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NetEscape
Teil 9
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Informationen
- Story: NetEscape
- Autor: Thomas
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Lovestory
Tja, und dann ging der Trubel los. Finn war einfach nur glücklich, aber dann war da noch mein Bruder, obwohl Kit nicht so viel Probleme machte - war ganz einfach, ich hab gesagt, dass Finn natürlich auch seinen Teil an den ganzen Jobs machen würde, die wir uns sonst teilten. Kit denkt ziemlich praktisch und es war ja nicht für so lange. Und dann ging's ans Telefon, mit Stephen reden.
» ... ja, genau. Finn kommt zu uns, bis wir ... was?«
»Ich habe gefragt, ob du den Verstand verloren hast? Wir versuchen hier mit Finn zu arbeiten und du ...«
Ja, ich wusste so ungefähr, was er meinte. Die hatten da so Pläne gemacht, wann Finn was lernen sollte und die waren jetzt wohl so 'n bisschen durcheinander gekommen.
» ... machst hier den großen Wunscherfüller, oder wie? Finn braucht professionelle Hilfe, verdammt noch mal!«
»Ja, die braucht er, aber die kann er ja auch kriegen. Stephen, wir wollen doch beide das Gleiche ...«
Hehe, ich sollte doch mal Politiker werden.
» ... nämlich das Beste für Finn. Aber sag doch mal ehrlich, eine gute Familie wäre doch eine tolle Sache für ihn und es wäre doch gut, wenn er nach der Therapie nach Hause gehen könnte.«
»Ja, aber so weit ist er doch noch gar nicht! Stell dir mal vor, Finn hätte so was wie heute in einer Familie gebracht? Was dann?«
Ich grinste. Ganz genau _jetzt_ war er in die Falle gelaufen.
»Jaaa, Stephen, danke, dass du es erwähnst. Heute ist 'ne Menge passiert, oder? Auch bei Finn, meinst du nicht auch?«
Ich konnte hören, wie er schluckte. Natürlich war bei Finn einiges passiert, auch wenn das nicht so viel mit meinen tollen Fähigkeiten zu tun hatte.
»Gib mir bitte deinen Vater.«
Hm, besser ging's wohl nicht. Ich stellte ihn nach unten durch und nahm die zweite Leitung für Colin.
»Hi Colin, ich bin's, David. Ich brauch eine Familie, damit ich einen guten Freund da unterbringen kann.«
Colin kann man manchmal lächeln hören.
»Hallo David. Danke der Nachfrage, mir geht es gut.«
Ähem, da war ich wohl ein bisschen schnell gewesen.
»Tut mir leid, Colin, ich bin nur gerade etwas aufgeregt. Dad hat gemeint, ich sollte mich um die neue Familie für Finn kümmern.«
»Dein Dad ist ein mutiger Mann. Und Finn heißt der Junge, um den es geht?«
»Ja ... soll ich mal von vorne erzählen?«
»Hört sich an, als wäre es eine gute Idee.«
Ich jagte unsere Telefonrechnung nach oben, naja, das geht hier eigentlich gar nicht, weil Telefon fast nichts kostet, jedenfalls hab' ich ihm die ganze Geschichte erzählt.
»Hm ... so auf Anhieb fallen mir da einige Familien ein, das Problem wird sein, die richtige zu finden. Ich höre mich mal um und geb' dir in den nächsten Tagen Bescheid. Und, David ... willkommen in der Gruppe!«
Na, da fühlte ich mich gleich ein paar Zentimeter größer, obwohl, ich war in den letzten Monaten wirklich ein bisschen gewachsen. Kit meinte, das hätte was mit dem Essen zu tun, Dad tippte auf die gute Luft, aber ich wusste ganz genau, dass es was mit Amerika zu tun hatte. Ich mein, vor 'nem halben Jahr hätte ich mir doch nie zugetraut, so was wie bei Finn zu machen ... oder ein paar Tage in den Wäldern zu leben ... oder Auto zu fahren, oder im Goodwin-Haus zu arbeiten.
»David?«
Ist ja nicht so, als ob ich kein Telefon auf dem Zimmer hätte, aber irgendwie ruft in diesem Haus jeder einfach durch die Gegend - macht viel mehr Spaß.
»Ja?«
»Du bist mit Abendessen dran!«
Oh.
»Komme!«
Bei uns gibt's nicht nur Pizza, auch wenn sich das vielleicht so angehört hat. Kit und ich essen mittags in Schule warm, aber trotzdem machen wir abends immer noch irgendwas kleines, ich meine, natürlich essen wir hier auch Brot und Wurst und so, aber was Besonderes muss schon sein. Wir haben so einen »walk-in-freezer«, okay, nicht ganz, aber es ist ein verdammt großer Kühlschrank und er ist immer voll, das macht Dad und wir gucken dann, was wir draus machen. Heute gibt's ... hm ... schmilzt Ziegenkäse, wenn man ihn warm macht? Und schmeckt er auf warmen Gurkenscheiben? Vielleicht, aber warme Gurkenscheiben - igitt! Tomaten? Hatten wir gestern schon. Zwiebeln? Auch nicht. Aus Verzweiflung entstehen die besten Rezepte, es gab Auberginen mit gebratenem Speck und Ziegenkäse.
In den nächsten Tagen war natürlich alles ein bisschen durcheinander, naja, was heißt 'ein bisschen' ... Chaos ist nichts dagegen. Das Goodwin-Haus machte mächtig Druck, die waren ziemlich sauer, aber Dad ist auch nicht so ganz ohne. Wir kriegten Besuch von so einem Psychomenschen, der sehr, sehr lange mit Finn redete ... ich hab erst später mitgekriegt, dass der Typ ziemlich berühmt war und eigentlich dauernd auf irgendwelchen Kongressen redete. Und im Goodwin-House hatte ich echt ausgeschissen und das war ziemlich schade und hat auch ein bisschen weh getan. Jedenfalls war ich ziemlich erleichtert, als wir Finns Kram auf dem Pick-Up hatten und die ganze Sache gelaufen war. Und zwischendurch hatte Colin noch mal angerufen.
»Okay, David, ich habe drei Familien, die sich freuen würden, jemanden wie Finn zu nehmen.«
»Klasse, dann kann ich ja loslegen! Wie läuft das eigentlich? Ich mein, kann ich da einfach hinkommen und mit denen reden, oder wie?«
Colin lachte.
»Ja, so ungefähr. Ich habe dir gerade eine Mail mit den Adressen und Nummern und ein paar Infos geschickt, ruf an, mach einen Termin und flieg hin. Die Leute kümmern sich um alles, kein Problem. Sie wissen, dass du noch jung bist und auch selbst ein paar Sachen hinter dir hast ...«
Puh, das war verdammt gut so!
