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NetEscape

Teil 1

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Informationen

Vorwort

Diese Story und alle Personen sind absolut frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Menschen wäre rein zufällig - und ich bin auch nicht der David in der Geschichte!

Diese Geschichte darf ohne mein vorheriges Einverständnis nicht weiterverbreitet oder publiziert werden - auch nicht auf anderen Internetseiten ! Alle verwendeten Marken- oder Firmennamen sind geschützt und werden hier nur aus literarischen Gründen verwendet.

Ich bevorzuge den Crossover zwischen alter, neuer und zukünftiger Rechtschreibung, besonders die Dialoge sind mit Absicht recht frei gestaltet.

Ich würde mich über Anregungen und Kommentare freuen, bitte an thomas-stories@gmx.net. Ich werde mir viel Mühe geben, schnell zu antworten, aber habt bitte Verständnis, wenn es 'mal ein paar Tage länger dauert.

Vorwort :

Alle, die Streetkids» kennen, wird «NetEscape» nicht überraschen, für alle anderen ist dieses Vorwort gedacht. Du hast eine harte, stellenweise brutale Story auf dem Schirm und wenn Du Dich gerade nicht sonderlich gut fühlst, dann lies diese Geschichte noch nicht. Trotzdem, es lohnt sich, «NetEscape» zu lesen ... okay, ich bin der Autor, was soll ich anderes sagen ... aber es lohnt sich besonders deshalb, weil die Story recht nah an der Realität ist und es gibt viele Jungs, für die diese Realität hart und brutal ist. NetEscape ist als längere Geschichte geplant, in einem gewissen Sinn ist dieser erste Teil nicht viel mehr als eine notwendige Einleitung. Wenn Du am Ende merkst, daß Du Spaß daran hast, diesen ersten Teil zu lesen, dann such bitte einen guten Psychologen auf, wenn Du aber zornig, traurig oder entsetzt bist und am liebsten David treffen würdest, um ihm Deine Freundschaft anzubieten, dann hast Du etwas wichtiges verstanden.

Thomas

 

»Some flowers only grow in the dark.« Andrew Vacchs

Für alle, die sich nicht wehren können ... oder konnten

» ... und, David, bring den Müll runter, Vater kommt gleich!«

Das Arschloch sollte den Müll gefälligst selber wegbringen, schließlich stammte der größte Teil von ihm. Aber keiner weiß, wie er drauf ist, wenn er kommt und ich wollte eh noch weg, also was soll's. Ein Blick aus meinem Zimmerfenster - Mistwetter, der Winter hatte sich immer noch nicht erledigt ... vielleicht sollte ich mir doch mal 'ne dicke Jacke zulegen, bargeldlos einkaufen war ja so praktisch, vor allem, wenn man keine Kreditkarte hat und schnell genug laufen kann. Mach ich aber nicht so gerne, es gibt immer irgendwann einen, der schneller ist und ich konnte mir ziemlich gut vorstellen, was der Mann meiner Mutter dann mit mir machen würde. Und Benni würde fragen, woher die Jacke kam. Ist schon mies, 'nen jüngeren Bruder zu haben ... die Alten zu bescheißen ist simpel, aber für Benni war ich der große Bruder und wenn er merkte, daß ich mir manchmal ein paar Sachen organisierte, dann würde er meinen, daß es okay ist, zu klauen - und das ist es nicht. Jedenfalls nicht für Benni. Egal, jetzt regnete es und meine Jeansjacke würde mir nicht viel helfen und in 'ner Viertelstunde wär' ich bestimmt klatschnaß und ich brauchte so ungefähr 'ne halbe Stunde und ich würde trotzdem gehen. Also gut, vier Stockwerke runter, den Müll in die Tonnen und schon trabte ich in Richtung Schule. War nicht viel los auf der Straße, kein Wunder, und ich hielt nur unter einem Vordach an, um mir 'ne Zigarette zu drehen - bei Regen nicht so einfach.

Ich hatte gut geschätzt, dauerte ungefähr 'ne Viertelstunde, dann kam der Regen so langsam in meinem T-Shirt an, naja, kein Wunder, ich ging den Weg seit ein paar Jahren und hatte reichlich Erfahrung. Ja, ist schon klar, ich hätte auch ein Fahrrad nehmen können ... aber wenn man in meiner Gegend ein Rad stehenläßt, dann kann man's auch gleich wegschmeißen, war also nichts mit Fahrrad. Und für alle Oberschlauen: Ja, natürlich gibt's Busse, aber die kosten Geld, also ging ich jeden Tag zu Fuß zur Schule. Und ungefähr seit 'nem halben Jahr auch mal nachmittags, nee, ich bin nicht so'n beschissener Streber, aber die machen nachmittags den Raum mit den Rechnern auf und wir haben Internet umsonst. Ist 'ne coole Sache, du hast deine Ruhe und kannst surfen, naja, die haben so'n Programm drin, auf bestimmte Seiten kommst du nicht, aber man kann nicht alles haben. Jedenfalls bin ich am Anfang nur hingegangen, weil Schröder - ja, genau, wie dieser Politikmensch, aber damit hörte die Ähnlichkeit schon auf - also, weil Schröder nicht aufgehört hatte, mich zu nerven. Schröder macht Mathe und Physik und jetzt auch Informatik und wenn er 'ja' oder 'nein' sagt, dann meint er das auch, der bescheißt dich nicht. Als ich ankam, war mein T-Shirt eindeutig feucht und der Wollpulli hing runter wie ein nasser Sack und ich war echt froh, im Warmen zu sein »Hi, Blondie!«

Ich hab's schon lange aufgegeben, was gegen den Namen zu tun »Hallo, wie geht's den Kindern?«

Bei dem Spruch zuckte er immer noch zusammen, er hatte keine, aber er war einer von den Freaks, die sich Spinnen hielten und er hatte mal welche mitgebracht ... und er nannte sie 'seine Kleinen'. Seitdem erzählten wir den Kleinen, die neu an unsere Schule kamen, das Schröders Familie aus Spinnen bestand.

