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Die kleine Schwester von Scheiße

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„Na, wen stalkst du diesmal?“

Mark lässt sich schwungvoll auf dem Mensatisch nieder, was trotz seines Fliegengewichts einige der Teller und Gläser unserer Mitstudenten zum Klirren und ihm einige missbilligende Blicke einbringt.

„Ich stalke nicht“, gebe ich zur Antwort, während ich näher an das mir unbekannte Gesicht heranzoome und mehrmals den Auslöser der Kamera betätige.

„Ja ist klar. Warum fotografierst du dann nicht offen, sondern heimlich unter dem Tisch?“

Mark fischt ein paar Pommes von meinem unangerührten Teller und beugt sich über meine Schulter, um mit mir das Porträt auf dem kleinen Display der Spiegelreflexkamera zu betrachten.

„Nett“, schmatzt er mir ins Ohr und langsam fängt er an, mir auf die Nerven zu gehen.

„Sag das nicht. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße!“

„Ja deshalb ja – nett!“

Ich bin versucht, ihn vom Tisch zu schubsen, in der Hoffnung er möge an den geklauten Pommes ersticken, entscheide mich aber dafür, ihn vorerst zu ignorieren und stattdessen noch ein paar Fotos zu machen.

Doch als ich mich aufrichte ist das Objekt meiner Begierde schon verschwunden. Ich kann gerade noch den hellbraunen, wuscheligen Haarschopf auf dem Weg zur Tablettrückgabe entdecken.

„Na toll“, murmel ich und wende mich stattdessen wieder meiner Kamera zu.

Ich scrolle die Bilder durch, einige sind aufgrund der ungewöhnlichen Perspektive und Marks Rumgehampel leider etwas verschwommen. Ich werde sehen, ob ich am PC noch was damit anfangen kann. Aber zumindest eines der Porträts gefällt mir auf Anhieb gut. Ich überlege schon, wie ich es bearbeiten und zuschneiden könnte, bis Mark sich erneut einmischt.

„Was genau findest du denn an dem Kleinen?“

„Eifersüchtig?“

„Pff“, er schiebt sich noch ein paar Pommes in den Mund.

„Darfst du das überhaupt essen? Ich dachte Fett ist tabu für euch Tänzer? Eigentlich dürft ihr gar nichts essen, oder nicht? Höchstens mal an nem Apfel riechen?!“

„Ich liebe dich auch, Schätzchen!“ Mark spitzt die Lippen und grinst mich breit an. Ich kann ihm einfach nie wirklich böse sein.

Höchstens neidisch darauf, dass er tatsächlich zu den seltenen Menschen gehört, die scheinbar futtern können, was sie wollen und trotzdem rank und schlank bleiben. Allerdings ist er durch das Studium natürlich auch ständig im Training.

Er klopft auf seinen flachen, durchtrainierten Bauch, als wäre es eine Wampe. „Muss aber auch tatsächlich gleich wieder los, den Speck abtrainieren. Wollte eigentlich auch nur wissen, wie du mit der Ausstellungsvorbereitung vorankommst. Brauchst du noch Hilfe?“

Ach ja, Professor Ostner lässt zu Semesterbeginn immer eine kleine Ausstellung veranstalten, aus allen Fachbereichen etwas. Ich bin, wie so oft, für den Fachbereich Fotografie dabei, habe das ganze aber auch, wie so oft, mal wieder etwas zu lange vor mir hergeschoben.

Meinem entgleisten Gesichtsausdruck muss Mark entnehmen, dass ich die Ausstellung mal wieder total verschwitzt habe. Er krümmt sich vor Lachen.

„Oh Mann Phil, dir ist echt nicht zu helfen!“

Behände springt er vom Tisch, was den armen Studenten, die vergeblich versuchen an unserem Tisch in Ruhe zu Mittag zu essen, erneut grimmige Blicke entlockt.

„Ich würde sagen, du sichtest jetzt mal, was du so an Bildern hast und nach meinem Kurs komm ich rüber und wir rahmen die Dinger.“

Kurz bevor er sich durch das Menschengewirr Richtung Ausgang schlängelt, dreht er sich noch einmal um und ruft mir quer durch die Mensa zur: „Und wenn du nachher ein bisschen netter zu mir bist, erzähl ich dir vielleicht sogar, was ich über die kleine Schwester von „Scheiße“ weiß!“

Ich schiebe lustlos ein paar großformatige Fotos auf dem großen Tisch hin und her.

Warum zum Henker weiß Mark mal wieder mehr als ich? Ich ziehe ein Bild aus dem Stapel. Es zeigt Mark auf der Bühne. Eigentlich eines meiner Lieblingsbilder aus dem letzten Semester. Den perfekten Moment einer Drehung festgehalten. Es sieht fast so aus, als würde er schweben.

In meinem zweiten Semester an der Kunsthochschule gab es noch weitaus mehr Bilder von Mark, was sicherlich daran liegt, dass wir damals etwas miteinander hatten. Wir waren uns allerdings beide recht schnell einig, dass das mit uns auf lange Sicht nicht funktioniert. Mark ist für mein Gefühl zu flatterhaft, zu unbeständig. Trotzdem entwickelte sich eine innige Freundschaft zwischen uns und oft genug hänge ich nach wie vor in der großen Aula vor oder hinter der Bühne oder in den Trainingsräumen herum und fotografiere Mark und seine Mitstudenten.

Generell fotografiere ich in erster Linie Menschen. Das fand ich schon immer spannender als Gebäude oder Landschaften. Und am liebsten fotografiere ich die Menschen, wenn sie es gar nicht ahnen.

Aus einem nicht klar zu definierenden Grund widerstrebt es mir das Bild von Mark für die Ausstellung auszuwählen. Ich bin irgendwie sauer auf ihn. Kann aber nicht mal genau sagen warum.

Weil er mehr weiß als ich? Weil er mir dieses Wissen nicht sofort mitteilt? Oder weil er den Unbekannten „kleine Schwester von Scheiße“ nennt?

Stattdessen ziehe ich ein anderes Bild aus dem Berg an Fotografien. Eine schwarz-weiß Fotografie von Lilith als Lady Macbeth. Ich sag ja, ich halte mich irgendwie überdurchschnittlich häufig im C-Trakt der Kunsthochschule auf. Darstellende Kunst. Tanz und Schauspiel. Wahrscheinlich liegt es an den schöneren Motiven.

Das Bild von Lilith lege ich für die Ausstellung beiseite und schiebe noch für ein paar weitere Fotografien unschlüssig hin und her, bis Mark wieder hereinschneit.

„Na, Schätzchen, wie weit bist du?“

Er greift nah an mir vorbei zu einem der ausgewählten Bilder und lehnt sich beim Betrachten gegen meine Schulter.

„Hättest nach dem Training ruhig noch duschen gehen können, soviel Zeit haben wir noch“, grummel ich biestig, obwohl ich Marks Geruch, selbst nach dem Training, noch nie als unangenehm empfunden habe.

„Ich dachte du wolltest jetzt vielleicht ein bisschen freundlicher zu deinem Lieblingstänzer sein?“

Ein unverschämtes Grinsen umspielt dabei seine Lippen. Ohne mich anzusehen, angelt er zielsicher nach dem Bild, das ihn selbst zeigt. „Das solltest du auf jeden Fall auch nehmen!“

„Du bist so eingebildet Mark!“

„Gib’s doch zu, du hattest es auch schon in der Hand!“

„Und wenn schon.“

Jetzt wendet er sich mir doch zu und grinst mich wieder an.

„Oh ich sehe schon, es nagt immer noch an dir. Dann spucks schon aus Phili-Schatz. Was willst du wissen?“

Ich sitze mit verschränkten Armen im Drehstuhl und schwinge langsam von rechts nach links.

Ich hasse ihn dafür, dass er so mit mir spielt.

Theatralisch reißt er die Arme hoch und seufzt laut auf.

„Herrje Phil! Jetzt mach doch kein Drama draus. Er heißt Leon, erstes Semester, Fachbereich Malerei. Laut Ostner quasi das neue Wunderkind. Darum darf er auch seine Arbeiten bei der Ausstellung zu Semesterbeginn zeigen.“

„Woher zum Teufel weißt du sowas alles?“

Mark zuckt mit den Schultern. „Kenne die richtigen Leute.“

„Jetzt sag bloß nicht, du warst schon wieder mit Adrian im Bett?“

Mark reißt die Augenbrauen hoch. „Wo denkst du hin? Wir waren nur einen Kaffee trinken.“

„Ja ist klar.“

„Adrian findet ihn jedenfalls auch ganz schnuckelig.“ Mark lacht dreckig, was mich irgendwie schon wieder wütend macht.

Er scheint zu merken, dass es in mir brodelt, denn er schluckt das Lachen jetzt runter und fährt sich durch die kurzen blonden Haare.

„Na wie auch immer. Wenn du die kleine Schwester kennenlernen willst, hast du bei der Ausstellung die beste Gelegenheit. Also mach mal hinne und such endlich die Bilder aus.“

Erstes Semester und schon bei der Ausstellung dabei. Dann muss Ostner wirklich viel von ihm halten.

Ich bin gespannt auf seine Arbeiten, fast noch mehr als auf Leon persönlich.

Mal wieder viel zu spät, haste ich mit Mark im Schlepptau zur Galerie. Die gerahmten Fotografien in zwei großen Kisten, kommen wir abgehetzt an und rennen natürlich direkt Prof. Ostner in die Arme, der, wie so oft, den Aufbau der Ausstellung beobachtet.

„Herr Köhnen. Wie immer auf den letzten Drücker.“

„Ja … ähm … tschuldigung.“

Peinlich berührt drücken Mark und ich uns am Professor vorbei. Als ich um die Ecke gucke, stolpere ich fast über meine eigenen Füße und Mark rennt wiederum fast in mich rein.

Ich bin gefesselt von den Porträts, die, im Gegensatz zu meinen Arbeiten, schon hängen. Das Gesicht erkenne ich sofort wieder. Allerdings haben die Bilder etwas Verwirrendes an sich. Irgendwas stimmt nicht, aber ich kann nicht ausmachen, was? Fasziniert stelle ich meine Kiste ab und streife durch die Malereien und Zeichnungen, die an den verwinkelten Wänden der Galerie hängen.

„Phil, ich will ja nicht drängen, aber …“

Mark schleicht hinter mir her. Ihn scheinen die Bilder wohl nicht so zu beeindrucken wie mich.

Ich bleibe vor einer großen Leinwand stehen, die ein zersplittertes Spiegelbild zeigen. Man erkennt deutlich mehr als eine Persönlichkeit in den Spiegelsplittern.

„Ist er schizophren oder was?“, murmel ich mehr vor mich hin, als dass ich es laut ausspreche, aber offensichtlich war es laut genug.

„Nein, er hatte einen Zwillingsbruder.“

Ich fahre herum und sehe in Adrians überlegen grinsendes Gesicht. Adrian ist studentische Hilfskraft im Fachbereich Malerei und steckt seine Nase meiner Meinung nach zu gern und zu oft in die Angelegenheiten anderer Leute, was ihm durch seinen Job an der Hochschule auch nur zu leicht gelingt.

„Und woher weißt du das?“

Adrian hat die Arme vor der Brust verschränkt. Ich möchte ihm sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht wischen. Warum machen mich heute eigentlich alle so latent aggressiv?

Er lässt sich Zeit mit der Antwort. In dem Punkt hat er wohl etwas mit Mark gemein. Beide stehen darauf mich zappeln zu lassen und genießen es, etwas zu wissen, was ich nicht weiß.

Aber schließlich zuckt er mit den Schultern und rückt wie nebenbei eines der Bilder etwas gerade. „Ich hab gehört, wie er mit Ostner drüber gesprochen hat.“

„Moment, du hast gesagt er „hatte“ einen Zwillingsbruder?!“

„Ja, sein Bruder ist vor wenigen Monaten gestorben.“

„Ach scheiße.“

Ich wende mich erneut der Leinwand zu. In manchen Splittern erkenne ich Leon. In anderen definitiv eine andere Person und in wieder anderen Splittern scheinen beide Gesichter zu verschmelzen.

„Was ist damit?“

Verwirrt fahre ich wieder herum und folge Adrians Nicken. Er deutet auf meine beiden Kisten.

Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was er von mir will.

„Ach so, da rüber. Selbe Ecke wie immer.“

Adrian und Mark werfen sich Blicke zu, die mir etwas zu vertraut erscheinen. Vielleicht bin ich ja auch derjenige, der eifersüchtig ist? Adrian schnappt sich meine abgestellte Kiste und treibt Mark, der immer noch die zweite Kiste trägt, vor sich her in meine Ecke. Nachdenklich trotte ich den beiden hinterher.

„So spät wie du wieder dran bist, helfe ich euch besser, sonst kriegt der Ostner wieder nen Anfall.“

Zu dritt hängen wir die gerahmten Fotografien an die dafür vorgesehenen Wände. Ab und zu ändere ich die Reihenfolge der Bilder, aber alles in allem bin ich zufrieden und zu dritt geht die Arbeit tatsächlich recht schnell.

„Jetzt auf nen Tee im Lindemanns?“ Mark guckt erst mich dann Adrian fragend an.

„Von mir aus“, nickt Adrian. Beide schauen mich an. Eigentlich würde ich lieber nach Hause und mich an den PC setzen, die Bilder von heute Mittag endlich auf den Rechner ziehen und bearbeiten, aber ein bisschen habe ich das Gefühl den Beiden etwas schuldig zu sein, weil sie mir geholfen haben. Also willige ich ebenfalls ein und wir trotten gemeinsam zum Lindemanns, einem kleinen, gemütlichen Cafe in der Nähe der Kunsthochschule.

Es sieht draußen schon richtig herbstlich aus, so dass ein warmer, duftender Karamelltee genau passend erscheint. Ich sinke in die dicken Sofakissen und umklammere mit beiden Händen die Teetasse, um mich selbst daran zu hindern, die Kamera aus meiner Tasche zu holen.