» ... und sie kennen in groben Zügen Finns Geschichte, sie müssen ja wissen, worauf sie sich möglicherweise einlassen. David, du wirst mindestens zwei Familien hinterher sagen müssen, dass Finn nicht kommt und die werden enttäuscht sein, okay?«
»Hm, ja, stimmt, da hab ich noch nicht dran gedacht. Gut, ich kann's nicht ändern. Kann ich dich anrufen, wenn ich einen Rat brauche?«
»Jederzeit, Kleiner. Mach was draus.«
Zuerst machte ich mal den Besuch beim Zahnarzt ... war nicht so wie bei Rip, aber immerhin hatte ich ein paar Tage später meine Zähne wieder.
Tja, und dann hab ich meinen ersten Anruf gemacht.
»Flynn?«
»Ja, hallo, ich bin David Masters. Ich glaube, Colin hat ...«
»Hallo David, schön, dass du anrufst! Kommst du uns besuchen?«
Meine Güte, die Lady legte aber echt ein ganz schönes Tempo vor.
»Äh, ja, wenn das okay ist?«
»Natürlich, wir freuen uns darauf. Weißt du schon was genaueres?«
Wusste ich, schließlich gab es Internet.
»Es gibt einen Flug, der am Freitag um 19:15 in Portland ist. Können Sie mich da abholen?«
»Klar. Wie lange kannst du bleiben?«
»Sonntag Nachmittag muss ich spätestens wieder zurück, denn die Schule geht ja weiter.«
»Gut, dann sehen wir uns am Freitag. Wie erkenne ich dich?«
Gute Frage.
»Äh ... 16, blond, Pferdeschwanz und eine Narbe auf der Stirn?«
Sie lachte leise.
»Gut, 43, blond und keine Narbe auf der Stirn.«
Und genauso sah sie auch aus. Allerdings hatte sie nicht gesagt, dass sie so ... ich weiß nicht, so toll war. Wir hatten uns gerade erst getroffen, als sie vorsichtig über meine Narbe strich.
»Na, so ein bisschen sieht man es dir noch an.«
»Äh, was? Also, was sieht man mir an?«
»Das es bei dir nicht so ganz leicht gewesen ist. Deine Augen erzählen ihre eigene Geschichte.«
Ich war nur ein bisschen größer als sie und guckte sie lange an. Sie meinte, was sie sagte. Sie legte ihren Arm um mich.
»Komm, ich zeig dir die schönste Stadt der Vereinigten Staaten!«
Tja, und damit fing's an. Es gehört nicht viel dazu, Teil von Mrs. Flynns Familie zu werden, aber es bedeutet unheimlich viel. Irgendwie war ich Müttern in letzter Zeit ja mehr aus dem Weg gegangen, Rip war unverheiratet und Mom war ja meistens in Südamerika. Ich glaub, es hatte einfach was damit zu tun, dass ich die Schnauze von Müttern echt voll hatte. Bennis Vater war ein brutales Arschloch, aber meine Mutter ... war nicht mehr meine Mutter. Sie hatte mich eingetauscht gegen diesen Bastard und das tat ziemlich weh. Immer noch. Und jetzt kam Mrs. Flynn und war einfach so, wie ich mir eine Mutter immer vorgestellt hatte. Wir mussten noch eben beim Supermarkt vorbei, weil ihr Jüngster erkältet war und sie noch ein bisschen Obst kaufen wollte und bei der Gelegenheit kriegte sie raus, dass ich mich in letzter Zeit eher von Cola ernährte - Coke, nicht Pepsi! - und schlagartig hatten wir eine Kiste im Kofferraum - Widerstand zwecklos.
»Wenn du was übrig lässt, wird Terry es trinken, also kein Problem. Und er kann sowieso ein wenig Aufmunterung brauchen, er konnte nicht zum Training und das tut ihm viel mehr weh, als er zeigt. Aber er ist auch schon sehr gespannt auf dich.«
Häh?
»Auf mich? Wieso das denn?«
Also, wenn wir nicht gerade gefahren wären, hätte sie mich wahrscheinlich auf die Schulter geschlagen.
»Hey! Du bist David! Reicht das denn nicht, damit Terry sich auf dich freut?«
»Mrs. Flynn, das mag ja sein, aber er kennt mich doch gar nicht.«
»Sag ruhig Julie und ... okay, Terry weiß, dass du zur Gruppe gehörst und selbst ein paar Sachen erlebt hast.«
Hm, Zeit für einen Themenwechsel.
»Hätte er denn gern einen neuen Bruder?«
Julie lächelte.
»Du redest nicht darüber, oder?
»Nein. Das ist Vergangenheit.«
»Es ist ein Teil von dir. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, Terry freut sich auf einen neuen Bruder, mein Mann auch und bei Shane bin ich mir nicht so ganz sicher. Allerdings bin ich mir bei ihm im Moment über gar nichts im Klaren. Ich weiß nicht, was los ist, ich weiß nicht mal, ob du ihn überhaupt sehen wirst, er ist in einem schwierigen Alter.«
Ich grinste.
»Naja, wenn er mal aus der Pubertät raus ist, wird das bestimmt besser.«
Julie lachte los.
»Shane ist 16.«
Oops.
»Okay, dann bin ich ja auch in einem schwierigen Alter. Schick ihn doch mal ein paar Tage in die Wälder, das hat bei mir auch geholfen ...«
Ich hab ihr schnell die Geschichte von Brandy erzählt.
» ... ich glaub', ich wusste einfach nicht, wer ich eigentlich bin und es war gut, mal ein paar Tage mit mir allein zu sein.«
»Dein Vater hat viel Mut. Ich glaube, ich würde vor Angst durchdrehen, wenn ich wüsste, dass Shane allein in den Wäldern unterwegs wäre, aber das hat auch noch andere Gründe.«
Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass es überhaupt einen Grund geben konnte, der Julie zum Durchdrehen bringen würde, aber okay. Sie wohnte in einem ziemlich großen Reihenhaus, und als wir ankamen, war es natürlich schon dunkel und ich war froh, endlich aus dem Auto zu kommen. Ich mein, erst in der Schule, dann zum Flughafen, dann im Flugzeug und dann wieder im Auto zu sitzen, nee, gibt wirklich was Schöneres. Julie wusste irgendwie ziemlich genau, wie ich mich fühlte.
»Wenn du willst, kannst du dich eben frisch machen oder auch ein paar Schritte vor die Tür gehen?«
Eigentlich wär' ich jetzt gern ein bisschen gelaufen, aber ich hatte sowieso kein Sportzeug mit, also wurde es eine lange Dusche und anschließend kam ein richtig fröhlicher David die Treppe runter, was so ein bisschen heißes Wasser nicht alles bewirken kann. Julie diskutierte gerade mit einem Jungen, der mit dem Rücken zu mir stand, war wohl Terry, jedenfalls war er klein genug, um 12 zu sein.