»Sie krabbeln. Hey, du setzt hier alles unter Wasser, geh dich abtrocknen!«

Schröder wußte, wo ich herkam, also fragte er gar nicht erst nach 'ner Regenjacke. War gut, nicht lügen zu müssen. Ich ging aufs Klo und hängte Pullover und Jacke über eine von diesen Trennwänden, nachmittags war das okay. Und es gab Papierhandtücher, praktische Sache. Zwei Minuten später holte ich mir das Englisch- Lexikon aus dem Schrank und setzte mich vor meinen Lieblingsrechner, war zwar 'ne echt langsame Kiste, aber dafür stand der Schirm so, daß kein anderer so einfach draufgucken konnte. Schröder wuselte bei den anderen Kids rum, aber er störte mich nie - er wußte, daß ich keinen Scheiß baute ... tat ich auch nicht, ich schrieb Mails. Simon wohnte in Michigan und sprach natürlich kein Deutsch ... und ich glaub, mein Englischlehrer würde sagen, daß er auch kein Englisch sprach, wenn er es eilig hatte, dann schrieb er irgendwie nach Gehör oder so. Aber ich hatte den Trick inzwischen raus, wenn ich gar nicht mehr durchblickte, dann las ich den Satz leise und meistens kam mir dann eine Idee. War nichts tierisch aufregendes, was wir da so schrieben, Alltag halt, für mich war's einfach toll, Mails nach Amerika zu schicken, ich mein, Amerika, das hat schon was. Für Simon war ich wohl Europa, ein Land, in dem reiche Amis manchmal Urlaub machten und in dem lauter uralte Burgen und Schlösser stehen - wenn er gewußt hätte, daß der größte Teil meiner Gegend aus Beton bestand. Simon ging in eine ziemlich große Schule und sein Vater arbeitete für eine Versicherung und sie waren erst vor 'nem Jahr oder so nach Michigan gezogen ... schien Simon nicht weiter zu stören, der Umzug meine ich. Er hatte noch 'ne Schwester und seine Mutter arbeitete halbtags. Naja, wir lebten halt beide in 'ner ganz normalen Familie, außer, daß Simons Leute seit ein paar Monaten wußten, daß er schwul war und meine nicht, egal, jedenfalls wußte ich, daß heute eine Mail von ihm da sein würde, er war vorgestern 16 geworden und ich hatte ihm natürlich 'ne Glückwunschmail geschickt ... ja, da war sie ja schon, mal sehen »Hi David thanx 4 yor kin congrats ....«

Und so weiter. Ich brauchte so ungefähr 'ne halbe Stunde, dann hatte ich es. Mußte echt 'ne Riesenparty gewesen sein, so um die 25 Leute und es ging bis weit nach Mitternacht und er hatte jetzt seinen Führerschein und war auch schon gefahren. Ein bißchen neidisch war ich ja schon, aber was sollte ich mit 'nem Führerschein, sowas ist ohne Auto ziemlich witzlos. Ich fing schon mal mit der Antwort an, es würde ein paar Tage dauern, bis sie fertig war, das Schreiben war nicht so schwierig, aber ich wollt ja auch noch 'n bißchen surfen. Scheiße, wenn ich noch 'n paar Jahre auf diesen Ministühlen sitzen mußte, dann konnt' ich mir gleich 'n neuen Rücken kaufen, und so groß bin ich nun auch wieder nicht. Ich war gerade irgendwo ganz tief im Netz, als Schröder kam »David, ich schließ gleich ab, sieh zu, daß du fertig wirst!«

»Was? Oh, Scheiße!«

Schröder machte immer um sechs zu ... und um sechs gab's bei uns Abendessen. Pünktlich.

»Zeit vergessen? Kann passieren, hol deinen Kram, ich fahr deinen Rechner runter!«

War zwar nett gemeint, aber ziemlich sinnlos, bis um sechs war ich eh nicht zu Hause - trotzdem rannte ich auf's Klo und holte meinen Kram, ich kam grade am Computerraum vorbei, als Schröder rief »David!«

Mist, ich hatte keine Zeit »Ja!«

Er lächelte mich an »Ich mach hier Schluß, wenn du willst fahr ich dich eben nach Hause, ich muß sowieso in die Richtung.«

Wir wußten beide, daß er nicht in meine Richtung mußte, aber er kannte meine Eltern. Aber wir sprachen nicht über so etwas. Normalerweise nehme ich keine Almosen, aber ich hatte es echt eilig »Ja, das wär' klasse ... danke!«

Okay. Licht aus und abschließen und dann in seinen Golf.

»David?«

Sein Tonfall war ... anders und das mochte ich nicht »Ja?«

»Also, wenn du ... Schwierigkeiten hast, dann ...«

Ich ließ ihn nicht ausreden »Danke, ich hab keine Schwierigkeiten.«

»Ich wollte es auch nur gesagt haben.«

So weit kam das noch, daß ich mit 'nem Lehrer über meine Familie sprach. Nicht mal mit Schröder. Wir kamen an »Danke!«

»Kein Problem.«

Zehn nach sechs, Bennis Vater stand auf, als ich kam »Wo kommst du her?«

»Schule.«

Puh, Glück gehabt, er schlug mich nur einmal, mit der flachen Hand. Er schlägt nie mit der Faust ins Gesicht, 'n blaues Auge wär' schwer zu erklären. Natürlich kriegte ich kein Essen, ich legte 'ne CD in den Player und machte Hausaufgaben - bis Benni kam »Hi, David!«

»Na, Kleiner, wie war der Tag?«

Ich verwurschtelte ihm die Haare, das mochte er eigentlich gar nicht und er wollte sich deswegen schon mal seine Mähne abschneiden, aber er hatte 'n wirklich schönes dunkles Braun und lang sah das einfach besser aus.

»Hast du deine Schularbeiten schon gemacht?«

»Klar, heut nachmittag, du warst ja nicht da. Hat Simon geschrieben?«

»Ja, sein Geburtstag muß toll gewesen sein und er darf jetzt fahren. Seine Eltern haben ihm ein paar Flugstunden geschenkt, wahrscheinlich sitzt er jetzt schon in einem Flieger.«

»Toll! Dann kann er ja doch Pilot werden!«

Simons großer Traum, aber seine Eltern waren dagegen ... aber da hatte sich wohl was geändert.

