Stories
Stories, Gedichte und mehr
Mit anderen Augen
Teil II
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Mit anderen Augen
- Autor: Thomas J.
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel XIII: Das Interview
- Kapitel IX: Projekte
- Kapitel X: Einladung
- Kapitel XI: Das Haus
- Kapitel XII: Einrichtungen
- Kapitel XIII: Arco und Max
- Kapitel XIV: Familie
Kapitel XIII: Das Interview
Nach dem Abendessen ging Carsten mit Max eine große Runde um den See. Wobei Max mehr im besagten Gewässer war. Dem Jungen konnte es nur recht sein. Sie hatte es sich an diesem Tag wirklich mehr als verdient. Auch wenn es für Carsten bedeutete, anschließend noch einmal unter die Dusche zu springen. Die Hündin ließ es sich nicht nehmen, ihn in ihr Treiben mit einzubeziehen. Entsprechend trafen sie auch später am Internat wieder ein. Am Hintereingang des Südflügels hatte er wohlwissend in einem kleinen Schrank Frotteetücher platziert, um den Hund wieder trocken zu rubbeln. Max genoss die ihr zugedachte Aufmerksamkeit und die Massage. Anschließend ging es hinauf auf ihr Zimmer.
Andreas lag auf dem Bett und las. Er legte sein Buch beiseite als sich die Tür öffnete. Max kam auf ihn zu. Vor seinem Bett ließ sie ihre Frisbeescheibe fallen, schaute über die Bettkante und wurde von Andreas hinter den Ohren ein wenig gekrault. Dann sah er Carsten an.
„Mensch Carsten, bist du das wirklich? Du siehst ja total nass und schmutzig aus.“
„Das ist das schwere Schicksal eines Retrieverbesitzers. Max und Wasser gehören einfach zusammen.“
„Und was machst du im Winter? Ich denke mal, sie wird da nicht drauf verzichten wollen?“
„Wenn es kalt genug ist, ist der See eh zugefroren. Dann hält es sich in Grenzen, ansonsten habe ich dicke Sachen und einen Friesennerz an.“
„Friesennerz?“
„Ja, so eine dreiviertel gummiartige Regenjacke mit Kapuze. Die hängt unten in einem Spind. Dazu eine passende Regenhose und Gummistiefel. So ausgestattet passiert nicht viel. Die ziehe ich auch bei Regenwetter an. Trotzdem hilft manchmal die beste Kleidung nichts, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als unter die Dusche zu huschen. So wie jetzt. Wenn du möchtest, kannst du Max’ Fell bürsten. Es müsste noch etwas wirr vom Abtrocknen sein.“
„Gerne.“
„Könntest du auch mal die Pfoten genauer betrachten? Manchmal bleiben da Sandkörner und kleine Steinchen hängen.“
„Ja, kein Problem.“
Carsten entkleidete sich und zog seinen Bademantel über. Danach holte er sein Duschzeug hervor. Zuletzt griff er zielstrebig in den Kleiderschrank und entlockte ihm ein großes Badetuch. So ausgestattet ging er am Geländer entlang zu den Duschen. Im Waschraum war wenig Betrieb. Den Geräuschen nach zu urteilen waren zwei Duschen an. Einer rasierte sich mit einem Elektrorasierer und einer badete in Rasierwasser. Die Marke kam Carsten mehr als billig vor. Es stank einfach nur.
„Carsten, die Zwei ist frei.“
„Danke, Peter.“
Er ging zur besagten Dusche. Hängte seinen Bademantel an einen Haken und legte den Rest auf einer kleinen Bank davor ab. Dann tastete er nach dem Wasserregler und stellte sich den Wasserstrahl auf eine für ihn angenehme Temperatur ein. Das warme Wasser tat ihm gut und er fühlte sich langsam wieder frisch. Er genoss es regelrecht...
„Martin, das ist nicht lustig. Lege sofort die Sachen von Carsten hin. Wird es bald!“
„Bist du hier der Oberaufseher, Peter?“
„Nicht im Geringsten, doch wer sich an Mitschülern vergreift, legt sich auch mit mir an. Also, was ist? Na, es geht doch!“
„Die blinde Nulpe hat sowieso nix auf dem Kasten. Wozu also der Umstand?“
Carsten hatte das Wasser abgedreht. Tastete nach seinem Badetuch, welches ihm gereicht wurde und legte es sich um die Hüften.
„Och, wenn du meinst Martin. Dann lass es die ‚blinde Nulpe‘ einmal so ausdrücken. Du bist wohl im Rheinland geboren, müsstest eine Zeit lang im Norden der Republik gelebt haben und zu guter Letzt hast du im Berliner Raum gewohnt. Du bist ca. einsachtzig groß oder, Peter würde sagen, klein. Deine Aussprache lässt etwas zu wünschen übrig. Die tiefen Vokale bildest du im Rachenraum und verschluckst sie. Bei den Hellen lispelst du etwas. Konditionstraining wäre angebracht. Und du bist der neue Schüler aus der Elf, armer Paul. Habe ich noch etwas vergessen? Ja, dein Geschmack lässt zu wünschen übrig.“
Peter kicherte vor sich hin. Was Carsten nicht wusste, sein Gegenüber wurde abwechselnd rot und weiß.
„Woher?“
„Ganz einfach. Du sprichst mit einem Dialektmischmasch. Der Grundtenor ist das Rheinländische, dabei solltest du auch bleiben. Bei den Worten die ein stimmhaftes ‚st‘ beinhalten, verfällst du ins Plattdeutsche. Den Tonfall und die Wortbildung machst du wie ein Berliner. Da du das aber nur sehr schwer hinbekommst, kannst du nicht lange dort gewohnt haben. Deine Größe entnahm ich aus der Position der Lautquelle zu mir selbst. Ich kann dir nur empfehlen, etwas mehr auf die Wortwahl zu achten. Frau Petersen bietet auch Sprachtraining an. Du solltest es dir ernsthaft überlegen, das Angebot anzunehmen.“
„Und dass ich in der Elf bin?“
„Ich hatte eine Liste mit den Namen aller neuen Schülerinnen und Schüler. Es gab nur zwei Martin, der kleine geht in die Fünf. Alle anderen Martins des Internates kenne ich. Und sie würden nicht einmal auf die Idee kommen, meine Sachen anzufassen. Wie du selber merkst, muss ich nicht sehen können, um dich zu identifizieren.“
„Außerdem möchte ich anfügen, dass Carsten einer der besten Schüler des Internats ist. Du wirst dich wohl anstrengen müssen, sein Niveau zu erreichen, Martin.“
Damit war das Thema erledigt. Martin verließ fluchtartig den Waschraum. Carsten konnte nur hoffen, dass er seine Lektion gelernt hatte. Peter reichte Carsten den Bademantel.
„Sag einmal, Carsten, wie kommst du darauf, dass er keinen Geschmack hat?“
„Ganz einfach, Peter, wer sich so mit billigem Duftwasser einräuchert, kann keinen guten Geschmack haben.“
„Billig? Der hatte es aus einem Flacon mit der Aufschrift ABC!“
„Du lässt dich täuschen, ABC war es sicherlich nicht. Das verwendet der Neubert, es riecht anders. Martin hatte eines, was höchstens fünf Euro kostet. Außerdem, wenn es wirklich das Teure gewesen wäre, hätte er weniger davon genommen.“
„Das leuchtet mir ein. Wie steht es mit dem Konditionstraining?“
„Hast du nicht bemerkt, wie schnell er atmet? Oberflächlich! Ich wollte nicht unhöflich sein, doch Martin könnte ruhig etwas mehr Sport machen. Woher kennst du ihn? Du bist doch nicht in seiner Klasse!“
„Der Junge ist mir schon vor einigen Tagen aufgefallen. Er wollte gegenüber Ulrich aus der Sieben Stress machen. Wir werden wohl ein Auge auf ihn werfen müssen.“
„Übertreibt es nicht. Er hatte wahrscheinlich durch seinen häufigen Wohnungswechsel wenige Freunde. Versucht ihn doch mal anzuspornen. Zeigt ihm, dass er etwas für sich und das Internat tun kann.“
„Mensch Carsten. Ich staune immer wieder, wie schnell du Menschen erkennst, ist ja schon richtig gespenstisch. Ich ziehe meinen Hut vor dir! Und wie geht es jetzt weiter? Was ist mit Martin?“
„Ich denke, er lässt mich in Ruhe. Wenn nicht, hat er ein Problem. Aber ich habe mich bei dir noch nicht bedankt. Es ist nämlich äußerst ärgerlich, wenn meine Sachen verschwunden sind.“
„Nicht der Rede wert. Kann ich noch etwas für dich tun?“
„Ja, das Licht ausmachen. Ich habe da so meine Schwierigkeiten.“
Peter grinste. Gemeinsam verließen sie den Waschraum. Auf dem Korridor trennten sich ihre Wege. Im Zimmer zog sich Carsten schon bettfertig an, nahm die noch feuchte Tageswäsche und hängte sie über einen Stuhl. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch.
„Gab es Probleme?“
„Andreas?“
„Na, ich musste eben aufs Klo, da habe ich Stimmen aus dem Waschraum gehört.“
„Ach, nur ein vorwitziger Mitschüler meinte, mich ärgern zu müssen. Kommt leider auch hier vor. Peter aus der Dreizehn hat mir beigestanden.“
„Ist wirklich nicht die feine Art. Und wenn Peter nicht da gewesen wäre?“
„Och, dann hättest du einen nackten Carsten über den Flur laufen sehen. Anschließend hätte Max mir geholfen, die Sachen zu finden. Sie hatte bisher immer hundertprozentigen Erfolg. Es war ja nicht das erste Mal. Was meinst du, wie oft ich die schon gesucht habe? Aber lass uns lieber über etwas anderes reden, ja?“
„Und was?“
„Christiane hat mich noch einmal darauf aufmerksam gemacht. Ich möge noch ein Interview mit dir führen. Für die Zeitung. Und bevor es Protest hagelt: Es kommt jede neue Person im Hause dran.“
„Wenn das so ist.“
„Warte einmal, ich muss mal eben die Fragen hochladen. Da sind sie ja schon. Bist du bereit?“
„Schieß los.“
„Erst einmal die Daten.“
„Name?“
„Zahradník, Andreas.“
„Alter?“
„Siebzehn.“
„Geboren in?“
„Thüringen.“
„Eltern? Oder soll ich das überspringen?“
„Überspringen, bitte“
„Zuletzt gewohnt in?“
„München.“
„Größe?“
„Ein Meter siebzig, plus drei – minus zwei!“
„Wie habe ich denn das zu verstehen?“
„In meinem Ausweis steht einsachtundsechzig. Bei der Eingangsuntersuchung hier wurde ein Meter dreiundsiebzig festgestellt. Demnach liegt die Wahrheit dazwischen.“
„Gut, ein Meter siebzig, plus drei, minus zwei, ist notiert. Du hast wirklich eine seltsame Art. Gewicht? Unter uns, das interessiert manche der Mädchen.“
„Na, ich wiege mich nicht täglich, schreib ‚normal‘, was auch immer das bedeuten möge.“
„Akzeptiert: Normal. Wird bestimmt ein lustiges Raten. Das soll es an reinen Daten gewesen sein. Oder möchtest du noch etwas hinzufügen?“
„Nein, Carsten. Wie geht es weiter?“
„Lieblingsfach oder -fächer?“
„Alles, was mit Sprachen zu tun hat. Sport. Ich denke, das war es. Und deine?“
„Alles, was mit Logik und Zahlen zu tun hat. Musik. Aber ich soll dich interviewen. Was ist mit Deutsch? Du machst da so begeistert mit?“
„Ist denn ‚Deutsch‘ keine Sprache?“
„Der Punkt geht an dich!“
„Hobbies?“
„Herumphantasieren, Inliner, PC-Spiele und Internet, Natur, und vor allem: Am Wochenende ausschlafen. Aber das ist langweilig, wenn ich immer nur antworten soll! Welche hast du denn, Carsten?“
„Da steht an erster Stelle wieder die Musik: Klavier spielen. Gefolgt von meiner Zeit, welche ich mit Max verbringe. Lesen ist mir wichtig, Andreas. Das wenige, was ich an Sport machen kann. Last but not least: meine Freunde. Ohne die geht es nicht.“
„Hast du viele Freunde?“
„So richtige Freunde, die auch zu mir halten? Eine Hand voll, Bekannte: dreiviertel des Internats. Du bist wieder dran. Erzähl ein wenig über dich!“
„Was denn?“
„Was hast du zum Beispiel in den letzten zwei bis drei Jahren gemacht? Hattest du viele Freunde und wie hast du dich hier eingelebt?“
Andreas erzählte ein wenig aus seiner bayerischen Zeit. Welches Gymnasium er besuchte, seine Aktivitäten im Sportverein und kleinere lustige Anekdoten mit Freunden. Von seinem Urlaub bei seinen italienischen Großeltern. Wie er dort in Italien Pizza backen gelernt hatte. Oder von dem Besuch in dem Geburtsort seines Vaters in der Tschechischen Republik. Von allem sprach er begeistert. Carstens Finger wuselten flink und leise über die Tastatur seines mobilen Rechners. Er hörte Andreas gerne zu. Er empfand seine Stimme als sehr warm und weich. Als die Sprache auf das Thema Schulwechsel kam, wurde sein Enthusiasmus gebremst. Aber es dauerte nicht lange an, denn dass er hier aufgenommen wurde und er sich im Internat wohl fühlte, hob seine Stimmung spontan.