Adrian und Mark übernehmen die Unterhaltung und tauschen sich lauthals lästernd über Dozenten und Mitstudenten aus, während ich meinen eigenen Gedanken nachhänge und gedanklich schon die Fotos bearbeite.

„Doch … Phil ist dieser Leon auch schon aufgefallen.“, höre ich Mark giggeln und als ich aufsehe, entgeht mir nicht, wie er Adrian feixend in die Seite boxt.

„Ist ja auch ganz hübsch anzusehen.“ Adrian fixiert mich über seine Teetasse hinweg und erneut steigen äußerst gehässige Gedanken in meinem Kopf auf, die mit dem Erstickungstod meines Gegenübers enden.

„Also ich kann echt nicht nachvollziehen, was ihr an dem Kerl findet.“ Mark streckt seine langen Beine unter dem Tisch aus. „Er ist nicht hässlich, aber halt so … na ja, Durchschnittsgesicht irgendwie.“

„Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen.“ Wieder habe ich das Gefühl, Adrian will mich damit provozieren. Seine dunkelbraunen Augen sind nach wie vor auf mich gerichtet. Ich fühle mich beobachtet.

„Wieso seid ihr euch eigentlich so sicher, dass er schwul ist? Hat er das dem Ostner auch direkt auf die Nase gebunden oder was?“

„Nö.“ Adrian rührt bedächtig in seinem Earl Grey.

„Ich tippe trotzdem auf schwul“, ist Marks Urteil.

„Ich wette er ist schwul, aber noch ungeoutet.“ Adrian grinst mich an. „Was sagst du?“

„Ey, ich kenne ihn doch noch gar nicht? Warum sollte ich über seine sexuelle Orientierung Wetten abschließen?“, entfährt es mir.

„Man sollte meinen, so wie du ihn heute Mittag gestalked hast, würde dich seine sexuelle Orientierung sehr wohl interessieren.“

Ich verdrehe genervt die Augen. „Ich hab ihn nicht gestalked.“

Wieder kichern beide wie pubertäre Schulmädchen und ich ärgere mich maßlos darüber, dass Mark sowas vor Adrian behauptet. Mittlerweile hab ich echt keine Lust mehr, mir den Tag von den beiden Lästertanten noch mehr verderben zu lassen. Ich kämpfe mich aus den riesigen Sofakissen, angel unter dem Tisch nach meiner Tasche und zahle lieber vorne an der Kasse, als dass ich noch eine Minute länger bei den Beiden auf die Rechnung warten muss.

„Hab noch zu tun“, ist meine kurze Verabschiedung.

Ich fahre mit der Straßenbahn die drei Haltestellen bis zu meiner WG. Auch jetzt umklammere ich die Träger meiner Schultertasche, um nicht nach der Kamera zu greifen. Ich will mich bis Zuhause gedulden.

Wie zu erwarten ist Lilith, eine meiner Mitbewohnerinnen, auch Zuhause. Sie hat ein Handtuch wie einen Turban um ihre nassen Haare gewickelt und tigert mit der Zahnbürste im Mund und einem Textbuch in der Hand durch unsere Wohnküche.

Als ich meine Jacke achtlos und meine Tasche etwas vorsichtiger auf einem der Küchenstühle ablege, zieht sie mit einem Ploppgeräusch die Zahnbürste aus dem Mund und unterbricht ihre Wanderung kurz für eine Begrüßung.

„Hey, Schnucki. Wie war dein Tag?“

„Geht so. Deiner?“

„Ganz gut, wir haben schon ein neues Stück.“ Dank des Textbuches in ihrer Hand, habe ich mir das schon fast gedacht.

„Willst du nen Tee?“, fragt sie und legt das Textbuch auf dem wackeligen Küchentisch ab. Die Zahnbürste schiebt sie sich einfach wieder in den Mund, um die Hände frei zu haben.

„Nee danke. War grad noch mit Mark und Adrian im Lindemanns.“

„Ach so“, nuschelt sie mit Zahnbürste im Mund und setzt trotzdem Wasser auf.

„Und was war jetzt mit deinem Tag, dass er nur das Prädikat „geht so“ verdient? Hast du an die Ausstellung gedacht?“

Wieso haben das eigentlich alle Leute im Kopf, nur ich nicht?

„Äh ja, so halb. Aber Mark und Adrian haben mir geholfen die Bilder aufzuhängen. Hab auch ein schönes Foto von dir dabei.“

„Macbeth?“ Lilith strahlt übers ganze Gesicht. Ich nicke.

Der Wasserkocher pfeift und sie wendet sich wieder ihrem Tee zu.

„Ich bin morgen auf jeden Fall da und schau mir die Ausstellung an“, verspricht sie.

„Prima. Ich schmeiß mich jetzt mal vor den Rechner.“

„Schon wieder neue Arbeit mitgebracht?“

„Jup.“

Lilith mag ich wirklich. Sie ist eine angenehme Mitbewohnerin und gute Freundin. Freundlich und immer ein offenes Ohr, aber nicht aufdringlich oder zu neugierig. Wir haben uns im zweiten Semester kennengelernt, als ich anfing wegen Mark ständig im Fachbereich Darstellende Kunst abzuhängen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und als Lilith erzählte, dass sie aus dem Studentenwohnheim raus will und eine WG gründen möchte, war ich sofort Feuer und Flamme. Seitdem wohnen wir zusammen. Für das dritte WG-Zimmer hatten wir einige Castings veranstaltet bis wir einen würdigen Mitbewohner in Karsten fanden. Karsten ist der einzige von uns, der nicht an der Kunst- sondern an der Sporthochschule studiert. Er kann reichlich wenig mit Kunst jeglicher Fachrichtung anfangen, dient mir aber auch oft genug als williges Fotomotiv und ich war mir nach einem halben Jahr ziemlich sicher, dass er in Lilith verschossen ist.

In meinem Zimmer kann ich kaum schnell genug die Kamera aus meiner Tasche pfriemeln. Dass der Rechner so lange braucht um hochzufahren, macht mich wahnsinnig. Ich werde wohl bald mal einen Neuen brauchen.

Schnell habe ich die Fotos von der Karte runtergezogen und beginne damit die knapp 100 Bilder zu sichten. Wie immer sind mindestens 80% für die Tonne. 15% schiebe ich in einen extra Ordner, die werde ich mir später vornehmen. Drei Bilder bleiben fürs Erste übrig. Das erste zeigt Leon im Profil. Sein Blick ist nach unten gerichtet, so dass seine Augen von den langen Wimpern fast vollständig verdeckt werden. Die Haare fallen ihm ins Gesicht. Mark, der Banause, würde sagen, dass man fast gar nichts sieht auf dem Bild, aber das stimmt nicht. Ein ganz leichtes Lächeln umspielt Leons Lippen, gleichzeitig wirkt er ganz zerbrechlich auf dem Bild. Ich muss an die Geschichte seiner gemalten Bilder denken. Er hat seinen Bruder, seinen Zwillingsbruder, erst vor kurzem verloren. Ich versuche in dem Bild etwas zu entdecken, was mir seine Geschichte erzählt. Gleichzeitig wünsche ich mir fast Adrian hätte mir das gar nicht erst erzählt. Würde ich die Fotos von Leon dann mit anderen Augen sehen?

Hey Phil, biste noch sauer? Tut mir leid wegen gestern. Vielleicht haben A. und ich etwas übertrieben. Jetzt schwing mal deinen süßen Hintern aus dem Bett. Ich komm dich abholen. Bis gleich. M.“

Typische Whatsapp von Mark. Aber na ja immerhin entschuldigt er sich und wie gesagt, ich kann ihm eigentlich auch nie lange böse sein.

Leider fühle ich mich kein bisschen ausgeruht nach dieser Nacht. Habe eher das Gefühl kaum geschlafen zu haben, also quäle ich mich ins Bad und sehe dem Grauen im Spiegel entgegen.

Eine kurze Dusche macht mich hoffentlich wieder ansehnlich genug, so dass ich gleich unter Leute gehen kann. Was ich sonst noch dringend brauche ist ein Kaffee.

Als ich aus dem Bad komme höre ich schon Marks aufgedrehte Stimme aus der Wohnküche. Er unterhält mal wieder die ganze WG, aber immerhin hat er mir einen Latte Macchiato mitgebracht und steigt damit in meiner Achtung wieder ein kleines Stückchen.

„Und? Hattet ihr gestern noch Spaß? Adrian und du?“ Ich schlürfe den Latte durch das Loch im Plastikdeckel und verbrenne mir prompt die Zunge. Wie kann der noch so heiß sein?

Mark senkt den Blick, aber er wirkt dabei nicht schuldbewusst, eher wie eine Mutter, die pädagogisch wertvoll auf ein trotziges Kleinkind eingeht.

„Schätzchen, Adrian und ich sind nur Freunde.“

„Aha.“

„Ich dachte wir legen den Streit von gestern ad acta?!“

„Ja schon gut. Und nur zur Info: Es wäre auch kein Problem für mich, wenn da mehr zwischen Adrian und dir liefe.“

Mark grinst mich an, weil er genauso gut weiß wie ich, dass ihn ein Problem meinerseits ohnehin nicht daran hindern würde etwas mit wem auch immer anzufangen. Trotzdem wollte ich das mal loswerden.

„Und waren ein paar brauchbare Fotos dabei?“, wechselt er gekonnt das Thema.

„Ein paar“, gebe ich ausweichend zurück.

„Kommst du nachher zur Ausstellung?“ Jetzt bin ich es, der das Thema wechselt. Ich will jetzt nicht über Leon reden.

„Ja, klar. Hab nur einen Kurs heute Vormittag. Dann komm ich rüber und wir gehen erst mal was essen, ok?“

„Essen muss bis nach der Eröffnung warten. Ostner will pünktlich um 12 Uhr starten.“

„Mh, wenn es sein muss.“

Auf dem Hochschulgelände trennen sich unsere Wege. Während Mark zu seinem Seminar hetzt, habe ich alle Zeit der Welt und nutze diese für ein paar Fotos, bis mich meine Füße wie von selbst zur Galerie tragen. Noch ist es leer hier. In anderthalb Stunden wird es voll sein.

Ich wandere durch die Gänge und schaue mir auch die Arbeiten der anderen Studenten an.

Als ich um die Ecke biege, um in meinem Bereich noch einmal nach dem Rechten zu sehen, stutze ich. Ein hellbrauner wirrer Haarschopf steht vor meinen Fotos. Er betrachtet eingehend die Fotografie von Lilith. Ich überlege, ob ich mich einfach für die restliche Zeit in die Cafeteria setzen soll, aber irgendwas lässt mich weitergehen. Gleich muss er mich bemerken.

Er zuckt erschrocken zusammen, als er mich in seinem Rücken wahrnimmt.

„Sorry“, murmel ich und eine sanfte Röte steigt in seinen Wangen auf, begleitet von einem verlegenen Lächeln.

Obwohl ich weiß, welches Bild er sich ansieht, frage ich: „Was schaust du dir an?“

Leon wendet sich Liliths Foto zu. „Dieses hier.“

„Gefällt es dir?“, frage ich mit ehrlicher Neugier. Seine Meinung interessiert mich.

„Ja, es ist so … klar. Der Bildausschnitt und die Perspektive sind sehr gut gewählt. Die Intensität, wie sehr sie in der Rolle aufgeht, ist perfekt eingefangen.“ Sein Blick ist dabei starr auf das Foto gerichtet und ich hänge stattdessen wie ein sabbernder Idiot an seinen Lippen.

Er analysiert noch ein paar weitere Punkte der Fotografie, ohne aber dabei das Werk, mein Werk, zu zerreden. Ich fürchte, ich liebe ihn.

Er seufzt. „Sie sind alle wundervoll. Das hier gefällt mir besonders.“ Er deutet auf das Bild von Mark. Ich habe langsam das Gefühl mein Herz rast und ich werde gleich einen Herzinfarkt erleiden. Kann mich bitte jemand hier rausholen.

„Ja das kann ich gut verstehen.“ Oh bitte nicht dieser Jemand.

Mark springt aufgedreht wie eh und je zwischen Leon und mich und Leon fällt sofort auf, dass Mark die Person auf dem Foto ist.

„Du bist das.“

„Das bin ich.“

„Wirklich ein tolles Bild. Quasi eine perfekte Partnerarbeit zwischen Fotograf und Motiv.“

„Also zwischen Phil und mir.“ Mark grinst über das ganze Gesicht, während er mich in die Seite knufft. Dafür fällt Leon alles aus dem Gesicht.

„Die, die Bilder sind von dir?“

Ich nicke nur zögerlich.

Er sieht mich plötzlich so anders an. Fast ehrfürchtig, dabei ist er doch Ostners neues Wunderkind.

„Alles was ich gesagt hab, war ernst gemeint. Die Bilder sind wirklich … wow.“ Sein Blick wandert zwischen den Bildern und mir hin und her. Jetzt ist es an mir rot zu werden. „Danke.“

Mark ist wie immer viel praktischer veranlagt.

„Ich bin Mark.“ „Leon.“ Beide sehen mich erwartungsvoll an und ich habe Angst keinen Ton rauszubekommen. „Phil … Philipp.“ Ich stolpere über meinen eigenen Namen. Davon abgesehen, dass ich mich noch nie jemandem mit „Philipp“ vorgestellt habe. Nur meine Eltern nennen mich so. Für alle anderen bin ich Phil. Mark sieht mich komisch an, ihm muss das aufgefallen sein.

Langsam wird es voller in der Galerie.

Ich wäre lieber noch länger mit Leon alleine. Ich möchte ihm sagen, dass ich seine Bilder auch schon gesehen habe und sehr eindrucksvoll finde, aber schon taucht Adrian auf und kurze Zeit später auch Lilith.

„Und gibt es wenigstens Sekt zum Anstoßen?“, fragt Lilith und begrüßt mich mit einem Kuss auf die Wange, bevor sie sich bei mir unterhakt. Adrian hat unterdessen scheinbar Leon in Beschlag genommen, was mich jetzt definitiv eifersüchtig macht, wie ich grummelnd feststellen muss.