»Keine Ahnung, auf jeden Fall kann er jetzt fliegen lernen.«

Fliegen hin oder her, da waren immer noch meine Hausaufgaben ... später ging Benni ins Bad und machte sich fertig und dann ging ich, meine Mutter sagte noch Gute Nacht und dann brachte ich Benni ins Bett. Ja, ist schon klar, 'n 13-Jähriger findet auch allein ins Bett, aber .... das war so was wie ein Ritual. Also gut, es ist so ... als mein neuer Stiefvater bei uns einzog und Benni mitbrachte, war ich stinksauer, weil ich mein Zimmer jetzt teilen mußte. Ich mein, ich war 12 und dann so'n scheiß 10- Jährigen im Zimmer - na, klasse. Ich haßte die beiden, sie brachen so einfach in mein Leben ein und taten so, als ob sie jetzt zu Hause wären. Dabei war es mein Zuhause! Der Kleine war 'ne echte Nervensäge und ich versuchte die meiste Zeit, einfach nicht da zu sein. Dann wachte ich mal mitten in der Nacht auf und hörte den Kleinen leise weinen, naja, ich war nicht unbedingt nett zu ihm gewesen und irgendwie tat er mir leid. Also ging ich rüber ... nur war ich nicht der Grund für die Tränen. Benni hatte beim Abtrocknen einen Teller fallen gelassen und sein Vater hatte ihn mit einem Gürtel verprügelt. Ich machte das Licht an und sah zum ersten Mal Striemen. Am nächsten Morgen bin ich dann gleich zu Mama und sie sagte, sie würde sich darum kümmern. Am Abend kümmerte sich dann mein neuer Stiefvater um mich ... zwei Wochen kein Sport, damit es keiner sah. Klar tat's weh, aber viel schlimmer war, daß ich das Gefühl hatte, meine Mutter verloren zu haben. Jedenfalls kümmerte ich mich seit damals um Benni, deckte ihn zu, erzählte 'ne Geschichte, besorgte eine kleine Lampe, damit es nachts nicht so dunkel war ... so in der Art. Ist schon komisch, am Tag kannte ich keinen, der so gern und viel lachte, wie Benni, aber nachts ... dann rollte er sich zusammen, umklammerte seinen kleinen braunen Teddy und war wie ein trauriges Kind. Ist ja auch egal, jedenfalls brachte ich Benni ins Bett und legte mich selbst hin ... war eigentlich ein bißchen früh für's Schlafen, ich blickte zur Decke und fragte mich, wie das wohl ist, in einem Flugzeug zu sitzen ... hinter dem Steuerknüppel ... langsam abheben und dann hoch ... durch die Wolken ....

Ich weckte Benni und ging duschen ... dann scheuchte ich Benni ins Bad und machte das Frühstück. Wie üblich.

»Benni, zieh noch 'nen Pulli an, ist kalt draußen.«

»Nee! Jacke reicht.«

»Kuck mal aus dem Fenster!«

War schon klar, er hatte nur zwei Pullis und beide waren alt ... und wegen ein bißchen Kälte und Regen würde er keinen anziehen.

»Komm, iß dein Frühstück.«

»Ne, keinen Hunger.«

Also, das fing echt an, zu nerven. Seit ein paar Monaten jeden Morgen das gleiche Spiel »Hey, wenigstens 'ne Schnitte!«

»Hör auf, zu nerven, ich hab keinen Hunger!«

War ich mit 13 auch so? Ich glaub nicht.

»Okay, halbe Schnitte.«

Benni stöhnte, aber er aß 'n Stück Brot. Wenigstens etwas. Gut, saubermachen und spülen und dann ging's in die Schule.

So ungefähr war es eigentlich immer - bis zu dem Tag, als alles anfing.

Dienstag, 17. Februar, ich hab das Datum nie vergessen. Englisch war endlich vorbei und ich ging mit ein paar Jungs aus meiner Klasse zum Tor »... und beim nächsten Mal laß dir 'ne bessere Ausrede einfallen!«

»Möchte dich mal sehen, wenn Bergmann vor dir steht und dich anbellt! Da denkst du an gar nichts mehr!«

»Doch! An ein kleines Loch, wo du dich verkriechen kannst!«

»Okay, Jungs, ich muß noch auf Benni warten. Macht's gut!«

»Ja, klar, see you.«

Dienstags ging ich immer mit Benni nach Hause, wir hatten beide nach der 5. Stunde frei. Aber heute stand ich mir die Beine in den Bauch. Verdammt, wo blieb der Kleine denn? Zum Glück hatte der Regen aufgehört, aber es war arschkalt und ich fing langsam an, sauer zu werden. Der Kerl sollte nicht rumtrödeln, sondern seinen Hintern in Bewegung setzten!

»David! Was machst du denn hier?«

Schröder »Ich warte auf Benni.«

»Ja, hat denn ... hat es dir denn niemand gesagt?«

»Was gesagt?«

»Komm!«

Er rannte. Schröder rannte. Schröder! Niemand hatte je gesehen, daß Schröder sich schnell bewegt und ich bekam Angst. Er schloß den Wagen auf und los ging's und es ging echt los, er fuhr wirklich heftig - hielt ihn aber zum Glück nicht vom Reden ab »Benni ist heute morgen ins Krankenhaus gekommen, er hat Blut gespuckt. Wir wissen noch nicht was los ist. Ich hab gedacht, du wärst längst in der Klinik!«

Benni? Blut? Für einen Moment drehte sich alles.