Carsten, der alles mitgeschrieben hatte, machte – nachdem Andreas geendigt hatte – eine kleine Notiz hinter dem letzten Absatz.
„Weißt du schon, was du nach der Schule machen möchtest?“
„Ich würde gerne erst einmal eine Gärtnerausbildung machen. So richtig in einem Betrieb. Danach Gartenbauarchitektur oder so etwas studieren. Ich weiß, aber ich bin nun mal der Sohn meines Vaters. Und er hat in mir die Leidenschaft zur Natur geweckt. Wie steht es mit dir Carsten? Musikstudium?“
„Gut! Ja, ich möchte eine Musikhochschule besuchen. Vielleicht werde ich Dirigent oder Komponist. Wer weiß? Jedenfalls möchte ich ein guter Pianist werden.“
„Ich könnte mir dich als Leiter eines Orchesters sehr gut vorstellen. Ein guter Pianist bist du doch schon.“
„Danke, das ist der Ehre zuviel, Andreas. Ich muss noch eine ganze Menge lernen. Herr Kramer bringt mir wirklich sehr viel bei. Aber er sagt auch, dass ich noch einen weiten Weg zu gehen habe. Er hat mit mir auch schon über einzelnen Hochschulen gesprochen. Was mich an Prüfungen erwartet und so weiter. Andreas, kann ich dir etwas anvertrauen, ohne dass es publik wird?“
„Vertraust du mir denn?“
„Ja, unbedingt. Ab dem neuen Jahr werde ich nicht mehr bei den JHP-News mitmischen. Ich möchte die Zeit in die Vorbereitung der Aufnahmeprüfungen stecken. Bist du jetzt enttäuscht?“
„Enttäuscht? Ein wenig. Die Entscheidung hast du doch längst getroffen, ist dir denn meine Ansicht wichtig?“
„Nein! Natürlich ist sie mir wichtig – du bist mir wichtig! Sonst hätte ich es dir doch gar nicht gesagt. Mann, Andreas, du bist manchmal komisch. So, ich denke das war es schon, möchtest du das Interview noch einmal überfliegen? Nicht, dass ich etwas Falsches notiert habe!“
„Ich wundere mich sowieso, wie du so schnell alles tippen konntest!“
„Frau Möller-Klein hat mir das Zehnfingersystem beigebracht. War zwar mühsam, doch es hat sich gelohnt.“
„Ist alles richtig, nur warum hast du noch ‚ist für die Allgemeinheit nicht relevant‘ dahinter geschrieben?“
„Ich hatte den Eindruck, der Schulwechsel ist deine persönliche Angelegenheit. Und als ein Freund empfehle ich, es aus dem Interview wieder zu streichen. Es geht wirklich keinen etwas an. Wenn du darauf aber bestehen solltest...“
„Nein, ich denke du hast Recht. Ich war eben so eingefahren.“
Andreas druckste ein wenig herum. Das Gespräch vom Nachmittag fiel ihm ein. Und auch, dass er auf eine Sache nicht geantwortet hatte.
„Carsten?“
„Ja?“
„Was ist mit der offenen Frage von heute Nachmittag?“
„Was soll damit sein?“
„Bist du an deren Antwort nicht mehr interessiert?“
„Interessiert schon, aber ich habe das Gefühl, dir gefällt die Frage nicht. Andreas, du bist mir wichtiger, als dass ich darauf pochen würde. Daher stelle ich sie zurück.“
„Nein, das musst du nicht. Ich verhalte mich deswegen so reserviert, weil ich nicht noch einmal enttäuscht werden will.“
„Dein Vertrauen wurde missbraucht?“
„Ja.“
„Danke.“
„Und bitte kein Wort zu den Anderen.“
„Ehrensache! Falls es dich interessiert: Ich und Max stehen hinter dir. Egal was passiert.“
Carsten fasste nach seiner Uhr. Es war schon recht spät und die Jungs beschlossen, langsam ins Bett zu gehen. Während Carsten seinen kleinen Mac abschaltete, war Andreas am Waschbecken. Nachdem Carsten sich auch den letzten Schliff gegeben hatte, öffnete er noch sein Fenster und strich Max sanft über den Kopf.
„Was ist mit Max, muss sie noch raus?“
„Nein, dann hätte sie sich schon gemeldet.“
„Gute Nacht, Andreas!“
„Nacht Carsten.“
Kapitel IX: Projekte
Dass ein Jubiläum anstand, machte sich im Tagesablauf der folgenden Wochen bemerkbar. Manches positiv, anderes eher negativ für die Jugendlichen. Zu dem Positiven zählten die Mahlzeiten, es wurden an den Schülern verschiedene Gerichte ausprobiert, welche in Frage kommen sollten. Die Auswahl war erlesen. Dass durch die unterschiedlichsten Aktivitäten die Freizeit geringer ausfiel, wurde dem Negativkonto gutgeschrieben.
Zusammen mit Maria und Christiane leitete Carsten die Redaktion. Alle waren sehr erstaunt, wie geschickt das Mädchen aus der Sechsten argumentieren konnte. Carsten musste so manches Mal schmunzeln, wenn Maria durch geschickte Rhetorik ihr Gegenüber an die Wand redete. Selbst vor Schülern aus den höheren Klassen machte sie nicht halt. Sie brachte frischen Wind in die Zeitung.
„Und was machen wir heute, Carsten?“
„Ich erkläre dir ein wenig die Organisation. Sicherlich hast du schon bemerkt, dass jeder, der bei uns mitmacht, auch alles einmal machen muss. Zum Beispiel Paul aus der Elf. Er ist ein guter Designer, wie Christiane mir erzählte, und trotzdem hat er ein Interview führen müssen. Ich finde es nur gerecht, wenn jeder weiß, wie viel Arbeit in einer Sache steckt.“
„Ich verstehe. Besprichst du das mit Christiane?“
„Unbedingt, sie möchte ja auch wissen, mit wem sie bei den einzelnen Ausgaben zusammenarbeitet. Es hätte keinen Sinn, wenn ich ihr alle Grafiker nehmen würde. Dann bliebe ja die ganze Layoutgestaltung an ihr hängen. Und umgekehrt!“
„Ich werde es mir merken, Carsten.“
„Gut, dann kommen wir zu einem ganz anderen Thema: Kosten!“
„Kosten? Ich dachte, das Internat übernimmt sie?“
„Ist so nicht ganz richtig. Wir haben ein Budget und müssen es einteilen. Umgerechnet produziert jedes Exemplar rund einen Euro fünfzig an Kosten. Neunzig Cent davon werden für den Druck benötigt. Die restlichen Sechzig sind Materialkosten im Vorfeld. Das Internat zahlt pro Exemplar einen Euro.“
„Dann fehlen ja noch fünfzig Cent! Wo bekommst du die her?“
„Durch Sponsoren wie die örtlichen Banken und Geschäfte. Einen Obolus erhalten wir für Berichterstattung in den lokalen Medien. Summa summarum erwirtschaften wir einhundert Euro pro Monat, bei einer Auflage von fünfhundert Exemplaren. Das heißt, die JHP-News tragen sich selbst.“
„Das hätte ich nicht gedacht. Was ist mit dem überschüssigen Geld?“
„Ein Drittel bleibt als Reserve. Der Rest wird in ein Schulprojekt von UNICEF investiert. Das war ein gemeinsamer Beschluss der Redaktion vor einem Jahr.“
„Aha, daher auch immer der Spendenaufruf.“
„Genau. Wichtig ist aber, dass wir – sprich die Chefredakteure – die ganze Buchführung machen. Frau Melchor, unsere Buchhaltungssekretärin, hilft uns dabei.“
„Sag einmal Carsten, ich habe das Gefühl, du willst mich als deine Nachfolgerin.“
„Stimmt Maria, wie du selber mitbekommen hast, sind die Ansprüche an meine Wenigkeit gestiegen. Herr Kramer, Herr Walz, meine Eltern und ich haben vor den Ferien zusammen gesessen. Ich habe vor ihnen meine Zukunftspläne ausgebreitet. Nach dem Abi möchte ich eine Musikhochschule besuchen. Die Aufnahmeprüfungen sind nicht einfach. Ich habe mir Prioritäten gesetzt. Ab dem neuen Jahr steht die Musik an erster Stelle. Ich werde mich aus der Redaktionsarbeit ganz zurückziehen.“
„Aha, und wenn ich nicht will?“
„Dann suche ich jemand anderen! Ich würde mich sehr täuschen, wenn dem aber so wäre. Maria, du bist sehr engagiert bei der Sache. Ich bin von deinen Fähigkeiten überzeugt, du schreibst gerne und ziehst den Kopf vor Problemen nicht ein. Du hast das Zeug zu einer guten Journalistin. Und ich würde mich nicht wundern, wenn du dieser Berufssparte treu bleibst.“
„Hat Christiane nicht auch ein Wort mitzureden?“
„Hat sie schon getan, sie vertraut mir in meiner Wahl. Außerdem schaut sie sich auch schon um. Dann wirst du ein Wort mitzureden haben. Wichtig ist es, dass sich einer um den Inhalt kümmert und ein Anderer um das Layout. Die News sollen Spaß machen, keinen Stress!“
„Ich verstehe...“
Carsten erklärte noch einiges von der Organisation der Zeitung, die im Hintergrund ablief. Die Korrektur der Artikel teilten sie sich. Sowohl Carsten als auch die Mädchen halfen sich gegenseitig. Seine frei gewordene Zeit investierte der Junge nicht nur in seine Übungsstunden am Klavier, sondern verbrachte viel bei den Proben. Carsten probte einmal die Woche mit dem Orchester an dem Konzert. Dennoch wollte es nicht recht gelingen. Herr Walz war einige Male nur noch ein Nervenbündel nach der Probe. Im Gegensatz dazu Herr Kramer. Er verstand es, seinen Schüler mit geschickten Übungen bei Laune zu halten. Es kam auch vor, dass der Professor – wie Carsten ihn manchmal titulierte – dem Jungen frei gab. Carsten hütete sich davor, stattdessen etwas anderes zu machen. Nein, während der Zeit ließ er seine Seele baumeln und erholte sich zusammen mit Max. Wenn sie nicht durch die Gegend streiften, konnte man die beiden am Schulgarten antreffen. Dann lauschten sie dem Treiben dort oder unterhielten sich.
Die Proben für das Musical fielen meistens auf den frühen Abend. Nach dem Treffen mit Michael hatten sie ein gutes Konzept erarbeitet. Erst im Nachhinein stellte sich heraus: Ohne Klavierbegleitung ließen sich die Choreographie und Einlagen nur schwer umsetzen. Abwechselnd spielten Carsten und ein weiterer Schüler bei den Proben Klavier. Einmal in der Woche leitete er separat die Musicalproben mit einer Orchesterauswahl. Eine weitere Probe machte er mit den Sängerinnen und Sängern.
„Hallo Leute, ich habe es schon gehört. Ihr habt eure Instrumente schon gestimmt. Darf ich einmal bitten?“
Zunächst begann der erste Violinist, den Kammerton ‚a‘ fortwährend auf seinem Instrument zu spielen. Danach folgten die Geigen, die Celli, die Bässe, bis nach und nach alle Instrumente ein und denselben Ton spielten. Carsten war zufrieden. Dann legte er sein Powerbook auf das Pult und lud seine Partitur hoch. Über sein Fingerpaneel suchte er die Stelle, welche er mit dem Orchester proben wollte. Er hatte sich die Zeit genommen und die Partitur studiert. An seinem Keyboard hatte er sie immer wieder gespielt und sie war ihm ins Gedächtnis gebrannt. Er hatte sich mit den Musikpädagogen einen Plan zurechtgelegt, wie er das Musical am besten mit dem Orchester einstudieren konnte. Die Partitur benötigte er, um sich mit den Musikern zu verständigen. Oder er machte sich Notizen, welche ihm das Dirigieren erleichterten.
