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Shadowy - Episode 2

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Machen wir es kurz, „Shadowy Episode 2 - News Of The World“ ist eine weitere Episode aus meiner Shadowy-Reihe. Hier ist nun der erste von drei Teilen, und ich hoffe, das Lesen macht euch genauso viel Spaß wie mir das Schreiben. Über ein paar Kommentare würde ich mich freuen. Jede Reaktion, egal ob positiv oder negativ, ist besser als überhaupt keine!

Gleichzeitig möchte ich mich an dieser Stelle bei den wenigen Lesern bedanken, die sich, dann doch noch zu Episode 1, gemeldet haben. Ich hätte mich gefreut, wenn ihr euch beteiligen würdet, denn durch das Feedback wird eine Geschichte besser! Aber ich kann will niemanden dazu zwingen. Inzwischen sehe ich aber auch nicht mehr ein, weiterhin um Reaktionen zu betteln, es macht einfach keinen Sinn und ist auch viel zu frustrierend.

Allgemeines:

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, existierenden und nicht mehr existierenden Organisationen, Glaubensgemeinschaften sowie Staaten und Behörden sind weder wirklich zufällig, noch völlig unbeabsichtigt, sondern manchmal einfach unvermeidbar. Sie stellen aber immer die subjektive Meinung des Autors über diese Personen, Organisationen, Glaubensgemeinschaften, Staaten und Behörden dar.

Alle Rechte an den Personen, soweit möglich, liegen bei mir.

Das Letzte:

Ich möchte allen Lesern etwas bieten, und es gibt Zeitgenossen, die es lieben, nach Fehlern in Geschichten zu suchen. Auch an diese Menschen habe ich gedacht und wünsche nun viel Spaß mit dieser Geschichte!

He, das ist eine Herausforderung! ;-)

Aber bitte in diesen Fällen nur das Forum benutzen, da ich nicht jede Mail so ausführlich beantworten kann, wie es erforderlich und wünschenswert wäre.

1. - Some Kind Of Monster

Wer kämpft, kann verlieren

wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Bertold Brecht.

Campus-Occursus, Sonntag, 09.12.2035

Der grüne Koloss stürmte schon wieder an. Gerade eben war er unter der massiven Attacke von Julian und Lukas zurückgetaumelt, doch davon hatte er sich sehr schnell erholt und war nun nur noch wenige Meter von dem roten Hebel entfernt. Dieser Hebel würde über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Lukas war sichtlich ermüdet, längst bewegte er sich nicht mehr so katzenhaft elegant, wie er es gewöhnlich tat. Schweiß rann ihm über das Gesicht und in seinen Augen glaubte ich so etwas wie Resignation zu erkennen. Aber auch Julian erging es nicht besser, auch er war am Ende seiner Kräfte. Jedoch konnte man es ihm nur ansehen, wenn man ihn wirklich gut kannte. Noch immer schien er leichtfüßig den geradezu plump wirkenden Angriffen des Monsters auszuweichen. Immer wieder brachte er sich durch Ausweichen und geschickte Körpertäuschung, in eine günstige Position. So gelang es ihm immer wieder, schwere Treffer bei dem Grünhäutigen zu landen. Dieser schüttelte sich dann jedoch nur ein wenig, wie unter einer kalten Dusche, um sogleich weiter in Richtung des Hebels anzustürmen.

Julian ließ nun eine neue Serie von Tritten und Schlägen gegen den Oberkörper des Grünhäutigen los. Jede Betonwand wäre innerhalb weniger Augenblicke zertrümmert worden. Doch das Ungeheuer schwankte wieder nur ein wenig. Lukas machte sich indessen hinter Julian für einen weiteren Angriff bereit. Der begann in dem Moment, als der Grüne nach Julian schlug und dieser sich in „Phase“ retten musste, um dem Schlag zu entgehen.

Lukas sprang mit Anlauf und platzierte seine Füße genau im Gesicht des Monsters. Dieses geriet nun tatsächlich ins Taumeln, doch wieder nur für Sekunden. Lukas kam federnd hinter dem Grünhäutigen auf und wirbelte sogleich herum, um noch weitere Treffer zu platzieren. Doch das Monster hatte seine Chance erkannt und nutzte die Gelegenheit. Es stürzte sich seinerseits, mit einer letzten gewaltigen Anstrengung, nach vorne, entging damit Lukas Tritten und griff mit beiden Pranken nach dem Hebel. Mit einem kräftigen Ruck riss es ihn zu sich. Ein lautes Hupen erklang in der geräumigen Trainingshalle und es stand 3:0 - für Heiko.