»Oh, Scheiße!«

»Ja! Aber ... kann auch harmlos sein, vielleicht wissen die Ärzte schon was.«

Schröder kam mit ins Krankenhaus, war ganz gut, ist nicht so leicht, in so einem Kasten das richtige Zimmer zu finden »Hi, David!«

Benni sah eigentlich ganz normal aus, nur daß er so einen Schlauch im Arm hatte »Benni! Was machst du denn für Sachen? Wie geht's dir?«

»Gut! Ich weiß nicht, warum die so'n Aufstand wegen ein bißchen Blut machen. Vielleicht komm ich heut schon wieder raus.«

Ich war mächtig erleichtert. Die Tür ging auf »Guten Tag. Ich bin Dr. Michelberg, sie sind wahrscheinlich der Vater von Benni?«

»Nein, ich bin sein Lehrer, Schröder mein Name. Kann ich sie mal kurz sprechen?«

Der Doc schien etwas überrascht, aber dann nickte er. Die Beiden gingen raus und ich plauderte noch etwas mit Benni, also, die ganze Sache hatte mir wirklich einen ziemlichen Schrecken eingejagt und ich war unheimlich froh, daß es Benni gut ging.

Später kamen Schröder und der Doc wieder »David, ich muß los, der Doktor will noch mit dir reden. Und ...«

Er legte mir die Hand auf die Schulter »... diesmal hörst du mir zu! Wenn du was brauchst, egal was, auch wenn's ein Freund ist, dann komm zu mir, klar?«

Er hatte die Grenze überschritten, wir redeten nicht über sowas. Aber irgendwie war ich auch froh darüber.

»Okay.«

Im Zimmer von dem Doc stand auch 'n Aschenbecher und ich drehte mir eine.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»15. Wieso?«

»Ich dachte immer, daß man erst ab 16 rauchen darf.«

Ich lachte »Weiß ich nicht. Aber ich glaub, dafür komm ich nicht ins Gefängnis.«

»Nein, aber vielleicht ins Krankenhaus. Wie dem auch sei, dein Lehrer hat mir ein bißchen was erzählt ...«

Er kriegte wohl mit, daß ich plötzlich wütend wurde. Schröder hatte kein Recht, über mich zu reden. Oder über Benni.

»... hey, das war richtig so. Es gibt für mich eine Schweigepflicht, keine Angst. Wir haben uns schon gewundert, warum Bennis Eltern nicht auftauchen, aber wie es aussieht, bist du ja wohl so eine Art großer Bruder, der sich um ihn kümmert.«

Verdammt, woher wußte Schröder das denn?

»Trotzdem muß ich unbedingt auch mit deinen Eltern reden, okay?«

»Natürlich, wahrscheinlich wissen sie nur noch nicht.«

Er lächelte traurig »Ja, wahrscheinlich.«

Hm, irgendwie wußte er wirklich mehr, als er wissen sollte. Zeit für einen Themenwechsel »Benni sagte, daß er vielleicht heute schon wieder rauskommt?«

»Woher hat er das denn? Nein, tut mir leid, sicher nicht. Wir werden noch mehr Untersuchungen machen müssen, aber das wird eine größere Sache. David ...«

Er seufzte »... es gibt keine Methode, so etwas schonend zu sagen. Benni ist sehr krank, so viel wissen wir. Wir wissen noch nicht, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist, aber wir werden alles tun, um ihm zu helfen, darauf hast du mein Wort. Er hat heute nachmittag noch eine Computertomographie, danach werden wir klarer sehen. David ... ach, scheiße!«

Er holte 'n Päckchen Kippen aus Schublade und machte sich eine an »Hör zu. In Bennis Darm gibt es ein Gewächs, das da nicht hingehört. Wir wissen noch nicht, ob sich das schon ausgebreitet hat, aber ...«

Und so weiter. Was er sagte, machte mir Angst. Sie meinten, daß es vielleicht Krebs wäre, auch wenn er das nicht so deutlich sagte »... also, sag Benni bitte noch nichts. Wir müssen erst sicher sein, okay?«

Die Wahrheit kam scheibchenweise, Tag für Tag, es war Krebs, im Darm, in der Leber, in einer Niere. Sie schnitten ihm den Bauch auf und später kriegte Benni dann Chemotherapie. Er kotzte andauernd und ich sah ihn nur noch mit irgendwelchen Flaschen, aus denen irgendwas in ihn rein lief. Und Benni lächelte. Und das war das schlimmste. Ich mein, er lag da und kotzte und keuchte und war zu schwach, um sich das Gesicht abzuwischen ... aber er lächelte.

Schröder kam, immer wieder. Manchmal auch andere Lehrer. Am Anfang auch ein paar Kids aus Bennis Klasse, aber als es dann schlimmer wurde, blieben sie weg. Wie meine Mutter. Und Bennis Vater.

Kai kam und Chris, eigentlich Christian, er mochte es nicht, wenn er Chris genannt wurde, wir taten es trotzdem alle. War schon verrückt, Kai war in meiner Klasse, aber wir waren eigentlich keine Freunde oder sowas und mit Chris hatte ich nur zusammen Sport und eigentlich kannten wir uns fast gar nicht. Aber das änderte sich. Sie kamen fast jeden Tag, allein oder zusammen, für ein paar Minuten oder für Stunden. Ich hab damals viel über Freundschaft gelernt. Als ich mal von einer Zigarettenpause wiederkam, hatte Benni es nicht mehr geschafft, an die Schale zu kommen und hatte alles über sich selbst gekotzt. Kai und Chris wischten ihn ab und zogen ihm ein neues Hemd an, als wär' es das normalste von der Welt. Da wußte ich, daß Benni jetzt drei große Brüder hatte.

Geburtstag im Krankenhaus ist 'ne ziemlich schlimme Sache. Die Schwestern besorgten ein paar Blumen für Benni und ich klaute so 'n kleinen CD-Player und ein paar CD's. Und zwei Bilderrahmen, Benni wollte ein Foto von mir haben und ich stellte mir seins ins Zimmer ... so war ich nachts nicht alleine.

Es war am 26. Juni. Michaela, die Nachtschwester, war grade da gewesen und hatte die Flasche gewechselt. Da machte Benni die Augen auf und schaute mich an. In den letzten Wochen war sein Blick immer so verschwommen gewesen, wohl wegen der Medikamente, aber jetzt war er ganz klar »David?«

»Ja, Benni, ich bin hier.«

»Werd' ich ... da oben ... wohl Simon treffen?«

»Simon?«

»Ja ... er fliegt doch ... da oben .... im Himmel.«

Ich konnte nichts sagen, ich weinte viel zu sehr »Du darfst nicht weinen ... du bist ... du bist doch ... mein großer Bruder.«

Das war das letzte, was er sagte.