„Ich möchte zunächst die einzelnen Stimmen hören. Wir fangen mit den Bässen an. Takt 125 bis 250. Die Celli achten bitte auf das Staccato bei zweihundert und die Tuben mögen bitte ihr Solo im ‚piano‘ halten. Können wir? Ich gebe zwei Takte vor!“
Carsten hob seinen Taktstock und mit dem ersten Schlag des dritten Taktes fingen die Musiker an. Auch wenn es fehlerbehaftet war, ließ der Junge den Teil beenden. Danach ging er ins Detail. So verfuhr er mit jeder Stimme. Am Ende der Probe spielten sie den Teil gemeinsam durch. Einem unbeteiligten Zuschauer dieser Proben wäre nicht im Traum eingefallen, dass der Dirigent nicht sehen konnte. Und auch die Musiker staunten nicht schlecht, wie Carsten sie mit viel Geduld zum Ziel führte. Jedenfalls waren viele von dem Engagement aller überzeugt.
Einmal die Woche saß Herr Kramer im Hintergrund und sah sich die Arbeit seines Schützlings an. Carsten hatte seinen eigenen Stil des Dirigierens entwickelt, und er musste eingestehen, dass der Junge gut war.
Einige Veränderungen spürte auch Max. Wenn Carsten doch noch zu einer späten Probe weg musste, blieb Andreas bei ihr. Carsten wollte nicht, dass die Hündin auf ihre Ruhezeiten verzichtete. Und Andreas stellte sich als ein sehr guter Hundesitter heraus. Obwohl er selber auch einiges zu tun hatte.
Denn Christiane und er hatten sich bereiterklärt, ein Jubiläumsheft zu gestalten. So manchen Abend saßen sie lange zusammen in der Redaktion. Erstellten Designs und verwarfen sie wieder. Dem ‚Festtagskomitee‘ legten sie eine Auswahl ihrer Kreationen vor. Dieses entschied sich dann doch für ein Layout im Stil ihrer Zeitung. Frau Schmitt half ihnen bei den Texten und Programmpunkten. Besonders, weil sich von heute auf morgen einiges ändern konnte. Im Großen und Ganzen hatte sich ihre Teamarbeit gelohnt. Das kleine Journal ging in Druck.
Weiter hatte Andreas begonnen, den Garten neu zu gestalten. Mit Herrn Tauber – einem der Institutsgärtner – begann er, die Schülerrabatte zu säubern. Dass der Winter vor der Tür stand, war ihm nur recht. Ein rundes Zierbeet vor dem Eingangsportal richtete der Schüler alleine. Andreas hatte dieses Projekt begonnen und war für die Umsetzung verantwortlich. Der alte Gärtner bemerkte sehr schnell, dass der Junge ein gutes Händchen mit Pflanzen und der Natur hatte. Er half dem Jungen, seine Ideen umzusetzen und war für Fragen und Ansichten offen. Aber er durchschaute dessen Konzept nicht. Dafür fehlte ihm der Blick aus einer anderen Perspektive.
„Ich weiß nicht, Herr Tauber, mir gefällt dieses Arrangement nicht. Der Strauch dort passt einfach nicht zu der Gruppe da. Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn – gelinde gesagt – entsorgen.“
„Dein Vorgänger meinte, der gehöre da hin.“
„Dann muss er – ohne Carsten zu beleidigen – blind gewesen sein. Wie kann man eine Pflanze, die üblicherweise in Südamerika vorkommt, hier kultivieren wollen. Noch dazu neben einer heimischen Staude. Das kann nicht gut gehen und so gesund sehen beide nicht aus.“
„Komisch, dass du das sagst, Carsten hatte seinerzeit eine ähnliche Meinung, als er davon erfuhr. Also, wegen mir kann sie ruhig weg.“
„Dann geben Sie mir bitte den Spaten. Ist ja nicht zum aushalten. Wir können sie ja in einen Topf setzen und im Haus kultivieren.“
„Wenn du möchtest, erledige ich das Umtopfen morgen Vormittag, Andreas!“
„Es wäre sehr nett von Ihnen, Herr Tauber. Ich denke, an einem wärmeren Ort würde sie sich wohl fühlen.“
Solche Gespräche waren zwischen ihnen üblich. Auch wenn Carsten und Max dabei waren. Und zum Feierabend setzten sie sich zusammen auf eine der Bänke und schauten sich ihr Tagwerk an. Manchmal führte Andreas Carsten durch den Garten. Beschrieb, was er getan hatte und ließ Carsten auch alles berühren. Herr Neubert stand oft am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute dem Treiben zu. Als er mitbekam, wie der Junge ein ums andere Beet leer räumte, war er geschockt. Er bestellte Herrn Tauber zu sich. Dieser beruhigte den Direktor damit, dass Andreas und einige weitere Schüler nichts anderes machten, als die nötigen Vorbereitungen für das kommende Jahr. Die Schülerrabatte konnten im Frühjahr neu bestellt werden, ganz nach Belieben. Als der Institutsleiter sah, dass alles Hand und Fuß hatte, ließ er ihn gewähren. Und er musste sich eingestehen, dass Andreas sein Handwerk verstand. In dem Rondell vor dem Eingang entwickelte sich das Internatslogo auf ‚natürliche‘ Weise. Er war schon neugierig, wie es sich wohl im Frühjahr machen würde.
Der Vorteil des Gartens war, dass man von dort aus einen freien Blick auf den See hatte. Kein Baum oder Strauch versperrte die Sicht darauf. Andreas setzte sich manchmal auf eine Bank und sah dem Ruderteam zu, wie sie ihre ‚Bahnen‘ zogen. Manchmal war es ganz lustig, dem Treiben zuzusehen. Besonders dann, wenn sich die Mannschaft nicht ganz einig über die Anzahl der Ruderschläge war. Andreas hatte schon gesehen, wie das Boot einen weiten Kreis über den See zog oder sich wie eine Schlange fortbewegte. Neben Britta mischte auch Christiane im Team mit. Und er stellte sich die Frage, wie die beiden es schafften, neben den ganzen Aktivitäten hier im Internat ihre Freunde bei Laune zu halten! – Musste wohl ein ‚weibliches‘ Geheimnis sein.
Was Andreas als sehr positiv empfand, waren die wenigen, aber intensiven Gespräche mit Carsten. Er hatte das unbestimmte Gefühl, es bahnte sich etwas zwischen ihnen an. Doch so genau konnte er es nicht sagen. Zumindest war er an manchem Morgen froh, dass Carsten nicht sehen konnte, welche Auswirkungen er bei ihm auslöste. Vor allem nicht, wenn er von ihm geträumt hatte. Besonders nach dem einen Nachmittag begann er ihm zu vertrauen. Hatte Carsten ihn doch als ‚einen‘ Freund bezeichnet. Es fühlte sich alles richtig an. Wenn sie sich zufällig berührten, hatte er ein unbestimmtes Kribbeln verspürt.
Auch Carsten schöpfte neue Energie aus ihrer Zweisamkeit. Allein Andreas’ Stimme zu hören, setzte positive Gefühle bei ihm frei. Seine Nähe zu wissen, versetzte ihn in andere Sphären. Das komische Gefühl in seinem Bauch steigerte sich zu einem Dauerzustand in seiner Nähe. Er fühlte sich glücklich in dessen Beisein. Immer öfter träumte er von dem Jungen in seinem Zimmer. Er hatte das Verlangen, Andreas intensiv berühren zu wollen.
Ihre Hausaufgaben machten sie zusammen. Carsten sprach kein schlechtes Englisch, doch es ließ sich noch mit Andreas’ Hilfe verbessern. Carsten ehrgeizig zu nennen, wäre ihm nicht gerecht geworden. Der Junge war bestrebt und bereit, von anderen zu lernen. Sein Vorteil: Er hatte Kontinuität und Geduld. Gegenüber Andreas revanchierte Carsten sich in Mathe. Schnell war ihm aufgefallen, dass Andreas mit Zahlen und der dazugehörigen Logik auf Kriegsfuss stand. Daher nahm er sich die Freiheit heraus, dem Jungen langsam, aber zielstrebig, die ‚Geheimnisse‘ zu entschlüsseln. Kleine Zwischentests in der Schule zeigten ihnen Erfolge.
Eine weitere liebe Gewohnheit wurden die gemeinsamen sportlichen Aktivitäten. So begleitete Andreas Carsten manchmal zum Schwimmen. Nicht immer ging dieser nur zum Training. Er besuchte auch das große Freizeit- und Hallenbad, wenn ihm einfach nur nach Relaxen zumute war. Beim regelmäßigen Joggen merkte Andreas recht schnell, dass Carsten sich sehr selbstsicher bewegte. Vor allem beim Laufen fiel es auf. Für einen Blinden legte Carsten ein beachtliches Tempo vor. Und Max sorgte dafür, dass keine Hindernisse das Vergnügen stoppten. Doch es wurde Herbst und die Waldwege, so gut sie auch waren, wurden durch das Laub immer rutschiger. Einmal glitt Carsten in einer Kurve aus. Außer Hautabschürfungen und einigen blauen Flecken war nichts Schlimmeres passiert. Dennoch verlegte er sein Joggen ins Haus. Im Fitnessbereich waren Ergometer und Laufbänder vorhanden, wo er seine Kondition aufrecht halten konnte. Mit Max spielten Christiane, Andreas und er dafür immer häufiger Frisbee auf der Grünfläche hinter dem Haus.
Kapitel X: Einladung
Andreas stand am Fenster des Internatszimmers. Sein Blick streifte über den noch herbstlichen Wald. Seit einigen Tagen lagen die Temperaturen um den Gefrierpunkt und es roch förmlich nach Schnee. Einige Minuten später drehte er sich um, lehnte sich an die Fensterbank und schaute seinem Mitschüler beim Packen zu. Immer noch konnte Carsten ihn in Erstaunen versetzten, wenn es darum ging, wie geschickt er seine Blindheit meisterte. Gut, er hatte gelernt, dass alles nur auf entsprechende Organisation zurückzuführen war. Dennoch, ein gewisses Maß an Improvisation gehörte dazu.
„Nimmst du deinen dunklen Blazer mit?“
„Warum? Nein.“
„Auf dem linken Revers ist ein Fleck. Ich habe es heute erst gesehen, als du ihn kurz rausgehängt hast.“
„Dann nehme ich ihn doch mit. Danke. Was würde ich nur ohne dich machen?“
„Wie ein Dreckteufel herumlaufen. Und was wirst du am Wochenende machen?
„Samstagmorgen hat Max einen Termin beim Tierarzt. Danach habe ich noch nichts Konkretes vor. Und du?“
„Wie des Öfteren bleibe ich hier.“
„Hättest du nicht mal Lust, zu mir nach Hause zu kommen? Meine Eltern haben sicherlich nichts dagegen, wenn ich dich mitbringe. Wir haben auch ein Gästezimmer.“
„Nettes Angebot, aber ein ganzes Wochenende?“
„Kein Problem, packe deine Sachen. Du kommst mit. Keine Widerrede. Ich sage der Leitung Bescheid.“
Carsten öffnete die Tür. Die Hündin schaute zu ihm auf. Und wieder staunte Andreas nicht schlecht. Obwohl Carsten hinaus ging blieb Max seelenruhig auf ihrem Platz liegen. Anscheinend hatte Carsten ihr, wie auch immer, angedeutet, dass sie ruhig liegen bleiben dürfe. Carsten verließ das Zimmer. Im Gang suchte er das Geländer, hielt sich daran fest und folgte ihm. Bis zum Internatsbüro im Erdgeschoss brauchte er knapp zehn Minuten. Dort angekommen, tastete er das Piktogramm ab. Sekretariat, stand da in Blindenschrift geschrieben. Schon einmal hatte der Junge die Türen verwechselt und war im Direktorat gelandet. Carsten klopfte an und folgte der Aufforderung zum Eintreten.