Bevor ich etwas dagegen unternehmen kann, schreitet aber Professor Ostner samt einigen weiteren Dozenten im Schlepptau zum Rednerpult und es beginnt die übliche, eher langweilige Litanei zum Semesterbeginn. Er bedankt sich bei allen Anwesenden und natürlich bei den Studierenden, die ihre Arbeiten dieses Semester in der Galerie ausstellen blablablupp. Ich höre kaum zu, während ich so heimlich wie möglich versuche, zu Leon rüber zu schielen. Der scheint jedoch von Adrian total abgelenkt zu sein. Adrian scherzt mit ihm und stellt ihm, nach Ostners Rede, einige andere Studenten und Dozenten vor. Sie entfernen sich dadurch langsam immer weiter von Mark, Lilith und mir.

„Herzergreifend wie immer“, kichert Lilith und ich brauche einen kurzen Moment, bis mir klar wird, dass sie Ostners Ansprache meint.

Schwungvoll dreht sie sich um und reißt mich mit, da sie immer noch an meinem Arm hängt.

„Dann zeig mal deine Bilder.“

„Kennste doch schon.“

„Egal, ich bin doch nur wegen dir hier.“

Sie wandert die Fotografien bedächtig ab. Vor ihrem Bild bleibt sie ein bisschen länger stehen. Ich fürchte Künstler jeglicher Fachrichtung sind alle ein bisschen selbstverliebt.

Mein Blick sucht derweil immer wieder die Galerie nach Leon ab. Aber wie zu erwarten ist der mit Händeschütteln beschäftigt und wird gerade herumgereicht wie ein Wanderpokal.

„Wer ist denn das?“, reißt mich Liliths Frage aus meinen Gedanken. Sie ist meinem Blick gefolgt und nickt in Leons Richtung.

„Das ist Ostners neues Wunderkind, „die kleine Schwester von Scheiße“, und Phils Objekt der Begierde.“ Mark, natürlich.

Lilith reckt den Hals, um besser sehen zu können. Ich möchte Mark eine reinhauen.

„Leon … heißt er“, schiebe ich leise nach.

„Ist doch süß“, kommt schließlich Liliths Urteil. Als würden wir über ein Haustier reden.

„Können wir gehen?“, frage ich gequält. Normalerweise genieße ich die Ausstellungen zu Semesterbeginn, aber heute ist mir irgendwie alles zu viel.

Entsprechend überrascht gucken mich meine beiden Freunde auch an.

„Mh, ok … wohin?“, fragt Lilith mit vorgeschobener Unterlippe.

„Tee?“, kommt von Mark.

Mir ist alles egal, nur weg von hier. Also trotten wir wieder mal zum Lindemanns.

Die frische Luft draußen tut schon mal gut, wir schieben unsere Füße durch das Herbstlaub.

„Man könnte fast meinen, du wärst eifersüchtig?“, kichert Mark und ich habe das Gefühl schlagartig blass zu werden.

„Hast du ein Problem damit, dass du beim Ostner nicht mehr auf Platz 1 stehst? Nicht, dass du demnächst mal pünktlich kommen musst.“ Aus dem Kichern ist ein ausgewachsenes Lachen geworden und ich kriege langsam wieder Farbe.

Ich hatte befürchtet, Mark hätte auf Adrian angespielt.

„Ach was.“

„Ist dieser Leon echt so gut?“, will Lilith wissen.

„Seine Arbeiten sind wirklich eindrucksvoll…“ Es sprudelt nur so aus mir raus. Ich lasse mich offensichtlich viel zu lang über die Wahl der Farben, die Pinselführung, die Bildkomposition und was weiß ich noch alles aus. Mark und Lilith werfen sich undefinierbare Blicke zu.

„Okaaaaay …“ Lilith zieht das Wort unnatürlich in die Länge und grinst in sich hinein.

Ich schweige peinlich berührt. Tatsächlich habe ich mich bisher nur sehr selten so ausführlich über die Arbeiten meiner Kommilitonen ausgelassen und wenn dann, sicher auch mit weitaus weniger Enthusiasmus.

Bis zum Cafe wechseln wir nur noch wenige Worte und als wir uns drinnen aus unseren Jacken und Mänteln geschält haben, und in die gemütlichen Sofakissen fallen, beugt Mark sich schließlich mit ernstem Gesicht auf dem Tisch nach vorn. Die Hände gefaltet und mit nahezu stechendem Blick sieht er mich an.

„Ok Phil, seh ich das richtig, du hast also wirklich einen Narren an der kleinen Schwester gefressen?“

Lilith muss sich die Hand vor den Mund pressen, um nicht laut loszulachen.

„Nenn ihn nicht immer so!“, grummel ich.

„Danke, das war nahezu eindeutig.“

Ich strafe Mark mit einem bösen Blick, der ihn leider nur wenig bis gar nicht beeindruckt.

„Was gedenkst du, in dieser Sache zu unternehmen?“

„Wie unternehmen? Was willst du von mir?“

„Dass du mal endlich aus dem Quark kommst.“

Ich werfe Lilith hilfesuchende Blicke zu, aber sie zuckt nur grinsend mit den Schultern und nimmt ihren dampfenden Tee von der Bedienung entgegen. Eine tolle Hilfe ist das.

Mark hatte damals, nach unserer Trennung, immer mal wieder versucht, mich anderweitig zu verkuppeln, da ich dies jedoch vehement ablehnte, gab er schließlich auf. Er selbst ist ja bekanntermaßen kein Kind von Traurigkeit und hat dementsprechend auch keine Probleme damit sich bei Bedarf, wenn ich das mal so nennen darf, jemanden zu suchen.

Vielleicht bin ich grundsätzlich wählerischer bei der Partnerwahl als Mark, aber sicherlich ist vor allem ausschlaggebend, dass ich, wenn, dann eher an etwas Längerfristigem interessiert bin.

„Ich weiß nicht, wo dein Problem liegt? Er gefällt dir, dann sprich ihn doch einfach an.“

„Das hab ich, bevor du eben dazwischen geplatzt bist“, fauche ich ihn an und bereue es sofort. Um nicht noch mehr blödes Zeug zu verzapfen, nippe ich schnell an meinem Tee und verbrenne mir prompt die Zunge. Zum zweiten Mal heute.

„Steht er denn auf Jungs?“, mischt sich nun Lilith ein.

„Adrian und ich wetten drauf“, grinst Mark.

„Aber sicher ist das nicht“, gebe ich zurück. Meine Zunge tut weh und ich habe das Gefühl, wieder in derselben nervigen Situation festzuhängen wie gestern.

„Na dann lern ihn erst mal kennen!“ Ist das Liliths Ernst? Was für ein wahnsinnig hilfreicher Tipp.

„Ich halt mich auch zurück, versprochen!“ Mark legt sich theatralisch die rechte Hand auf die Brust.

Ich funkel ihn mürrisch an, was ihm ein erneutes Grinsen entlockt.

„Es sei denn, ich habe das Gefühl du brauchst Nachhilfe!“

„Untersteh dich!“

„Na dann leg dich mal ins Zeug!“

Sein Blick und seine Stimmlage haben sich gefährlich geändert und ich kann es schon fast aus seinem Gesicht ablesen. Innerlich sacke ich zusammen, als ich die Türglocke höre.

„Hey!“

Ich traue mich kaum aufzublicken. Adrian … mit Leon.

„Hier habt ihr euch versteckt!“

Ich gönne mir erstmals einen etwas längeren Blick auf Leon. Die hellbraunen Haare stehen dank des Herbstwindes noch ein bisschen wilder durcheinander als sonst. Einige wenige Sommersprossen verteilen sich über eine gerade Nase und die leicht geröteten Wangen. Seine aufgeweckten, großen, blauen Augen schlägt er nieder, als er meinen Blick bemerkt. Ich starre sofort wieder in meine Teetasse.

„Wollt ihr euch zu uns setzen?“, fragt Mark und ich weiß nicht, ob ich ihm dafür dankbar sein soll oder nicht.

„Klar, gerne!“

Wir rutschen etwas zusammen und mir wird heiß, als ich mich zwischen Lilith und Leon wiederfinde. Die rechte Seite, auf der Leon sitzt fühlt sich heißer an, als die linke.

„Und wie war es noch?“

Mark und Adrian unterhalten mal wieder lauthals das ganze Café, gespickt mit Einwürfen meiner Mitbewohnerin. Leon und ich schweigen beide. Verstohlen betrachte ich seine Hände, die seine Teetasse umklammern. Lange, schlanke Finger … voller Farbflecken. Ich muss schmunzeln.

„So Jungs, ich muss zum nächsten Kurs. Wir sehen uns.“ Lilith steht auf, greift nach Mantel und Tasche. Sie beugt sich kurz zu mir runter und drückt mir, wie so oft, einen Kuss auf die Wange. „Bis heut Abend spätestens.“

Damit rauscht sie nach vorn zur Kasse und danach winkend aus dem Café.

Weil ich keine Ausrede mehr habe, an Leon zu kleben, jetzt wo Liliths Platz auf dem Sofa frei geworden ist, rutsche ich ein kleines bisschen von ihm weg. Unsere Blicke treffen sich kurz.

Langsam habe ich Angst, dass Mark seine Drohung von vorhin wahr macht und irgendwas Peinliches sagen könnte, so wie Leon und ich uns anschweigen.

Marks Blick bohrt sich von Zeit zu Zeit in meinen. Aber statt irgendetwas Peinliches über mich oder zu mir zu sagen, wirft er nur einen demonstrativen Blick auf die Uhr und schubst Adrian neben sich an. „Sag mal, wird es nicht langsam Zeit für dein Seminar?“

„Ach Mist, ich sollte ja noch die Handouts für Schmittie kopieren.“

Ich kann nicht sagen, ob das ganze hier eine inszenierte Aufführung ist oder echt. Aber tatsächlich springen jetzt auch Adrian und Mark auf, verabschieden sich hastig und düsen zurück Richtung Hochschule.

Mir wird abwechselnd heiß und kalt und ich überlege fieberhaft, was ich sagen soll, damit die peinliche Stille zwischen uns bald endet.

„Tja … weg sind sie.“ Sehr geistreich Herr Köhnen. Ich möchte mit dem Kopf gegen die Wand rennen.

„Ja.“

„Deine … Freundin …“ Leon räuspert sich.

„Lilith.“

„Studiert Schauspiel?“

Ich nicke.

„Sie war das auf dem Foto, nicht wahr?“

„Ja.“ Mir kommt der Gedanke, dass er mit „Freundin“ womöglich feste Freundin meint und Liliths Küsschen und ihre Verabschiedung gänzlich falsch verstanden haben könnte.

Und vielleicht hat er mehr Interesse an ihr als an mir. ‚Komm aus dem Quark!‘, hallen mir Marks Worte im Kopf und ich nehme all meinen Mut zusammen.

„Wir wohnen zusammen.“ Äh nein, falscher Ansatz.

„Also ich meine, sie ist meine Mitbewohnerin und na ja, auch meine Freundin, aber ich … äh, ich meine, meine beste Freundin, nicht meine feste Freundin.“ Sehr eloquent. Ich möchte nochmal mit dem Kopf gegen die Wand rennen.

Leons Mundwinkel zucken nach oben.

„Ok.“

Ich möchte nicht über Lilith reden. Lieber würde ich über seine Arbeiten reden.

„Deine Bilder sind wirklich toll. Voll verdient, dass du bei der Ausstellung dabei bist. Kannst du dir echt was drauf einbilden.“

Leon wird rot. „Danke“, murmelt er leise.

„Kommt selten vor, dass der Ostner einen Erstsemester ausstellen lässt.“

Leon sieht mich einen Moment nachdenklich an.

„Ich hab gehört vor 4 Semestern das letzte Mal.“

Adrian die alte Petze. Ich will nicht wissen, was er Leon noch erzählt hat.

Ich räuspere mich, ehrlich verlegen. „Ähm ja, kann sein.“

Er holt tief Luft. „Hör zu, ich … ich will dir nichts streitig machen oder so. Ich bewundere deine Arbeiten, wirklich … wenn ihr eben gegangen seid, weil …“

„Moment!“, ich unterbreche ihn verwirrt. „Streitig machen? Wovon redest du?“

Er kaut unsicher auf seiner Unterlippe und klammert sich an die fast leer Teetasse, während mir schwant, was er meinen könnte.

„Na ja, Adrian meinte …“ Innerlich raste ich ein bisschen aus. „… du warst bisher Professor Ostners Liebling und dass du vielleicht sauer wärst, weil er … weil er …“ Er kommt ins Stocken.

„Schwachsinn!“, entfährt es mir und Leon zuckt richtig zusammen, was mir sofort leid tut.

„Adrian erzählt bullshit! Ich bin nicht sauer, höchstens auf ihn, weil er so einen Müll verzapft. Ich hoffe er hat dir nicht noch mehr Quatsch erzählt?!“ Das hoffe ich wirklich.

Wieder ein nachdenklicher Blick aus den blauen Augen, aber er sagt nichts mehr.

Irgendwie ist die Stimmung im Eimer. Ich hab keine Ahnung, wie ich das wieder retten soll. Wir zahlen unseren Tee und machen uns auch auf den Weg zur Hochschule.

Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her.

„Wie ist denn das?“, fragt Leon plötzlich. „Besucht man nur Veranstaltungen im gewählten Fachbereich?“

„Nicht zwingend. Du kannst natürlich auch mal ein Seminar in Fotografie besuchen oder in plastischem Gestalten. Den Aktzeichenkurs zum Beispiel belegen immer auffällig viele Studenten verschiedenster Fachrichtungen.“ Wir müssen beide grinsen. Es fühlt sich wieder etwas entspannter neben Leon an.

„Machst du noch was anderes?“, fragt er mich.

„Außer Fotografie meinst du? Graphik meist.“

„Also der Aktzeichenkurs.“

„Zum Beispiel.“

Wir lachen.

„Zeig mal deinen Stundenplan.“ Mark wäre stolz auf meine Offensive, glaube ich.

Er bleibt stehen und kramt in seiner Tasche.

Ich studiere seinen handgeschriebenen Stundenplan und bewundere im Stillen seine geschwungene Handschrift.

