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Zwei von Millionen von Sternen

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

6

Nur kurz hatte Mike sich mit Robby nach dem Training getroffen. Zu berauscht war er von den Ereignissen des heutigen Abends. Er hatte es sogar geschafft, Robby beim Duschen und Ankleiden in puncto Geschwindigkeit zu schlagen. Zum ersten Mal, soweit Mike denken konnte, hatte Mike im Schankraum auf Robby warten müssen und nicht umgekehrt.

Mike musste erst einmal selbst darüber nachdenken, bevor er mit Robby über seine Gefühle sprechen konnte. Außerdem machte ihn Robby mit seinem wissenden Grinsen allmählich rasend. Was meinte Robby denn zu wissen? Kein Wort hatte sich Robby aus der Nase ziehen lassen. Robby hatte sich mit Timo unterhalten. Das hatte Mike doch gesehen. Und keiner sollte ihm erzählen, dass es dabei nur um Judo gegangen war. Er würde das schon herausfinden.

Schnell hatte sich Mike von Robby verabschiedet und war mit dem Fahrrad nach Hause gefahren.

"Hallo Michael", begrüßte ihn seine Mutter. Sie hatte sich zum Ausgehen schick gemacht und zog gerade ihre Jacke an. "Du bist aber früh zurück. Ist irgendetwas passiert? Hast du dich mit Robert gestritten?" Mike verschwendete erst gar keine Energie darauf, seinen Rufnamen zu korrigieren. Das hatte er sich lange abgewöhnt. Als seine Mutter ihn genauer betrachtete, korrigierte sie sich augenblicklich. "So wie du strahlst, wohl eher nicht."

"Hallo Mum." Mike hielt seiner Mutter ergeben die Wange hin, damit sie ihren Begrüßungskuss loswurde. "Nein. Es ist alles in bester Ordnung." Er versuchte, etwas ernster zu werden.

"So, so", meinte sie nur bedeutungsvoll.

Sie deutete auf die Küche. "Auf dem Tisch steht dein Abendessen. Und morgen früh erzählst du mir, was dich so glücklich macht. Oder sollte ich fragen: ,Wer‘?"

Mit diesen Worten ließ sie Mike allein. Mike zuckte sprachlos die Achseln. Er freute sich auf den nächsten Morgen.

7

"Aufsteh'n." Timo wurde unsanft wachgerüttelt. Er hatte doch gerade so schön geträumt. Mike und er hatten sich gerade so schön geküsst. Der Traum war ihm so wirklich erschienen. Er spürte sein Glied hart gegen die Shorts drücken.

"Aufsteh'n", schrie ihm seine kleine Schwester nun mit voller Lautstärke ins Ohr.

Schlagartig wurde ihm die peinliche Situation bewusst. Lag die Bettdecke noch, wo sie hingehörte? War eine Beule zu sehen? Wenn Sarah jetzt auch noch auf sein Bett springen sollte ... Er führte den Gedanken nicht zu Ende, sondern setzte sich kerzengerade im Bett auf, zog die Beine an und raffte die Bettdecke um sich zusammen. Alles war okay. Sarah hatte nichts mitbekommen, wie es schien.

"Er ist wach, Mami", schrie sie in Richtung Tür. Timo zuckte erneut zusammen.

"Ich hatte dir doch gesagt, du sollst ihn lieb wecken", schallte es vorwurfsvoll, aber kaum weniger laut, aus dem Flur zurück.

"Hab' ich doch."

Von wem Sarah die Stimmgewalt geerbt hatte, war nicht zu überhören.

Timo entspannte sich. Er ließ sich wieder zurücksinken.

"Wer ist Mike?", wollte Sarah wissen.

Jetzt war Timo ganz wach. Er stützte sich im Bett auf und wandte sich seiner Schwester zu.

"Wie kommst du darauf?" Timo musste gähnen.

"Ich habe dich erst ganz vorsichtig geschüttelt." Sarah legte ihre kleinen Hände auf seine Schulter und zeigte, was sie meinte. Sie hatte wirklich ganz zart versucht, ihn zu wecken. "Aber du hast gaaaanz tief geschlafen. Dann habe ich so gemacht." Sarahs Rütteln wurde energischer. "Bis du wach warst. Und da hast du mich Mike genannt."

Timo suchte nach einer Ausrede. Er entschied sich, nahe bei der Wahrheit zu bleiben. Was wäre denn die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gewesen? Er beantwortete seine eigene Frage nicht.

"Mike ist im selben Judo-Verein. Er kommt nachher, um mich für die Judo-Prüfung zu trainieren."

"Deshalb gehst du nicht mit in den Zoo?" Der Themenwechsel rettete Timo. Das war typisch für Sarah.

"Ganz genau." Jetzt fiel ihm auch auf, dass Sarah schon völlig angezogen neben seinem Bett stand.

"Schade."

"Na, endlich wach, du Schlafmütze?" Seine Mutter tauchte in der Tür auf. "Hast du nicht gestern erzählt, dass dein Freund zum Privattraining kommt?" Hatte sich Timo getäuscht oder schwangen da Anzüglichkeiten in ihrer Stimme mit.

Timos Gehirn war noch immer nicht voll da. Sein fragend-dämlicher Gesichtsausdruck war seiner Mutter nicht entgangen.