„Hallo Carsten, was kann ich für dich tun?“
„Hallo Frau Schmitt, ich wollte Ihnen mitteilen, dass Andreas dieses Wochenende bei mir verbringen wird.“
„Danke, ich werde es notieren. Ich wünsche euch viel Spaß.“
„Danke Frau Schmitt. Ihnen auch ein angenehmes Wochenende.“
„Na, ob mein Weekend so toll wird? Mein Mann möchte das Wohnzimmer renovieren... ich sage nur ein Wort: Chaos!“
„Dann wird es sicherlich lustig, Frau Schmitt. Bis Montag.“
„Scherzkeks, bis Montag.“
Damit kehrte der Junge um und war bald darauf wieder im Zimmer.
„Du bist wirklich sicher, dass deine Eltern nichts dagegen haben?“
„Nicht im Geringsten. Sie fordern mich ja regelmäßig dazu auf, jemanden mitzubringen.“
„Was brauche ich denn alles?“
„Klamotten, Zahnbürste etc. Ist doch nur ein Wochenende!“
„Versprich, dass du nicht lachen wirst?“
„Warum sollte ich?“
„Es wäre mein erstes Wochenende!“
„Du hast noch nie woanders übernachtet?“
„Doch schon, aber das ist schon eine Weile her.“
„Keine Panik, wir sind auch nur ganz normale Menschen. Obwohl ich mir da manchmal nicht so sicher bin. Falls du schmutzige Wäsche hast, nimm sie mit. Mutti hilft dir sicherlich beim Waschen deiner Sachen.“
„Wie ist das eigentlich, seid ihr ‚adlig‘?“
„Ja und nein. Das ‚von‘ ist meinem Urgroßvater verliehen worden. Es ist aber auch schon alles, was wir von ihm geerbt haben.“
Eine Stunde später fuhr ein großer dunkelblauer Mittelklassewagen vor dem Internat vor. Eine zeitlos elegant gekleidete Frau mittleren Alters stieg aus. Sie ging einige Schritte, drehte sich um und verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung. Danach stieg sie die Stufen zum Hauptportal hinauf. Die schwere Eichentür öffnete sich und der Direktor des Institutes empfing die Besucherin.
„Guten Tag, Frau Dr. von Feldbach.“
„Guten Tag, Herr Direktor Dr. Neubert, wie geht es Ihrer Familie?“
„Danke der Nachfrage, ihnen geht es gut.“
„Das freut mich, kann ich Carsten zum Wochenende abholen?“
„Sicher doch, er wartet in seinem Zimmer auf Sie.“
„Danke, Herr Neubert. Wie macht sich mein Sohn in der Schule?“
„Wenn alle Schüler so diszipliniert wären, hätte ich als Pädagoge ein einfaches Leben. Aber ich wünschte manchmal, er würde etwas mehr aus sich herauskommen.“
Abrupt blieb Frau von Feldbach stehen. Drehte sich zum Direktor um und sah ihn erwartungsvoll an.
„Inwiefern ‚aus sich herauskommen‘?“
„Seit dem neuen Schuljahr scheint er mir etwas zurückhaltender als sonst. Auch einige Kollegen teilten mir mit, dass er im Unterricht stiller geworden sei. Wir haben keine Ahnung, was ihn beschäftigt. Dass da etwas ist, steht außer Frage. Vielleicht können Sie und Ihr Mann...?“
Die Besucherin dachte einen Augenblick nach. Sie kannte ihren Sohn. Wenn er etwas auf dem Herzen hatte, würde er sie früher oder später ins Vertrauen ziehen. Aber noch war wohl die Zeit dafür nicht reif.
„Das ist keine so gute Idee, Herr Neubert. Mein Mann und ich haben vollstes Vertrauen in Carsten. Leiden seine Leistungen und Aktivitäten darunter?“
„Bisher noch nicht.“
„Gut, dann sollten wir Carsten die Zeit geben, die er benötigt. Sonst noch etwas?“
„Nein, sonst gibt es nichts. Darf ich mich von Ihnen verabschieden? Ich habe noch einiges zu tun. Sie wissen ja, das Jubiläum.“
„Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Herr Neubert und grüßen Sie Ihre Frau von uns.“
„Ich werde es ausrichten, auf Wiedersehen, Frau Dr. von Feldbach!“
Damit trennten sich die Wege. Eilligen Schrittes ging auch sie weiter. Minuten später klopfte sie an eine Zimmertür.
„Herein!“
Die Besucherin betrat das Zimmer. Die Hündin stand auf und gesellte sich zu Carstens Mutter. Sie kraulte der Golden-Retriever-Hündin das Fell.
„Hallo Max, hast du auf mich gewartet?“
„Hallo Mama, schön, dass du endlich da bist. Ja, das hat sie, aber nicht nur sie.“
Damit stand der Junge auf, ging in Richtung der Tür und umarmte seine Mutter. Dergleichen tat sie bei ihrem Sohn.
„Alles abfahrbereit?“
„Ja, Mutti, ich habe Andreas für dieses Wochenende eingeladen. Du hast doch nichts dagegen?“
„Nein. Ich freue mich.“
Sie drehte sich zu der dritten Person im Raum um. Sie musterte Andreas und fand ihn auf Anhieb sympathisch.
„Guten Tag, Frau Dr. von Feldbach.“
„Andreas, angenehm! Und vergiss es sofort wieder. Du kannst mich ruhig Luise nennen. So, ich habe hier genug Zeit vertrödelt. Ich nehme Carstens Sachen und du schnappst dir deine. Mein Auto steht vor der Eingangstür.“
So, als ob Max es ahnte, drehte sie sich um und stellte sich zu Carstens Linker auf. Der nahm den Bügel in die Hand und schon ging es los. Als Letzter verließ Andreas das Zimmer und schloss hinter sich die Tür zu. So ging die kleine Gruppe dem Ausgang entgegen. Im Auto wurde das Gepäck verstaut. Bevor die Hündin in die große Transportbox im Fond des Caravans kletterte, entfernte Luise das Geschirr. Die Jungs stiegen beide hinten ein. Frau von Feldbach schloss die Heckklappe und setzte sich hinter das Steuer.
„Anschnallen, Jungs. Die Tour geht gleich los.“
Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Einige Minuten später wurde das Auto auf die Autobahn gelenkt und ab ging es. Andreas schielte auf den Geschwindigkeitsmesser und staunte nicht schlecht.
„Herrlich, so ein Turbodiesel, da geht die Post ab! Oder was meinst du, Andreas?“
„Ehm ja, ist das nicht ein wenig zu schnell?“
„Höre ich da etwa Angst heraus?“
Carsten kicherte vor sich hin.
„Nee, Andreas. Angst brauchst du wirklich nicht zu haben. Mutti weiß schon, wie schnell sie fahren kann. Sie ist mit Autos groß geworden. Mein Opa hatte eine kleine Werkstatt. Sie hat mir auch erzählt, dass sie während ihres Studiums Rallye gefahren ist.“
„Dann bin ich ja beruhigt.“
„Hach, musst du alles verraten, Carsten? Du verdirbst mir ja den Spaß, mich an seiner Angst zu weiden.“
„Nee, lass mal Mutti. Für ihn ist das Wochenende sicherlich schon interessant genug.“
„Habt ihr schon etwas Bestimmtes vor?“
„Lass uns einfach erst einmal ankommen und morgen möchte ich gerne mal ausschlafen.“
„Hattest du nicht etwas von einem Tierarzttermin gesagt, Carsten?“
„Ja, hatte ich, Andreas. Morgen früh um acht. Papa ist Veterinär und seine Praxis ist im Haus. Ist ganz praktisch manchmal. Mutti, hat Papa schon die neue Software?“
„Ja, ist alles schon installiert. Dafür solltest du deiner Schwester danken. Also, ich hätte das sicherlich nicht so schnell hinbekommen. Selbst Paul hat nach einer Stunde das Handtuch geworfen. Sie hat sich einfach vor den Mac gesetzt und dran rumgemacht. Keine halbe Stunde später war der Spuk schon vorbei.“
„Woher sie nur das technische Verständnis hat?“
„Jedenfalls nicht von deinem Vater, der hat zwei linke Hände, wenn er nur ein Bild anbringen soll. Ich glaube, sie kommt ganz nach meinem Vater, der hat auch immer nur gewerkelt. Ich finde es gut, dass sie sich dafür interessiert.“
„Ohne sie wäre ich sicherlich schon an dem Rechner verzweifelt.“
„Wie heißt deine Schwester?“
„Andrea. Und falls dich das interessieren sollte, sie ist meine Zwillingsschwester.“
Andreas’ Wangen färbten sich leicht rot.
„Ach Carsten, Andreas ist ganz verlegen.“
Andreas’ Gesicht wurde rot.
„Mutti, das musst du nicht sagen. Ich spüre es auch so.“
Andreas wurde puterrot.
„Carsten, du hast gerade den Vogel abgeschossen.“
„Ich sagte doch, Andreas: Wir sind ganz normale Menschen... manchmal.“
Kapitel XI: Das Haus
Die Fahrt neigte sich dem Ende zu. Frau von Feldbach steuerte den Wagen in eine Auffahrt.
„So Jungs, wir sind da.“
Damit hielt das Auto vor einem alten Gutsherrenhaus. Sie stiegen aus und Andreas schluckte bei dem Anblick. Das Haus sah einfach umwerfend aus. Die Fassade war in einem milden Weiß gehalten, das Fachwerk der beiden oberen Etagen hob sich farblich davon ab. Der untere Sims bestand aus Naturstein. Der ganze Vorgarten unterstrich dezent die individuelle Note der Menschen, die hier wohnten. Es wirkte einladend.
„Gehört das alles euch?“
„Ja, zumindest noch als ich vorhin losgefahren bin. Andreas, mein Mann führt eine erfolgreiche Tierarztpraxis. Ich lehre an der Universität Anthropologie. Von daher geht es uns nicht schlecht. Nun komm erst einmal herein. Um deine Sachen kümmern wir uns später. So, wie ich meinen Mann kenne, hat er schon eine Kleinigkeit vorbereitet.“
Carsten tastete sich zum Heck und öffnete die Klappe. Danach ließ er den Hund aus der Box. Max sprang aus dem Wagen und lief einige Meter. Dann kam sie zu Carsten zurück.
„Na los, Max, wo ist Papa?“
Der Hund stürmte los, ohne sich noch einmal umzudrehen und rannte hinter das Haus. Frau von Feldbach ging um das Auto herum und bot ihrem Sohn den Arm an. Carsten hakte sich ein und gemeinsam gingen die drei zum Haus hinüber. In der Eingangshalle trat ihnen ein sportlicher Mann gegenüber.
„Hallo, da seid ihr ja. Wie ich sehe, habt ihr einen Gast mitgebracht.“
„Hallo Papa. Ja, darf ich dir Andreas, meinen Mitschüler und Mitbewohner, vorstellen?“
„Hallo Andreas.“
„Hallo Herr Dr. von Feldbach.“
„Ein einfaches ’Paul’ reicht aus. Ich habe Feierabend und der Doktor bleibt in der Praxis. Kommt mit in die Küche, ich habe etwas vorbereitet.“
Luise ging zu ihrem Mann und gab ihm einen kleinen Kuss. Andreas schaute – ganz der Gentleman – in eine andere Richtung.
„Ach, müsst ihr immer knutschen?“
„Da hör sich einmal einer unseren Sohnemann an, bist wohl neidisch?“
„Wir haben einen Gast!“
„Na, es sieht nicht so aus, als ob es ihn stören würde! Er schaut höflichst weg.“
„Carsten, woher...“
„Andreas, seit fast siebzehn Jahren lebe ich nun mit diesen Eltern zusammen, da habe ich schon einiges mitbekommen. Und es würde mich wundern, wenn sie auf diese liebe Gewohnheit verzichten würden. Außerdem waren die Kussgeräusche echt laut. Du siehst, ich muss nicht sehen, was um mich herum geschieht.“
„Carsten, two points. Andreas...“
„Mutti!“
Paul ging auf seinen Sohn zu, wuselte ihm durch die Haare.
„Na, wie läuft es in der Schule?“
„Paps, wir haben Wochenende!“
„Schon gut, es interessiert mich nun einmal, was du machst.“
„Um deine unwiderstehliche Neugier zu befriedigen: Ich kann nicht klagen. Die Lehrer sind alle zuvorkommend und verpassen mir Noten nach meinen Leistungen. Außerdem stehen das Jubiläum von unserem Direx und das des Internates an. Zufrieden?“
„Alles klar, Carsten. Kurzum, ich darf stolz auf dich sein, Sohnemann.“
Zusammen gingen sie in die Küche. Auch hier staunte Andreas nicht schlecht. Die ganze Einrichtung wirkte nicht nur modern, sondern hatte ihren besonderen Charme. Der Junge fühlte sich hier wohl. Das Zentrum bildete der runde Esstisch, der mit einigen Tassen, Tellern und einer Schale mit Keksen gedeckt war. Ein Tresen ragte in das Zimmer, beherbergte die Kochstelle, die Anrichte und endete an der Wand mit einer Spüle. Es standen einige schmutzige Gläser darauf. An der Wand waren einige Schränke und Regale, welche die Küchenutensilien und den Kühlschrank beherbergten. Der Raum war großzügig geschnitten. In einer Ecke standen mehrere Fressnäpfe, anscheinend wurden hier auch Haustiere versorgt.