Wir begruben ihn an einem Mittwoch, es regnete. Anschließend gab's Kaffee und Kuchen. Ich stand mit Schröder, Kai und Chris zusammen und ich wollte mich irgendwie bedanken, als Bennis Vater kam. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte »Naja, immerhin hast du jetzt dein Zimmer wieder für dich alleine!«

Ich glaub, in dem Moment ging irgendwas in mir kaputt. Ich sagte ... gar nichts, es gab auch nichts, was ich hätte sagen können. In Schröders Augen sah ich blanken Haß und Kai und Chris ging's wohl auch nicht anders. Ich ging mit zu Chris, ich glaub, seine Eltern freuten sich sogar, mich zu sehen. Später kam Kai und die meiste Zeit saßen wir nur da ... und ich war froh, nicht allein zu sein. Ich blieb über Nacht und ging am nächsten Morgen zur Schule, besser als rumsitzen. Als ich nach Hause kam, war Bennis Vater da. Und er stank nach Bier »Ah, mein Herr Sohn kommt auch schon nach Hause. Bist du eigentlich völlig durchgedreht? Wir sitzen hier und machen uns Sorgen, wo du bist!«

Ich schrie ihn an »Sorgen? So, wie ihr euch um Benni Sorgen gemacht habt? Wie ihr ihn allein gelassen habt und wie er alleine krepiert ist und ihr wart nicht da? Und ich bin nicht dein Sohn und ...«

Weiter kam ich nicht.

Am Anfang wollte er mich, glaube ich, nur schlagen, aber diesmal schlug ich zurück, es tat so wahnsinnig gut und es fühlte sich so ... richtig an. Ich erinnere mich noch gut, wie er geguckt hat, als ihn meine Faust traf und ich schlug mit aller Kraft und mit aller Wut, die ich hatte. Nein, er verprügelte mich nicht, er schlug mich zusammen ... gründlich. Am Anfang wehrte ich mich, aber dann machte er meine Schulter kaputt und dann ging nichts mehr. Es tat entsetzlich weh und ich dachte, es wäre zu Ende und irgendwann muß ich wohl bewußtlos geworden sein. Die Nacht war schlimm, wirklich schlimm. Ich hatte dauernd Blut im Mund und mein Auge war zugeschwollen und mein linker Arm war irgendwie völlig nutzlos und er hatte mir so oft zwischen die Beine getreten und mein Kopf dröhnte, vor allem, wenn es mir hochkam. Zwischendurch träumte ich und dann war ich wieder wach, war wie 'ne Achterbahnfahrt. Dann sah ich Schröders Gesicht, ganz groß und nah und dann war da noch 'n Bulle und so'n Typ mit 'ner knallroten Jacke. Und dann war's zu Ende.

Es war warm. Und ich war müde.

Es war warm ... aber ich war nicht mehr so müde. Irgendwas hatte mich geweckt. Ich machte die Augen auf ... naja, ich machte das rechte Auge auf. Und glaubte es nicht.

»Mischela?«

Oops, sprechen war also auch schwierig ... fühlte sich alles so taub an. Aber das Gesicht gehörte eindeutig Michaela, ja, genau, die Nachtschwester, die so oft an Bennis Bett gesessen hatte.

»Hallo David! Na, wieder wach? Ich hätte ja nicht gedacht, daß wir uns so schnell wiedersehen. Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut. Schprechen ist schwierig.«

Sie grinste »Versteh ich nicht, dir fehlen doch nur zwei Zähne und deine Lippen sind ziemlich im Eimer. Aber das kommt alles wieder in Ordnung, keine Sorge.«

»Wie ... hierhin ... gekommen?«

Sie grinste »Na, geflogen bist du nicht, na, ich weiß schon was du meinst, aber so genau weiß ich das auch nicht. Laß mal sehen ...«

Sie blätterte in einer Akte, wahrscheinlich meine »Also, ein Herr Schröder hat den Rettungswagen angerufen ... hey, wart mal, ist das nicht dieser große Typ mit den langen Haare, dieser Lehrer, der manchmal bei Benni war?«

»Nicht manchmal ... er war oft .... bei Benni.«

Michaela nickte »Jedenfalls hat der RTW dich hierhin gebracht und wir haben dich behandelt. Und jemand von der Polizei hat sich für morgen angemeldet. David, wer hat das getan?«

»Treppe?«

Na gut, ich konnt's ja mal versuchen.

»Muß ja eine wirklich fiese Treppe gewesen sein, die dich so verprügelt hat. Hör auf mit dem Blödsinn, wer war es?«

»Bennis Vater.«

»Hoffentlich taucht er hier auf. Dem Flachwichser würde ich zu gern einen Einlauf mit Toilettenreiniger machen, dann wär wenigsten etwas an dem Arschloch sauber.«

Also, ich geb's ja zu, ich grinste ... oder ich versuchte es jedenfalls »Trinken?«

»Nee, das lassen wir mal lieber. Falls du es noch nicht gemerkt hast, du hast eine Infusion im Arm, wir lassen dich schon nicht verdursten. Aber dein Mund dürfte noch ziemlich taub sein, du würdest dich nur verschlucken.«

»Toilette?«

»Groß oder klein?«

»Pinkeln.«

Ich wollte mich gerade aufrichten, aber Michaela hatte was dagegen »Nichts da, du bleibst liegen. Du hast die Luxus-Version gebucht, kompletter Service inklusive.«

War schon klar, die Flasche ... und ich hasse es, vor Leuten zu pinkeln. Sie legte das Ding zwischen meine Beine und steckte meinen Schwanz rein und deckte mich wieder zu - fühlte sich merkwürdig an »Soll ich rausgehen?«

»Bitte!«

Ich muß wohl eingeschlafen sein, als ich fertig war, jedenfalls war es hell, als ich aufwachte. Und schon wieder ein bekanntes Gesicht sah - Dr. Michelberg. Er setzte sich auf mein Bett und schaute mich scharf an »Hallo David. Wie fühlst du dich?«