"Es ist schon zehn Uhr vorbei", half sie ihm auf die Sprünge.

"Oh verdammt." Er zerknirschte einen weiteren Fluch zwischen den Zähnen. Erst hatte er nicht einschlafen können und jetzt hatte er auch noch verschlafen. Mike konnte jeden Augenblick auftauchen.

"Komm, Sarah." Ihre Mutter winkte sie zu sich. "Vati wartet bereits unten im Auto." Sie wandte sich an Timo, zwinkerte verschwörerisch und wurde dann ernst. "Seid vorsichtig."

"Keine Sorge", versuchte Timo sie zu beruhigen ohne so recht zu wissen, weswegen. "Viel Spaß im Zoo", rief er ihnen hinterher, als sie hinausgingen. Timo hörte seine kleine Schwester schon nach verschiedenen Tieren fragen.

Fluchend sah er auf die Uhr. Er musste sich beeilen, um nicht nackt an der Tür zu stehen, wenn Mike klingelte. Er schwang die Beine aus dem Bett.

Schritte erklangen vom Flur und seine Mutter tauchte noch einmal auf.

"Mir ist grade noch eine Idee gekommen." Sie erschien Timo ein wenig unsicher.

"Ja?"

"Vielleicht möchtest du Mike einladen, zum Abendessen zu bleiben?", schlug sie zögernd vor. "Nur, falls du willst. Sozusagen als Dankeschön für seine Hilfe." Ihre Stimme verklang.

Timo schlug die Augen nieder.

"Mal sehen, wie es läuft", antwortete er leise.

Seine Mutter kam ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten an sein Bett und setzte sich neben ihn. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn kurz. "Nun mach dir mal nicht so viel Sorgen. Das wird schon werden." Dann stand sie wieder auf und ging zur Tür. "Bis heute Abend", verabschiedete sie sich.

Timo spurtete ins Bad.

8

Mike war bereits früh aufgewacht. Aufregung hatte ihn gepackt. Heute würde er mit Timo allein sein. Und so nah. Im letzten Training war es schwer gewesen, Abstand zu halten. Sein Herz stolperte bei der Erinnerung daran, und die Schmetterlinge begannen ihren Tanz in seinem Bauch. Hellwach lag er im Bett. Was würde der Tag bringen?

Mit einem Satz war er aus dem Bett. Der Wecker zeigte zwar erst sieben Uhr morgens an, aber im Bett hielt Mike es nicht länger aus. Leise, um seine Mutter nicht zu wecken, schlich er ins Bad. Im Nu war er rasiert. Das dauerte auch sonst nie lange. War ja noch nicht viel da. Er grinste sich an. Selbst für die Dusche nahm er sich nicht mehr Zeit als notwendig war. Da es Sommer war, brauchte er seine Haare nicht zu fönen. Zu bändigen war sein kurzes schwarzes Haar eh nicht. Ein wenig Gel ins Haar, und fertig war der kleine Herzensbrecher, wie ihn seine Mutter früher gerne genannt hatte.

Er betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war blass, sah aber nicht ungesund aus. Aus Sonne machte er sich nicht allzu viel. Zwei dunkle Augen blickten ihn prüfend an. Er hob spöttisch eine Augenbraue und musste lächeln. Siehst heute gut aus, gratulierte er sich. Nicht ein Pickel weit und breit.

Leise schlich Mike zu seinem Zimmer zurück. Es war gerade mal halb acht, als er fertig angezogen in seinem Zimmer stand. Noch drei Stunden bis zu seinem Treffen mit Timo.

Um sich ein wenig abzulenken, schaltete Mike seine Stereoanlage ein. Aus seiner Sammlung suchte er seine derzeitige Lieblings-CD heraus und legte sie auf. '2 von Millionen von Sternen'. Das Lied hatte ihm schon gefallen, bevor er Timo kennen gelernt hatte. Jetzt hatte es für ihn auf einmal einen tieferen Sinn bekommen. Immer wieder ließ er es laufen. Mike hoffte nur, dass es nicht bei dem besungenen Moment der Begegnung blieb und sie sich dann wieder von einander entfernen würden. Für Mike waren Timos Augen zwei von Millionen von Sternen. Die schönsten zwei.

Aufregung und ein wenig Angst wechselten einander in Mikes Gedanken ab. Schließlich schaltete er das Radio ein und ließ es auf kaum hörbarer Lautstärke nebenher laufen, wie er es bei den Hausaufgaben üblicherweise tat. Er holte sich Trainingsunterlagen für die Judo-Gürtelprüfung und machte sich Notizen für später.

Es klopfte an seiner Zimmertür. Anscheinend war seine Mutter aufgestanden.

"Ja?"

Seine Mutter öffnete die Tür. "'n morgen mein Schatz", kam es verschlafen von ihr. "Machst du Frühstück, während ich kurz im Bad bin?" Seine Mutter wirkte verkatert. Sie war erst spät nach Hause gekommen.

"Klar."

Sie gähnte noch einmal und ließ die Zimmertür offen. Er hörte, wie sie ins Bad verschwand.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es inzwischen neun Uhr geworden war. 'Also nur noch eine Stunde, bis ich los kann', dachte er sich. Erneut beschleunigte sich sein Puls.