„Wie du siehst, Andreas, findet hier unser Familienleben statt. Setzt euch, Kaffee ist fertig. Was möchtest du, Andreas?“
„Kakao?“
„Kein Problem. Carsten?“
„Ich schließe mich dem an.“
„Okay, wird gleich serviert.“
„Andreas, erzähl einmal etwas von dir.“
„Was soll ich schon erzählen.“
„Na, wie du es mit unserem unmöglichen Sohn aushältst, zum Beispiel!“
„Da gibt es nichts auszuhalten, er ist genauso crazy wie ich. Vielleicht gibt es schon mal kontroverse Meinungen, doch nichts, was unlösbar ist. Wir helfen uns gegenseitig bei den Hausaufgaben. Oder treiben etwas Sport. Ich höre ihm gerne zu, wenn er etwas auf dem Keyboard spielt und so weiter. In letzter Zeit passe ich öfters mal auf Max auf, wenn er noch weg muss.“
„Genau Papa. Und er ist wirklich gut. Andreas macht es nichts aus, dass Max mit auf dem Zimmer wohnt.“
„Nun, ich hatte früher mal einen Goldhamster...“
Luise kicherte leise, Carsten lachte laut los. Andreas ahnte schon, warum. Herr von Feldbach schenkte den Jungs Kakao ein.
„Warum lachst du, Carsten? Ich finde, Eltern sollten es ihren Kindern öfters erlauben. Mit Tieren zusammenzuleben muss auch gelernt werden. Du kennst das doch aus meiner Praxis. Aber das gehört hier nicht hin. Wo kommst du her, Andreas?“
„Ursprünglich komme ich aus Bürgel, ein kleiner Ort bei Jena. In den letzten Jahren habe ich bei meinen Großeltern in München gelebt. Aber das ging dann nicht mehr.“
„Ja, das kenne ich auch, Andreas, meine Eltern wurden krank und dann ging es einfach nicht mehr, dass sie auf ihre Enkel aufpassten. Und obwohl Paul oft daheim ist, kann er sich nicht um alles kümmern. Schließlich ist er Viehdoktor. Ich bin tagsüber an der Uni und von daher würde ich auch nicht die perfekte Mutter abgeben.“
„Und da die örtliche Schule keine Möglichkeit sah, einen blinden Schüler zu unterrichten, haben sie mich auf das Internat geschickt. Ich kann damit leben und sie haben Zeit für sich.“
„Nicht ganz, Carsten. Wir haben noch zwei weitere Kinder, Andrea und Ercan, um die wir uns kümmern. Und hinten im Garten haben wir noch einige tierische Patienten untergebracht.“
„Die Entscheidung mit dem Internat haben wir gemeinsam getroffen. Es ist die beste Lösung und ihr holt mich auch fast jedes Wochenende ab.“
„Fährst du auch regelmäßig nach Hause, Andreas?“
„Einige Male im Jahr...“
Carsten hörte in Andreas Stimme ein Unbehagen heraus. Das Thema schien ihm wohl nicht zu gefallen. Zumal er ja mittlerweile wusste, dass Andreas ein Stipendium hatte. Und eine Fahrkarte kostete wirklich viel.
„Mutti, lass es gut sein, wir hatten eine anstrengende Woche. Ich denke, wir sollten unsere Sachen auspacken. Da fällt mir ein, meine Schuluniform muss in die Reinigung. Andreas sagte, dass da ein Fleck auf dem Aufschlag ist.“
„Paul, kannst du das machen?“
„Sicher doch, Luise. Ich muss eh noch in die Stadt, Ercan bei Tim abholen. Außerdem möchte ich noch Medikamente in der Apotheke besorgen. Ich komme sicherlich an einer Reinigung vorbei.“
„Danke, Papa.“
„Komm Andreas, richten wir uns ein.“
Carsten stand auf. Ohne Schwierigkeiten ging er zur Tür hinüber. Andreas folgte ihm. Wie selbstverständlich reichte er ihm seinen Arm und führte Carsten zum Auto. Dort holten sie ihre Sachen und gingen zurück ins Haus.
„Und wo jetzt lang?“
„Die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dann nach links, und die zweite Tür auf der rechten Seite ist mein Zimmer.“
Einige Minuten später betraten beide ein geräumiges Zimmer. Die Einrichtung entsprach dem eines Bewohners, der nicht sehen konnte. Ein fast normales Jugendzimmer mit einem Computer und weiteren Spielereien.
„Du bist so ruhig, Andreas, ist etwas nicht in Ordnung?“
„Doch schon. Du hast wirklich alles. Eine super Stereoanlage mit Dolby Surround. Einen Computer der neuesten Generation. Und wenn ich daran denke, dass du im Internat noch ein Powerbook und ein Keyboard hast... Aber was mir am Besten gefällt, ist die Einrichtung, alles so funktionell.“
„Ja, Mama hat sich wirklich etwas einfallen lassen. Und das kannst du mir glauben, das Verkaufspersonal in den Möbelhäusern hat sicherlich jedes Mal drei Kreuze geschlagen, wenn Mutti den Laden wieder verlassen hat. Einzig die Funktionalität haben wir gemeinsam regelmäßig verbessern müssen. Du kannst dir ja vorstellen, dass ich als Dreikäsehoch andere Bedürfnisse hatte als heute.“
Andreas ging zum Fenster hinüber und öffnete es.
„Du scheinst ein Faible für Fenster zu haben!“
„Weißt du eigentlich, dass du einen Panoramablick hast?“
„Ja, aber der nutzt mir nichts.“
„Entschuldige, ich wollte nicht...“
„Nein, wenn er dir gefällt, umso schöner. Soll ich dich jetzt zu deinem Zimmer begleiten?“
„Sag mir einfach, wo es ist.“
„Hier raus, dann rechts die Galerie entlang, einmal um die Ecke und dann stehst du direkt davor.“
„Danke.“
Keine zwei Minuten später, stand Andreas wieder bei Carsten im Zimmer.
„Was ist?“
„Euer Gästezimmer!“
„Was ist damit?“
„Stehen lauter Möbel darin.“
„Augenblick mal.“
Carsten ging zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch hinüber. Hob den Hörer ab und wählte eine Nummer.
„Paps, was ist mit dem Gästezimmer, Andreas sagte, da stehen Möbel drinnen.“
Einige Minuten lauschte er den Worten seines Vaters. Legte den Hörer wieder auf, wandte sich um.
„Sorry, Papa hat es vergessen, die Möbel sollten schon auf dem Dachboden sein. Ich sage nur: Eltern! Da haben wir ein Problem. Was meinst du Andreas, sollen wir uns mein Bett teilen?“
„Breit genug ist es ja. Macht dir das nichts aus?“
„Sonst hätte ich es nicht angeboten. Alternativ müssten wir die Möbel umpacken.“
„Ich werde mich bemühen, dich nicht hinaus zu werfen. Was ist mit Max?“
„Was soll mit ihr sein? Ach so, nein. Sie hat ihren eigenen Platz, neben dem Bett auf dem Fußboden oder unten bei Arco. Jedenfalls nicht im Bett. Ich mag es nicht und das weiß sie. Wirf deine schmutzige Wäsche in den Wäschekorb neben dem Schrank. Mama holt sie nachher.“
„Geht das denn in Ordnung? Ich möchte nicht noch zusätzlich Arbeit machen.“
„Mama wird das schon machen. Meine muss doch auch gewaschen werden, da kommt es auf etwas mehr nicht an.“
„Und wie halten wir sie wieder auseinander?“
„Schon vergessen? Meine Wäsche ist gekennzeichnet. Was meinst du, Andreas, machen wir jetzt eine kleine Hausbesichtigung?“
Carsten führte Andreas durch jede Etage. Da sich in der zweiten Etage die Privatgemächer – wie Carsten es nannte – der Hausbewohner und das Gästezimmer befanden, ging es sehr schnell in die erste. Andreas warf einen kurzen Blick in die Arbeitszimmer von Carstens Eltern. Anschließend besuchten sie die Hausbibliothek. Carsten erklärte ihm, dass jeder Hausbewohner seinen eigenen Teilbereich habe, welchen jeder in eigener Verantwortung pflegen müsse. Daneben lag ein großes Spiel- und Freizeitzimmer. „Hier kann Ercan mit Freunden nach Lust und Laune toben, wenn das Wetter mal nicht so ist„, erklärte Carsten. Dann verließen sie diese Etage und wandten sich dem Erdgeschoss zu.
„So, hier ist unser ‚Salon‘, Andreas.“
Kapitel XII: Einrichtungen
Carsten öffnete die Tür und beide traten ein. Andreas sah sich in dem großen, rechteckigen Raum um. Ein Kachelofen bildete einen Blickfang auf der einen Seite des Raumes. Carsten erklärte ihm, dass der Ofen mit modernster Technik ausgestattet sei und die Zentralheizungsteuerung verbarg. Schräg davor befand sich eine gemütlich aussehende Sitzgruppe. Zu dieser Gruppe zählte auch ein passender Schrank, der Fernseher und Musikanlage enthielt. Er sprach Carsten darauf an. Dieser meinte, dass seine Familie ja nicht darauf verzichten müsse, nur weil er selber nicht sehen könne. Sie wandten sich den anderen zwei Dritteln des Raumes zu, in deren Zentrum sich ein nussbrauner Flügel befand. Daneben standen noch weitere Instrumente.
„Diese Seite ist mir lieber.“
„Ich sehe es, und der Flügel, ist das dein Instrument?“
„Ja, wie konntest du das nur erraten?“
„Klavierunterricht? Kannst du mir etwas vorspielen?“
„Wenn du es wünschst...“
Carsten ging auf das Instrument zu, tastete nach der Klavierbank und setzte sich. Dann hob er den Tastaturdeckel an. Andreas gesellte sich neben ihn. Er sah, wie Carsten einige Tasten anschlug. Ihn beeindruckte das Bild. Die elfenbeinfarbigen Tasten hoben sich stimmungsvoll von den nicht ganz schwarzen ab. Es passte alles zusammen. Dieser Flügel war sicherlich nicht ganz billig.
„Spielst du auch ein Instrument, Andreas?“
„Ich habe früher auch mal Klavierunterricht gehabt, ich glaube, ich habe schon wieder alles verlernt.“
„Hast du ein spezielles Stück, was ich dir vorspielen soll?“
„Kennst du das?“
Andreas summte Carsten eine kleine Melodie vor. Carsten erkannte die Melodie. Er wunderte sich ein wenig, wieso Andreas einen Chopin-Walzer hören wollte. Doch Wunsch ist Wunsch. Carsten richtete seine Sitzposition aus. Ließ noch ein paar Mal seine Finger über die Tastatur gleiten. Dann begann er zu spielen. Andreas lauschte den Tönen, es juckte ihm ein wenig in den Fingern, doch konnte er sich beherrschen. Nachdem der letzte Ton verklungen war, rutschte Carsten etwas zur Seite.
„Frederic Chopin, Walzer Nr. 7 cis-moll, op. 64 Nr. 2. Woher kennst du das?“
„Kann ich nicht sagen, fiel mir gerade so ein. Kennst du alle Werke auswendig?“
„Nein, bestimmt nicht. Nur einige Stücke bleiben haften. Außerdem mag Mama es.“
„Ach so, ich dachte schon.“
„Na, du hast dich ja auch daran erinnert. Und weil wir gerade bei dir sind: Du bist dran! Spiel mir etwas vor!“
„Ich glaube, ich bekomme das nicht mehr hin.“
„Ach, probiere es einfach mal aus, normalerweise liegen hier auch Noten. Da findet sich sicherlich etwas. Bitte Andreas!“
„Ich garantiere für nichts.“
„Musst du auch gar nicht, es soll dir Spaß machen.“
Andreas griff sich die Noten, suchte sich ein Anfängerstück heraus und legte die restlichen behutsam beiseite. Das gewählte Stück stellte er vor sich auf den Notenhalter und ließ ebenfalls erst einmal einige Saiten anschlagen. Er stellte fest, dass die Tasten gut ausbalanciert waren, der Flügel hat wohl ein Vermögen gekostet. Zu seiner Verwunderung hatte er doch nicht soviel verlernt, wie er selber glaubte. Dann begann er zu spielen. Mit jedem neuen Takt gewann seine Sicherheit auf dem Instrument.