„Irgendwas, was du besonders empfehlen kannst? Oder wovon du mir abraten würdest?“

Ich fühle mich ein bisschen geschmeichelt, dass er mich um Rat fragt, statt Adrian, den Idioten.

„Ostner kann manchmal ein bisschen trocken sein. Aber man sollte sich schon mal in seiner Vorlesung blicken lassen. Da machste nix falsch. Mh … Rickmann ist super. Viel bei ihr gelernt.“

Ich versuche seinen Stundenplan in meinem Kopf abzuspeichern, um meinen eigenen vielleicht noch ein bisschen anzupassen.

Als ich ihm den Collegeblock zurückgebe, berühren sich kurz unsere Hände. Er lässt sich nichts anmerken, ich mir auch nicht.

„Nee sieht alles ganz gut aus. Die Freistunden kannste prima für eigenes Arbeiten im Atelier nutzen. Oder für nen Tee im Lindemanns.“

Er lächelt mich an und mir wird schon wieder ganz warm.

„Ich bin da öfter.“ Keine Ahnung, warum ich das sage.

„Ok, gut zu wissen.“ Mein Herz rast. „Falls ich nochmal ein paar Tipps brauche.“

Wir stehen kurz etwas unschlüssig voreinander. Er ist nur wenig kleiner als ich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Schließlich atmet er tief durch, es klingt fast wie ein Seufzer, und macht Anstalten zu gehen. „Also danke nochmal. Bis später … oder so.“

Ich bringe nur ein Nicken zustande und er dreht sich tatsächlich um und geht in Richtung Atelier davon.

Ich muss nochmal meinen ganzen Mut zusammennehmen und berufe mich halbherzig auf seine Vorlage von gerade, um ihm die paar Schritte nach zu sprinten.

„Ich, ich kann dir meine Nummer geben, falls es mal dringend ist. Also mit den Tipps.“

Wieder zucken seine hübschen Mundwinkel nach oben. Hastig kritzel ich mit einer nicht mal halb so schönen Handschrift wie er sie hat, meine Handynummer auf einen abgerissenen Zettel und überreiche sie feierlich.

„Danke.“

„Ja, also … wenn was ist, melde dich.“

„Ok, mach ich.“

„Gut.“

„Dann äh … bis später?!“

„Ja, bis dann …“

Er steckt seine Hand mit dem Zettel in seine Jackentasche. Hoffentlich verliert er sie nicht.

Während er sich umdreht und geht, mache ich nur ein paar Schritte rückwärts und mich total zum Affen, als ich so (wie sollte es anders sein) in Mark rein renne.

„Na Schätzchen? Wie weit bist du?“

„Oh Mann, erschreck mich doch nicht so.“

„War doch ein feiner Schachzug von mir, euch Adrian vom Hals zu halten oder? Jetzt brauche ich aber dringend mein versprochenes Essen, komm schon. Kannst mir in der Mensa alles erzählen.“

„Na ja, für deine Verhältnisse gar nicht mal so übel.“ Mark seziert die ohnehin schon zerkochten Fischstäbchen auf seinem Teller.

Ich bedenke ihn mit einem genervten Blick. „Aber ich bin echt sauer, dass Adrian ihm so einen Mist einredet.“

Mark grinst verschmitzt und deutet mit einer Gabel voll matschigem Kartoffelpüree in meine Richtung. „Na ja, du musst zugeben, dass solche Gedankengänge nicht ganz von der Hand zu weisen sind.“

„Was?“

„Na die letzten vier Semester, hast du dich schon ganz schön darauf ausgeruht, dass der Ostner dich gut leiden kann. Da kööööönnte man schon den Gedanken hegen, dass du Leon als Konkurrenz ansiehst.“

„So ein Quatsch!“

„Und wenn du ihn nicht als Konkurrenz ansiehst, zeugt das höchstens von deinem überragenden Größenwahn und deiner Arroganz.“

Ich verziehe derart das Gesicht, dass Mark fast vor Lachen in seinen ekligen Fischstäbchen landet.

„Ihr spinnt wohl beide! Ist ja nun nicht so, dass wir uns auf denselben Job bewerben oder so. Also warum sollte ich ihn als Konkurrenz ansehen?“

„Ich will dich doch nur aufziehen!“, lacht er.

„Und ihr konntet das „Missverständnis“ ja aus der Welt räumen. Also wie geht es weiter?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

„Hast du seine Nummer?“

„Nee.“

Mark schüttelt den Kopf und rauft sich die Haare. Ich bin wohl ein hoffnungsloser Fall.

„Aber er hat meine.“

„Na immerhin.“ Hopfen und Malz noch nicht ganz verloren.

„Sonst noch Ideen?“

Ich zucke wieder mit den Schultern.

„Ich kenne seinen Stundenplan, grob. Dachte vielleicht such ich mir ein, zwei Kurse davon aus.“

Mark wiegt den Kopf hin und her, als müsse er über die Idee nachdenken.

„Joa, zumindest ein Anfang.“

Also sitze ich zwei Tage später in einem Seminar zum Siebdruckverfahren.

Als Leon in den Werkraum kommt, sitze ich schon, gut sichtbar an der hinteren Wand. Sein Gesicht hellt sich auf, als er mich erkennt und er kommt direkt auf mich zu.

„Hallo Philipp!“ Jetzt holt mich mein Fauxpas von letztens wieder ein. Philipp klingt seltsam in meinen Ohren. Ich trau mich aber nicht, ihn zu berichtigen.

„Hi! Du auch hier?“ Als hätte ich das nicht gewusst.

„Ja, ich hab das noch nie gemacht. Klingt interessant.“

Wie selbstverständlich legt er seine Sachen auf dem Stuhl neben mir ab.

„Hast du denn schon mal Siebdruck gemacht?“, fragt er und streicht sich dabei eine Strähne aus der Stirn.

„Nee, bisher nur Linoldruck.“

Viel Zeit zum Reden bleibt uns erst mal nicht mehr. Die Dozentin Frau Dr. Schmidt, von uns liebevoll Schmittie genannt, rauscht in den Raum und startet direkt durch.

Leon hängt an ihren Lippen, ich dafür an seinen, zumindest gedanklich. So kriege ich gerade noch mit, dass Schmittie soeben erklärt hat, wie wir die Holzrahmen bespannen müssen und dass wir dies besser in Partnerarbeit erledigen sollen.

Kurze Zeit später hocken wir also beide halb auf dem Tisch. Leon hält den Holzrahmen, während ich versuche das Gewebe unter Spannung daran fest zu tackern. Wir haben ziemlich viel zu lachen und ich bin froh, dass wenigstens Leon zugehört hat, sonst würde das hier sicher im Chaos enden.

Gegen Ende der Veranstaltung haben wir tatsächlich zwei mehr oder minder ansehnliche Rahmen bespannt, die dann ab nächster Woche zum Drucken genutzt werden können.

In meinem Höhenflug lasse ich mich dazu hinreißen, Leon zu fragen, ob wir noch auf einen Tee ins Lindemanns gehen.

Immerhin guckt er mindestens so enttäuscht, wie ich mich fühle, als er antwortet, dass er in 15 Minuten die nächste Veranstaltung hat.

„Ok, verstehe. Das lohnt sich nicht.“

„Nee, sorry.“

Etwas verlegen stehen wir wieder mal voreinander, während die anderen Studenten an uns vorbei drängen.

„Na ja, ich muss jetzt los.“ Es klingt fast entschuldigend.

„Ja, klar! Viel Spaß noch. Wir sehen uns!“

Als ich nach Hause komme, stehen Karsten und Lilith in der Küche. Karsten rührt konzentriert in einem Topf in dem scheinbar Tomatensoße vor sich hinköchelt. Lilith lehnt mit verschränkten Armen am Küchentresen und grinst mich vielsagend an.

„Oh ein kulinarisches Festmahl!“, witzel ich.

Lilith muss sich ein Grinsen verkneifen und Karsten wird ein bisschen rot. Mir dämmert, dass Karsten wohl auch endlich mal über seinen Schatten gesprungen ist und für Lilith kocht.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Jaaaa dann lasst es euch schmecken!“ Und schiebe mich schleunigst raus aus der Küche in mein Zimmer.

Als ich mich von innen gegen die geschlossene Zimmertür lehne, kann ich mich eines gewissen Eifersuchtsgefühls nicht gänzlich erwehren. Dabei bin ich weder auf Karsten, noch auf Lilith eifersüchtig. Ich gönn beiden von Herzen, wenn sie auch endlich zueinanderfinden sollten, leider fühle ich mich dadurch aktuell nur noch einsamer.

Ich werfe meine Tasche aufs Bett und mich auf den Drehstuhl vor den PC, der immer noch nicht schneller hochfährt als letzte Woche.

Lustlos surfe ich ein bisschen durchs Netz, bis mir die Idee kommt Leon bei facebook zu suchen. Wieso bin ich da eigentlich nicht schon eher drauf gekommen?

Tatsächlich ist er mit seinem vollen Namen im Netzwerk zu finden, hat seine Seite aber für nicht-Freunde eingeschränkt. Grundsätzlich richtig so, nur blöd für mich, da ich so, außer seinem Profil- und Titelbild, quasi nichts zu Gesicht bekomme. Der Cursor schwebt über dem Button „sende ihm eine Freundschaftsanfrage“. Ich entscheide, dass da nun wirklich nichts dabei ist und drücke die Maustaste.

Anschließend starre ich ungefähr zwei Minuten lang auf den Bildschirm und schwanke zwischen der Ungeduld, warum meine Freundschaftsanfrage nicht unverzüglich angenommen wird und dem Wissen, dass Leon aktuell ja noch in einer Veranstaltung in der Hochschule sitzt und als vorbildlicher Student natürlich nicht nebenbei bei facebook surft.

Eine kleine rote 1 ploppt bei meiner Weltkugel auf und beweist mir, dass Leon vielleicht doch nicht so ein vorbildlicher Student ist, wie ich dachte.

Mit trockenen Lippen klicke ich sein Profilbild erneut an und bekomme nun mehr Eindrücke auf seiner Pinnwand angezeigt. Ein paar Fotos seiner Arbeiten, Fotos von seiner Abifeier, wobei er darauf wenig glücklich aussieht und wenn ich noch etwas weiter runterscrolle kommen sie. Fotos von ihm und seinem Bruder.

Ich betrachte die Bilder lange. Sie sahen sich wirklich wahnsinnig ähnlich. Trotzdem bilde ich mir ein, auf jedem Bild genau unterscheiden zu können, wer wer ist.

Die Fotos sind vom Frühling dieses Jahres. Je mehr ich mir anschaue und lese, um so mehr fühle ich mich wirklich wie ein Stalker, wie ein Eindringling. Auf manche Fotos hat sein Bruder, Robin, reagiert oder diese sogar kommentiert. Mein Magen wiegt schwer wie Blei.

Ob es Leon genauso geht, wenn er die alten Beiträge liest?

Als mein Handy vibrierend den Eingang einer Whatsapp anzeigt, kriege ich fast einen Herzinfarkt und schließe reflexartig das Browserfenster.

Hey Schatzi! Bock zu tanzen heut abend? M.“

Ich atme halb erleichtert, halb genervt aus. Nur Mark.

„Tanzen? Mit dir? Um Himmels Willen!“, tippe ich zurück.

„Hast du was Besseres vor? Was ja per se schon nicht sein kann …“

„Hi Philipp, Leon hier. Sorry nochmal wegen heute Nachmittag. Ansonsten bin ich für einen Tee immer zu haben.“

Himmel. Da trudelt die nächste Whatsapp ein. Und mir wird gleich wieder heiß und kalt.

Leon hat mir grad geschrieben!“, schreibe ich hastig an Mark.

„Ist das deine Ausrede, warum du nicht tanzen willst?“

„Ich weiß nicht, was ich antworten soll!!!“

Mark schickt ein Emoji, das seine Zunge rausstreckt. Ich schicke ein wütendes zurück.

Dann lasse ich vor Schreck fast das Handy fallen, aber es ist nur Mark der anruft.

„Na gut ich helf dir. Schreib: Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja, nein, vielleicht.“

Ich bin kurz davor mein Handy gegen die Wand zu werfen.

„Willst du mich verarschen?“

„Nur ein bisschen.“ Ich hasse Mark.

„Naaaaa gut, was hat er denn geschrieben?“

Ich stelle um auf Lautsprecher und lese ihm Leons Nachricht vor.

„Süß … was war denn heute Nachmittag? Wofür steht „Tee“?“

„Tee steht für Tee du Idiot!“

„Ihr seid ja langweilig.“ Er lacht dreckig.

„Maaaaaann Mark, jetzt hilf doch mal, statt dich nur über mich lustig zu machen. Er muss ja auch denken, ich bin ein Trottel, wenn ich ne halbe Stunde brauche, um auf seine Nachricht zu antworten.“

„Mein Gott Phil, wie ist damals bloß was aus uns geworden? Ach ja… das hab ich ja in die Hand genommen!“

Mark räuspert sich. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er versucht wieder ernst zu bleiben.

„Mach doch nicht so ein Theater. Er liefert dir doch geradezu eine Vorlage auf dem Silbertablett. Dann frag ihn, wann er mit dir „Tee trinken“ will.“

„Hör auf „Tee trinken“ in Anführungszeichen zu setzen.“

„Tu ich doch gar nicht.“ Er kichert.

„Doch ich hör das. Sonst noch hilfreiche Tipps?“

„Mach dich mal locker, Alter.“

„Na Danke!“

„Gern geschehen! Ich lieb dich auch. Halt mich auf dem Laufenden.“

Ich laufe noch dreimal in meinem Zimmer auf und ab, dann versuche ich mich darauf zu besinnen, dass ich reife 22 Jahre alt bin und erwachsen und überhaupt …

„Super, wann hast du Lust?“

Ich lösche den Text wieder.

„Ok, ich hätte Zeit, wie sieht es bei dir aus?“ Besser, aber ich bin noch nicht ganz zufrieden.