»Beschissen!«

War auch so. Es gab an mir so ziemlich nichts, was nicht weh tat. Er nickte und checkte mich kurz durch »Okay, im großen und ganzen hast Du es ganz gut überstanden.«

»Toll!«

Er grinste »Hey, ich weiß, wie du dich fühlst, aber das vergeht wieder. Du hast keine wirklich schlimmen Verletzungen, aber das ist wohl eher Zufall. Dein ... hm, Stiefvater hätte dich genauso gut umbringen können - und genau das wird in meinem Bericht an die Staatsanwaltschaft stehen. Willst du hören, was du so alles hast?«

Konnt' ja nicht schaden, also nickte ich. Der Doc blätterte kurz in so 'ner Akte ... scheiße, wenn er sich nicht mal mehr merken konnte, was ich eigentlich hatte, dann sah's aber übel aus »Okay ... also: Gehirnerschütterung, aber das war ja klar, linke Schulter ausgekugelt, da wirst du noch ein paar Wochen Spaß mit haben, aber dann wird es verheilt sein, erschreck nicht, wenn du den Bluterguß siehst, der ist gewaltig!«

Ich versuchte dieses Krankenhausnachthemd aufzuknoten, aber das ist einarmig 'n bißchen schwierig »Warte, ich helf dir.«

Nett. Wirklich nett. Das Blau zog sich runter bis zur Brustwarze.

»Dann hätten wir da noch zwei fehlende Schneidezähne im Oberkiefer, ein Stück Schneidezahn im Unterkiefer fehlt auch ... also, da solltest du einen Kieferorthopäden aufsuchen, das muß gemacht werden .... dann fehlt dir ein Stück Ohr ...«

»WAS?«

Er grinste »Keine Panik, ist nur ein kleines Stück vom Ohrläppchen, ziemlich weit oben.«

Mir schwante was und ich griff an mein linkes Ohr ... ja, die Stelle war verbunden. Da saß früher ein Stecker ... mußte wohl passiert sein, als ich schon weg war.

»So, was haben wir denn noch so im Angebot ... deine Augen müßten eigentlich in ein paar Tagen wieder in Ordnung sein ... du hast da einen ziemlichen Riß an der Stirn, so zur Schläfe hin, das mußten wir nähen und das wird wohl eine Narbe geben, deine Lippen waren aufgeplatzt, aber das wird schon wieder .... rechte Augenbraue ebenfalls ... ja, und dann haben wir noch große Mengen an Prellungen und Blutergüssen, aber das tut nur weh.«

»Ach nee!«

»David, wenn du darauf bestehst, gebe ich dir jetzt ein Schmerzmittel, aber mir wäre es lieber, wenn du noch ein paar Minuten warten würdest. Gleich kommt jemand von der Kripo und du solltest einen klaren Kopf haben, wenn du mit ihm sprichst.«

»Okay. Schaff ich schon.«

Sie kamen zu zweit und wollten den 'Tathergang' hören. Ich kämpfte mich durch, so gut es ging und erzählte.

»David, wie oft bist du geschlagen worden?«

»Geschlagen?«

Sie schauten sich an. »Als du hier eingeliefert wurdest, bist du natürlich gründlich untersucht worden und da sind ein paar Narben aufgefallen ... Narben, die so aussehen, als wärst du mit irgendwas geschlagen worden.«

»Nicht irgendwas. Gürtel.«

»David, das ist jetzt sehr wichtig. Wer hat dich mit einem Gürtel geschlagen, wer hat diese Narben verursacht?

»Bennis Vater.«

»Danke! Dafür, das du es uns gesagt hast. Ich nehme an, er würde auch so ins Gefängnis kommen, aber jetzt hat er noch eine Anklage wegen Mißhandlung Schutzbefohlener am Hals und das wird ihn teuer zu stehen kommen. Okay, der Doktor hat uns gebeten, schnell zu machen, er will dir, glaube ich, was gegen die Schmerzen geben. Wir kommen nochmal wieder, wenn es dir besser geht, dann unterhalten wir uns mal richtig.«

Und weg waren sie. Sofort war der Doc da, die Spritze in der Hand »So, und jetzt wird's gleich besser!«

Wurde es - und wie. War aber auch nötig, denn dann kam eine Schwester mit einem großen Becken in der Hand - waschen. Sie war sehr vorsichtig und ich war ein bißchen beduselt, aber ich erschrak ziemlich, als ich mich sah. Himmel, ich sah nicht viele Stellen an mir, die nicht dieses nette, tiefe, dunkle Blau zeigten. Naja, ich hab sowieso ziemlich helle Haut, da sah es wohl noch schlimmer aus ... aber ich war froh, daß ich keinen Spiegel hatte.

Die Nacht war nicht so toll, aber am nächsten Tag ging's mir echt besser, ich kriegte was zu trinken und durfte aufs Klo, allerdings in Begleitung. Zum Glück 'n Zivi, ich bin zwar schwul, aber irgendwie wär mir 'ne Schwester doch ... unangenehm gewesen. Auf dem Rückweg kamen wir an einem Spiegel vorbei - heilige Scheiße, das meine Augen ziemlich was mitgekriegt hatten, wußte ich ja, aber das Pflaster auf meiner Stirn war ja riesig und das Pflaster an meinem Ohr machte mich wütend. Die Zähne ... fehlten einfach, fühlte sich nur merkwürdig an, tat aber nicht weh. Der Zivi grinste »Tja, also sonderlich schön bist du im Moment nicht, aber das wird schon wieder. Los, komm, ab ins Bett!«

»Hah! Erst sagst du, daß ich häßlich bin und jetzt willst du mich ins Bett kriegen! Sag mal, wann gibt's denn was zu Essen?«

»Ich glaub, das Schnitzel lassen wir mal, aber ich red mal mit dem Doc, vielleicht ein bißchen Suppe.«

Na toll, er kam wirklich mit Suppe rüber »Sag mal, hast du nichts vernünftiges?«

»Hör auf zu maulen, ich hab das Zeug extra für dich gemacht!«

»Gemacht? Du meinst warmgemacht!«

Er grinste mich an »Nörgelt hier an meinem Essen herum, unglaublich! Sieh bloß zu, daß du schnell gesund wirst und nach Hause kommst!«

»Muß ich ja wohl, wenn ihr mich hier verhungern laßt!«

»Aha, unser junger Patient meutert schon, muß dir wohl besser gehen!«

Der Oberdoktor, nicht mein Doc. Der stand mit 'nem Haufen anderer Leute daneben, aber das kannte ich - Visite. Bei Benni mußte ich immer raus, jetzt konnte ich das mal live erleben. Nicht, das ich da heiß drauf gewesen wäre.