»Du bist erkältet, also brauchst du Vitamine, also isst du jetzt diesen Apfel!«
»Mom! Pferde essen Äpfel, Menschen essen Hamburger.«
Na, diese Logik kannte ich doch noch von Benni, mal sehen, ob ich ihn überreden konnte. Ich stellte mich leise hinter ihn und sagte.
»Halbe - Halbe?«
Oh, oh, da hatte ich ja was angerichtet. Terry zuckte zusammen wie blöd und schmiss auch gleich den Teller mit den Apfelstücken runter und damit war das Thema dann auch durch. Im ersten Moment war ich unheimlich erschrocken, aber Julie fing an zu lachen.
»Einen größeren Gefallen konntest du Terry gar nicht tun. Na gut, Terry, hol den Besen und mach das weg, du kriegst dafür auch einen Burger.«
Der Kleine hatte eine rote Nase aber sonst sah er ziemlich gesund aus und ich hielt ihm die Hand hin.
»Hi, ich bin David, Tut mir leid, dass ich dich erschrocken habe.«
Er grinste mich an.
»Ich bin Terry. Mom hat gemeint, dass wir vielleicht jemanden adoptieren. Was ist denn jetzt mit diesem Jungen, niemand erzählt mir hier was?«
Ich schaute Julie an und sie nickte.
»Erzähl's ihm ruhig. Ich hab mir gedacht, du kannst das besser, als ich.«
Vertrauen ist doch was schönes ... aber wie um alles in der Welt sollte ich diesem Jungen erzählen, was alles mit Finn passiert war? Oh Mann, okay, also los.
»Na komm, Kleiner, setzen wir uns ins Wohnzimmer.«
Als wir saßen, musste ich trotzdem kurz nachdenken.
»Okay, der Junge heißt Finn und er ist 16 und ...«
Ach, scheiße, ich hab erzählt. Von Finn und ein bisschen von mir. Ich glaub es war irgendwie, als ob ich Benni alles erzählen würde und als ich fertig war, saß Terry ganz dicht neben mir. Julie hat mir später gesagt, dass sie den Herd abgeschaltet hat, weil sie in Ruhe zuhören wollte, ich hab das gar nicht mitgekriegt, weil, ich hatte so viele Bilder im Kopf und war ziemlich weit weg. Jedenfalls hat sie sich dann geräuspert und als ich hoch geguckt hab, da standen da drei Leute in der Tür. Julie ist dann gekommen und hat mir einfach einen dicken Kuss auf die Stirn gedrückt.
»Hey, ich bin verdammt stolz auf dich!«
Ich musst' mich ein paar Mal räuspern, bis ich reden konnte.
»Danke. Das ist sehr lieb.«
Shane Flynn
Die Art, wie David erzählt hatte, war etwas Besonderes. Natürlich war es schlimm, was Finn und wohl auch ihm passiert war, aber ich meine seinen Stil, es Terry zu erzählen. Er ... kämpfte mit den Worten und versuchte zu sagen, was man eigentlich gar nicht sagen kann. Und er erzählte mit ganz viel Respekt vor Finn und das gefiel mir besonders gut. Ich war sicher, dass er Finn gern hatte und ich glaube, es ist etwas Besonderes, von David gemocht zu werden. Ich ging zu ihm und hielt ihm die Hand hin.
»Hi, ich bin Shane.«
Es dauerte einen Moment, bis er meine Hand nahm.
»Hi Shane, du bist der Bruder von Terry?«
Aha, ein Blitzmerker. Mal sehen, wie lange es dauerte, bis er fragte.
»Ja. Und wenn es funktioniert auch bald der Bruder von Finn.«
»Stimmt, das wär' schön. Übrigens hab ich ein Foto mit, er meinte, es wär' besser, wenn ihr ihn vorher mal gesehen habt.«
GRRRRRRR!
»Okay Shane, er ist ungefähr so groß wie du, ziemlich mager und er hat dunkle Haare. Seine Nase ist ziemlich klein und er hat eine Narbe direkt links neben der Nase. Finn redet ziemlich leise, meistens jedenfalls, und wenn er lacht, dann klingt das sehr schön.«
Erstaunlich. Eigentlich merken es die meisten Menschen nicht so schnell. Ich setzte mich neben ihn und hob die Hände.
»Darf ich?«
»Klar.«
Manchmal kann ich mehr, als nur Oberflächen tasten ... die Narbe auf Davids Stirn fühlte sich nach viel Schmerz an und seine Augen sprachen von Verletzbarkeit. Als ich eine kleine Ausbuchtung an seinem Ohr fühlte, zuckte er ganz leicht zusammen und das sagte mir mehr als viele Worte. Tief unter der Oberfläche waren harte Stellen, so ähnlich wie bei Verspannungen ... sie waren schwer zu finden, aber sie waren da. Ich nahm die Hände weg.
»Danke!«
»Kein Problem. Ich ... äh ... darf ich auch?«
Nanu? War er etwa auch?
»Ich dachte, du ...«
»Ich kann sehen. Aber ich weiß, dass man nicht alles mit den Augen sieht.«
»Woher weißt du das?«
»Einer unserer Nachbarn, damals in Deutschland, der war blind. Er hat manchmal viel mehr gesehen, als ich und er hat versucht, mir zu zeigen, wie das geht.«
»Okay, dann versuch's mal.«
Und er machte es gar nicht mal schlecht. David kannte offenbar ein paar der Stellen, auf die man achten sollte, Augenwinkel, Nasenflügel, Mund usw. und für einen Sehenden war er ziemlich vorsichtig und es war ein reichlich merkwürdiges Gefühl, von einem Sehenden abgetastet zu werden.
»Hey, du lachst mich aus!«
Ich grinste.
»Nicht wirklich, aber es macht Spaß.«
Und dann kam mir ein Gedanke.
»Wenn du willst, kannst du morgen mal blind sein, ich kümmere mich schon darum, dass dir nichts passiert.«
Das war nur zur Hälfte ein Gag, es war auch eine Herausforderung ... immerhin hatte er mich abgetastet und ich wollte den echten David kennen lernen. Er zuckte nicht zusammen, aber er überlegte ein bisschen.
»Naja, warum nicht. Immerhin kann ich dabei ja auch mal gucken, wie ihr mit Leuten umgeht, die nicht so ganz ....äh.«
»Normal sind? Wenn ich dich eben richtig verstanden habe, dann sind wir beide nicht normal und Finn wohl auch nicht. Okay, ich komme morgen früh vorbei und bringe dir die schwarze Brille und ...«
Terry konnte es nicht lassen.