Ich wandere noch zwei Runden im Kreis, und mir wird bewusst, dass er unter Umständen sieht, dass ich eine halbe Ewigkeit schreibe.

„Ich hab noch Himbeer-Vanille- und Sahnekaramell-Tee da.“ Ich schicke die Nachricht ab, bevor ich es mir anders überlegen kann. Die Antwort kommt sofort.

„Klingt gut. Ich hab noch Schoko-Chai im Angebot.“ Ich nicke anerkennend. Guter Geschmack.

„Auch nicht schlecht. Könnten eine Teeprobe veranstalten.“

Er schickt ein lachendes Emoji. „Ok, wann und wo?“

Meine Finger kribbeln. „Wenn du magst, gleich hier?“

„Wo ist denn „hier“?“

Ich schicke ihm meinen Standort.

„Prima, dann setz schon mal Wasser auf. Kann in 15 Minuten da sein, wenn dir das recht ist?!“

„Klar.“

Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen und schnappe nach Luft, als wäre ich gerade einen Halbmarathon gelaufen.

Ich wechsel den Chat und schreibe Mark. „Er kommt!“

„So detailliert wollte ich das gar nicht wissen, als ich gesagt hab, halt mich auf dem Laufenden!“

„Arsch!“

Wieder ein tränenlachendes Emoji.

„Schön, und was macht ihr dann so? „Tee trinken“???“

„Ja, Idiot.“

„Viel Spaß! Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.“

„Gibt es da überhaupt was?“

Sein Emoji streckt die Zunge raus.

Ich schnappe mir meinen Wasserkocher und tiger damit in die Küche.

Karsten und Lilith sitzen noch am Esstisch und unterhalten sich.

Beide sehen auf, als ich zur Spüle schleiche.

„Na, alles klar bei dir?“, fragt Lilith und guckt mich komisch an.

„Mh, krieg gleich Besuch.“

Sie zieht eine Augenbraue hoch und Karsten dreht sich interessiert zu mir um.

Als wäre es so eine Sensation, dass ich Besuch bekomme …

„Wer denn? Das Wunderkind?“

Warum erfinden eigentlich alle komische Spitznamen für ihn?

„Er heißt Leon.“

Karsten grinst breit.

„Wir trinken Tee.“

„Ok, alles klar. Ihr wollt also nicht gestört werden …“

Geräuschvoll atme ich aus und kehre den beiden mit gefülltem Wasserkocher den Rücken, ohne auf die blöden Kommentare einzugehen.

Ich lasse meinen Blick nochmal durch meinen Raum schweifen und versuche ihn mit fremden Augen zu sehen. Aber bevor ich mir groß Gedanken machen kann, klingelt es auch schon.

Als ich auf Socken durch den Flur schlittere und dabei fast die Kommode umrenne, höre ich wieder Gekicher aus der Küche.

Mit rasendem Puls öffne ich die Tür.

Ich klammere mich am Türrahmen fest, um nicht dem ersten Impuls nachzugeben, der mich dazu verleiten will, in seine wuscheligen Haare zu greifen.

„Hi!“

„Hi!“

Ich trete beiseite, um ihm Platz zu machen. Unser Flur ist wirklich verboten eng.

Verlegen bleibt er im Flur stehen und ich muss mich nochmal an ihm vorbei quetschen, nachdem ich die Tür geschlossen habe, um vorzugehen.

„Hast du es gut gefunden?“

„Google Maps sei Dank.“

Ich husche mit ihm möglichst rasch an der Tür zur Wohnküche vorbei und lotse ihn zu meinem Zimmer. Als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich wie sein Blick an den Bildern hängen bleibt, die unseren Flur schmücken.

„Die sind alle von dir oder?“ Ich lehne an meinem Türrahmen und betrachte ihn, wie er meine Fotografien betrachtet.

„Ja.“

Sie zeigen zum Ausgleich überwiegend Lilith und Karsten, manchmal Mark. Wir hielten das für einen fairen Kompromiss, was die Gestaltung der allgemeinen Bereiche unserer WG angeht.

Langsam kommt er mir nach und folgt mir in mein kleines Reich.

Er lässt den Blick schweifen.

Eigentlich ist wirklich nichts Besonderes an meinem Zimmer. Bett, Schreibtisch mit PC, Kleiderschrank, Kommode, Bücherregal und ein kleines 2-Sitzer-Sofa.

In meinem Zimmer hängen, im Gegensatz zum Flur, kaum Bilder, was ihm direkt auffällt.

„Warum hast du hier keine von deinen Bilder aufgehängt?“

„Manchmal brauche ich auch ein bisschen schlichtes weiß.“

Er nickt wissend. Ich schätze ihn auch nicht so ein, dass er seine Wände mit eigenen Werken tapeziert.

„Schön hast du es hier. Gemütlich.“

„Danke, schmeiß deine Sachen einfach irgendwohin. Sorry, ist nicht so riesig mein Zimmer.“

Leon lacht herzhaft.

„Also im Vergleich zu dem Loch, das sich Studentenwohnheim schimpft, ist das hier ein Palast!“

Ich muss mitlachen, da ich mich an mein erstes Semester erinnere. Die Zimmer im Wohnheim sind wirklich ein Witz.

Während ich den Wasserkocher anschmeiße, versuche ich mich in Smalltalk.

„Und wie gefällt es dir bisher an der Hochschule?“

Seine Augen beginnen zu leuchten.

„Sehr gut, also eigentlich war das immer mein Traum, mich den ganzen Tag nur mit Kunst zu beschäftigen.“

„Bei der Zimmergröße im Wohnheim, wirst du dann aber auch oft im Atelier der Hochschule arbeiten müssen, oder?“

Er lacht. „Ja, im Wohnheim kann ich höchstens was ins Skizzenbuch zeichnen.“

„Wo lagerst du denn deine großformatigen Arbeiten?“

„Aktuell sind noch alle in der Galerie in der Hochschule. Mal gucken, wohin damit, nach der Ausstellung. Vielleicht bringe ich sie zu meinen Eltern, die haben ja jetzt viel Platz.“

Ob er nur sich meint oder auch seinen Bruder, der fehlt?

Er nimmt die Teetasse von mir entgegen. Ich muss an die Fotos von seinem Bruder denken und ich befürchte er kann in meinem Gesicht lesen, wie in einem offenen Buch.

Einer seiner Mundwinkel zuckt nach oben.

„Frag, was du fragen willst.“ Er pustet in seinen Tee, dabei fallen ihm die Haare vor die Augen.

Ich zögere. Das Thema kommt mir so privat vor.

Er richtet sich wieder auf und sieht mir sehr direkt in die Augen.

„Ich mein es ernst. Was willst du wissen?“

„Ich äh … also … wie …“

„Wie er gestorben ist? Es war ein Autounfall. Während der Abiparty. Ich weiß auch nicht genau, wie das passieren konnte. Das Auto muss ihn übersehen haben.“

Er starrt in seine Teetasse. Ich weiß nicht was ich sagen soll.

„Tut mir leid, ich … ich wollte nicht …“

Als er wieder aufsieht, lächelt er mich an. Er sieht aber ein bisschen müde aus.

„Ich habe die Bilder ausgestellt, dann muss ich auch darüber sprechen.“

Ich nicke und fühle mich trotzdem schlecht.

„Ist vielleicht auch meine Art einer Therapie.“ Er lacht leise, aber die Hände, die krampfhaft die Teetasse umklammern, sprechen eine andere Sprache.

Ich möchte ihn in den Arm nehmen. Möchte ihm wenigstens etwas von dem Schmerz abnehmen.

Aber vielleicht wäre das doch etwas zu nah, dafür, dass wir uns grade mal 2 Wochen kennen.

„Hast du Geschwister?“, fragt er plötzlich.

Überrascht, über den Themenwechsel schüttel ich kurz den Kopf.

„Nicht?“

„Äh doch, eine ältere Schwester. Sie studiert in den letzten Zügen Grundschullehramt. Mein persönlicher Horror!“

„Deine Schwester oder das Lehramt?“

Ich lache, er stimmt ein. Das fühlt sich schon wieder besser an.

„Nee meine Schwester ist in Ordnung. Lehramt wär nix für mich. Vor allem nicht mit so kleinen Wadenbeißern.“

Leon grinst. „Magst du keine Kinder?“

„Na ja …“

„Willst du später mal eigene haben?“

Die Frage überrumpelt mich. Ich lasse mir etwas Zeit mit der Antwort. Nippe vorsichtig am Tee.

„Sagen wir mal so. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ich mal eigene Kinder hab.“

Er mustert mich neugierig.

„Warum?“

Wir schlittern grade wirklich von einem heiklen Thema zum nächsten. Wobei Mark das wahrscheinlich perfekt fände, um die Karten offen auf den Tisch zu legen.

„Na ja, weil … ich schwul bin.“

Leons Blick kann ich nicht deuten. Wenn er auch schwul ist, wäre das doch der passende Moment, um es mir auch zu sagen. Aber er sagt nichts.

Ich warte auf eine Antwort, eine Reaktion, auf irgendwas. Stattdessen trinkt er einen Schluck Tee. Der Kerl macht mich wirklich fertig.

„Das schließt eigene Kinder heutzutage doch nicht mehr aus.“

Ich starre ihn einigermaßen fassungslos an. Das ist eine Antwort mit der ich in einer Milliarde Jahre nicht gerechnet hätte. Meine Skala an möglichen Reaktionen reichte von: „Er gesteht mir seine Liebe, wir fallen uns um den Hals und hängen die nächsten 24h im Bett“ bis „Er schmeißt mir die Teetasse an den Kopf, stürmt raus und redet nie wieder mit mir.“

„Mh, ja, nein … nicht unbedingt.“

Ich weiß nicht was ich sonst sagen soll. Irgendwie bin ich deprimiert, dass er dann wohl doch nicht, wie von Mark und Adrian prophezeit, schwul ist. Wäre ja auch ein Riesenzufall gewesen.

„Ich weiß noch nicht, ob ich später mal Kinder haben möchte. Ist aktuell auch einfach noch sehr weit weg.“ Er starrt wieder Löcher in seine Teetasse bei den Worten.

Dann sieht er mich plötzlich an und lächelt dabei so warm, dass ich mich doch wieder ein bisschen besser fühle.

„Ganz schön komische Themen haben wir heute drauf, oder?“

Ich muss auch grinsen. „Allerdings.“

„Normalerweise fängt man doch an mit: Und was für Musik hörst du so? Oder welche Filme magst du? Stattdessen reden wir über tote Brüder und künstliche Befruchtung.“

Aus seinem Mund klingt das so locker und gar nicht bedrückend, dass ich lachen muss.

Er stimmt mit ein.

Der restliche Nachmittag verläuft dann auch tatsächlich recht entspannt. Wir quatschen über alles Mögliche und trinken jede Menge Tee. Als es anfängt draußen dunkel zu werden, verabschiedet er sich.

Als die Haustür ins Schloss fällt, steckt Lilith sofort ihren Kopf aus ihrer Zimmertür.

„Und? Wie war dein Date?“

„Das war kein Date.“

„Nicht?“

„Er ist nicht schwul … denk ich.“

„Mh …“

Mark verlangt natürlich auch einen ausführlichen Bericht. Aber seine Ratschläge sind wie immer, zumindest aus meiner Sicht nicht hilfreich.

Ich finde mich vorerst damit ab, Leon heimlich anzuschmachten. Wir sehen uns häufig in der Hochschule oder treffen uns auf einen Tee im Lindemanns. Irgendwie trete ich seit Wochen auf der Stelle.

Ich schiebe mich durch die Tür ins Atelier. Der bekannte Geruch von Temperafarben umhüllt mich sofort. Ein paar Studenten stehen oder sitzen vereinzelt vor Staffeleien. Es ist ziemlich leise. Die meisten haben Kopfhörer auf und hören Musik, ansonsten hört man nur das Kratzen von Pinsel und Spachtel auf Leinwand.

Ich manövriere mich durch das Gewirr an Staffeleien bis in Leons angestammte Ecke, aber er ist nicht da. Unschlüssig starre ich den leeren Hocker an. Sonst ist er jeden Dienstag hier.

Das Mädchen rechts von Leons Platz zieht sich mit farbverschmierten Fingern einen Ohrstöpsel raus.

„Suchst du Leon?“

„Ja.“

„Der ist nicht da.“

„Das sehe ich.“

Sie wirft mir einen genervten Blick zu.

„Ich meine, er ist heute Morgen auch schon nicht im Seminar gewesen und gestern auch nicht in der Vorlesung. Ist wahrscheinlich krank oder so.“

„Oh. Ok … danke.“

Gedankenverloren wende ich mich ab. Sie schmeißt mir noch ein „Gern geschehen“ hinterher, mit einem Unterton, der mich am Wahrheitsgehalt ihrer Worte zweifeln lassen müsste. Aber es ist mir egal. Draußen auf dem Flur zücke ich mein Handy.

Hey, wo steckst du?“

Ich sehe, dass er die Nachricht gelesen hat, aber es dauert lange bis er anfängt zu tippen.

„Zuhause“

„Alles klar bei dir? Bist du krank?“

Die Antwort lässt diesmal noch länger auf sich warten.

Ich schiebe noch ein „Brauchst du irgendwas?“ hinterher.

Wieder blaue Häkchen, dann lange nichts und schließlich verrät mir whatsapp, dass er an einer Nachricht tippt, aber entweder schreibt er mir grade einen Roman, oder er löscht es immer wieder und fängt neu an … keine Ahnung. Es dauert ewig.

Nee, ich brauch nix. Danke. Bin nicht krank. Fühl mich nur nicht so gut.“

Ich kaue auf meiner Unterlippe und renne fast gegen eine der Säulen, die die Gänge unserer Hochschule säumen, weil ich so angestrengt aufs Display starre.

Ich hab irgendwie kein gutes Gefühl dabei.

Ich überlege, ob ich ihm vorschlagen soll, dass ich vorbeikomme. Habe aber zu viel Angst davor, dass er einen Besuch meinerseits ablehnt, so dass ich beschließe, einfach hinzufahren.