Nach einigen Takten fiel Carsten mit ein und improvisierte. Andreas merkte, wie es ihm immer mehr Spaß machte. Als ihr Vortrag endete, applaudierte nicht nur Carsten, sondern auch jemand im Hintergrund. Andreas sah sich um. In der Tür stand ein Mädchen, welches verblüffende Ähnlichkeit mit Carsten hatte.
„Da haben sich ja zwei gefunden.“
„Hallo Andrea, seit wann bist du schon hier?“
„Ach, schon einige Minuten, ich habe jemanden Klavier spielen gehört und wollte sehen, wer das ist.“
„Darf ich dir Andreas, meinen Mitschüler, vorstellen, Andreas, das liebenswerte Geschöpf im Hintergrund ist meine Zwillingsschwester Andrea.“
„Hallo Andrea! Zwillingsschwester?“
„Hallo Andreas! Ja, wenn Carsten ein Junge und ich ein Mädchen bin, heißt das wohl zweieiige Zwillinge.“
„Stimmt. Bei ‚Zwilling‘ denke ich erst immer an Eineiige.“
„Das tun viele, Andreas. Aber etwas anderes: Carsten, weißt du, wo Papa ist?“
„Ja, er sagte, er wollte in die Stadt. Ich glaube Medikamente holen. Und dann noch Ercan bei einem Freund auflesen.“
„Danke. Dann brauche ich ihn ja weiter nicht zu suchen.“
„Wenn es etwas Dringendes war, mach doch eine Notiz an sein Board! Und Andrea, ich habe zu danken. Mutti hat mir erzählt, dass du meinen Mac auf Vordermann gebracht hast. Kannst du mir nachher noch die Bedienung erklären?“
„Nicht nötig, das Programm erklärt sich von selbst und es war doch nur eine Kleinigkeit. Macht doch Spaß. Aber die Sprachausgabe ist echt nicht besonders. So, ich bin auch schon wieder weg. Ich möchte noch eine Runde reiten.“
„Okay, bis zum Abendessen. Hey Andreas, du bist wirklich gut!“
„Ach nee.“
„Deine Bescheidenheit ist hier fehl am Platz. Andrea ist meine beste Kritikerin hier im Hause. Wenn ich neue Stücke einstudiere, bitte ich sie regelmäßig um ihre Meinung. Wenn ihr etwas nicht gefällt, dann sagt sie es. Applaudieren bedeutet soviel wie gut.“
„Meinst du? Jedenfalls hat es mir viel Spaß gemacht.“
„Das habe ich gehört. Ich finde, du solltest wieder Unterricht nehmen, du hast Talent.“
„Das würde mir schwer fallen. Ich habe das Spielen bei meiner Mutter gelernt und es würde mich immer wieder daran erinnern.“
„Ich verstehe. Die Erinnerung soll verblassen.“
„Nein, natürlich nicht!“
„Dann kann ich also Herrn Kramer sagen, dass er dich zumindest einmal anhört?“
„Carsten, du bist ein Idiot.“
„Damit kann ich leben, Andreas!“
„Spielen deine Eltern auch?“
„Ja, Papa spielt Gitarre und Mandoline. Mutti Violine und auch Klavier. Wie deine Mutter hat sie mich erst auf den Geschmack gebracht. Andrea beherrscht Querflöte und Saxophon. Manchmal spielen wir etwas zusammen, dann ist hier richtig was los.“
„Das kann ich mir gut vorstellen, machen wir mit der Besichtigung weiter. Euer Haus ist wirklich groß!“
Carsten schloss den Flügel und beide machten sich auf. In den Kellerräumen befanden sich noch die Waschküche – wie Carsten erklärte – und der Fitnessbereich der Familie. In der Küche endete die Führung durch das Wohnhaus.
„Und wie weißt du, wo du bist?“
„Ich wohne hier! Ansonsten ist es ganz einfach, die Bodenbeläge sind unterschiedlich. Die Schlafzimmer sind mit Teppichboden ausgelegt, der Salon, die Bibliothek und die Arbeitszimmer mit Parkett. Die Räume hier und im Keller mit Laminat und Fliesen, je nach Funktion halt. Außerdem ist am Treppengeländer jeder Etage noch ein Piktogramm angebracht. Ist auch schon vorgekommen, dass ich die Orientierung verloren habe.“
„Können bei euch alle die Blindenschrift?“
„Mama und Papa mussten, schließlich wollten sie meine Hausaufgaben kontrollieren. Andrea hat sie aus Spaß gelernt. Ich denke, Ercan wird sie auch aus diesem Grund erlernen wollen.“
„Ist sie kompliziert?“
„Nein, sie beruht auf einer Anordnung von sechs Punkten in unterschiedlichen Kombinationen und Anordnungen – grob gesagt. Es bedarf nur Übung, sie zu lesen. Willst du?“
„Eventuell.“
„Komm, ich zeige dir jetzt noch den Garten und die Tiere. Die Praxis, wenn dich das interessiert, zeigt dir Papa. Alleine habe ich da Zutrittsverbot.“
„Warum?“
„Nicht, dass Papa nachlässig ist, aber für einen Blinden alleine gibt es da einfach zu viele Gefahren. Sobald einer der Angestellten da ist, gehe ich auch rein. Aber die haben alle Wochenende.“
Kapitel XIII: Arco und Max
Die beiden gingen über die Terrasse in den Garten. Luise saß an dem Gartentisch und strickte etwas.
„Kommt Jungs, setzt euch zu mir. Paul ist noch unterwegs und Andrea reitet irgendwo in der Gegend herum.“
„Ich wollte Andreas noch das Pflegeheim zeigen. Geht das?“
„Ich denke nein, Paul hatte gestern eine OP und der Patient braucht noch Ruhe.“
„Sorry Andreas. Tiere gehen manchmal vor. Du kannst ja nachher mal Papa fragen.“
„Schon okay.“
Beide setzten sich zu ihr an den Tisch. Aus dem Haus tapsten Max und noch ein Retriever an. Andreas stellte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen fest. Wie üblich stupste Max Carsten an.
„Carsten, wie kommt es eigentlich, dass Max hier nicht immer an deiner Seite ist?“
„Ich bin hier zuhause. Sie spürt, dass ich hier in Sicherheit bin und braucht daher auch nicht großartig auf mich zu achten. Sie entspannt sich, es ist für sie Urlaub. Nicht wahr, meine Kleine?“
Wuff! Wuff!
„Ach so, ich verstehe, hätte ich ja auch drauf kommen können.“
„Sicher hättest du das. Doch warum die Frage nicht stellen, wenn es dich interessiert?“
Daraufhin stand er auf und ging in die Hocke. Er streichelte das Tier. Der zweite Hund gesellte sich zu ihnen und auch er wurde von Carsten liebevoll geknuddelt. Dann schubste der Hund Carsten um und die beiden balgten.
„Immer das gleiche mit euch beiden. Andreas, sobald Arco und Carsten aufeinander treffen, müssen sie sich am Boden wälzen.“
„Und wer ist Arco?“
„Arco ist sein erster Blindenführhund gewesen. Vor viereinhalb Jahren hat Paul bei ihm eine natürliche Schwerhörigkeit festgestellt. Damit disqualifizierte er sich für diese Aufgabe.“
„Ich habe ihn sehr vermisst. Aber er ist und bleibt immer ein sehr guter Freund für mich. In der Familie ist er einfach unersetzbar. Er hat eine gewisse beruhigende Wirkung.“
„Und wie kommt Max ins Spiel?“
„Max ist ein Abkömmling von ihm. Ein Freund meines Vaters hatte eine Hündin von ihm decken lassen. Nach dem Wurf kamen sie regelmäßig zu irgendwelchen Untersuchungen her. Während alle ihre Brüder und Schwestern sich prächtig entwickelten, hatte Max das Nachsehen. Dennoch, sie hat Qualitäten. Sie war sozusagen das neugierigste, kleinste, über ihre eigenen Pfoten stolpernde Nesthäkchen, das Papa untergekommen ist.“
„Ja, ich kann mich noch an die Begebenheit erinnern. Paul hatte eine Untersuchung gerade abgeschlossen und wollte die Welpen zurückbringen. Es fehlte ein junger Hund. Wir fanden sie bei Carsten. Er erzählte uns, dass sie zu ihm in den zweiten Stock gekommen war. Und das, obwohl weder die Welpen noch Carsten voneinander wussten. Dennoch haben wir alle zurück gebracht. Beim nächsten Besuch haben wir darauf geachtet. Arco nahm Max ins Maul und trug sie die zwei Etagen hoch. Dort lief Max direkt zu Carsten. Als Hermann das sah, war der Deal perfekt. Er schenkte ihm den Hund. So kam sie zu uns – zu ihm.“
„Hallo zusammen, ihr sprecht über Max und Arco?“
„Ja Paul.“
„Wirklich ein bemerkenswertes Team. Wir haben sie dann als Blindenführhündin ausbilden lassen. Als sie dann nach zwei Jahren wieder zu uns kam, lernte sie von Arco alles Spezifische für Carsten. Und noch mehr, sie hatte ein natürliches Gespür für den Jungen und seine Umgebung.“
„Ach, das meinte Christiane vor kurzem, als sie sagte, dass Max Carsten sicher durch das Internat führte, obwohl sie nie zuvor da gewesen ist. Kommt daher auch eure ‚unsichtbare‘ Kommunikation?“
„Wahrscheinlich, Andreas. Jedenfalls ergänzen wir uns. Arco hatte ihr mehr beigebracht, als nur eine gute Blindenführhündin für mich zu sein.“
„Ja, wirklich bemerkenswert. Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich, Liebling?“
„Hol dir eine Tasse, die Thermoskanne ist noch halb voll.“
Paul ging ins Haus und kam kurze Zeit später mit einer Tasse zurück, setzte sich neben seine Frau und schenkte sich ein. Dann stürmte ein kleiner, kreischender Junge auf den Tisch zu. Er lief direkt auf Carsten zu und hüpfte ihm auf den Schoß. Andreas sah, wie Carsten den kleinen Buben festhielt und durchkitzelte. Der quietschte vergnügt vor sich hin. Dann wuselte der Kleine Carsten durch die Haare.
„Hallo Ercan, Mann, bist du schwer geworden.“
„Hallo Carsten, bleibst du lange? Ich habe dich so vermisst!“
„Wie immer bis Sonntagabend. Darf ich dir Andreas vorstellen?“
„Der Junge in dem anderen Stuhl?“
„Genau der, Andreas, dieses kleine Energiebündel ist Ercan.“
„Hallo Ercan.“
„Hallo Andreas, bist du Carstens Freund? Ja? Dann bist du auch mein Freund!“
„Danke für diese Ehre.“
„Ercan, hilfst du mir, die Tiere im Stall füttern?“
„Ja, ich komme Papa.“
Paul und Ercan gingen gemeinsam wieder ins Haus, gefolgt von den beiden Hunden.
Luise schüttelte lächelnd ihren Kopf. Dann kam die Rede auf das Abendessen. Schnell waren sie sich einig, dass es selbst gemachte Pizza geben sollte. Andreas bat, mithelfen zu dürfen, was Luise nur begrüßte. Aber es fehlten noch einige Zutaten, welche Carsten noch aus dem Supermarkt holen sollte. Frau von Feldbach stand auf, legte ihre Handarbeit beiseite und ging ins Haus. Anschließend erhob sich Carsten und plötzlich waren die Hunde wieder da. Max hatte sogar den Bügel mitgebracht und Arco schleifte eine Hundeleine mit. Carsten wechselte das Geschirr von Max auf Arco. Andreas wunderte sich über diese Aktion, sagte aber nichts. Die Leine befestigte er an Max’ Halsband und drückte sie Andreas in die Hand.
„Hier, du nimmst Max, und Arco bleibt bei mir.“
„Hat das einen besonderen Grund?“
„Ja, zum einen kennt Arco den Weg zum Supermarkt und zum anderen kann Max noch nicht richtig einkaufen.“
„Muss ich das jetzt verstehen?“
„Nein Andreas, aber nachher im Konsumtempel wirst du es sehen.“
„Hier, Carsten, ist eine Liste und das Geld.“
„Das ging aber schnell!“
„Ja, Andreas. Ich habe die Liste auf dem PC geschrieben und in Braille ausgedruckt. Wir haben dafür einen extra Drucker und festeres Papier. Wenn ich das mit der Handmaschine schreiben soll, dauert es erheblich länger.“
„Ach so, ich verstehe.“
Die beiden Jungs zogen los. Arco führte Carsten und Andreas konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Max ihm zusah. Die Hunde gingen nebeneinander her, blieben gleichzeitig an Zebrastreifen, Ampeln und so weiter stehen.