»Ich hab Hunger!«
Kleine Brüder eben, kommen immer dann dazwischen, wenn man sie am wenigsten brauchen kann. Aber so ist das nun mal und eigentlich hatte ich mich auch schon länger auf ein gutes Abendessen gefreut. Das gab's dann auch, aber Dad fing wieder an, Konversation zu machen ... ich kann das einfach nicht ertragen, er macht das immer, wenn wir Gäste haben. Eigentlich ist er ganz in Ordnung, aber in Momenten wie diesen könnte ich ihn treten, dieses professionelle Lächeln konnte ich sogar hören und seine Stimme war seidenweich, wie geölt ... furchtbar. Ich wusste, dass es mir eine Strafpredigt einbringen würde, aber ich ging nach dem Essen einfach in mein Zimmer, Gitarre spielen. Ach ja, für alle Oberschlauen: Ich hab was mit den Augen, nicht mit den Ohren, und auch wenn es nicht für die Bühne reicht, mir macht es Spaß. Als David die Treppe raufkam, habe ich für einen Moment gehofft, er würde noch eben bei mir reinschaun, aber, okay, das hätte ich an seiner Stelle wohl auch nicht getan. Wahrscheinlich war er müde, wäre ja kein Wunder. Schade.
David Masters
»Was ... verdammt ...«
Irgendjemand drückte mir da irgendwas ins Gesicht.
»Was soll der Scheiß?!«
»Na, na, du wolltest doch heute mal einen Tag blind sein. Der Tag hat gerade angefangen.«
Shane. Himmel, der war aber echt 'n bisschen bescheuert. Normalerweise riskiert jeder sein Leben, der mich um diese Uhrzeit stört. Äh, um welche Uhrzeit eigentlich? Diese blöde Brille ließ zwar ein bisschen Licht an den Seiten rein, aber sehen konnte ich damit rein gar nichts.
»Boah, wie spät ist es denn überhaupt?«
Dauerte 'n Moment, dann kam da so 'ne Automatenstimme.
»Acht Uhr Drei.«
Stimmt, war bestimmt Shanes Uhr - mit Zeitansage.
»Toll. Und jetzt?«
»Die meisten Leute gehen ins Bad, nachdem sie aufstehen.«
Das war echt 'n bisschen hart, ich mein, da verarscht dich einfach nur eine Stimme und du siehst nicht mal, wie er dabei guckt und so. Gefiel mir nicht. Echt nicht.
»Die meisten Leute fallen auch nicht plötzlich morgens blind aus dem Bett. Okay, okay, mal sehen, ob ich's finde.«
Okay, ich hab's gefunden. Und ich hab mich nicht in der Kloschüssel gewaschen und nicht in die Dusche gemacht. Dafür fast ins Bidet, aber Shane hat aufgepasst. Ach so, ja, das ist schon was ganz eigenes, mit 'nem Blinden zusammen im Bad, weil, Shane konnte ja nichts sehen und deshalb war's überhaupt kein Problem, das ich nichts an hatte. Dafür bin ich dann auch anschließend mit der schmutzigen Unterhose in der Hand zurück in mein Zimmer gegangen und als ich dann ankam, fiel mir auf, das ich gerade nackt durch ein fremdes Haus gelaufen war. Ich weiß bis heute nicht, ob mich wer gesehen hat, jedenfalls hab ich mich beim Frühstück ziemlich gut geschlagen, lag bestimmt am Kaffee. Tja, und dann war natürlich die Frage, was wir machen wollten, Stadt angucken ging ja nu' nicht. Das hab ich Shane dann auch gesagt.
»Nee, anschauen können wir uns Portland nicht, aber du kannst die Stadt trotzdem kennen lernen. Komm!«
Tja, und dann sind wir händchenhaltend durch Portland gelaufen, naja, okay, was heißt gelaufen, am Anfang bin ich ziemlich vorsichtig gegangen, weil, naja, Shane ist blind und er hat mich geführt, aber so ganz langsam ging's dann besser und da hab ich dann auch verstanden, was Shane mit kennen lernen gemeint hat. Normalerweise guckt man sich 'ne Stadt ja an, aber man kann sie auch hören und irgendwie auch fühlen und Portland fühlte sich gut an. Und es fühlte sich gut an, mit Shane unterwegs zu sein. Wir haben unheimlich viel geredet, nicht nur über die schlimmen Sachen, sondern überhaupt ... und wir haben gelacht und das tat gut und, ganz ehrlich, ich hab gar nicht mehr an Finn gedacht. Irgendwann hab ich gemerkt, dass wir uns immer noch an den Händen hielten, obwohl das schon lange nicht mehr nötig war. Vor Shane kann man nichts verstecken, wahrscheinlich hat meine Hand gezuckt oder so, jedenfalls hat er es sofort gemerkt.
»Ja, stört es dich?«
Ob es _mich_ störte?
»Sicher nicht. Wir können das gern noch ein paar Jahre machen. Und du?«
Er lächelte.
»Ich glaube, ich nehme dein Angebot an. Es fühlt sich ... richtig an.«
Es wurde Zeit, aus dem Bus auszusteigen und in dem Moment, war ich ganz froh drum, weil, verdammt, ich hätte nicht gewusst, was ich als Nächstes gesagt hätte. Oder hätte sagen sollen. Gibt's blinde Schwule? Keine Ahnung, aber wie's aussah, würd' ich es bald wissen. Natürlich kriegte Shane mit, was mir durch den Kopf ging.
»Hör auf, nachzudenken. Ich bin genauso normal, wie du.«
Autsch. Ende und aus. Shane blieb stehen.
»So normal nun auch wieder nicht.«
Ich werd' nie verstehen, wie er das macht. Ich mein, das Gedankenlesen.
»Shane ... verdammt, ich will das jetzt wissen. Ich mag Jungs. Keine Mädchen. Jedenfalls nicht so.«
»Lass uns reingehen.«
Er nu' wieder. Okay, wir gingen rein. Julie meinte, sie hätte uns was warmgestellt, aber Shane meinte nur »Später« und schleifte mich in sein Zimmer.
»Du willst also wissen, ob ich schwul bin?«
Ich schluckte.
»Ja.«
Ich fühlte Shane Finger auf meinem Gesicht und dann war die schwarze Brille weg und ich jaulte - es war unheimlich hell.
»David, schau mich an.«
Da hab ich erst gemerkt, wie nah er war, ganz dicht und ich schaute ihm ins Gesicht und die hellen Augen, die gerade jetzt eher grau waren und so schön und so nutzlos.
»David, ich weiß nicht, ob ich schwul bin. Ich mag Menschen und das hat nichts damit zu tun, ob sie Jungs oder Mädchen sind. Hab ich mir jedenfalls eingeredet. Ich wollte nicht schwul sein. Und ich ... ich mag dich. Sehr. Ich wäre gern mehr ... mehr als dein Freund.«
»Shane, ich würd' dich gern küssen.«
Er war schneller.
»Na, hat dir Portland gefallen?«
Julie hatte ein bisschen besorgt geguckt, als wir in die Küche kamen. Ich lächelte ... nicht, das ich irgendwas anderes hätte machen können.