Auf dem Weg zum Studentenwohnheim, springe ich noch in den nächsten Discounter und decke mich mit einer Packung Vanille-Tee, Schokolade und einer Fertigpackung Mirácoli ein. Das kann Leon einfach nicht ablehnen.

Bis zum Wohnheim sind es nur 2 Stationen mit der Bahn. Ich starre aus dem Fenster, gegen das mittlerweile ordentlich Wasser prasselt. Hab ich schon mal erwähnt, wie ich dieses Mistwetter im Herbst hasse. Natürlich habe ich auch keinen Schirm oder so dabei, so dass ich schlussendlich ziemlich durchnässt vor Leons Tür stehe.

Als auf mein Klingeln hin nichts passiert, zücke ich erneut mein Handy und schreibe ihm.

„Komm schon, lass mich rein. Ich steh vor deiner Tür und es schüttet wie aus Eimern.“

Trotzdem dauert es etwas, bis er die Tür öffnet.

Er sieht Scheiße aus.

Also nicht grundsätzlich. Grundsätzlich finde ich ihn nach wie vor anbetungswürdig, aber er ist blass, sieht müde und auch irgendwie verheult aus, auch wenn ich schwören könnte, dass er gerade diesen Eindruck versucht hat, zu vertuschen.

„Du hättest nicht kommen müssen.“ Es klingt, als hätte er lieber „sollen“ statt „müssen“ gesagt.

„Ja wahrscheinlich, aber nachdem ich der Meinung bin, dass wir sowas wie Freunde sind und Freunde sich umeinander kümmern, habe ich entschieden, dass du vielleicht nicht allein sein solltest.“

Er scheint zwar immer noch nicht überzeugt, aber er zuckt resigniert mit den Schultern. Wahrscheinlich hat er grade einfach keine Kraft, um mit mir zu diskutieren.

Ich lass meine durchweichten Schuhe direkt draußen stehen, husche schnell an Leon vorbei in sein Zimmer und schäle mich aus meinem nassen Pulli. Er schlurft mir wenig motiviert hinterher.

Erschöpft lässt er sich auf sein zerwühltes Bett sinken und schaut mich aus müden Augen an.

„Ich kann …“

„Ach lass mal. Ich mach schon“, komme ich ihm zuvor und schmeiße den Wasserkocher in seiner Kochnische an.

Ich finde auch tatsächlich 2 saubere Tassen und kurze Zeit später balanciere ich zweimal dampfenden Vanilletee rüber zum Bett.

Er sieht mich schuldbewusst an und ich frage mich, ob mein unangemeldeter Besuch seinen Gemütszustand vielleicht doch eher verschlechtert hat.

„Ich hab auch Nudeln mitgebracht. Falls du Hunger hast.“

Er schüttelt kaum merklich den Kopf.

„Wenn du erzählen magst, was los ist, hör ich dir zu. Aber ich … ich kann auch einfach nur ein bisschen bei dir bleiben.“

Sein Blick wandert fahrig durch das Zimmer. Scheinbar wohl darauf bedacht, mir nicht in die Augen zu sehen. Der Tee steht immer noch unangerührt vor ihm.

„Ich bin müde.“ Seine Stimme ist sehr leise und es klingt, als hätte es ihn enorme Kraft gekostet die drei Worte über die Lippen zu bringen.

Ich nicke. „Ok.“ Ich werfe verstohlen einen Blick zum Fenster und bemerke zerknirscht, dass der Regen draußen sich langsam zu einem kleinen Herbstgewitter entwickelt.

„Möchtest du, dass ich gehe?“

Jetzt sieht er mich plötzlich doch an, fast erschrocken.

„Nein, ich … kannst du bei mir bleiben?“

„Klar.“ Meine Beine sind schon halb eingeschlafen, weil ich so verkrampft vor ihm auf dem Teppich gehockt habe und ich schwanke ein bisschen beim Aufstehen.

„Macht es dir was aus, wenn ich mich mit aufs Bett setze. Meine Beine schlafen ein.“

Er schüttelt den Kopf und rutscht weiter Richtung Wand. Vorsichtig lasse ich mich auf der Bettkante nieder. Oh Mann, er ist echt ziemlich fertig. Ich habe zwar so meine Theorien, aber nicht zu wissen, was los ist, stresst mich auch ungemein.

Ich räuspere mich. „Wenn du müde bist, dann schlaf ruhig. Ich bleib einfach hier sitzen, ok?“

Er sieht mich so traurig an, dass ich das Gefühl habe, ich fange gleich an zu heulen und dann sagt er ganz leise: „Kannst du mich festhalten?“

Statt einer Antwort breite ich meine Arme aus.

Er fällt mir fast augenblicklich um den Hals und als wir in eine vertikale Position rutschen, fängt er an zu weinen. Es ist richtig schlimm. Soviel Schmerz ist in seinen Schluchzern hörbar, dass mir selbst die Tränen in die Augen schießen. Ich umklammere ihn. Drücke ihn fest an meine Brust und hoffe, ihm damit wenigstens eine Hilfe zu sein.

Gefühlt dauert es eine Ewigkeit an, bis er ruhiger wird und ich irgendwann verblüfft feststelle, dass er in meinem Arm eingeschlafen ist. Es dauert noch eine ganze Weile, bis die Anspannung von ihm abfällt. Sein Atem geht wieder ruhig und gleichmäßig und ich werde selbst etwas schläfrig. Auch wenn ich mir unsere erste gemeinsame Nacht in einem Bett etwas anders vorgestellt habe, genieße ich (mit schlechtem Gewissen) die Nähe seines warmen Körpers an meinem. Sanft streiche ich durch seine wilden Haare, darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Draußen ist es mittlerweile stockduster, aber man hört den Wind immer noch heulen und den Regen, der gegen das Fenster prasselt.

Als ich wach werde, brauche ich einen Moment, um mich zu orientieren. Leon liegt neben mir auf der Seite. Er schläft immer noch, aber ich würde behaupten, dass er nicht mehr so blass aussieht wie … äh gestern?! Ich werfe verstohlen einen Blick auf meine Armbanduhr. Schon fast halb eins. Oh Mann, dann habe ich aber auch geschlafen wie ein Stein.

Vorsichtig rutsche ich von Leon weg, bette seinen Arm, den er immer noch um mich geschlungen hatte, sanft neben ihm und ziehe ihm die Decke bis zu den Schultern hoch.

Danach verschwinde ich erst mal schnell in seinem Minibad.

Als ich einigermaßen entknittert wieder rauskomme, ist Leon wach. Er hat sich aufgesetzt, aber die Decke um sich gewickelt, so dass nur sein wuscheliger Kopf und seine Hand, die die Decke hält, zu sehen sind.

Er schaut mich stumm an, sieht aber schon um Welten besser aus als gestern, als er mir die Tür geöffnet hat.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagt er ernst.

„Guten Morgen?!“ Was Besseres fällt mir nicht ein.

Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht und auch ich muss Grinsen.

„Wobei, es ist eigentlich schon Mittag. Wie sieht es jetzt mit Nudeln aus?“

„Ok, gib mir 5 Minuten.“ Er scheint dankbar zu sein, dass ich den gestrigen Tag nicht anspreche, also lass ich es.

Während er jetzt im Bad verschwindet, kippe ich unseren kalten Tee von gestern ins Spülbecken, spüle die Tassen und setze neues Wasser auf. Einmal für neuen Tee, einmal für die Nudeln.

Als er neben mir auftaucht, sieht er noch etwas besser aus.

Er greift an mir vorbei und mir wird kurz etwas schwindelig, dann hat er die Teepackung geangelt und pfriemelt zwei Teebeutel raus.

„Sorry, ich bin ein scheiß Gastgeber.“

„Ach, ich bin einfach so frei und fühl mich ganz wie Zuhause“, grinse ich frech und kassiere dafür einen leichten Schubser.

Das Teewasser kocht und er schüttet das heiße Wasser in die beiden Tassen, während ich das Rundum-sorglos-Nudel-Paket auseinander nehme und das Päckchen mit der Nudelsoße durchknete.

Während ich fachmännisch Spaghetti koche und die Nudelsoße mit den mitgelieferten Kräutern verrühre, deckt Leon den Tisch.

„Mh, ich liebe Geschmacksverstärker und E-Nummern.“

„Kritisierst du etwa meine Kochkünste?“

„Das würde ich nie wagen.“

„Gut, denn ich habe auch noch phänomenalen Nachtisch im Angebot.“

Ich ziehe melodramatisch die Tafel Schokolade aus meiner Tasche und Leon fällt fast vor Lachen vom Stuhl. Es tut gut, ihn wieder so zu sehen.

Als ich die Teller abräumen will, greift er nach meiner Hand. Ich erlaube mir den Moment kurz zu genießen, während ich ihn fragend ansehe.

„Lass stehen, bitte. Ich krieg echt ein schlechtes Gewissen, wenn du jetzt noch meine Bude aufräumst. Ich mach das … später.“

Da es Leon in seinem kleinen Zimmer an bequemeren Sitzgelegenheiten mangelt, schmeißen wir uns mit der Schokolade kurzerhand wieder aufs Bett.

„Hast du gut gemacht, Chefkoch.“

„Fühlst du dich jetzt besser?“

Meine Frage war gar nicht so gemeint, wie er sie wohl auffasst, aber es scheint ok zu sein. Er schaut mich nur kurz etwas unsicher an, dann nickt er.

„Ja, das tu ich, tatsächlich. Danke.“

Ich rutsche etwas nervös auf dem Bett herum, bis ich mich traue.

„Mh, darf ich fragen, was …“

Er zuckt mit den Schultern und bricht noch ein Stück Schokolade von der Tafel ab.

„Manchmal … es gibt immer mal wieder schlechte Tage.“

Dann sprudelt es plötzlich nur so aus ihm raus.

„Robin und ich wären ohnehin nicht gemeinsam hier. Er hatte für Kunst echt nichts übrig.“ Leon lacht leise. „Er war eh in vielen Punkten ganz anders als ich. Er war viel selbstbewusster, eine richtige Rampensau. Spielte Gitarre in ner Band und solche Sachen. Aber trotzdem … manchmal überkommt mich der Gedanke, dass ich ihn einfach gern anrufen würde oder ihm eine whatsapp schicken würde oder so und dann wird mir erst wieder richtig bewusst, dass er nicht mehr da ist. Nicht hier und auch nirgendwo anders.“

Ich fühle mich hilflos.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stammel ich wenig heldenhaft, aber Leon sieht mich überrascht an.

„Das ist ok. Du musst nichts sagen. Es ist … toll, dass du da bist, dass du mir zuhörst.“

„Jederzeit.“

„Danke.“

Wir vernichten den Rest der Schokolade und beschließen, dass die Hochschule auch den heutigen Tag noch ohne uns klar kommen muss. Stattdessen schlägt Leon Netflix vor und während er seinen Laptop aufbaut, werfe ich kurz einen Blick auf mein Handy.

23 ungelesene Nachrichten und 3 Anrufe in Abwesenheit. Mark und Lilith natürlich. Wo ich denn stecke (oder in wem – Mark, dieser Arsch) und warum ich mich nicht melde? Ob ich heute noch zur Hochschule komme? Ob‘s mir gut geht? Warum ich mich immer noch nicht melde? Ob ich mal auf die Uhr geguckt habe? Und so weiter …

Ich tippe knapp „Bin bei Leon, melde mich später.“ und schicke die Nachricht direkt an Beide, in der Hoffnung, jetzt meine Ruhe zu haben.

Wir schauen irgendeine flache Komödie und amüsieren uns prächtig.

Wie schon letzte Nacht müssen wir in Leons schmalem Bett etwas zusammenrücken, da wir, faul wie wir sind, lieber im Liegen fernsehen wollen. Ich habe natürlich auch so nichts dagegen einzuwenden, dass Leon an meiner linken Seite festgetackert ist, auch wenn mir zeitweise ganz schön heiß wird, überall da, wo sein Körper meinen berührt.

Am späten Nachmittag muss ich mich tatsächlich von Leon trennen. Ich gehe, aber nur, nachdem ich ihm das Versprechen abnehme, dass er mich sofort anruft oder mir schreibt, wenn er wieder einen Durchhänger hat.

Wahrscheinlich war es ein Fehler Mark zu texten, dass ich auf dem Weg nach Hause bin. Es ist nicht verwunderlich, dass er total aufgekratzt in der Wohnküche neben Lilith auf mich wartet, als ich in der WG ankomme.

„Äh Moment … nochmal fürs Protokoll: Du verbringst anderthalb Tage bei Leon in seinem Minizimmer im Wohnheim, schläfst mit ihm in einem Bett und du willst mir sagen, dass NICHTS passiert ist?“

Ich rühre bedächtig in meiner Teetasse und zucke mit den Schultern.

„Es ging ihm halt nicht gut.“

„Bist du der verdammte Papst oder was? Wobei … selbst der wäre nicht so keusch da rausgekommen wie du!“

„Dass du so eine Situation schamlos ausnützen würdest, ist mir klar“, gifte ich Mark an.

Er verzieht das Gesicht und lässt sich gegen die Stuhllehne sinken.

„Sag doch bitte auch mal was!“ Er dreht sich zu Lilith um, die mit verschränkten Armen an der Küchenarbeitsplatte lehnt und bisher geschwiegen hat.

Ich komme mir vor, als würde ich gerade von meinen Eltern verhört oder so.

„Aber … er weiß doch, dass du schwul bist, oder nicht.“

„Jaaa?!“

Sie zieht die Stirn kraus. Die zwei machen mich wahnsinnig, echt.

„Und du bist dir sicher, dass er es nicht ist?“

„Sonst hätte er ja auch schon Gelegenheit gehabt, sich dahingehend zu äußern.“

„Aber ein bisschen ungewöhnlich ist sein Verhalten für nen Hetero schon, findest du nicht?“

Ich sage nichts. Weiß auch gar nicht, was ich sagen soll. Ist ja nicht so, als wären mir solche Fragen nicht schon selbst durch den Kopf gegangen, aber es macht mich irgendwie aggressiv, diese Fragen von wem anders gestellt zu bekommen. Wahrscheinlich weil ich selbst keine Antwort darauf habe. Höchstens den Wunsch, dass er ja vielleicht doch ein klitzekleines bisschen auf Männer steht und ich doch noch die Chance habe, mehr als nur ‚ein Freund‘ für ihn zu sein.