Wieder war es uns nicht gelungen, Heiko mit „zivilisierten“ Mitteln den Sieg zu nehmen. Heiko war Pseudometabolist und einer der Mutanten die, auf ihre ganz spezielle Art, die Gesetze der Physik umgingen. Er hatte im Prinzip zwei Körper, einen Normalen und den Pseudokörper. Da aber nach geltender Physik zwei Körper niemals zur selben Zeit am selben Ort sein konnten, ging Heiko in Phase, wenn er seinen Pseudokörper manifestieren wollte. Es sah aus als „tausche“ er seinen Körper gegen den Pseudokörper aus, denn eine Verwandlung fand dabei nicht statt. Das grüne Monster war dabei eine seiner Lieblingskreationen, die er so erzeugen konnte.

Wir hatten ihn während der Auseinandersetzung mit „King Roy“ kennen gelernt. Damals, das heißt vor sechs Tagen, hatte er unter einem hypnotischen Block gestanden und für „King Roy“ gekämpft. Auch da hatten wir ihn nur aufhalten können, indem ich seinen Pseudokörper desintegrierte. Das mochte er allerdings überhaupt nicht, da er dabei fast seinen gesamten Vorrat an PSI-Energie verlor und dann eine gewisse Zeit benötigte sich zu regenerieren.

Er gehörte zu den Mutanten von „King Roy“, die sich entschlossen hatten, bei den Hoods zu bleiben. So war Sammy auf die Idee gekommen, er könnte doch mit uns ein wenig trainieren. Das Ergebnis dieses boshaften Vorschlages war, dass wir alle mittlerweile mehr oder weniger völlig fertig waren.

Den ersten Durchgang hatten Mischa und Remo gemacht. Da sie kaum Erfahrung mit dem ForceFight hatten, war das Ergebnis entsprechend ausgefallen. Doch auch Tom und mir war es nicht viel besser ergangen. Und nun waren auch Lukas, unser „Karate-Tiger“, und Julian, mein „Elbenkrieger“, gescheitert.

Seit Nico ein wenig in meinen Gedanken „geschnüffelt“ hatte war Julian nur noch der „Elbenkrieger“ und Lukas wurde sowieso von allen entweder mit „Ghost-Cat“ oder beim ForceFight als „Karate-Tiger“ tituliert.

Leise trat ich hinter Julian und schloss ihn in meine Arme, während er zusammen mit Lukas und Heiko, der nun wieder mit seinem echten Körper „getauscht“ hatte, den Kampf durchsprach. Sie hatten es ihm am schwersten gemacht, aber dennoch war klar, dass ein „normaler“ Mutant praktisch kaum eine Chance gegen Heikos Pseudokörper hatte.

Im Prinzip war er unverwundbar. Dies hatte uns Eric schon auf dem Schießstand demonstriert. Normale Geschosse richteten einfach nicht genug Zerstörung an. Heiko konnte die verlorene Energie locker ersetzen. Dies sah dann so aus, als ob er seinen Körper sofort heilen würde. Nur die wirklich schweren ZentiRaks konnten Heiko in Verlegenheit bringen. Bei deren Waffenwirkung verlor er erhebliche Mengen an „Pseudomaterie“, so dass er wirklich geschwächt wurde.

Letztlich sah es dann nach etlichen Schüssen so aus, als ob er schrumpfen würde. Etwas spöttisch nannte Eric dies dann auch „die Luft rauslassen“, aber auch das mochte Heiko überhaupt nicht, da das Ergebnis letztlich gleich war. Auch dann musste er warten, bis er wieder genug Energie zusammen hatte, um wieder einen Körper zu generieren.

Das Ganze war uns und auch Olaf, den wir noch hinzu gerufen hatten, ein Rätsel. Heikos Pseudokörper wurde aus Energie gebildet, soviel stand zumindest fest. Es war auch kein Körper im herkömmlichen Sinne aus Fleisch und Knochen. Ich assoziierte bei ihm viel mehr eine lebende Knetfigur. Während Heiko selbst in „Phase“ ging, materialisierte seine PSI-Energie zu dieser „Pseudomaterie“. Aus dieser bildete oder formte Heiko dann seine Geschöpfe. Da kam nicht nur mir unwillkürlich die Geschichte des Golems in Erinnerung.