»Klar! Es war toll! Was gibt's denn zu Essen?«
Kann ja sein, dass Liebe blind macht, satt macht sie jedenfalls nicht. Aber sehr, sehr glücklich.
»Ich hoffe, du magst Fisch. Heilbutt auf Paprika, um genau zu sein.«
»Hört sich sehr lecker an!«
War es dann auch. Aber das Essen war trotzdem verrückt, weil, Shane und ich konnten ja nicht reden, jedenfalls nicht das, was wir wollten und ich kriegte mit, daß Julie immer nervöser wurde und wir redeten nur irgendwelchen Blödsinn und guckten uns an, naja, ich guckte Shane an und wir lächelten und wenn das jetzt alles ein bisschen komisch klingt - so kam's mir auch vor. Ich war gerade mit dem Nachtisch durch und wollte mit 'ner Kippe nach draußen, als Julie die Tür zumachte.
»Hiergeblieben. Shane, ich bin deine Mutter und ich müsste schon völlig verblödet sein, um nicht zu merken, daß hier irgendetwas nicht stimmt. Ihr grinst euch an, als ob ihr gerade die Freiheitsstatue geklaut hättet oder den Mond rot angemalt oder ... ach du liebe Güte.«
Nee, sie sah nicht erschrocken aus, nur erstaunt.
»Shane, David, ist es das, was ich denke, das es ist?«
Abenteuerlicher Satz. Aber sie war nun mal Shanes Mutter und es war seine Sache, es zu sagen. Er sagte aber nichts.
»Shane, nichts was du sagst oder tust wird irgendetwas daran ändern, dass du mein Sohn bist und ich dich sehr lieb habe. Ich glaube, so langsam verstehe ich, was die letzten Monate mit dir los war. Hey, lass mich hier nicht im Regen stehen, sag es bitte.«
Shanes Hand stieß an mein Bein und ich nahm sie. Und legte sie auf den Tisch und hielt sie fest. Julie nickte nur.
»Mom, ich liebe David.«
Manchmal sag' ich was, ohne das ich es vorher weiß.
»Und ich liebe Shane.«
Damit lagen die Karten auf dem Tisch. Julie seufzte.
»Ich wünschte, du hättest es mir eher gesagt, dein Vater und ich haben uns Sorgen gemacht. Es ist in Ordnung, ihr beiden, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Und David ist ja auch süß.«
Also ehrlich! Süß! Normalerweise laufe ich bei sowas ja langsam rot an, aber diesmal hätte ich schlagartig eine rote Ampel ersetzen können. Julie grinste.
»Hey, es ist doch wahr. Du bist wirklich hübsch und ...«
Hilfe! Ob ich mich in der Mikrowelle verstecken konnte?
» ... du hast es geschafft, dass Shane wieder lachen kann. Und es ist einfach niedlich, dass du jetzt rot geworden bist.«
Urgh!
»Mom, du bist gemein. Und ...«
Und dann hörten wir, wie die Haustür aufging. Und wir hörten Terry.
»DAD! Shane ist schwul!«
Ich bin so zusammengezuckt, dass ich fast den Tisch umgeschmissen hätte. Shane hat einfach meine Hand festgehalten. Obwohl ich ziemlich sicher war, dass er gerade einige Möglichkeiten durchging, seinen kleinen Bruder in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Vorzugsweise als Büffelscheisse. Julie lächelte.
»Keine Panik.«
Mr. Flynn kam in die Küche.
»Hallo zusammen, mit Terry im Haus braucht man sich keine Nachrichten mehr anzuschauen, nicht wahr. Schatz, Mike kommt am Dienstag und kümmert sich um das Schloss an der Hintertür, da könnten wir doch eigentlich den Grill anwerfen?«
»Der Wetterbericht hat Schnee gemeldet.«
»Na und? Was gibt es Schöneres, als so ein richtig heißes Steak an einem kalten Tag und das Bier brauchen wir dann auch nicht kalt zu stellen.«
Shane holte tief Luft.
»Dad? Terry hat Recht.«
Er nickte.
»Ja, das dachte ich mir. Ich hätte mich allerdings gefreut, es von dir selbst zu hören, aber ich bin froh, dass es nun endlich auf dem Tisch ist.«
Und dann machte er etwas sehr Schönes. Er ging zu Shane und küsste ihn auf die Stirn.
»Ich bin dein Vater und Väter spüren so etwas. Weißt du, wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann hätte ich mir gewünscht, dass du nicht schwul bist, aber nicht wegen mir, sondern dir. Und wenn ich eure Hände da richtig deute, haben wir heute Abend etwas zu feiern, hey, Julie, wir könnten doch auch heute Abend grillen, oder?«
Ich mag ja eigentlich keine Klischees, aber ich glaub', so ziemlich alle Amis grillen gern, es gibt sogar eine Website, die beweist, dass Neil Armstrong auf dem Mond gegrillt hat, hm, die Site beweist allerdings auch, dass er eigentlich eine Frau war und hinter dem Tod von JFK steckt, ist ja auch egal, ich glaub', grillen ist einfach die Möglichkeit, so'n bisschen cowboymäßig rumzulaufen und Bier aus Dosen zu trinken. Nein, wir natürlich nicht, Alk ist hier erst mit 21 erlaubt, das ist auch so'n Schachsinn, wenn ich abends ein Bier trinken würde, gäb' das tierischen Ärger, aber wenn du zu einer Party gehst, dann erwarten eigentlich alle von dir, dass du säufst, bis du umfällst. Und morgens holst du dir den fälligen Anschiss von deiner Mutter ab und dein Vater zwinkert dir zu, ist doch echt bescheuert. Naja, jedenfalls war das mit dem Grillen ein ziemlicher Reinfall, weil Mr. Flynn hat draußen gegrillt und hatte seinen Spaß und wir haben eigentlich ganz normal in der Küche gegessen ... allerdings waren die Steaks ziemlich klasse. So richtig peinlich wurd's, als wir fertig waren und Terry ins Bett musste und Julie meinte, sie und ihr Mann würden sicher noch ein paar Stunden TV gucken, _unten_ TV gucken! Ja, sonst noch was? Vielleicht ein Motelzimmer, damit wir ungestört sind, oder wie? Also, mir ist echt die Kinnlade runtergefallen, aber das lag daran, das ich Deutscher bin. Julie ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass wir da oben mehr machen könnten, als ein bisschen schmusen. Und mehr haben wir auch nicht gemacht. Okay, nicht viel mehr. Ich war 'n bisschen nervös, weil Shane die Tür nicht abgeschlossen hatte, aber eigentlich haben wir nur zusammen Musik gehört. Ja, ich weiß, ich hatte beim Mittagessen gesagt, dass ich Shane liebe, aber das ist mir eigentlich mehr so rausgerutscht. Aber es war wahr. Und ich hatte keine Ahnung, warum eigentlich. Es war einfach so. Und es war wunderschön. Einfach nur neben Shane zu liegen. Ihn zu spüren. Wir haben uns dann eine Decke geholt, damit wir wenigstens ein paar Sachen ausziehen konnten.