In der Küche brauchte er nur noch die Kaffeemaschine anzuschalten. Den Tisch hatte er, wie üblich, schon am Vorabend gedeckt. Das sparte ihnen insbesondere unter der Woche morgens ein paar Minuten.

Der Kaffee war kaum durchgelaufen, als seine Mutter auch schon in die Küche kam. Am Wochenende legten sie beide weniger Wert aufs Aussehen. Daher trug sie nur einen Bademantel über ihrem Nachthemd. Umso mehr musste seiner Mutter auffallen, wie wichtig ihm dieser Tag war, wie ihm etwas spät klar wurde. Ihm wurde erneut heiß und kalt.

Glücklicherweise – er schalt sich bei dem Gedanken – hatte seine Mutter einen ausgewachsenen Kater. Sie war beileibe keine Trinkerin und musste vielleicht deshalb so darunter leiden.

"Was gab es denn Schönes zu trinken?"

"Sh." Seine Mutter bedeutete ihm, leiser zu sprechen. Sie fasste sich an den Kopf und massierte leicht ihre Schläfen. "Ich habe nur zwei oder drei Cocktails mit den Mädels getrunken. Aber die hatten es in sich."

"Die ‘Mädels'?", konnte sich Mike nicht verkneifen und goss ihnen beiden Kaffee ein.

Konsterniert blickte ihn seine Mutter an.

"Die Cocktails natürlich", ließ sie sich zu einer Antwort auf seine rhetorische Frage hinreißen.

Gierig griff sie nach ihrer Kaffeetasse und bereute, dem Gesichtsausdruck nach zu schließen, die schnelle Bewegung sofort. Etwas langsamer führte sie die Tasse zum Mund und schlürfte vorsichtig das heiße schwarze Getränk, das sie so liebte.

Mike kannte die ‘Mädels‘, wie seine Mutter sie zu nennen pflegte. Es waren Kolleginnen aus dem Büro, in dem sie als Sachbearbeiterin für Soziales arbeitete. Freitags pflegten sie gemeinsam etwas zu unternehmen. Theaterbesuche, Konzerte oder einfach ein Kneipenbummel. Und gestern war offenbar eine Cocktailbar inspiziert worden.

Schweigend frühstückten sie eine Weile. Jeder hing seinen Gedanken nach. Und allmählich nahm das Gesicht seiner Mutter wieder eine normale Tönung an.

"Nie wieder Cocktails", schwor sie.

Mike grinste vor sich hin. Das hatte er schon ein paar Mal von ihr gehört.

Als er kurz aufblickte, bemerkte er, wie seine Mutter ihn musterte.

"Hast du etwas vor?"

"Ja. Ich werde einem Freund bei den Vorbereitungen zur nächsten Judo-Prüfung helfen."

"Robert wohl nicht", überlegte sie laut. "Für Robert würdest du dich an einem Samstag wohl kaum in Schale werfen. Zumindest nicht tagsüber ..."

"Nein. Du kennst ihn noch nicht", antwortete er ausweichend.

"Aha."

Litt Mike bereits an Verfolgungswahn? Die Art, wie seine Mutter das kleine Wörtchen aussprach. Das hätte genauso gut ein 'Aha' von Robby sein können. Steckten die beiden unter einer Decke? Das wäre nicht das erste Mal. Er verwarf den Gedanken.

Mike wagte es unterdessen nicht, seiner Mutter in die Augen zu schauen. Er stand auf und ging zur Kaffeemaschine.

"Willst du noch Kaffee?", versuchte er abzulenken. Als sein Blick kurz zu seiner Mutter huschte, sah er, dass sie anscheinend das Thema nicht weiter verfolgen wollte. Aber er kannte seine Mutter. Das Thema war nicht abgeschlossen, nur vertagt worden.

"Natürlich." Sie hielt ihre Tasse hoch und er schenkte nach.

Die Gespräche am Samstagmorgen waren ihnen beiden eigentlich die wichtigsten Gespräche der Woche. Beide nahmen sie sich Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Er erzählte normalerweise von seinen Erlebnissen aus der Schule und vom Training. Sie erzählte von tragischen Fällen, die sich zugetragen hatten, oder wenn sie jemandem hatte helfen können. Seine Mutter war sehr engagiert und Mike bewunderte sie dafür. Aber heute war er zu abgelenkt. Sonst konnte er über alles mit ihr sprechen. Heute wagte er es jedoch nicht. Seine Gefühle waren zu verwirrend. Und was Timo davon hielt?

"Nun geh schon", riss ihn seine Mutter aus den Gedanken. "Ich merke doch, dass du mit deinen Gedanken ganz woanders bist."

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sogar schon fast ein wenig spät dran war. Auf einmal war die Zeit viel zu schnell vergangen.

"Danke, Mum." Aus einem Impuls heraus ging Mike zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

"Wofür war das denn?" Aber eigentlich erwartete sie keine Antwort. "Vielleicht erzählst du mir später, was los ist."

"Bestimmt." Er war schon halb aus der Tür. "Ich muss los."

Mike schnappte seine Sporttasche, die bereits fertig gepackt an der Haustür stand. "Viel Spaß noch mit deinem Besuch", verabschiedete er sich.

Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg.