Bis zum Markt gingen sie wohl eine Viertelstunde. Bevor sie den Laden betraten, befestigte Carsten noch eine Binde um Max Körper. ‚Blindenführhund in Ausbildung‘ stand darauf.
„Sonst darf sie nicht hinein. Wir nehmen einen Einkaufswagen mit, Andreas.“
„Für die paar Sachen?“
„Ja, es ist wichtig. Max darf keine Angst vor diesen Ungetümen haben. Noch etwas, Andreas, du kannst die Sachen auswählen, das geht sicherlich schneller, als wenn ich es mache. Doch ich muss sie in den Wagen legen.“
„Ja, ich gehe davon aus, dass Max das lernen soll.“
„Richtig. Komm, gehen wir.“
„Gehst du oft einkaufen?“
„Jedes Wochenende. Ich muss ja auch lernen, mich selber zu versorgen. Papa und Mama sind ja nicht immer für mich da. Da ist es schon ganz gut, frühzeitig damit anzufangen.“
„Ist dir schon mal was daneben gegangen?“
„Beim Einkaufen? Sicherlich. Es gibt kaum Märkte, wo die Artikel in Blindenschrift ausgezeichnet werden. Vielleicht in Marburg, aber das ist dann die berühmte Ausnahme. Hier hilft mir jemand von den Angestellten. Oder der Filialleiter persönlich.“
Andreas beobachte Carsten und die Hunde. Arco führte sie direkt zur Gemüseabteilung. Carsten las den Zettel vor und Andreas entnahm die Sachen aus der Auslage, warf einen prüfenden Blick darauf. Fand er sie okay, gab er sie Carsten und der legte sie in den Einkaufswagen. Arco und Max saßen ruhig neben dem Wagen und schauten genau zu.
„Pfui. Tiere in der Frischwarenabteilung. Das ist ja unhygienisch.“
„Das glaube ich nicht, der Herr. Die Tiere sitzen still neben dem Wagen.“
„Ich habe es genau gesehen, der Große hat eben die Radieschen abgeleckt.“
„Zum einen nehme ich es Ihnen nicht ab, da beide gut einen halben Meter von der Auslage entfernt sind. Und des weiteren mag er keine Radieschen.“
„Du bist blind und kannst gar nicht mitreden. Es ist unverantwortlich, dass deine Eltern dich alleine einkaufen lassen.“
„Ich bin ja nicht alleine, ich habe ja den Hund bei mir.“
„Frech auch noch. Ich werde den Filialleiter holen.“
„Nur zu, tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Die Jungen dort?“
„Ja, genau die.“
„Und Sie haben gesehen, wie der Hund…?“
„Ja, die Radieschen.“
„Danke, ich werde mich darum kümmern und Ihnen wünsche ich einen schönen Abend.“
„Zustände sind das, wo kommen wir denn hin, wenn das alle machen. Der muss das Gemüse bezahlen.“
„Hallo Carsten, Hallo Arco. Euch habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es euch beiden? Und was ist das für ein zweiter Hund?“
„Hallo Herr König, uns geht es gut. Darf ich Ihnen Andreas und Max vorstellen? Max kennen Sie doch?“
„ Hallo Andreas. Ach, ich habe sie gar nicht erkannt.“
„Sie soll heute wieder etwas lernen, Herr König. Hat sich der Herr wieder beruhigt?“
„Ach der. Herr Maurer, ein schwieriger Fall, hat immer etwas zu nörgeln. Und frisches Obst oder Gemüse hat er noch nie gekauft.“
„Der weiß gar nicht, was ihm entgeht.“
„Da stimme ich dir zu. So ihr vier, das soll es gewesen sein. Ich hinterlege an der Kasse noch Karotten für die Hunde. Die dürfen doch?“
„Ja, danke. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Carsten?“
„Herr König ist der Besitzer des Ladens, der kennt uns schon recht lange. Er hat uns damals geholfen, als Arco in der Ausbildung war. Er weiß, dass er nichts berührt oder beschnüffelt.“
„Ach so, und warum hat der dem Typen das nicht gesagt?“
„Weil es keinen Sinn gemacht hätte, er hätte nicht zugehört. Arco, Max und ich sind im ganzen Viertel bekannt, wie die Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Selbst beim Metzger sind wir gern gesehene Kunden. Sie unterstützen mich bei meiner Selbständigkeit, auch wenn mal etwas daneben geht. Aber es gibt auch Mitmenschen, die mich meiner Selbständigkeit berauben wollen. Doch solche Exemplare sind zu meinem Glück hier die Ausnahme.“
Andreas hörte eine Nuance der Enttäuschung in Carstens Stimme. So langsam wurde ihm bewusst, dass Carsten sehr viel Energie aufbringen musste, um sich in der ‚sehenden‘ Welt zu behaupten.
Nachdem sie die Gemüseabteilung abgearbeitet hatten, gingen sie weiter. Erst zu dem Konservenregal, wo Thunfisch im Einkaufswagen verschwand und dann in die Molkeproduktabteilung, wo Andreas den Käse aussuchte. Überall blieben beide Tiere in gebührendem Abstand zu den Lebensmitteln. Zu guter Letzt vorbei an der Tierfutterabteilung zur Kasse, dort legte jeder noch etwas Süßes in den Wagen. Carsten packte den Einkauf auf das Laufband. Als er eine Schokolade auf das Band legte, stellte Arco eine Pfote auf Carstens Fuß, gleiches machte Max einen Moment später.
„Hast du die Schokolade in den Wagen gelegt?“
„Ja, wie hast du das gemerkt?“
„Die Hunde haben aufgepasst, gut gemacht Arco, Max. Die Tiere merken sich, was ich in den Wagen lege. So kann mir keiner etwas unterjubeln.“
„Und nun?“
„Was soll schon sein? Max hat wieder etwas dazugelernt. Das konnte sie noch nicht so richtig. Sie ließ sich immer mal ablenken. Heute hat sie konsequent den Einkauf beobachtet. Sie macht sich.“
„Ich meinte die Schoko?“
„Zahl ich, Andreas. Schließlich war das ein unbeabsichtigter Test für die Hunde.“
Die Kassiererin zog eines um das andere durch den Scanner. Wog das Gemüse ab, nannte das Gewicht. Andreas schaute zu, damit sie nicht beim Wiegen schummelt. Doch es war nicht nötig. Die Dame hinter der Kasse nannte die Gesamtsumme. Carsten bat, noch die Schokolade von Andreas dazuzurechnen und gab der Kassiererin das Geld. Neben dem Rückgeld übergab sie den Kassenbon und die Karotten. Andreas verstaute alles in die mitgebrachte Tasche. Vor dem Laden übergab Carsten die Karotten den Hunden, die sie genüsslich verdrückten.
Bei den von Feldbachs wurden sie schon erwartet. Luise begutachtete den Einkauf und befand ihn als tadellos. Carsten erzählte von den Vorkommnissen, während sich Andreas und seine Mutter daran machten, die Pizza vorzubereiten. Luise war sichtlich enttäuscht darüber. Doch gleichfalls lobte sie Carsten für sein besonnenes Verhalten. Sie selber hätte dem Typen weiß Gott was an den Kopf geworfen.
Kapitel XIV: Familie
Es zeigte sich, dass Andreas italienisches Blut in sich hatte. Der Teig war in rekordverdächtiger Zeit zum Belegen fertig. Selbst Luise kam mit dem Gemüseputzen nur schwer hinterher. Die Fischpizza wurde separat gebacken. Als der Duft durch das Haus zog, versammelten sich nach und nach alle in der Küche. Paul brachte noch einen Rosé mit. Andrea deckte den Tisch, Carsten und Ercan fütterten gemeinsam die Hunde.
Andreas nahm das erste Blech Pizza aus dem Ofen. Auf einem Holzbrett schnitt er passende Stücke und servierte diese.
Beim Essen erzählte Ercan von seinen Abenteuern mit Tim und seinen Freunden, welche immer wieder zu heiteren Gemütsausbrüchen führten. Bei Tisch redete immer wer. Andrea berichtete von einem gewissen Bauer Huber, der Vieh zusammen trieb, aber die Tiere nicht so wollten, wie er. Herr von Feldbach einen Schwank aus dem heutigen Praxisleben und Luise von der Uni. Sie erläuterte Andreas, was es mit ihrem Fach der Anthropologie auf sich hatte.
„Und weißt du schon, was du später mal machen willst, Andreas?“
„Ich werde erst einmal eine Lehre im Gartenbaubereich machen. Danach würde ich gerne Landschaftsarchitektur studieren, so wie mein Vater.“
„Papa, Andreas hat ein Händchen in diesen Dingen. Zurzeit gestaltet er unseren Schulgarten neu und Herr Tauber ist ganz begeistert. Er muss wirklich außergewöhnlich sein.“
„Wir schauen ihn uns an, wenn wir Carsten besuchen kommen, nicht wahr, Papa?“
„Ja, machen wir, Ercan.“
Der kleine Bub gähnte herzhaft vor sich hin. Luise sah sich um. Von der Pizza war nichts mehr zu sehen. Dafür zufriedene Gesichter. Jeder lobte die Kochkünste der beiden und entließ sie aus der Küche. Andrea, Carsten und Paul richteten die Küche wieder her. Frau von Feldbach ging Ercan zu Bett bringen. Zuvor wünschte er allen noch eine gute Nacht. Andreas saß noch unschlüssig am Tisch. Gerne hätte er mit seinen Großeltern sprechen wollen. Paul schickte ihn in den Salon, wo ein Telefon stand. Andreas bedankte sich und ging hinüber.
Als Carsten zu ihm kam, legte er den Hörer gerade wieder auf.
„Und, wie geht es ihnen?“
„Opa macht sich wegen Oma Sorgen. Ihr Rheumatismus ist schlimmer geworden. Der Hausarzt meinte, eine Kur wäre jetzt das Beste für sie.“
„Ich verstehe nicht ganz, wo liegen die Schwierigkeiten?“
„Damit die Kur etwas nutzt, müsste sie einen Monat lang weg. Opa könnte sie sogar begleiten, doch es wäre genau über Weihnachten. Ich habe mich schon so gefreut, sie gerade an diesen Tagen wieder zu sehen.“
„Ich verstehe. Du fährst ja nicht oft nach Hause. Und wo würden sie sein?“
„Ich glaube, es ist eine Rheumaklinik in der Nähe von Freiberg.“
„Aber das ist doch gar nicht so weit von hier. Pass mal auf, Andreas, das ist jetzt nur so ein Gedanke von mir: Über die Ferien könntest du zu uns kommen, dann bist du nicht alleine im Internat. Zu Weihnachten – wenn sich das einrichten ließe – kommen deine Großeltern her. Dann könntet ihr doch hier feiern. Unser Haus ist groß genug.“
„Ich weiß nicht, Carsten.“
„Überlege es dir und frage deine Großeltern, was sie davon halten. Morgen spreche ich mal mit Mama und Papa drüber.“
„Okay, ich werde mal drüber schlafen. Apropos schlafen. Ich bin total fertig. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich hinlege?“
„Nein, fühl dich wie zuhause.“
Andreas wachte durch seltsame Geräusche auf. Er öffnete seine Augen und sah sich in dem Zimmer um. Er war allein – nein, Max lag vor dem Schrank und döste vor sich hin. Ein Blick auf seine Uhr beschied ihm die vorgerückte Stunde an diesem Morgen. Warum hatte Carsten ihn nicht geweckt? Max schaute zu ihm hinüber, als er aufstand. Eine halbe Stunde später gingen sie gemeinsam hinunter in die Küche. Luise stand hinter dem Tresen und bestückte die Kaffeemaschine.
