. Ich fühlte mich einfach einsam und wollte endlich jemanden ganz für mich allein haben. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Nein: Woher einen zweiten Flo nehmen?
„Aber irgendeinen Grund muss es doch dafür geben, dass das jetzt alles wieder hochkommt und dich belastet.“
Natürlich gibt es den, verdammte Scheiße. Du bist der Grund. Wieso kannst du nicht einfach genauso fühlen? Wieso musst du verflucht noch mal eine beschissene Freundin haben und mich nur als einen Freund betrachten?
„Ich glaube, ich bin es einfach Leid, dass es niemanden gibt, der mich liebt. Ich mein, schau dich doch einfach mal an. Du hast eine Freundin, jeder, den ich kenne, hat jemanden, den er liebt oder der ihn liebt, außer mir, und da ist es einfach nur logisch, dass ich darüber nachdenke und mir Gedanken mache, wieso das so ist. An irgendetwas muss es ja wohl liegen, und da bleibt dann irgendwie nur der Schluss, dass es an mir liegt.“
„Hm.“
Ja, also eine bescheuertere Antwort wäre mir jetzt auch nicht eingefallen. Aber wie sollte er auch anders reagieren. Keiner konnte sich in meine Situation hineinversetzen und am wenigsten Flo. Er war nun halt mal nicht ich, und ich war nicht er, und wir würden nie wir werden sondern immer du und ich bleiben. Ich musste dringend weg, sonst würde ich wohl tatsächlich noch zum Schlosshund mutieren und hier eine Sintflut starten, was nebenbei bemerkt bei der Musik, die Flo gerade laufen ließ, ganz ehrlich kein Wunder wäre. Gerade, als ich mich aufgerafft hatte und erst einmal aus seinem Zimmer verschwinden wollte, holte er mich wieder zurück.
„Wieso bist du zur Brücke, nachdem ich dir das Freundschaftsband geschenkt hatte? Wolltest du dich da doch umbringen?“
Nein wollte ich nicht, ganz ehrlich, aber ich war vollkommen am Ende. Da kommt der Mensch, in den ich mich nun mal leider Gottes gleich am ersten Tag verliebt hatte und der mir, mit Verlaub, das Leben zur Hölle gemacht hat, zu mir und ist völlig verändert. Schlecht ausgesehen hast du ja auch davor nicht, du hast es nur versteckt. Aber dann stehst du vor mir und ich krieg das Herzflattern, und dann entschuldigst du dich bei mir und ich schnappe über. Erst frage ich mich, ob du was von mir willst, und dann bin ich mir sicher, dass du mich verarschen willst, aber du hörst dir mein Geschrei einfach an und drückst mir dieses bescheuerte Freundschaftsband in die Hand. Was bitte soll ich denn da machen, außer, mich so schnell wie möglich zu verkrümeln. Du bietest mir einfach, mir nichts, dir nichts, die Freundschaft an, und ich will doch einfach mehr als Freundschaft. Ich will neben dir einschlafen, neben dir aufwachen, mich mit dir streiten, dich immer in meiner Nähe wissen, deinen Atem spüren, dir Gänsehaut verursachen, einfach mit dir sein. Scheiße, ich wünschte, es hätte damals geklappt. Nicht, dass ich mein Leben hasse, aber ich liebe dich, und ich hasse die Unmöglichkeit dieser Liebe. Ich kriege es einfach nicht auf die Reihe, verdammt.
Erschrocken schaute ich auf und sah seine Augen, tief und traurig, einfach unendlich, und meine Selbstbeherrschung verabschiedete sich endgültig. Er wusste es, irgendwie wusste er, dass es mit ihm zusammenhing.
Noch bevor ich richtig auf dem Boden angekommen war, war Flo schon bei mir und zerrte mich wieder hoch, an seine Schulter, an der ich einfach losließ und doch gleichzeitig noch meine Mauern irgendwie aufrecht erhielt und ihm nicht die ganze Wahrheit sagte.
„Es war einfach zu viel. Erst hast du mich fertiggemacht und dann warst du plötzlich wieder ganz anders, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Natürlich dachte ich mir, dass du genau so bist wie Tobi und mich einfach nur in Sicherheit wiegen willst, nur um dann noch besser auf mich einschlagen zu können. Aber dann hast du mir das Freundschaftsband geschenkt, und ich wusste einfach nicht mehr weiter. Ich habe es nicht auf die Reihe bekommen, und ich musste unbedingt nachdenken, also bin ich losgerannt. Als du dann aufgetaucht bist, hatte ich meine Entscheidung schon längst getroffen, aber dann hast du das mit Jojo gesagt, und ich hab gleich wieder den nächsten Film angeschoben, obwohl ich mich eigentlich bis zum Erbrechen gefreut habe, dass du mir die Freundschaft angeboten hast. Es war einfach alles ein bisschen viel in letzter Zeit.“
Auf jeden Fall, und das jetzt gerade machte es auch nicht besser, so sehr ich es auch genoss. Wenn ich nicht schnell nach Hause kam, würde ich ihm wahrscheinlich auch noch das letzte Stück meines Geheimnisses vor die Füße werfen, und das durfte nicht sein.
So schnell es eben ging, löste ich mich von Flo und versuchte, seinen Augen auszuweichen. Noch einmal würde ich diesem Blick nicht standhalten, nicht widerstehen können.
„So, Flo, ich muss jetzt wirklich erst einmal nach Hause. Meine Eltern springen sonst im Dreieck, und das kann ich im Moment wirklich nicht gebrauchen.“
„Wir können deine Eltern auch anrufen, dann machen die keinen Stress, und du kannst hier übernachten.“
Hatte er das eben selbst gesagt? Ich war kurzzeitig wirklich versucht, ihm in die Augen zu blicken, aber dann hätte ich die Kontrolle über mein Hirn vollkommen verloren.
Bist du bescheuert? Bei dir übernachten? Das gibt Tote.
„Ne, lass mal, Flo. Danke für das Angebot, ich komm bestimmt darauf zurück, aber heute geht das echt nicht.“
„Alles klar. Machen wir das halt ein anderes Mal. Aber, da fällt mir noch etwas ein. Habe ich dir schon gesagt, dass wir morgen alle zusammen weggehen?“
Ich dreh durch!
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.