9

Außer Puste kam Mike bei Timos Wohnung an. Superpünktlich, stellte er fest. Eine Kirchturmuhr schlug gerade halb elf. Er schloss sein Rad an einen Laternenpfosten vor der Haustür des villenähnlichen Mehrfamilienhauses, das von einem Garten umgeben war. Durch einen kleinen Vorgarten ging er zur Tür. Die Fahrt mit dem Rad hatte etwas von der Nervosität abgebaut, aber als er die Klingel betätigte, erklomm seine Aufregung einen weiteren Höhepunkt.

"Ja?", klang es leicht verzerrt aus der Gegensprechanlage.

"Ich bin es, Mike." Es summte kurz, und Mike konnte die Tür öffnen.

Durch einen hellen, kurzen Gang und ein geräumiges Treppenhaus eilte er in den zweiten Stock. Timo erwartete ihn an der Wohnungstür. Er hatte nur einen Bademantel an und war sichtlich verlegen.

"Bin ich zu früh?" Mike suchte, wie üblich, den Fehler erst bei sich selbst.

"Nein, ich hab' verpennt." Das schiefe Grinsen gefiel Mike besonders. "Komm rein. Ich mache mich noch schnell fertig."

Dass das nicht nötig wäre, schluckte Mike gerade noch herunter. Er ließ sich von Timo das Wohnzimmer zeigen, wo sie trainieren wollten. "Ich ziehe dann auch inzwischen meinen Judo-Anzug an."

Während Timo wieder im Bad verschwand, versuchte Mike seine schmutzige Fantasie unter Kontrolle zu bringen. Er musste grinsen. Das war doch eben wie in den Liebesromanheftchen, die seine Mutter verschlang. Nur dass dort die breitschultrigen Helden lediglich ein schmales Handtuch um die noch schmaleren Hüften trugen – wovon eigentlich gehalten? Er grinste.

Mike packte seinen Judogi aus und zog sich um. Dabei betrachtete er das Wohnzimmer. Es war geräumig und vermittelte sofort den Eindruck von Gemütlichkeit. Eine helle Couchgarnitur lud zum Herumlümmeln ein. Eine schicke Hülsta-Regalwand trug viele Hundert Bücher. Ein Großbildfernseher und eine Surroundanlage lieferten bestimmt eine coole Kinoatmosphäre.

Im Regal standen auch ein paar Familienfotos. Mike trat näher. Timos Eltern machten einen netten und offenen Eindruck. Das kleine Mädchen war wohl Timos Schwester. Ihr saß offensichtlich der Schalk im Nacken. Mike musste kurz grinsen. Wie das wohl war, Geschwister zu haben?

Ganz im Gegensatz zu seinen Eltern und seiner Schwester wirkte Timo auf den Bildern völlig verschlossen und ernst. Sie passten nicht zu dem Eindruck, den Timo auf Mike bisher gemacht hatte. Die Bilder waren bereits zwei oder drei Jahre alt, schätzte Mike.

"Was denkst du?", schreckte ihn Timos weiche, ernste Stimme auf. Mike hatte ihn nicht kommen hören. Timo stand dicht hinter ihm. Mike konnte die Wärme spüren, die Timos Körper ausstrahlte.

"Dass du eine nette Familie hast", antwortete Mike, ohne sich umzudrehen. "Und dass du anscheinend nicht mehr so ernst und verschlossen wie auf den Bildern bist", fügte er aus einem Impuls heraus hinzu. Er drehte sich um. Timo trat einen Schritt zurück.

Timo trug ebenfalls seinen Judo-Anzug. Auch diesmal hatte er ein T-Shirt untergezogen, registrierte Mike beiläufig.

"Meine Familie ist in Ordnung." Er ging an Mike vorbei und nahm eine der Aufnahmen von sich selbst in die Hand. "Das war zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort." Ein Schatten war bei diesen Worten über sein Gesicht gehuscht. Offenbar wollte er nicht darüber reden. Er stellte das Bild zurück.

"Wollen wir loslegen?"

Timo nickte.

Gemeinsam räumten sie den Couchtisch und zwei große Sessel beiseite. Die Sommerwärme und die Bewegung brachten sie ins Schwitzen. Jetzt hatten sie genug Trainingsfläche.

"Was soll ich dir denn beibringen?"

"Hebel, Würger, Haltegriffe und Würfe", zählte Timo mit schiefem Grinsen auf. Mikes Herz machte einen Satz. Er ließ laut den Atem entweichen, um sich von Timos Augen zu lösen. "Also so ziemlich das ganze Programm", meinte er mehr zu sich selbst. Geschäftig kramte er seine Notizen aus der Sporttasche. Er schmunzelte. Das bedeutete so viel Zeit, die sie miteinander verbringen konnten.

"Dann lass uns doch erst einmal kurz überprüfen, ob du die letzte Lektion behalten hast."

Mike und Timo verbeugten sich kurz voreinander. Dieses Ritual würde auch Teil der Prüfung sein. Es würde erhebliche Punktabzüge bedeuten, wenn sie es vergäßen. Also gewöhnte man sich am besten gleich an Rituale, hatte ihm ein alter Trainer vor Jahren beigebracht. Nicht nur im Judo.