»Hast du schon mal ... ich meine, mit einem Jungen?«
Ich holte tief Luft.
»Ja. In England. Aber das war was anderes.«
»Wieso?«
»Weil ... also, es war schön, hat echt Spaß gemacht, aber ich glaub' wir wussten beide, dass das nichts Ernstes war. Und du?«
»Moment. Du meinst also, dass es bei uns was Ernstes ist?«
Ich schluckte.
»Ja, eigentlich schon.«
Er küsste mich, ein bisschen verunglückt, auf die Nase.
»Nur 'eigentlich'?«
Na, das konnte ich besser, wenigstens hab ich Shanes Lippen getroffen.
»War das nicht gut genug?«
Er grinste.
»Nein, definitiv nicht, das musst du noch üben.«
Und das hab' ich dann auch gemacht, ziemlich ausführlich. Eigentlich wär's für mich auch okay gewesen, wenn's dabei geblieben wär', aber Shane wollte mich auch mal nackt sehen und er sieht halt mit den Händen ... und er hat ziemlich genau hingeschaut.
»Muss ich die Brille noch mal aufsetzen, oder kann ich dich auch mal ohne Hose sehen?«
Er lächelte.
»Mach, was du willst.«
Da hätte ich schon ein paar Ideen gehabt, aber ich hab ihn nur angeschaut, also, mit den Händen ... wir haben das ganz langsam gemacht und Shane hat mir denn seine linke Hand auf den Hals gelegt. Bei ihm braucht man nicht fragen, er hat's mir so erklärt:
»So kann ich deinen Puls fühlen, damit ich weiß, wann du soweit bist ... du weißt schon.«
Ja, ich wusste und es hat sogar fast geklappt, das mit dem zusammen so weit sein, meine ich. Das verrückte war, das es hinterher genauso schön war, wie vorher, ich mein, es war toll, aber es war auch toll, einfach bei Shane zu sein, ich weiß auch nicht.
»Shane?«
»Mmm.«
»Seid ihr die richtige Familie für Finn?«
Der war mir nämlich inzwischen wieder eingefallen und ich hatte gerade ein ziemlich schlechtes Gewissen. Shane dachte einen Moment nach.
»Wenn Finn eine normale Familie brauchen kann, dann ist er bei uns richtig. Wenn er Unterstützung braucht, ist er bei uns auch richtig ... «
Er kriegte einen anderen Tonfall.
» ... weißt du, es war nicht immer so ganz easy mit mir, aber Mom und Dad waren immer da, wenn ich sie gebraucht hab, egal, was los war. Ich glaub, ich hab da auch etwas draus gelernt ... Mom und Dad würden Finn genauso unterstützen, wie mich und ich wäre wohl auch dabei. Terry kann eine ziemliche Nervensäge sein, aber eigentlich ist er ganz okay ... David, wir sind einfach eine Familie, nichts Besonderes, einfach eine Familie.«
Als ob das nichts Besonderes wäre. Und ich war unheimlich froh, dass ich inzwischen ein paar von diesen besonderen Familien kennen gelernt hatte, Julian, Rip und natürlich Dad und Kit ... oh Mann, was Dad wohl zu Shane sagen würde? Vielleicht könnte ich aus Brandy einen Blindenhund machen? Und eigentlich wollte ich Julian in den Ferien einladen, aber Shane auch ... egal, das würde sich alles klären.
»Shane, willst du Finn als Bruder?«
Ich hatte irgendwie das Gefühl, das die Flynns gut für Finn wären, auch wenn der arme Kerl dann Finn Flynn heißen würde, naja, es gibt schlimmeres und er konnte ja seinen Namen auch behalten.
»Keine Ahnung, aber ich will's gern versuchen, so gut ich es kann.«
Mehr konnte ich nicht verlangen.
»Okay, Finn bekommt dich.«
Finn Rollins, Kalamazoo/MI
»Na, bist du schon aufgeregt?«
Mr. Anderson nahm noch eins von diesen Plätzchen, die so schmecken, als wären sie selbst gemacht, aber unendlich viel krümeln. Deshalb würde ich keins nehmen.
»Nur ein wenig. David muss ja noch zwei andere Familien besuchen und dann wird es erst spannend.«
Ob das die richtige Antwort war?. Die, die er hören wollte? Immerhin, er nickte.
»Ja, das stimmt. Aber du bist doch sicherlich gespannt, was er über diese erste Familie erzählen wird, oder?«
Das war einfach.
»Ja, natürlich. Und ich freue mich auch darauf, ihn wieder zu sehen. Er fliegt ja schließlich wegen mir quer durch Amerika.«
»Ja, das tut er.«
Finn, konzentrier' dich!
»Ja, und dafür bin ich sehr dankbar, auch dafür, dass ich in der Zwischenzeit hier wohnen darf.«
Mr. Anderson nahm noch ein Plätzchen, ungefähr die Hälfte löste sich in Staub und Krümel auf und verteilte sich auf seinem blau-roten Pullover. Wenn er so weitermachte, würde er selbst bald wie ein übergroßes Plätzchen aussehen.
»Hast du mal überlegt, wie es wäre, wenn wirklich 'Finn' hier wohnen würde und nicht jemand, der sich verzweifelt bemüht, alles richtig zu machen?«
»Ja ... nein ... was ...«
Scheiße! Was sollte das denn jetzt? Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte und schaute Mr. Anderson nur an.
»Finn, ich habe mir damals, als Kit geboren wurde, einen perfekten Sohn gewünscht, das tut wahrscheinlich jeder Vater. Aber ich habe sehr schnell bemerkt, dass das Blödsinn ist. Spätestens als er mir über das halbe Manuskript gepinkelt hat. Ich wünsche mir Söhne, die einfach Menschen sind, mit ihrem eigenen Kopf. Die jung sind und auch mal Blödsinn machen. Die lachen und weinen, die einfach sie selbst sind - und ich glaube, deine neue Familie wird das auch so sehen. Also steck den perfekten Finn wieder weg, okay?«
Ich schluckte.
»Ich wusste nicht, dass ich so leicht zu durchschauen bin.«
Mr. Anderson knurrte.
»Ich habe Kit fast allein groß gezogen und mit David habe ich schon so einiges mitgemacht. Glaub mir, du bist ein offenes Buch. Warum isst du eigentlich keine Plätzchen?«
»Weil sie krümeln.«
Er zog die Augenbraue hoch ... dann nahm er zwei Plätzchen, grinste mich an und zerkrümelte sie über dem Fußboden.
»So, und jetzt du.«
Wie bitte?