Tatsächlich schreibt Leon mir in den nächsten Wochen wie versprochen sogar zweimal. Ich stehe jedes Mal auf der Matte und es ist jedes Mal gleich heftig, für ihn wie für mich. Aber ich behaupte, er beruhigt sich immer schneller wieder.

Manchmal wenn er dann erschöpft einschläft, ziehe ich leise mein Skizzenbuch aus der Tasche und zeichne ihn. Dabei fühle ich mich zwar noch mehr wie ein Stalker, als beim heimlichen Fotografieren, aber ich kann nicht anders.

Montagnachmittag. Mein Handy klingelt.

„Phil? … Kannst, kannst du kommen?“

Ich nicke automatisch, obwohl er das nicht sehen kann.

„Klar. Schokolade und Tee?“

„Ok.“

„Bin gleich da!“

Ich wickel mich in meinen dicken Winterschal und bevor ich raus stürme meine ich noch, Liliths missbilligendes Naserümpfen am Küchentürrahmen zu sehen. Ist mir aber egal.

Bei dem Mistwetter verspätet sich die Bahn direkt wieder. Der Wintereinbruch kommt aber auch immer so plötzlich. Ich hüpfe von einem Bein aufs andere, um mich aufzuwärmen.

Leon klang sogar relativ gefasst, auch wenn mir sofort klar war, warum er anruft.

Die letzten Male in diesem Zustand hat es bei ihm nur für eine knappe Whatsapp gereicht.

Dementsprechend sieht er für meine Erwartungen sogar ganz gut aus, als er mir die Tür öffnet. Ein bisschen blass und ein bisschen zittrig ist er, aber nicht so sehr Häufchen Elend, wie sonst.

„Hey!“

„Hey!“

„Tee?“

Er nickt. „Ich hab schon Wasser aufgesetzt.“

Ich wickel mich unelegant wieder aus meinem Schal aus und entlocke Leon damit tatsächlich ein kleines Lächeln.

„Ja lach ruhig. Mark hat mir auch schon oft genug gesagt, dass ich zum Tänzer nicht tauge.“

„Man muss ja auch nicht in allem perfekt sein.“

Als wäre ich perfekt, oh Mann… er schafft es tatsächlich, dass ich rot werde.

Schweigend kocht er uns einen Tee und wir verkrümeln uns anschließend damit aufs Bett.

Ich sage auch nichts, warte ab.

„Ich war am Wochenende Zuhause.“

„Ok?!“

„Es war ätzend.“

Er atmet tief ein. Ich sehe wie er den Becher fester umklammert, bestimmt weil seine Hände angefangen haben, zu zittern.

„Meine Mutter … nach Robins Unfall … sie hat anfangs jedes Mal angefangen zu heulen, wenn sie mich gesehen hat. Das ist mittlerweile nicht mehr so krass, aber … ich seh es immer noch in ihrem Blick. Das macht mich fertig.“

Ich nicke nur und rutsche ein klein wenig näher, so dass sich unsere Schultern berühren. Er nimmt den Impuls auf und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab.

„Außerdem kann ich hier besser verdrängen, denke ich. Hier bin ich eh allein, also Robin wäre nie hier gewesen. Aber Zuhause … Wir haben uns ein Zimmer geteilt, weißt du? Es ist ein total bescheuertes Gefühl in diesem Zimmer aufzuwachen. Meine Mutter hat Robins Sachen noch nicht angerührt. Es sieht aus, als wäre er nur kurz weg.“ Seine Stimme wird brüchig, aber er weint diesmal nicht.

„Ich will an Weihnachten nicht nach Hause. Ich glaub das ertrage ich nicht.“

Plötzlich sehen mich seine großen Augen an. Ich kann die Frage förmlich rauslesen.

„Ähm, ich fahre zu meinen Eltern.“ Ich bringe die Worte kaum über die Lippen, will mich fast schon dafür entschuldigen und dann rede ich einfach weiter, ohne nachzudenken. „Willst du mitkommen?“

Einen Moment lang sagen wir beide nichts.

„Ähm, ich … meinst du denn, das ist ok?“

„Im Notfall sag ich einfach du bist mein Freund. Dann fragen die nicht groß nach.“

Verdammt, mein Mund macht sich selbstständig. Ich möchte mir die Zunge abbeißen.

Sein Mundwinkel zuckt verlegen nach oben und er wird ein bisschen rot. Oh ich möchte ihn aktuell nur allzu gern meinen Eltern vorstellen und ihn heiraten und ein Haus kaufen und von mir aus kleine Wadenbeißer adoptieren … Ich trinke besser einen Schluck von meinem Tee, der mittlerweile schon kalt ist, aber besser als wenn ich noch mehr Müll verzapfe.

„Lass uns über was anderes reden“, sagt Leon unvermittelt.

„Ok, worüber?“

Er zuckt mit den Schultern. „Weiß nicht, egal.“ Er überlegt kurz. „Wie bist du zum Fotografieren gekommen?“

Ich muss grinsen. „Früher hab ich hauptsächlich gezeichnet, aber mein Perfektionismus stand mir zu sehr im Weg. Alles was ich gezeichnet habe, sah fotografiert immer noch besser aus. Außerdem konnte ich Momente einfangen, so schnell war ich beim Zeichnen nicht.“

Wieder ziert ein Lächeln sein hübsches Gesicht.

„Tust du es noch?“

Ich bin abgelenkt. „Mh?“

„Zeichnen?!“

„Ach so … ja, manchmal. Aber nur für mich.“

„Zeigst du mir was?“

Ohne groß nachzudenken, ziehe ich das Skizzenbuch aus der Tasche.

Er stellt die Teetasse ab und nimmt es vorsichtig an, als wäre es ein kostbarer Schatz.

„Ist auch viel Mist drin …“, entschuldige ich mich direkt und stelle den Becher mit kaltem Tee ab.

Leon lacht. „Keine Sorge. Meine Kunstlehrerin hat immer gesagt: Ein neues Skizzenbuch sollte man zuallererst immer in der Mitte aufschlagen und eine Tasse Kaffee reinkippen. Das nimmt den Druck.“

Ich lache mit und bin trotzdem nervös, als er das Buch aufschlägt und behutsam Seite um Seite betrachtet.

Ein weiteres Mal blättert er um und stockt. Es läuft mir eiskalt den Rücken herunter. Daran hatte ich nicht gedacht. Wir starren beide auf eine Zeichnung, die ihn schlafend zeigt.

„Ich … ich … äh … tut mir leid, ich …“ Ich stammel wild drauf los ohne zu wissen, was ich sagen will.

Seine Wangen ziert wieder ein roter Hauch und er wirft mir nur kurz einen Blick zu, bevor er die Zeichnung weiter begutachtet.

„Das ist wunderschön.“

Du bist wunderschön. Zum Glück nur in meinem Kopf. Diesmal kann ich mir wirklich auf die Zunge beißen, bevor das Geschwafel meinen Mund verlässt.

„Ich na ja … du …“

Wenn er diese Skizze auch nur ansatzweise so gut analysieren kann, wie er bisher über meine anderen Arbeiten gesprochen hat, muss ihn die Liebe förmlich anspringen. Ich hoffe er blättert bald weiter.

„Du solltest das Zeichnen nicht an den Nagel hängen. Deine Fotografien sind der Wahnsinn, keine Frage, aber diese Zeichnungen sind …“, er sucht nach Worten. „ … noch authentischer, noch näher dran an dir. Beim Fotografieren bist du der Beobachter. Wenn du zeichnest, dann offenbarst du deine Seele.“

Ich glaube mir wird schlecht. Ich bin erleichtert, als er weiterblättert.

Schließlich gibt er mir das Buch zurück und bedankt sich.

Wir kommen wieder in ungefährlichere Gesprächsgegenden und entscheiden uns schließlich dafür, Pizza zu bestellen.

Hey treulose Tomate. Haste auch nochmal Zeit für wen anders außer der ‚kleinen Schwester‘?“

Oh Mark fühlt sich vernachlässigt.

„Der betitelt meine Freunde immerhin nicht mit beleidigenden Spitznamen.“

„Läuft doch eh nix zwischen euch. Dann kannste auch zur Weihnachtsfeier kommen.“

Der Arsch. Mark und Lilith bemängeln beide, dass ich mich aaaaangeblich von Leon hinhalten lasse. Sind der Meinung, dass ich sofort springe, sobald er schreibt oder anruft, aber dass ich ja nichts davon hätte. Was ja Quatsch ist, weil ich auch so einfach gern Zeit mit Leon verbringe. Auch wenn ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn da auch mehr wäre …

„Jetzt spring mal über deinen Schatten und komm. Wird bestimmt lustig. Wann warst du das letzte Mal mit mir unterwegs?“

War zugegeben schon länger her. Wobei ich auch generell nicht so wahnsinnig gern mit Mark tanzen gehe. Da krieg ich Minderwertigkeitskomplexe.

„Wann und wo? Und wer kommt noch?“

„Morgenabend, 19 Uhr, Aula, Adrian, Lilith und die üblichen Verdächtigen.“

„Ich werde NICHT tanzen!“

„Jajaja … das werden wir dann noch sehen. Und wenn du dich dann besser fühlst, bring Leon halt mit.“

Tatsächlich willigt Leon nach kurzem Zögern ein mitzukommen. Wir verabreden uns mit allen vor der Aula im Atrium. Lilith, Karsten und ich brechen zusammen auf. Lilith sieht natürlich atemberaubend aus und Karsten lässt sie keinen Moment aus den Augen. Ich grinse sie in der Bahn an und Lilith zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. Na bei den beiden scheint es ja wenigstens langsam voranzugehen.

Mark und Adrian kommen zusammen an. Wieso wundert mich das nicht?! Eher wundert mich, dass Mark es schon so lange mit ein und derselben Person aushält. Love is in the air … scheinbar. Alle strahlen um die Wette und haben sich ordentlich aufgebrezelt. Wobei es bei Mark egal wäre, was er an hat. Wenn er einmal anfängt zu tanzen, zieht er eh alle Blicke auf sich. Der könnte auch im Kartoffelsack zu einer Party erscheinen.

Leon kommt nur kurz nach Mark und Adrian an. Und ich bemerke sehr wohl, wie Lilith Karsten in die Seite boxt und wie dämlich Mark und Adrian grinsen, als wir uns begrüßen.

Im Atrium, das ebenfalls schon mit kitschiger Weihnachtsdeko geschmückt ist, haben sie, wie letztes Jahr auch, eine Garderobe aufgebaut, bei der man seine Jacke abgeben kann.

Als Lilith sich aus dem Mantel schält, pfeift sogar Mark durch die Zähne.

„Schätzchen, du siehst fantastisch aus.“ Lilith wird rot und Karsten scheint vor Stolz zu platzen. Sie gehört nicht zu diesen mageren Klappergestellen, aber (soweit ich das beurteilen kann) hat sie eine tolle Figur und das enge schwarze Kleid schmeichelt dieser ungemein.

Heimlich beobachte ich aus dem Augenwinkel Leons Reaktion auf Lilith. Warte weiterhin auf einen Hinweis, der mir verrät für welches Geschlecht er sich denn nun interessiert. Aber nachdem ja auch Mark von Liliths Erscheinungsbild völlig aus dem Häuschen ist, wäre es echt egal, und seine Reaktion wohl nicht sehr aussagekräftig.

Leon sieht, nebenbei bemerkt, aber auch sehr schick aus heute. Eine enganliegende schwarze Jeans, dazu ein graues Hemd, die oberen Knöpfe offen. Lässig, aber doch auch ausgehschick.

Dafür wirkt er ein bisschen nervös.

Durch die offenen Türen der Aula dröhnt schon die Musik. Mark und Lilith werden davon scheinbar magisch angezogen, wie Motten vom Licht, und können sich gar nicht schnell genug ins Getümmel auf der Tanzfläche schmeißen. Karsten wird von Lilith kurze Zeit später genötigt mitzutanzen. Adrian verkrümelt sich geschickt schnell genug und ist schon in Gespräche mit einigen anderen Kommilitonen vertieft.

Leon und ich wandern erst mal in Richtung der Theke.

Wir lassen uns Glühwein andrehen und suchen uns dann einen der noch leerstehenden Tische am Rand.

Von dort aus haben wir einen guten Blick auf die drei Tänzer und die Musik hat eine erträgliche Lautstärke, so dass man sich noch unterhalten kann, ohne sich anschreien zu müssen.

„Lilith sieht super aus, oder?“

Leon nickt und dreht den Glühweinbecher in seinen Händen.

„Ja, sehen alle drei gut aus heute. Karsten schaut nur ein bisschen gequält aus.“

Wir kichern.

„Hast du keine Lust zu tanzen?“, fragt er, während sein Blick weiter auf die Tanzfläche gerichtet ist.

„Nee, ich hab dafür kein Talent und mach mich nicht so gern zum Affen“, geb ich zurück.

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, was aber die Anspannung nicht verbergen kann.

„Was ist mit dir?“, frage ich, um die Unterhaltung am Laufen zu halten.

Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin auch kein großer Tänzer. Eigentlich bin ich noch nicht mal ein großer Partygänger.“ Er lächelt wieder entschuldigend, sein Zeigefinger tippt nervös auf den Rand des Bechers.

Mark legt jetzt so langsam richtig los und eine Weile geht es uns, wie wahrscheinlich vielen anwesenden Studenten, wir starren gebannt auf meinen besten Freund.

So ein Trampel wie Mark ja manchmal sein kann, sobald er Musik hört, scheint er nur noch zu schweben.

Langsam wird es voller in der Aula und ich habe das Gefühl, dass Leons Nervosität steigt. Wir wechseln ab und zu ein paar Worte mit bekannten Kommilitonen, die auf dem Weg zur Theke bei uns vorbeikommen, aber ich bemerke, dass er nur deshalb seinen Becher umklammert, damit man das Zittern seiner Hände nicht sieht.