Entschlossen nahm Mike die Grundhaltung ein und ergriff Timos Kimono. Timo machte es ihm nach. Mikes Hände waren schon feucht vor Aufregung. Sein Herz raste. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihre Körper voneinander. Wieder trafen sich ihre Blicke. Timo lächelte und Mikes Herz stolperte.

Schritt für Schritt führte Timo vor, was ihm Mike in der letzten Trainingsstunde beigebracht hatte. Sie sprachen kein Wort. Nur mit korrigierenden Gesten griff Mike ein paar Mal ein.

Jedes Mal, wenn Timo sich für den Wurf eindrehte und Mike auf seinen Rücken lud - er damit im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verlor - und dabei Timos fester Hintern auf seinen Unterleib traf, musste Mike ein lustvolles Stöhnen unterdrücken. Timos durchtrainierter Körper machte ihn an. Am liebsten hätte Mike Timo mit beiden Armen umschlungen, damit er ihn nicht wieder auf den Boden absetzte.

Mike musste sich konzentrieren.

"Ich glaube, das reicht erst einmal." Er musste sich räuspern. Seine Stimme klang ganz belegt.

Timo schaute ihn fragend an und meinte: "Wie wäre es dann mit ein paar Haltegriffen?"

War das Zweideutigkeit in Timos Stimme? Mit einem Schlag brach Mike der Schweiß aus.

"Warum nicht." Mike hörte sich selbst beim Reden zu. Sein Herzschlag wurde noch schneller. Die Schmetterlinge regten sich heftiger. War alles nur ein Traum?

Timo legte sich auf den Teppichboden und zog das linke Bein leicht an, wie es für die Grundtechnik vorgeschrieben war. War da kurz eine Beule in der Hose zu sehen gewesen? Seine Fantasien begannen ein Eigenleben zu führen.

Haltegriffe hatten für Mike immer den größten Reiz im Judotraining ausgemacht. Man war sich so nah. Und wenn seine Hände zwischen den Beinen hindurchfassen mussten, durfte er kurz berühren, was er in den Duschen nur unauffällig betrachten konnte. Und wenn er rittlings auf seinem Übungspartner saß ... Er führte seine Gedanken nicht weiter. Bisher waren ihm die Trainingspartner egal gewesen. Sie waren austauschbar. Es waren die Taten an sich gewesen, die ihn erregten und seine Träume feucht werden ließen. Heute war da mehr. Er begehrte Timo, wie er noch nie jemanden zuvor begehrt hatte. Und das nicht nur körperlich.

Erneut atmete er tief ein und aus. Timo hatte ihn keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Mike kniete sich rittlings auf Timo und begann zu erklären. Timos Augen hingen an ihm, strahlten ihn an. Wie zwei von Millionen von Sternen. Langsam beugte er sich hinunter, schlang seinen rechten Arm um Timos Nacken und griff in Timos Kimonojacke in Höhe der rechten Schulter. Mike kommentierte jede Bewegung, hörte sich selbst wie aus weiter Ferne reden.

Timo legte seinen rechten Arm über seinen Hals. Mike hatte sich ganz über Timo gebeugt. Ihre Köpfe waren nun nebeneinander, nur von Timos rechtem Arm getrennt. Mit der linken Hand stützte sich Mike ab. Jetzt hatte er Timo fest im Griff. Er spürte Timos heißen Körper durch den Stoff hindurch glühen, Timos Wange direkt neben seiner.

Mike genoss es, Timo im Arm zu halten. Er roch sein Shampoo, den leichten Schweißgeruch ihrer Anzüge. Langsam drehte er sein Gesicht zu Timos Gesicht. Ihre Augen trafen sich wohl zum hundertsten Mal. Keiner sagte einen Ton. Timo nahm seinen Arm weg, der ihre Gesichter auf Abstand hielt. Sie brauchten nichts zu sagen. Wie von selbst näherten sich ihre Lippen, berührten sich ganz zart, verharrten, verschmolzen miteinander. Wie gut er schmeckte. Mike schloss die Augen und gab sich ganz dem Gefühl hin. Erst nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, trennten sie sich atemlos wieder voneinander.

Damit hatte sich Mikes Welt für immer verändert. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ihre Seelen hatte einander erkannt.

10

War das ein Gefühl. Timo schaute tief in Mikes dunkle Augen, die ihn so offen und liebevoll anstrahlten. Von diesen Küssen wollte er mehr. Er zog Mike zu sich herunter. Davon hatte er geträumt. Aber er hatte sich nicht vorstellen können, wie schön das Gefühl sein konnte – wie schön das Gefühl tatsächlich war, korrigierte er sich. Tränen des Glücks schossen ihm in die Augen.

Mike richtete sich auf und schaute Timo erschrocken an.

"Keine Angst", beruhigte ihn Timo, während Mike seine Tränen sanft wegwischte. "Ich war nur noch nie so glücklich." Timo zog Mike wieder zu sich herunter. Erneut verbanden sich ihre Lippen zu einem innigen Kuss. Timo spürte Mikes Zunge, die vorsichtig nach Einlass verlangte. Gierig öffnete er seinen Mund und ihre Zungen trafen sich. Erregung machte sich in seinem ganzen Körper breit, fuhr hinab zwischen seine Beine. Er glaubte, vor Lust und Begehren zu explodieren.