Heiko selbst steckte währenddessen in „Phase“ in diesem Geschöpf. Für ihn war es, als würde er in ein Kostüm schlüpfen. Er fühlte und sah, was um ihn herum in der realen Welt passierte. Dennoch konnte ihm selbst, da er in „Phase“ war, nichts geschehen. Weder Hitze noch Kälte oder sonstige äußere Einflüsse schienen dem Pseudokörper etwas anzuhaben. Dies war auch der Grund, weshalb er für uns zum fast perfekten Trainingspartner wurde.

Hier war nun auch der Punkt, an dem Sammys Bosheit ins Spiel kam. Denn wenn wir Heiko nicht wirklich massiv angingen, hatten wir ganz offensichtlich keine Chance ihn aufzuhalten. Dies freute Sammy ungemein, da er angeblich das Gefühl hatte, wir hätten solch einen Dämpfer nötig. Tom bezweifelte aber gelegentlich, dass Sammy überhaupt Gefühle hatte.

Wie auch immer, nach Sammys Ansicht waren wir viel zu selbstsicher geworden. Besonders nach der „Aktion“ gegen „King Roy“ am letzten Montag. Jedoch – ein Kampf gegen Heiko, unter diesen eingeschränkten Bedingungen, war aussichtslos.

Ich zog Julian nun noch näher an mich heran und spürte den leichten Schauer, der dabei durch seinen Körper ging: »»Ihr habt euch wirklich phantastisch geschlagen und es sah mehr als nur beeindruckend aus. Du bewegst dich einfach unheimlich elegant und alles sieht so perfekt aus««, schwärmte ich Julian vor. Dabei sendete ich ihm die Bilder vom Kampf, wie ich ihn beobachtet hatte.

Julian schmunzelte ein wenig verlegen, er mochte es nicht so sehr, für einen Kampf gelobt zu werden. Doch daran musste er sich gewöhnen, er war unser bester Kämpfer im ForceFight. Lukas war gut, wirklich sehr gut und er brachte immer wieder neue Ideen mit ein. Jedoch, wie bei fast allem, war Julian in der Umsetzung einfach perfekt.

Inzwischen hatte ich mich sogar damit abgefunden, dass wir auch die nächsten Jahre wohl kämpfen mussten. Ende Oktober hatte Eric mir dies schon einmal klar gemacht. So lange wir eine Bedrohung für die Darwinianer darstellten, würden wir von ihnen bekämpft werden. Und das würde so lange gehen, bis sie uns, oder wir sie, besiegt hatten.

»»Werden wir denn wirklich ewig am kämpfen sein? Werden sie denn nie Ruhe geben?««, „hörte“ ich Julian fragen.

»»Was erwartest du denn? Wir sind eine Bedrohung für sie! Selbst wenn sie uns nicht angreifen, müssten wir es von uns aus tun. Das sind wir ihren Opfern, zu denen wir ja selbst auch gehören, einfach schuldig. Oder willst du in einigen Jahren eine Armee von „Homo Sapiens Superior“ aufmarschieren sehen? Die dann möglicherweise sogar PSI-Fähigkeiten haben?««

Alleine bei der Erwähnung der „Homo Sapiens Superior“ ging ein Zittern durch Julians Körper. Noch immer kämpfte er mit dem Wissen, dass er selbst zu dieser „Entwicklungsstufe“ gehören sollte. Umso fester schloss ich ihn in meine Arme, denn er sollte spüren, dass ich immer zu ihm stehen würde.

Nach wie vor hielten wir uns an die Vereinbarung, dass nur Julian alleine bestimmte, wer davon erfahren durfte. Die Wissenschaftler von NeckTech, die kurzzeitig in den Besitz einer Blutprobe von Julian gekommen waren, hatte Arne entsprechend instruiert. Außerdem mussten sie inzwischen einen Blockadechip tragen, der sie vor dem Sondieren eines Telepathen schützte. Einen solchen Chip trugen auch neuerdings alle Normalos unter den Hoods. Eine weitere Panne wie bei Thimo wollten wir einfach nicht riskieren.