»Viel besser, danke. Aber ich hab Hunger!«

Er lächelte »Ein gutes Zeichen. Vielleicht kannst du ja heute Abend ein bißchen Haferschleim bekommen.«

»Ha … Hafer ... schleim?«

Also, da hatte er mich wirklich links erwischt. War aber wohl Absicht, denn er grinste und meinte »Aber falls du kooperativ bist und uns deinen Oberkörper zeigst, damit die angehenden Kollegen hier etwas lernen, könnte ich versuchen, für dich ein gutes Wort beim Kollegen Michelberg einzulegen.«

Blanke Erpressung, aber wir kannten uns und natürlich spielte ich mit »Was tut man nicht alles für ein bißchen Essen ...«

Er zeigte hierhin und dahin und brabbelte 'n Haufen unverständliches Zeug und dann war's überstanden und ich hatte meine Ruhe. Für ein paar Minuten. Dann kam Schröder. »Hi, Blondie, du siehst beschissen aus.«

»Danke. Ohne sie säh' ich aber wohl noch beschissener aus, oder?«

Er grinste »Zufall. Als du nicht in der Schule warst, wollte ich dich eigentlich anscheißen kommen.«

Also, das mochte ich an Schröder. Er würde nicht mal mit 'ner Knarre am Schädel zugeben, daß er sich Sorgen gemacht hatte.

»Und nach dem Anschiß haben sie den Krankenwagen gerufen?«

»So ungefähr.«

Er ist echt cool, aber man kann's auch übertreiben. Dauerte was, bis ich die ganze Geschichte aus ihm 'rausgeholt hatte. Er war zu mir nach Hause gekommen, weil er sich Sorgen gemacht hatte - nicht, daß er das gesagt hätte - und als meine Mutter ihn nicht reinlassen wollte, da ist er dann mißtrauisch geworden und hat so getan, als gäb's die Tür nicht. Er hat dann zuerst mal gecheckt, ob es sich noch lohnt, 'n Krankenwagen zu rufen » ... naja, ich hab mir gedacht, wenn ich dich da krepieren lasse, dann krieg ich einen Haufen Ärger ... du bist zwar ein mieser Schüler, aber ich hab trotzdem 'n Arzt gerufen.«

Er kann das Arschloch echt toll spielen »Und Sie sind nur deshalb hier, weil Sie wissen wollten, ob sich der ganze Aufwand gelohnt hat?«

»Nee, ich wollte die Leute hier nur fragen, ob sie Hilfe brauchen, ich kann ganz gut mit Nadel und Faden umgehen und vielleicht gibt's an dir ja noch was zu tun.«

»Keine Chance! Die haben mich hier schon zusammengeflickt.«

Er seufzte »Ja, ich seh schon, die verwöhnen dich hier!«

»Herr Schröder?«

»Mmhh.«

»Danke!«

Er wurde wirklich ein bißchen rot »Äh, ja, ich glaube, ich geh dann mal.«

War ja klar, so ist er eben.

Zum Abendessen gab's wirklich was vernünftiges und da merkte ich dann auch, daß mir Zähne fehlten ... und wie das, ist, mit einem Arm zu essen, aber es funktionierte.

Nächsten Tag kamen die Bullen wieder und ich mußte alles nochmal erzählen ... und nochmal und dann kam noch 'ne Alte vom Jugendamt und wollt mir einen erzählen ... naja, war nicht so toll, aber solange mir die Typen den Vater von Benni vom Hals hielten, war's okay.

Und noch 'n Tag später kam der Doc dann wieder und er grinste »Warum bist du denn noch hier?«

»Weil irgendein Weißkittel gesagt hat, ich müßt noch hierbleiben.«

»War ich das zufällig?«

»Glaub schon.«

»Na, dann laß mal sehen ...«

Ich werd nie verstehen, warum die die ganzen teuren Geräte brauchen, wenn sie doch nur tasten und hören und gucken, aber was solls »Hm, sieht doch ganz gut aus. Wenn du willst, kann ich noch zwei oder drei Tage rausschlagen, aber eigentlich kannst du nach Hause.«

Mein Jubel hielt sich in Grenzen, aber klar mußte ich wieder nach Hause ... wenn ich so etwas noch hatte. »Ist morgen früh okay?«

»Klar. Ich mach die Papiere schon mal fertig, dann kannst du morgen weg, wann du willst.«

Und so war's dann auch. Naja, nicht ganz, erstmal kriegte ich noch Klamotten, das meiste von meinem Kram war nicht mehr zu gebrauchen, dann sollte ich unbedingt bei meinem Hausarzt vorbeischauen - als wenn ich sowas gehabt hätte - aber dann ging's ab. Die Leute auf der Straße kuckten zwar ein bißchen blöd, wenn sie mich sahen, aber was soll's.. Eigentlich wußte ich gar nicht so genau, wo ich hin wollte, ich lief einfach und stand dann vor der Schule. War zwar noch 'n bißchen früh, aber ich ging mal gucken, vielleicht war der Raum mit den Rechnern ja schon offen ... war er, Schröder hackte auf dem Keyboard und guckte nur kurz hoch »Hi Blondie, wieder da?«

»Ja. Was dagegen, wenn ich schon mal anfange?«

»Mach ruhig.«

Ich fuhr den Rechner hoch und loggte mich ein ... und las die letzte Mail, die ich Simon geschrieben hatte ... und nie abgeschickt hatte, war ja auch nicht fertig geworden. Ich wußte nicht, ob Simon überhaupt noch mit mir rechnete, aber ... ach, scheiße, irgendwem mußte ich einfach erzählen, was alles so gelaufen war. Also schrieb ich. Mit einer Hand. Die ganze Geschichte. Auch, wenn's weh tat ... ich schrieb sogar, was Benni als letztes gesagt hatte.