Timo stöhnte auf. Er spürte Mikes Erregung nur zu deutlich. Mike musste seine ebenfalls bemerkt haben. Es war unmissverständlich. Sie wollten beide mehr. Wie im Rausch begann Timo Mikes Jacke zu öffnen, der nun seinerseits begann ihn auszuziehen. Er hatte immer gedacht, dass das erste Mal Zeit bräuchte. So hatte er nie davon geträumt. Aber er fühlte nur sein Begehren und die unmittelbare Antwort Mikes. Sie wollten einander. Sie wollten jetzt einander.

Atemlos standen sie auf und küssten sich erneut, spürten ihre Erregung durch die dünnen Hosen, pressten ihre Leiber aneinander, hielten sich eng umschlungen.

"Nicht hier", unterbrach Timo als sein Blick sich auf die Bilder seiner Familie verirrte und etwas Verstand zurückkehrte. "Lass uns in mein Zimmer gehen." Timo zog Mike mit sich.

Vor seinem Bett blieben sie atemlos stehen. Beide wollten, dass ihr erster Liebesakt nicht nur ein kurzes Intermezzo war, sondern bleibende Erinnerungen erzeugte. Sie wollten es bewusst genießen, wollten ganz bewusst voneinander kosten. Gleichzeitig wollten sie den Rausch im Jetzt ausleben, ohne einen Gedanken an das Später.

Zärtlich strich Timo über Mikes haarlose nackte Brust, zeichnete seine Brustwarzen mit dem Finger nach. Ihre Hosen fielen zu Boden. Ihre Retroshorts schienen zum Zerbersten gespannt. Wieder umarmten sie sich und küssten sich. Timos Finger wanderten am Rücken hinunter, in Mikes Shorts, spürten seinen festen Hintern. Mike folgte ganz seiner Führung und tat es ihm nach, streichelte Timos leicht behaarte Brust.

Dann waren auch die letzten Hüllen gefallen.

Timo drückte Mike aufs Bett, übernahm vollends die Initiative. Er bedeckte Mikes ganzen Körper mit Küssen, tastete sich langsam von den Brustwarzen über den flachen Bauch weiter voran. Sein Mund fuhr leicht über die Innenschenkel. Mikes Geruch machte ihn total an. Als Timos Nase Mikes Hoden berührte, stöhnte Mike lustvoll auf. Zärtlich küsste Timo sie. Die schwarzen Kraushaare kitzelten in der Nase. Mit der Zunge erkundete er vorsichtig weiter das Terrain. Er hatte noch nie mit einem Jungen geschlafen, aber sein Instinkt sagte ihm genau, was zu tun war. Ganz davon abgesehen wusste er natürlich, was er selbst gerne haben wollte.

Als er den Schaft von Mikes Glied mit den Lippen emporfuhr, krallten sich Mikes Finger vor Lust in seine Haare. Wenn er noch irgendeine Einladung gebraucht hatte, hier war sie. Schritt für Schritt näherte er sich der Eichel. Er musste Mikes Glied festhalten, da es vor Lust wild hin und her zuckte.

Mike war beschnitten, wie er erstaunt feststellte. Sein Glied war herrlich gerade und wundervoll geformt. Vorsichtig nahm er es in den Mund, fuhr mit der Zunge um die Eichel. Es brauchte nicht mehr viel und Mike entlud sich unter lautem Stöhnen. Nur mit Mühe konnte Timo schlucken, was ihm entgegengeschleudert wurde.

Entspannt ließ sich Mike, der sich am Ende halb aufgerichtet hatte, zurücksinken. Timo wollte sich neben ihn legen und ihm eine Pause zur Entspannung gönnen, aber Mike wollte sich offenbar sofort revanchieren.

Und das tat er dann gründlich.

11

Mike erwachte langsam. Eine Sekunde lang war er orientierungslos. Was für ein schöner Traum. Er wollte sich strecken, aber sein Arm schien eingeklemmt. Mike öffnete die Augen. Es war kein Traum gewesen. Besser gesagt, an ihn gekuschelt lag sein Traum. Mike betrachtete Timos entspanntes Gesicht. Trotz der sommerlichen Hitze und Timos warmem Körper fröstelte er ein wenig. Er erschauderte. Timo schlug die Augen auf, die sofort auf Mikes Gesicht fokussierten.

"Gut geschlafen, mein Augenstern?" Ja, zwei von Millionen von Sternen. Mike lächelt Timo an. Wie zur Bestätigung des Kosenamens strahlten seine Augen Mike an.

"Nach so viel privatem Training?" Er gab Mike einen Kuss. Dabei fiel sein Blick auf die Uhr. Es war bereits fünf Uhr. "Ach du Schande." Timo wurde blass.

"Was ist?" Mike erschrak.

"Meine Eltern kommen jeden Moment nach Hause." Er sprang aus dem Bett und Mike folgte ihm.

In aller Eile zogen sie ihre Shorts an. Mike eilte ins Wohnzimmer, um seine Klamotten zu holen, als er auch schon Geräusche vor der Haustür hörte. Schnell räumte er ihre Judo-Jacken und Gürtel auf einen Haufen und sprang in seine Hosen.