»Wie bitte?«
»Na los, komm schon, verteil die Dinger über das Wohnzimmer!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, ich kann ...«
Weiter kam ich nicht, er grabschte ein paar Plätzchen und dann hatte ich das ganze Zeug auf dem Pulli.
»Hey! Aber ...«
Ich sah ihn lächeln und da löste sich irgendetwas, ich kann es nicht genau erklären, jedenfalls warf ich ihm ein Plätzchen an den Kopf und beobachtete, wie es sich in einer Staubwolke auflöste. Und hatte im nächste Moment selbst eines an der Stirn. Und dann ging's los und als die Schüssel leer war, konnte ich nicht mehr aufhören zu lachen und dann hat Mr. Anderson mich in den Arm genommen und ich weiß einfach, dass er verstanden hat, warum aus dem Lachen dann Weinen geworden ist und er hat mich einfach nur festgehalten.
George 'Dad' Anderson
Nachdem Finn ... der wirkliche Finn ... nun endlich bei uns angekommen war, musste ich mich um meinen Verleger kümmern. Verleger maulen zwar eigentlich immer, aber diesmal hatte es doch etwas ernster geklungen. Ich griff gerade zum Hörer, als es klingelte.
»Anderson?«
»Hey George. Was glaubst du, was wir gerade für die Filmrechte bekommen haben?«
Das war Bilsh, meine Agentin, allerdings managte sie die Bücher, die unter dem Pseudonym erschienen, nicht die anderen. Sie meldet sich nie mit Namen, wahrscheinlich ist sie fest davon überzeugt, dass alle Welt sie kennt. Meistens hat sie recht.
»Weiß ich nicht und interessiert mich auch nicht sonderlich. Ich schreibe Bücher, von Filmen verstehe ich nichts.«
»Das weiß ich doch, Liebling ...«
Nein, wir hatten nie etwas. Sie nennt jeden Liebling.
» ... aber sogar für einen Superreichen wir dich ist das 'ne Menge Holz. Aber wenn es dich nicht interessiert ...«
Natürlich war ich neugierig.
»Ich bin nicht superreich und jetzt sag schon!«
»Hehe, was hältst du von einer siebenstelligen Zahl?«
»Sieben ... stellig?«
»Ha, da staunst du, nicht wahr? Dafür würde ich eigentlich einen Bonus verlangen, aber weil du es bist, freu ich mich einfach mit dir.«
Das brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Über den Bonus reden wir, wenn das Geld auf meinem Konto ist. Wie ich deine Provisionssätze kenne, kann ich mir wahrscheinlich von dem Geld nur ein kleines Mittagessen leisten.«
»Ist auch besser für dich, denk an all die schrecklichen Kalorien. George, mal abgesehen vom Geld bedeutet so ein Betrag, dass es gute Chancen gibt, die Story wirklich zu verfilmen! Es wird natürlich noch dauern aber geh mal davon aus, dass du dein Buch dann auf Leinwand sehen kannst.«
»Ich glaube, dass würde eher Kit und David freuen, aber Danke! Ich weiß schon, warum ich die beste Agentin der Welt engagiert habe.«
»Und ich weiß, warum ich für den besten Schriftsteller der Welt arbeite.«
Ich mochte diese Knistern zwischen uns, aber nur, weil wir beide wussten, dass es beim Knistern bleiben würde.
Ich lehnte mich zurück und fragte mich, wie zum Teufel man so ein Buch überhaupt verfilmen könnte ... Es war ein echtes Risiko gewesen, aber nachdem David gekommen war, konnte ich nicht einfach so weiterschreiben. Ich hatte die Grundidee übernommen und die Story in einer Schule angesiedelt und in den Tagen, die David im Wald verbracht hatte, war er zu einer Figur in dem Buch geworden. In »Beaten« war er ... oder eigentlich 'Blondie' ... der schwule Outsider, der dem Protagonisten einige grundsätzliche Wahrheiten über Freundschaft und Vertrauen mitgibt. Die Kritik hatte sich fast überschlagen und begeistert etwas von 'gesellschaftlichen Randgruppen' und 'höllisch spannendem Realismus' gefaselt - wenn die David kennen würden. Der hatte die ganze Geschichte übrigens eher gelassen genommen, er hatte einige Tage für das Manuskript gebraucht und dann war in mein Büro gekommen, was er sonst sehr selten tut. Ich erinnere mich noch gut an den Tag.
»Und, wie findest du es?«
»Warum hast du meinen Spitznamen benutzt?«
Ich dusche ja gelegentlich mal kalt, aber nicht auf diese Art und Weise.
»Vielleicht, weil Blondie Ähnlichkeit mit dir hat?«
Er grinste.
»Blödsinn. Wenn hier einer anfangen würde, Leute umzulegen, dann würd' ich in mein Zimmer gehen und erst wieder rauskommen, wenn's vorbei ist.«
»Das würde ein vernünftiger Mensch tun, aber du nicht. Abgesehen davon habe ich noch nie erlebt, dass du ablehnst, wenn dich jemand um Hilfe bittet.«
David schaute etwas nachdenklich.
»Naja, okay, ich würde mit ihm reden ... und ich könnte den Jungen ja schlecht alleine zu dieser Garage gehen lassen ... aber, ich glaub, ich würd vor lauter Angst kein Wort 'rauskriegen.«
Manche Menschen tun verrückte Dinge, um etwas über sich selbst zu lernen, bei David passiert das nebenbei.
»Das kann schon sein, aber du würdest mitgehen, obwohl du weißt, dass es dort gefährlich wird.«
Er nickte.
»Ja. Trotzdem ... wenn ich schon dieser Blondie sein soll ... könntest du da was ändern?«
Bei mir gingen alle roten Lichter an. David würde mich nie um eine Änderung bitten, wenn es nicht wichtig wäre - und wenn es wichtig war, würde ich nötigenfalls das komplette Buch einstampfen.
»Worum geht's?«
»Als die beiden da in der Ecke stehen, da kommt doch dieser Mechaniker auf Blondie zu?«
Ich nickte. In der anschließenden Auseinandersetzung konnten die beiden zwar entkommen, aber Blondie kriegte so einiges ab.
»Und dieser Mechaniker grinst bösartig und dabei sieht man, dass seine Zähne ganz dunkel sind. Kannst du das ändern?«
»Äh ... ja ... klar, natürlich. Gibt es dafür einen tieferen Grund?«
Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit. David holte tief Luft.
»Mein Stiefvater ... der hatte solche Zähne. Hat sie nie geputzt. Ich kenn' dieses Grinsen, Dad. Und ich will das nicht.«
»Sorry, das wusste ich nicht. Der Mechaniker kriegt einen Satz blendend weißer Zähne.«
David nickte stand auf und grinste.
»Übrigens, du hättest mir ja wenigstens eine kleine Lovestory 'reinschreiben können!«
Ich warf ein Kissen nach ihm, aber er war schon draußen ... übrigens hatte ich tatsächlich über eine kleine schwule Liebesgeschichte nachgedacht, aber dafür war der Markt noch nicht reif, vielleicht später.