„Guten Morgen Andreas. Gut geschlafen?“
„Guten Morgen, ja, sehr gut.“
„Carsten ist mit Ercan zum Bäcker. Sie müssen bald wieder zurück sein.“
„Und die anderen?“
„Paul macht einen dringenden Hausbesuch und Andrea kümmert sich um ihr Pferd. Sie sollte aber auch bald wieder hier sein.“
„Stehen bei euch alle so früh auf?“
„Was heißt früh? Paul kümmert sich am Samstag nur um unsere eigenen Tiere. Nur in dringenden Ausnahmen behandelt er andere, so wie heute. Deswegen ist auch Carsten so früh auf, er sollte auf Ercan aufpassen. Andreas Pferd kennt kein Wochenende, für sie heißt es: Früh raus.“
„Ich habe mich schon gewundert, Carsten wollte doch ausschlafen.“
„Na, manchmal kommt es anders.„
„Guten Morgen Andreas. Gut geschlafen?“
„Hallo Carsten, und ja, sehr gut.“
„Ercan, gibst du Mama die Brötchen?“
Der Junge gab seiner Mutter die Tüte mit den Backwaren. Sie verteilte diese in mehrere Körbchen und stellte sie auf den fertig gedeckten Tisch. Max kam auf ihr Herrchen zu und wurde lieb von ihm getätschelt.
„Sag einmal, Carsten, wieso bist du ohne Max raus?“
„Routinemäßig bekam sie heute ihre Impfungen und danach ist sie immer etwas down. Es ist besser für sie, wenn sie dann relaxen kann. Daher blieb sie hier.“
„Ach so, dann hast du Arco mitgenommen. Wo ist er denn?“
„Irrtum, Arco ist mit Papa unterwegs. Zum Bäcker ist es nicht weit, da reicht mein Stock aus. Außerdem war Ercan bei mir.“
„Guten Morgen allerseits.“
„Hallo Andrea, was macht Diogenes?“
„Dem geht es gut, Carsten. Heute Nachmittag reite ich ihn aus. Ich muss sagen, die Military macht ihm Spaß. Andreas, Military ist Geländereiten mit allem drum und dran.“
„Ja, und meine Tochter scheut auch keine blauen Flecke. Geh dir die Hände waschen und komm frühstücken. Papa ist noch unterwegs.“
„Der ist mit mir gekommen, hat sicher noch etwas in die Praxis gebracht.“
„Hallo, ist ja schon richtig was los hier. Frühstück fertig, Liebling?“
„Setz dich, Kaffee kommt gleich.“
So langsam füllten sich die Stühle um den Tisch. Die von Feldbachs hatten einen gesunden Appetit. Andreas staunte nicht schlecht, wie schnell Essbares verschwinden konnte. Und wieder plapperten alle durcheinander oder es wurde gelacht. Dann wurden die Tagespläne vorgestellt. Ercan bat um Erlaubnis, zu Tim – seinem Freund – zu dürfen. Andrea hatte ja schon gesagt, dass sie Reiten gehen wollte. Neu daran war, dass sie nicht alleine ausritt, sondern ein gewisser Mark sie begleitete. Paul und Luise wollten am Nachmittag nach Leipzig zum Einkaufen. Carsten hatte vorgeschlagen, mit Andreas eine Tandem-Tour durch die Gegend zu machen. Das Wetter schien schön zu werden und in einer kleinen Grillhütte könnten sie sich etwas zu essen machen. Dann sprach Carsten noch einmal die Feiertagsplanung an.
„Und Andreas, was meinst du nun zu meinem Vorschlag?“
„Ich finde ihn gut, nur frage ich erst einmal meine Großeltern.“
„Carsten?“
„Papa, Mama. Andreas’ Großeltern gehen eventuell über Weihnachten in Kur. Da kann Andreas sie nicht besuchen. Ich habe ihm vorgeschlagen, die Ferien hier zu verbringen und sie über die Feiertage einzuladen. Was meint ihr dazu?“
„Luise, wollten deine Eltern dieses Jahr nicht zu deiner Schwester fahren?“
„Angedeutet haben sie es. Ich werde ihnen Bescheid geben, dass es eine wunderbare Idee sei. Andreas, du besprichst es mit deinen Großeltern. Von uns her seid ihr willkommen.“
„Danke.“
„Luise, hast du schon gehört? Letzte Nacht hatte der Sohn vom Decher einen tödlichen Autounfall. Zu schnell über die L1156, hat eine Kurve nicht mehr geschafft.“
„Martin? Das kann ich mir nicht vorstellen, der fährt doch normalerweise eher vorsichtig.“
„Angeblich hatte er Krach mit seinem Vater. Der hat ihn wohl wegen seiner Homosexualität vor die Tür gesetzt. Da ist er unbesonnen gefahren.“
„Und woher weißt du das?“
„Der Notfall heute Morgen. Es war der Schäferhund eines Polizisten, das Tier hatte sich die Pfote an einer Scherbe verletzt. Musste genäht werden. Jedenfalls sprachen sie auf dem Amt darüber. Alkohol war definitiv nicht im Spiel.“
„Der Decher ist wirklich altmodisch. Meint er etwa, der Junge hat sich sein Schwulsein ausgesucht? Er hätte ihn unterstützen sollen, das wäre seine Aufgabe gewesen.“
„Es gibt nun leider noch diese Ansicht, Luise. Schön zu erfahren, dass du da anderer Meinung bist!“
„Ist ja wirklich interessant.“
„Stimmt doch, Carsten. Wenn du einen Jungen liebst oder Andrea ein Mädchen, dann ist es so. Deswegen bleibt ihr doch unsere Kinder, die wir lieben. Da ändert sich nichts dran. Eltern sollten zu ihren Kindern stehen, nicht gegen sie.“
Die Diskussion über das brisante Thema wich langsam eher einem Alltäglichen. Einstimmig wurde beschlossen, das Mittagessen ganz ausfallen zu lassen. Carsten und Andreas bekamen einen Camping-Einmalgrill mit. So konnten sie sich unterwegs etwas zubereiten. Luise brachte Ercan zu Tim. Mit Tims Mutter verabredete sie, dass sie ihren Sohn am späten Nachmittag wieder abholte. Andrea machte sich auch dünn. Die Aufräumarbeiten nach dem Frühstück machten die restlichen drei. Paul verschwand anschließend in seinem Arbeitszimmer. Carsten und Andreas verzogen sich auf sein Zimmer, um später in der Garage aufzutauchen, wo das besagte Rad stand. Andreas drehte zunächst einmal alleine einige Runden. Dann befestigten sie die vorbereiteten Fahrradtaschen. Max und Arco sahen den beiden zu. Es war klar, dass Max mitkommen würde. Arco würde bei Paul bleiben. Carsten beschied Andreas, dass Max ‚fahrradtauglich‘ sei, von daher keine Gefahr für jemanden wäre. Sie machten sich auf den Weg, Max lief neben dem Rad her, ohne dem zu nahe zu kommen. Die Gegend gefiel Andreas und Carsten bemühte sich, seine Fragen zu beantworten. An einer Grillhütte machten sie Rast. Der Blick ging über das Tal und in einiger Entfernung konnte Andreas das kleine Städtchen sehen. Einen Moment ruhte er sich aus, während Carsten Max zuerst frisches Wasser gab. Er hatte extra welches mitgenommen. Nach einigen Minuten setzte er sich neben Andreas auf die Bank. Beide genossen die Stille hier oben und ihre Zweisamkeit. Ein knurrendes Geräusch aus der Bauchgegend ließ Andreas sich um den Grill kümmern. Die Hütte war ideal, durch einen Abzug im Dach konnte der Rauch abziehen. Die drei geschlossenen Seiten verhinderten, dass es zog. Durch die einfallende Sonne war es sogar recht warm darin.
„Sag einmal, Carsten, ist so ein Grill nicht gefährlich für den Hund?“
„Nachdem sich Max einmal ihr Fell angesengt hat, meidet sie offenes Feuer und dergleichen. Daher gilt auch ein striktes Kerzenverbot in unserem Internatzimmer.“
„Nicht ein Teelicht in einer geschlossenen Laterne?“
„Nicht einmal das, Andreas. Sie kann es nicht unterscheiden und für diese Dinge ist der Raum nun doch zu klein.“
„Okay, ich werde mich daran halten. So, die Kohlen sind durch.“
„Dann lege mal unser Mittagessen auf.“
So etwas ließ Andreas sich nicht zweimal sagen. Luise hatte es wirklich gut gemeint. Ein komplettes Picknick hatte sie zusammengestellt. Die Jungen taten sich genüglich daran. Anschließend setzten sie sich auf eine Bank, die noch von Sonnenstrahlen gewärmt wurde. Max kletterte zu ihnen und schob ihren Kopf auf Carstens Schoß. Sie liebte es, von ihm hinter den Ohren gestreichelt zu werden. Dennoch, viel Platz war nicht mehr und so rutschte Carsten dichter an Andreas heran. Andreas sah Carsten an. Um seine Augen hatten sich kleine Lachfältchen gebildet und erst jetzt fielen ihm die Grübchen auf. Das milde Licht dieses warmen Tages unterstrich seine weichen Gesichtszüge. Wenn er genauer hinsah, erkannte er einige Sommersprossen auf seiner Nase. Und seine schmalen Lippen glänzten.
„Und gibt es an mir etwas Besonderes?“
„Wie kommst du darauf?“
„Na, du betrachtest mich wohl schon fünf Minuten!“
„Sag einmal woher du das jetzt schon wieder weißt?“
„Es ist windstill und dennoch spüre ich einen Luftzug. Wenn du geradeaus schauen würdest, wäre der nicht. Du atmest durch die Nase. Und was ist nun?“
„Ja, es gibt an dir etwas Besonderes. Das Licht betont dein Gesicht und du hast Sommersprossen auf deiner Nase. Kleine Krähenfüsse bilden sich auf den Schläfen, wenn du lachst. Außerdem hast du Grübchen.“
„Mehr nicht?“
„Na, du hast einen schönen Amorbogen. Deine Augenbrauen sind fein und im Ton eine Nuance dunkler als dein Haar. Du hast lange, geschwungene Wimpern. Warte mal…“
Andreas strich mit seinem Zeigefinger über Carstens Gesicht, um eine einzelne Wimper aufzunehmen. Carsten hielt still. Er genoss diese Berührung.
„So, nun puste mal kräftig und wünsch dir etwas.“
Carsten tat, wie ihm geheißen.
„Und was war das?“
„Mutti hat immer gesagt, wenn eine einzelne Wimper im Gesicht liegen bleibt, dann darf sich der Betreffende etwas wünschen.“
„Ach, davon habe ich nichts gewusst. Schön, wieder etwas Neues erfahren.“
„Und was hast du dir gewünscht?“
„Wenn ich es dir sage, ist es doch kein Wunsch mehr, oder?“
„Ich glaube schon, doch ich würde es gerne wissen.“
„Dann will ich mal nicht so sein...“
Andreas schaute Carsten an. Dann bekam er es mit der Angst zu tun, dass Carsten sich vielleicht etwas anderes wünschen würde, als er erwartete.
„Ich denke, du solltest ihn doch für dich behalten. Wir wollen sicher sein, das er sich erfüllt!“
„Wenn du meinst, Andreas. Manchmal verstehe ich dich nicht. Oft möchtest du etwas und im nächsten Augenblick entscheidest du dich anders. Weißt du denn, was du willst?“
„Ich denke schon, Carsten.“
„Das scheint mir aber nicht immer so. Oft weiß ich nicht, an welchem Andreas ich bin. Dem selbstbewussten, dem schüchternen, dem couragierten, dem spitzfindigen, dem freundlichen, dem reservierten oder einem von den vielen anderen.“
„Wir sollten uns auf den Heimweg machen. Es wird kühl.“
„Schon wieder, Andreas. Warum weichst du mir aus? Warum machst du es mir so schwer, dich näher kennen zu lernen?“
„Würdest du denn das wollen? Ich meine, wer bin ich denn schon?“
„Du bist Andreas! Das ist für mich Grund genug. Dass du schlechte Erfahrungen gemacht hast, ist mir bewusst. Das ist die eine – unglückliche – Seite, wenn du jemandem vertraust. Es gibt aber auch eine andere. Diejenige, die dich reichlich beschenkt. Du musst es nur wagen.“
„Du hast ja recht, Carsten. Bitte gib mir Zeit.“
„Freunde tun das. Komm, lass uns noch ein wenig mit Max spielen.“
Die Jungen suchten sich eine freie Stelle und warfen abwechselnd Max’ Frisbee. Andreas sah, dass es ihr sichtlichen Spaß bereitete, herum zu laufen und zu springen, um dieses runde Etwas zu erhaschen. Als es merklich kühler wurde, packten sie zusammen. Den Müll entsorgten sie in entsprechenden Behältnissen. Der Rückweg verlief ruhiger. Vor allem, weil beide Teenager sich noch Gedanken über das kleine Gespräch machten.
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.