"Wir sind zu Hause", rief eine Frauenstimme, die wohl Timos Mutter gehörte. Auch eine Kinderstimme war zu hören, die vor sich hin plapperte.

Mike gelang es gerade noch, sein Polohemd überzuziehen, als eine Frau das Wohnzimmer betrat.

"Hallo, du musst Mike sein. Ich bin Timos Mutter", stellte sie sich lächelnd vor. "Anscheinend seid ihr gerade fertig geworden."

Mike schüttelte ihre Hand.

"Ja, wir waren grade fertig", wiederholte er lahm. War das so offensichtlich?

"Aha, sieht man." Sie deutete auf das Etikett seines Polohemdes, das natürlich nach innen gehörte. "Oder trägt man das jetzt so?" Sie grinste.

Mikes Kopf fühlte sich wie eine überreife Tomate an. Wo blieb Timo denn nur?

"Und, wie macht er sich so?", wollte sie weiter wissen.

"Äh ..."

"Beim Judotraining?", half sie nach. Mike hatte den Eindruck, dass sie das Gespräch sehr genoss.

"Ach so. Äh ... Er ist ein guter Schüler", brachte Mike heraus.

"Hallo Mutti", hörte er endlich Timos Stimme. "Du hast Mike also schon kennen gelernt." Im Gegensatz zu Mike war er vollständig angezogen. Er strahlte regelrecht. Mike war hingerissen.

Der Blick von Timos Mutter wechselte mehrmals von Timo zu Mike. Was sie wohl dachte? Mike musste nicht warten.

"Dann hat also alles ein gutes Ende genommen", stellte sie fest und sah ihren Sohn liebevoll an. "Du hättest dir gar nicht so viel Sorgen machen müssen."

"Nein Mutti."

Mike war erstaunt. Offenbar wusste sie, dass ihr Sohn schwul war.

"Hast du deinen Freund schon gefragt, ob er zum Essen bleiben will?"

"Äh, das ..." Timo kam ins Stottern. "Wir waren zu beschäftigt." Jetzt wurde auch er rot.

Seine Mutter grinste noch breiter. Ja, diese Frau genoss das Schauspiel. Da war Mike sich jetzt sicher.

Sie wandte sich an Mike, der wie Timo vor Verlegenheit am liebsten im Boden versunken wäre.

"Bleibst du zum Essen?"

Mike musste nicht lange überlegen.

"Gerne."

"Schön. Dann räumt mal das Wohnzimmer wieder auf und", ihr Blick wanderte kurz in Richtung Mikes Körpermitte, "vielleicht ziehst du dich noch vollständig an. Was soll Timos kleine Schwester sonst von dir denken."

Entsetzt bemerkte Mike seinen offenen Hosenstall. Konnte man roter als rot werden, hatte er sich vorhin schon gefragt. Jetzt hatte er seine Antwort. Man konnte.

12

Spät am Abend kehrte Mike nach Hause zurück. Er hatte seiner Mutter telefonisch Bescheid gesagt, so dass sie sich keine Sorgen machte. Beim Abendessen hatten ihm Timos Eltern erzählt, dass sie erst seit kurzem wussten, dass Timo schwul war. Sarah war zu diesem Zeitpunkt längst in ihrem Bettchen gewesen. Beim Gedanken an sie wurde ihm warm ums Herz. Sie war ein kleiner Schatz. Sie hatte viel von ihrem großen Bruder. Mike hatte sie sofort ins Herz geschlossen.

Timo hatte seinen Eltern im letzten Jahr von seinem Problem erzählt, nachdem er sich unglücklich in den Falschen verliebt und es diesem auch noch gestanden hatte. Timo war vorher schon jahrelang unglücklich gewesen und hatte sehr unter seinem Geheimnis gelitten. Deshalb hatte er auf den Fotos auch so verschlossen gewirkt.

Während des Gesprächs nach dem Abendessen schien das ehemalige alter ego auch zurückgekehrt zu sein, denn seine Eltern erzählten fast ausschließlich. Timo saß neben Mike und schien alles noch einmal zu durchleben. Mike war schließlich näher gerückt und hatte seinen Arm um ihn gelegt. Dankbar hatte sich Timo an ihn gelehnt.

Völlig aufgelöst war Timo damals von der Schule nach Hause gekommen und hatte seiner Mutter erst nach heftigem Drängen erzählt, was ihn bekümmerte. Auch seinem Vater hatte er sich schließlich anvertraut und von beiden den Rückhalt bekommen, den er sich erhofft hatte. In der Schule war die Sache freilich anders gelaufen. Timos Angebeteter hatte es herumerzählt. Die Klassenrowdys hatten es gerne zum Anlass genommen, mal wieder jemanden zu verprügeln, aber nicht mit seinen Judo-Kenntnissen gerechnet. Gegen drei größere und kräftigere Jugendliche hatte das letztendlich nicht ausgereicht.

Mike war schlecht geworden, als er das hörte. Vor seinen Eltern gab Mike Timo einen aufmunternden Kuss, der irgendwie auch ihm selbst gegolten hatte. Noch gestern hätte er sich das nicht vorstellen können, aber er wusste, dass es so richtig war.

Aufmerksam hatte er dem Rest der Erzählung gelauscht.