Na gut, was mir noch blieb, war der Anruf bei meinem Verleger, diesmal der von meinen Brot-und-Butter-Büchern.
»Hallo Anthony. Was ist denn los?«
Er räusperte sich.
»Tja, George, es sieht nicht so gut aus.«
»Das tut es nie. Schieß los.«
»Du verkaufst dich nicht so, wie wir uns das vorstellen. Ich war gestern beim Vorstand und ... die Anweisung ist klar und unmissverständlich. Wir lösen den Vertrag. Tut mir leid, George.«
Das glaubte ich ihm sogar. Anthony ist ein Hundesohn, aber er hat auch seine guten Seiten. Seltsam, ich würde ihn vermissen und ...
»George, bist du noch dran?«
»Ja. Es ist okay, ich komme schon klar.«
Er brummte.
»Ich habe beim Vorstand durchgeboxt, dass wir dein letztes Buch noch verlegen, damit müsstest du erstmal über die Runden kommen, bis du etwas anderes gefunden hast. Ich habe mir gedacht, mit deinen beiden Jungs können wir dich nicht einfach so im Regen stehen lassen.«
Er hatte es wieder einmal geschafft, mich zu überraschen. Ich nie gedacht, dass er etwas von David wusste oder das es ihn interessieren würde.
»Danke. Wie gesagt, ich komme schon klar. Tja, das war's dann wohl?«
»Ja, tut mir leid. Wir schicken dir noch ein paar Papiere und das war es dann wirklich.«
Eigentlich hätte es mir egal sein können. Ich war einer der erfolgreichsten Autoren des ganzen Landes, eigentlich sogar international, hatte mehr Geld, als ich jemals ausgeben konnte und trotzdem tat es weh. Diese kleinen Bücher ... sie waren so etwas wie ein Hobby, und auch wenn sie meistens nur in Ramschläden als Sonderangebote verkauft wurden, waren es doch meine Bücher. Tja, nun war ich wohl nur noch einer von diesen hypererfolgreichen Schreiberlingen ... und ich hatte jetzt viel Zeit, mal sehen, was ich damit anfangen würde. Vielleicht würde »Stewart P. Colham«, so hieß mein Pseudonym, nun etwas häufiger den geneigten Lesern ein neues Werk vorlegen. Oder auch nicht. Oder ich könnte ...
»Hey Dad, was ist los?«
Kit schaute mich an. Ich hatte gar nicht gehört, dass er ins Zimmer gekommen war.
»Nichts ... das heißt, ich bin jetzt offiziell arbeitslos.«
»WAS?«
Kit hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass ich auch »Stewart P. Colham« war und malte sich wahrscheinlich gerade aus, wie wir in Zukunft in einem abgewrackten Wohnwagen hausen würden.
»Keine Panik, es geht nur um die kleinen Bücher. Der Verkauf läuft nicht mehr so. Ist ja eigentlich nicht weiter schlimm und es bedeutet, dass ich jetzt mehr Zeit für euch haben werde.«
»Also ist es doch schlimm.«
Kit grinste, aber ich wusste, dass er wusste, wie gern ich all das verrückte Zeug geschrieben hatte.
»Sollte David nicht so langsam wieder da sein?«
Kit schaute auf die Uhr.
»Eigentlich ja, aber du weißt ja, wie er fährt. Wahrscheinlich hat er eine Massenkarambolage verursacht oder ist von der State Police festgenommen worden.«
Was durchaus möglich war. In Davids Heimat gab es Straßen ohne Geschwindigkeitsbeschränkung und aus unerfindlichen Gründen war er manchmal der festen Überzeugung, das gelte für jede etwas breitere Straße. Ich seufzte.
»Stimmt. Aber dafür fährt er auch besser als du.«
Was eine Gemeinheit war. Zugegeben. Aber es war auch die Wahrheit. Kit benutzte Autos, um irgendwohin zu kommen. Für David waren Autos mehr, viel mehr. Immer, wenn ich ihn am Steuer sah, wusste ich, warum in seiner Heimat so viele Autos gebaut werden, David wurde eins mit dem Wagen und er wusste wirklich, was er tat. Zeit für ein Ablenkungsmanöver.
»Hilfst du mir beim Kochen?«
Kit grinste mich nur müde an.
»Finn ist dran.«
Was bedeutete, dass die Küche anschließend sauberer war, als vorher.
»Gut, dann ...«
Dann hörten wir den Pick-Up und kurz darauf stand David im Flur.
»Hat die Polizei dich wieder freigelassen?«
David lächelte.
»Klar, ich war doch nur achtzig Meilen zu schnell. Hey Dad!«
David lächelte immer noch. Und er lächelte ... anders. Hm, er würde schon früh genug erzählen, was passiert war. Und das tat er dann auch. Nach dem Abendessen war dann klar, dass Finn uns bald verlassen würde, David hatte ein Foto mitgebracht, und als er dann meinte, dass er Finn natürlich begleiten würde und anfing, ziemlich ausführlich von diesem Shane zu erzählen, da schwante mir etwas. Naja gut, es lag ja auch nahe. Und es war mal wieder typisch David. Welcher andere Junge wäre auf die Idee gekommen, sich einen blinden Freund zu suchen, der dann auch noch an der Westküste wohnt.
»David, dieser Shane wird jetzt also Finns neuer Bruder, aber da ist doch noch mehr, das sieht doch ein Blin ... das merkt man doch. Du möchtest nicht zufällig demnächst das Gästezimmer renovieren?«
Wir grinsten uns an.
»Nö, das ist nicht nötig. Wir sollten Shane in einem fremden Haus nachts nicht allein lassen. Er kann bei mir schlafen.«
Aha, so weit war es also schon. Ich zog die Augenbraue hoch.
»Lass langsam gehen, David.«
»Mach' ich.«
Und ich glaubte ihm. Und dann fing Finn an zu lächeln.
»Du hast mich also an diese Familie verkauft, damit du Shane sehen kannst?«
Zum Glück sah David Finns Lächeln.
»Klar. Du musst jeden Tag die Küche putzen und dafür darf ich Shane verführen ...«
Na, da war ihm was rausgerutscht.
» ... äh, also, dafür darf ich ihn sehen.«
Ich fing an zu lachen.
»Meine Güte, ist das kompliziert. Kit, darf ich annehmen, dass du in nächster Zeit einen Freund mitbringst, der aus Nordkorea geflohen ist und dessen Aufenthalt hier internationale Verwicklungen bedeutet?«
»Nee, aber ich wollte dich sowieso fragen, ob ich mir unter dem Dach nicht einen Harem einrichten könnte?«
Kinder eben. Einfach Kinder. Für solche Momente lebt man und ich war unheimlich glücklich.
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