Skeptisch wandert mein Blick von seinen Händen bis hoch zu seinem Gesicht. Trotz der Hitze hier drin wirkt er blass.

Ich lege meine Hand auf seinen Arm, was ihn überrascht aufblicken lässt.

„Alles ok, Leon?“

Er scheint einen Moment zu überlegen, bis er antwortet.

„Können wir kurz raus gehen?“

Ich nicke und greife, wegen der Menge an Menschen, nach seiner Hand, ohne darüber nachzudenken, welchen Eindruck das auf wen auch immer machen könnte.

Seine Hand ist ungewöhnlich kalt, aber er lässt nicht los, bis wir aus der Aula und dem Atrium raus sind.

„Wohin? Ganz raus?“

„Nein.“ Das kam wie aus der Pistole geschossen. Ist ja auch unglaublich kalt draußen. Wir schauen uns kurz auf dem Gang um und entscheiden dann, uns eine Etage höher auf den Treppenstufen niederzulassen.

Er sieht sehr blass und erschöpft aus, als wir uns setzen.

Ich befürchte fast, da bahnt sich wieder etwas an. Ich warte ab, ob er anfängt zu reden. So haben wir es zuletzt immer gehalten.

Eine Weile schweigen wir. Die Musik ist hier nur noch sehr gedämpft zu hören. Ab und zu sehen wir Studenten am Ende der Treppe vorbeigehen.

„Das ist die erste Party seit …“ Er spricht nicht weiter, aber in meinem Kopf setzen sich einige Puzzleteile zusammen.

Ich weiß nicht was ich sagen soll. „Oh.“

„Tut mir leid, ich … ich hab das Gefühl, ich bin nur am jammern. Muss furchtbar sein, Zeit mit mir zu verbringen.“

Ich packe ihn unvermittelt an den Schultern und drehe ihn zu mir um.

„Nein! Red nicht so einen Unsinn. Mir tut‘s leid, ich hab gar nicht darüber nachgedacht. Und von wegen Jammern, ich hab dir schon mal gesagt und das meine ich auch so: Jederzeit höre ich dir zu.“

Seine großen blauen Augen sehen mich lange an.

„Außerdem verbringe ich gern Zeit mit dir.“

Sein Blick hält an. Er wirkt aber verunsichert.

„Danke“, sagt er schließlich, was ich zum Anlass nehme meine Hände von seinen Schultern zu nehmen.

Eine Weile schweigen wir wieder. Leon atmet tief durch. Ich merke, dass er wieder etwas ruhiger wird.

Ein fragender Blick meinerseits reicht aus, ihn zum Reden zu bringen.

„Geht schon wieder. Eben kam die Erinnerung nur wieder so plötzlich hoch.“

Ich nicke.

„Darf ich dich was fragen?“

„Klar.“

Er zögert kurz, scheint seine Worte mit Bedacht zu wählen.

„Du … deine Eltern wissen, dass du … schwul bist, richtig?“

Ich bin überrascht über den plötzlichen Themenwechsel.

„Ähm ja … Also eigentlich, ich renn jetzt vielleicht nicht mit nem Schild durch die Gegend und reib das direkt jedem unter die Nase, aber so grundsätzlich ist das kein Geheimnis.“ Kein Geheimnis mehr.

Er nickt und knetet (wieder nervös?) seine Hände.

„Sieht man dir ja auch nicht unbedingt an.“

Jetzt muss ich lachen. „Nö, nicht so offensichtlich wie Mark zum Beispiel.“

Er lacht auch und wird dabei ein bisschen rot. Ich würde ihn jetzt so gern küssen.

„Ja, Mark … kennt ihr euch schon lange?“

„So anderthalb Jahre. Haben uns im zweiten Semester kennengelernt.“

„Und … wart ihr mal …“

Ich werde unsicher wo unsere Unterhaltung gerade hinführt.

„Ähm … ja also … nur kurz. Wir passen nicht zusammen.“

Er schaut mich lange nachdenklich an. Also zumindest so lange, dass ich nervös werde.

„Wann hast du es deiner Familie gesagt?“ Jetzt richtet er seinen Blick wieder Richtung Treppenende.

„Dass ich auf Jungs stehe? In der 11. Klasse. Da wussten es dann alle. War wahrscheinlich ne saublöde Idee, so kurz vor dem Abi, aber na ja …“

„Warum eine blöde Idee?“

„Na ja, gab in meiner Stufe auch genug Idioten, die damit ein Problem hatten, aber ich war halt verknallt. Da musste es einfach raus.“

Wieder zuckt sein wunderschöner Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben.

„Was ist aus dem Jungen geworden?“

„Studiert BWL in Köln oder so. Keine Ahnung. Nach dem Abi haben sich unsere Wege getrennt.“

Ich entschließe mich, mutig zu fragen. „Und was ist mit deinem Liebesleben?“

Er wird, glaube ich, schlagartig wieder ein bisschen blasser, oder doch rot? Vielleicht auch im Wechsel … Schwer zu sagen …

„Das ist quasi nicht existent.“

„Oh ok … woran liegt’s?“

„An mir, schätze ich.“

„Red keinen Quatsch!“

Er lächelt etwas gequält und knetet seine Finger.

„Na schön, wann hast du das letzte Mal jemanden geküsst?“ Ich versuche ihn aus der Reserve zu locken und komme mir dabei wahnsinnig geschickt vor.

Sein Blick schweift ab. Man sieht förmlich, wie er sich erinnert.

„Sie hat mich geküsst, wenn man es genau nimmt.“ Mein Herz rutscht bei dem „sie“ erst eine Etage tiefer, klettert dann aber mühsam wieder hoch, weil ich mich daran festklammere, dass er so betont, dass die Initiative nicht von ihm ausging.

„Das war … einen Tag nach …“ Er seufzt. „Einen Tag nach Robins Unfall.“

Oh scheiße, ich hab wirklich ein Talent dafür wirklich jedes Fettnäpfchen mitzunehmen.

Er sieht mich von der Seite an und verzieht das Gesicht. „Lena. Sie war seine Freundin.“

Mir klappt die Kinnlade runter. Ich sehe wahrscheinlich total behämmert aus.

„Ja, so verwirrt war ich auch. Keine Ahnung, warum sie das gemacht hat. Ich war froh, als sie weg war.“ Sein Blick scheint in meinem etwas zu suchen. Er sieht mich so eindringlich an, dass mir immer abwechselnd heiß und kalt wird.

„Zumindest ist mir da nochmal etwas bewusst geworden, was ich eigentlich schon wusste, aber … dieser absolut absurde Moment … nie hab ich das vorher klarer gesehen …“

Er sieht gerade so wahnsinnig zerbrechlich aus, dass ich ihn in den Arm nehmen und festhalten will, vor lauter Angst, er könnte irgendwie kaputt gehen. Dabei raffe ich immer noch nicht, was er mir eigentlich sagen will.

Aber er sieht mich so hilflos an. Nicht nur hilflos, hilfesuchend. Als könnte ich ihm irgendwie helfen. Ich weiß nur nicht wie?!

Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch. Warte darauf, dass er seine Erkenntnisse mit mir teilt.

Die Zeit scheint beinahe stillzustehen. Von der Musik und den Stimmen der anderen Studenten kriege ich gar nichts mehr mit. Ich starre nur noch auf seine Lippen, die stumm nach Worten zu suchen scheinen.

Endlich bringt er es heraus und ich fürchte mein Herz bleibt jetzt wirklich stehen.

„Ich bin schwul … glaube ich.“

Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, das sich auf mein Gesicht stiehlt.

Leon dagegen schlägt die Hände vor das Gesicht. Ich bin nicht sicher, ob er gleich anfängt zu weinen.

Meinem ersten Impuls folgend lege ich meinen Arm um seine Schultern und ziehe ihn an mich ran. Er lässt es geschehen, aber ich spüre seine bekannte Anspannung. Vielleicht etwas linkisch streiche ich über seinen nun wirklich bebenden Rücken.

„Hey ist doch gut.“

Unter die leisen Schluchzer mischt sich ein Auflachen und er richtet sich tatsächlich auf und sieht mich mit feuchten Augen an.

„Also ich meine … alles ok. Daran stirbt man nicht. Ich lebe auch noch.“

Wieder muss er lachen, obwohl eine Träne über seine Wange läuft. Sanft wische ich sie mit dem Daumen weg.

„Das war das erste Mal, dass ich das laut ausgesprochen habe.“

„Und wie fühlst du dich?“

„Ich weiß nicht … nervös, aber auch erleichtert, ein bisschen.“ Hektisch wischt er sich jetzt selbst die verräterischen Tränenspuren vom Gesicht.

Von meiner Gefühlswelt aktuell wollen wir auch mal gar nicht reden.

Am liebsten würde ich ihm auf der Stelle einen Antrag machen, aber ich befürchte, dass wir für einen Abend erst mal genug Geständnisse haben.

Tatsächlich verrate ich Mark nichts davon.

Irgendwie kommt es mir nicht richtig vor. Ich fühle mich nahezu geehrt, weil ich der erste Mensch bin, dem Leon das überhaupt gesagt hat.

Auf Marks und Liliths Nachfrage, wo wir denn so plötzlich abgeblieben sind, schiebe ich dagegen vor, dass Leon sich nicht wohl gefühlt hat, ein paar Hinweise auf den Unfall bei der Abiparty und zumindest Lilith macht ein mitfühlendes und verständnisvolles Gesicht. Mark schickt mir augenrollende Emojis.

Als kurze Zeit später Karsten reichlich zerzaust und nur in Boxershorts aus Liliths Zimmer in Richtung Bad wankt, ziehe ich nur die Augenbrauen hoch und Lilith zuckt grinsend mit den Schultern.

„Hat ja auch lange genug gedauert mit euch beiden.“

Sie boxt mich in die Seite und fängt an den Tisch zu decken.

„Wann fährst du zu deinen Eltern?“

Ich nehme die Tassen von ihr entgegen. „Morgen. Die wollen, ganz im Sinne der Familientradition, wieder mit uns den Weihnachtsbaum im Wald schlagen und gemeinsam schmücken und so.

„Hach, was klingt das idyllisch.“

Ich muss lachen. „Na ja, eher so wie im Film „Schöne Bescherung“. Total chaotisch, aber lustig ist es eigentlich immer.“

„Und Leon kommt dann echt mit zu deiner Familie?“

„Das ist der Plan.“

Lilith setzt sich an den nun fertig gedeckten Tisch.

„Schon krass eigentlich, dass er nicht mit seinen Eltern feiern möchte.“

„Verstehen kann ich ihn schon.“

„Ja … mh…“

Karsten hat es geschafft, sich was anzuziehen und schreitet, mit vor Stolz geschwellter Brust, in die Küche. Er beugt sich zu Lilith für einen Kuss, bevor er sich neben sie setzt und sich ebenfalls einen Tee einschüttet.

Diese Idylle hier versetzt mir leider auch wieder einen kleinen Stich, aber gut … vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für mich und Leon. Sein Outing mir gegenüber war ja schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Wir haben uns auf einen Tee im Lindemanns verabredet.

Er wirkt ein bisschen angespannt und nervös, als wir uns an der Haltestelle treffen. Manchmal schaut er sich um, als hätte er Angst verfolgt zu werden.

„Keine Sorge, man sieht es dir nicht an, bloß, weil du es jetzt mal laut ausgesprochen hast“, raune ich ihm grinsend zu. Er wird rot, aber grinst zurück. Danach scheint er etwas entspannter.

„Wie haben deine Eltern darauf reagiert, dass du Weihnachten nicht bei Ihnen feiern willst?“

Er verzieht den Mund. „Nicht gut, aber … sie haben es akzeptiert.“

Er hat die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und schaut auf seine eigenen Füße im Schnee.

Es hat wieder angefangen zu schneien und einige Schneeflocken bleiben in seinen Haaren hängen.

Ich versuche mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen, als ich frage: „Und hast du dir schon überlegt, wie ich dich meinen Eltern vorstellen soll?“

Sein Blick trifft mich. Ich zittere, aber das kann ich sicherlich auf die Kälte schieben.

Sein Mienenspiel und sein Schweigen verraten, dass er entweder lange überlegen muss oder aber noch selbst mit sich hadert. Umso überraschter bin ich über seine Antwort, die sich als fiese Gegenfrage entpuppt. „Wie würdest du mich denn gern vorstellen?“

Nach all dem Hin und Her setzt er jetzt mir die Pistole auf die Brust? Ich merke, wie sich mein Puls mal eben übelst beschleunigt hat, gleichzeitig wird mir plötzlich sehr sehr warm und meine Lippen fühlen sich sehr sehr trocken an.

Ob er sich ähnlich fühlt? Ich sehe, wie er, vielleicht nervös, mit der Zunge über seine Unterlippe fährt und das beschert mir erst Recht einen Schauer, der mir über den Rücken fährt.

Mal wieder höre ich Marks Stimme in meinem Kopf ‚Komm endlich aus dem Quark!‘ und es kommt mir fast vor wie eine Kurzschlussreaktion, vielleicht ist mein Gehirn von dieser Frage einfach überfordert … aber ich ziehe tatsächlich meine Hand aus der Tasche, streiche ihm eine der wilden Haarsträhnen aus dem Gesicht und dann passiert es wie von selbst. Meine Lippen legen sich auf seine. Möglich, dass er den Bruchteil einer Sekunde zusammengezuckt ist, aber dieser Moment ist so schnell vorbei, dass ich mir direkt danach nicht mehr sicher bin, ob ich mir das nur eingebildet habe.

Der Kuss dauert dafür gefühlt eine Ewigkeit, als ob die Zeit stillstünde.

Als wir uns schließlich voneinander trennen, stehen wir schwer atmend voreinander. Unser Atem steigt als kleine weiße Wölkchen zwischen uns auf. Seine Wangen sind gerötet und seine Augen leuchten. Habe ich schon erwähnt, dass ich ihn liebe?

„Beantwortet das deine Frage?“

Er lächelt.

„Ich glaube schon.“

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