Auf der Flucht vor den drei Schlägern war Timo vor ein Auto gelaufen. Dabei hatte er immenses Glück gehabt. Er war mit Prellungen am ganzen Körper davon gekommen. Seinen Eltern hatte es genügt, sich nach einem anderen Ort zum Leben umzuschauen. So waren sie hierher gekommen.

Mike schloss die Haustür auf. Sein eigenes Coming Out stand ihm noch bevor. Jetzt, da er Timo gefunden hatte, wollte er, dass es die ganze Welt erfuhr. Aber er hatte auch große Angst davor. Erst recht nach Timos Erlebnissen.

Dass Robby es wusste, zählte nicht wirklich. Mit sich selbst war er im Reinen. Er hatte sich nie belastet gefühlt, nicht so wie Timo. Nie hatte er das Gefühl gehabt, etwas Unrechtes zu tun oder zu denken. Es machte ihn traurig, an Timos ernstes Gesicht auf den Fotografien zu denken. Glücklicherweise lag das nun hinter ihm. So hoffte Mike.

Seine Mutter saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher, den sie sofort ausschaltete, als sie ihn an der Tür hörte. Er würde es ihr jetzt sagen, fasste Mike spontan den Entschluss.

Erwartungsvoll sah ihn seine Mutter an. Sie schien zu ahnen, dass ihm etwas auf der Seele brannte.

"Hallo, Mum." Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Oh, schon wieder ein freiwilliger Kuss?", wunderte sie sich.

"Ich muss mit dir reden." Mike nahm allen Mut zusammen.

"Komm, setz dich zu mir." Sie klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich.

Mike setzte sich auf die Kante der Couch und begann, seine Hände zu kneten. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er starrte auf seine Füße. Geduldig wartete seine Mutter.

"Ich habe mich verliebt", begann er stockend.

"Das ist doch wunderbar", freute sich seine Mutter. Sie nahm seine Hände in ihre und drückte sie. Mikes Gesichtsausdruck wechselte, zeigte seinen aufgewühlten Zustand.

"Aber?"

Wie sollte er es nur sagen? Was, wenn sie ihn verstieß? Blödsinn, beantwortete er seine Frage selbst. Er hatte ihr immer alles sagen können und sie hatte nie über andere Menschen gespottet. Aber er war nicht ,andere Menschen‘. Er begann, sich in den eigenen Gedanken zu verlaufen.

Seine Mutter griff nach seinem Kinn und drückte es sanft nach oben. "Schau mich an."

Zögernd blickte er sie an. Tränen standen in seinen Augen.

"Wer ist der Glückliche?", wollte sie wissen.

Mikes Augen weiteten sich. Einen Moment später erstickten Tränen seine Antwort. Tröstend nahm ihn seine Mutter in den Arm, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Aus Tränen der Angst wurden schließlich Tränen der Erleichterung. Schließlich versiegten sie. Schniefend löste er sich aus ihrer Umarmung. Fragend sah er sie an.

"Woher ich das wusste?"

Mike nickte nur.

"Ich glaube, diese Fähigkeit haben Mütter im Blut." Sie lächelte ihn an. "Zumindest die Mütter, die regelmäßig mit ihren Kindern sprechen. Und das haben wir immer getan." Sie wischte ihm mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht. "Und als du dann gestern so früh zu Hause warst und so gestrahlt hast ..." Die Rührung machte auch ihr jetzt zu schaffen. Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch. "Und wie du eben hereinkamst, umgab dich auch dieses Strahlen. Da brauchte ich nur zwei und zwei zusammenzuzählen."

"Bin ich so leicht zu durchschauen?"

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

"Für mich schon, Mike, mein Schatz." Zum ersten Mal hatte seine Mutter ihn nicht beim vollen Namen genannt. Der Tag war wirklich ereignisreich.

"Und wie heißt er nun?", wollte sie wissen.

"Timo", antwortete er glücklich. "Er heißt Timo."

Sie hatten danach noch eine ganze Weile zusammen gesessen. So ernsthaft und so lange hatte Mike sich noch nie mit seiner Mutter unterhalten. Er hatte viel über ihren Job beim Sozialamt gelernt und wie viele Tragödien sie schon erlebt hatte. Richtige Tragödien. Nicht das, was sie sonst bei ihren Samstagmorgengesprächen erzählt hatte. Da war zum Beispiel der Selbstmordversuch eines schwulen Jugendlichen, den sie gerade noch verhindern konnte. Sie hatte der Familie eine zweite Chance verschafft, die diese genutzt hatte. Noch immer hatte sie Kontakt zu dieser Familie.

Aber einem anderen Jungen hatte sie vor vielen Jahren nicht helfen können. Dessen Vater hatte ihn soweit gebracht, dass er von einer Autobahnbrücke gesprungen war. Mikes Mutter hatte sich das nie verziehen. Sie wusste natürlich, dass sie nicht jedem helfen konnte. Aber leichter machte das die Sache auch nicht.

Mike war in diesem Gespräch bewusst geworden, wie wenig er eigentlich über seine Mutter wusste. "Ich habe dir das doch aus gutem Grund nicht erzählt", hatte sie ihm erklärt. "Wie hätte ich dich damit belasten können?"

Mike war todmüde ins Bett gefallen. Mit den Gedanken bei Timo war er wenig später glücklich eingeschlafen.

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