»David, mußt du immer noch um sechs zu Hause sein?«

»Was?«

»Hey! Du heulst hier den halben Nachmittag die Tatstatur voll, schreibst wie ein Blöder und wenn ich dir 'ne sinnvolle Frage stelle, kriege ich nur ein 'Was'? Also, es ist halb sechs, mußt du nach Hause?«

»Keine Ahnung. Aber ich bin sowieso gleich fertig.«

War ich auch. So, noch abschicken ... runterfahren und ab nach Hause, mal sehen, ob wer da war. Ja, meine Mutter ... und das wurde ziemlich mies. Sie war überhaupt nicht davon begeistert, daß ich wieder da war und regte sich mächtig auf. Plötzlich hatte ich mir die Narben auf dem Rücken beim Spielen geholt, Bennis Vater hatte mich nie geschlagen und ich war mit einem Messer auf ihn losgegangen und deshalb hatte er mich verprügelt. Scheiße, ist echt toll, wenn ein fremder Typ deiner Mutter wichtiger ist, als du. War schon klar, er brachte 'n bißchen Kohle und ich nicht, aber mußte sie deswegen gleich so 'ne Scheiße erzählen? Vielleicht würd' mir der Richter glauben, die Bullen im Krankenhaus meinten, daß ich Bennis Vater für ein paar Jahre los wäre ... und das würd' mir ja reichen. Ich krallte mir 'ne Scheibe Brot, Hunger hatte ich sowieso nicht, und ging in mein Zimmer. Oh, ja, Klasse! Niemand hatte mein Bett abgezogen oder das Bettzeug gewaschen, keiner hatte den Boden aufgewischt ... super, roch großartig. Also übte ich einarmiges Putzen, das Bettzeug konnt' ich wegschmeißen. Dauerte was, aber nach 'ner Stunde oder so war das Zimmer fertig und ich war's auch. Ich wollt mich gerade hinlegen, als ich Bennis kleinen braunen Teddy auf seinem Kopfkissen sah ... und das leere Bett. Keine Ahnung, warum, jedenfalls nahm ich den Teddy und legte mich in Bennis Bett und das tat viel mehr weh, als meine Schulter.

Schule war irgendwie merkwürdig, die Leute guckten mich blöd an, die Lehrer wußten auch nicht so genau, was sie sagen sollten. Kai sorgte dafür, daß die anderen mich in Ruhe ließen und wenn nicht, wär's mir auch egal gewesen, war sowieso vorletzter Schultag. Ich war froh, als ich nach Hause konnte. Kochen war schwierig, war sowieso nicht viel da und ich trabte wieder zurück zur Schule, vielleicht hatte Simon ja schon was geschrieben ... aber eigentlich ging ich hin, weil ich nicht wußte, wo ich sonst hin sollte. Ich hängte mich also wieder in diesen Zwergenstuhl und loggte mich ein ... Wunder über Wunder, da war wirklich 'ne Mail von Simon ... und sogar in vernünftigem Englisch »Hi David, wow, ich hatte schon gedacht, du wolltest mir nicht mehr schreiben, aber das ist natürlich was anderes. David, es tut mir so leid, du hast manchmal von Benni geschrieben und danke, daß du mir gesagt hast, daß er von mir gesprochen hat, bevor er starb, ich werd ganz fest an ihn denken, wenn ich die nächste Flugstunde habe. David, ich hab eben was gemacht und ich weiß nicht, ob du damit einverstanden bist, aber ich hab's trotzdem gemacht. Ich bin so sauer, weil dir das mit Bennis Vater passiert ist und ich hab 'ne Mail an Colin geschickt und ihm erzählt, was bei dir los ist. Hey, keine Panik, Colin ist okay und vielleicht hat er eine Idee, was du tun kannst. Gut, daß du wieder aus der Klinik raus bist und ich bin wirklich froh, das Bennis Vater im Gefängnis ist. Vielleicht kommst du ja mit deiner Mutter jetzt irgendwie besser klar, also ich an eurer Stelle würde umziehen und woanders neu anfangen. Hey, warum kommt ihr nicht zu uns, nach Amerika? Das wäre doch der Spaß! Ja, ich weiß, das wird wohl nichts, aber es wäre doch schön. Wie geht's denn jetzt weiter mit dir? Mußt du zu der Gerichtsverhandlung? Wie hältst du das eigentlich aus, das mit deiner Schulter hört sich ja schlimm an, kannst du denn überhaupt schlafen ...«

Und dann kamen noch ein paar persönliche Sachen. Mann, tat das gut, endlich mal wer, dem ich nicht egal war. Ich weiß nicht so genau, warum ich mich ausgerechnet über die Mail so freute, aber irgendwie dacht' ich mir, daß es jetzt besser werden würde. Irgendwie. Wenn Bennis Vater weg war, dann könnte ich wirklich einen neuen Start versuchen, zusammen mit meiner Mutter, sie würde bestimmt mitmachen, wenn er erstmal im Knast wär'. Ich war echt gut drauf und ging nach Hause ... ich dacht mir, ich könnte vielleicht ein bißchen was fürs Abendessen machen, Mama würde sich bestimmt freuen, wenn sie wiederkam. Ich schaffte nicht so ganz viel, aber immerhin hatten wir Kerzen auf dem Tisch, als Mama wiederkam. Sie hängte ihren Mantel auf und ich lächelte sie an. Sie schaute auf den Tisch: »So, wegen dir habe ich den halben Nachmittag bei den Bullen gesessen, aber dafür hat sichs wenigstens gelohnt. Dein Vater kommt morgen aus dem Knast, wenigstens bis zur Verhandlung. Und dann wollen wir mal sehen, was passiert, wenn das Wort von zwei Erwachsenen gegen deins steht!«

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