Es hatte uns schon nicht sonderlich gefallen, dass Thimo die Bestätigung für unsere Reiki-Fähigkeit erhalten hatte, also dafür, dass wir eine Art „Heilung“ beherrschten. Wir wagten aber gar nicht daran zu denken, wie die Freien Mutanten darauf reagieren würden, wenn sie noch weitere Details über uns erfuhren. Alleine schon die Herkunft unserer Fähigkeiten, oder Näheres über Julian selbst, würde den Ideologen Auftrieb geben.

Die Hoods waren aber inzwischen schon viel zu sehr mit uns verbunden, als dass wir bei jeder Unterhaltung auf jede Kleinigkeit achteten. Doch viele kleine Andeutungen konnten irgendwann ein Bild ergeben. Deshalb war der Blockadechip unerlässlich, denn er verhinderte, dass fremde Telepathen sie belauschen konnten.

Gerade jetzt, wo sich eine Normalisierung unseres „Verhältnisses“ zu den Freien Mutanten abzeichnete, wollten wir nichts riskieren. Thimo war nach seiner Befreiung durch uns bei den Hoods geblieben. Nicht als Mitglied, sondern als „Sonderbotschafter“, wie Lukas es spöttisch nannte.

So wollten wir einen ständigen Kontakt zum Großen Rat aufrechterhalten. Außerdem sahen wir darin auch eine vertrauensbildende Maßnahme. Gerade nachdem wir „King Roy“ ausgeschaltet hatten und nun auch noch seinen Sektor kontrollierten, war dies notwendig geworden. Allen Mutanten sollte damit klar gemacht werden, dass wir den Großen Rat nicht bekämpfen wollten. Wir respektierten die Freien Mutanten und deren Großen Rat, selbst wenn wir uns nicht an ihre Große Konvention halten wollten.

Natürlich war es eine Gratwanderung. Nach Franks Worten erwarteten die meisten Mutanten von uns, dass wir nun gegen den Großen Rat vorgingen. Doch das sahen wir einfach nicht ein. Die hatten ihre Ansichten und wir eben unsere. So lange sie nicht versuchten uns ihre Ansichten aufzuzwingen, hatten wir keine Probleme mit ihnen. Im Moment waren diejenigen, die im Großen Rat Stimmung gegen uns machten, eine absolute Minderheit. Würden wir jedoch in die Offensive gehen, dann würde sich dies natürlich sehr schnell ändern.

»»Wie hatte doch Eric gesagt, „Kriege wurden noch nie gewonnen, man kann nur versuchen, die Verluste klein zu halten.“ Von einer Auseinandersetzung mit den Freien Mutanten hätten wirklich nur die Darwinianer etwas««, gab mir Julian Recht, der sich, wie inzwischen üblich, bei mir eingeklinkt hatte.

Das Problem mit Thimo war nur, dass wir ihn inzwischen wirklich mochten! Nur wussten wir nicht so recht, wie weit wir bei ihm gehen konnten. Er hatte sich sehr für unser Training interessiert, doch da hatte Frank dann sein Veto eingelegt. Es ist nicht so, dass Frank etwas gegen Thimo hätte, die beiden verstanden sich eigentlich sehr gut, jedoch war Franks Misstrauen gegenüber dem Großen Rat sehr hoch. Er konnte nicht vergessen, dass sie ihm nach seinem Unfall nicht geholfen hatten. Sie hatten einem Heiler sogar verboten, ihm zu helfen. Letztlich konnte und wollte er ihnen diesen „Bann“ nicht verzeihen.

Als nun Thimo realisierte, wie sehr sich die Leistungen von Nico und Frank gesteigert hatten, wollte er natürlich gerne wissen, wie dies möglich war. Beide trainierten inzwischen regelmäßig - das Qi Gong mit uns zusammen und das Teleportieren nach einem Plan, den Sammy aufgestellt hatte. Frank wollte aber um jeden Preis vermeiden, dass die Freien Mutanten näheres erfuhren, denn letztlich bestand noch immer die Gefahr einer harten Auseinandersetzung.

Wir hatten einige Zeit darüber diskutiert, aber in diesem Punkt war Frank wirklich extrem stur. Auch Eric war der Überzeugung, dass wir zuerst unsere „Hausmacht“, die Hoods, trainieren müssten. Es wäre fatal, wenn wir andere davon profitieren ließen, die uns später möglicherweise sogar noch schaden wollten.

Da also die beiden dagegen und keiner wirklich absolut dafür war, blieb es vorläufig dabei. Niemand von außen durfte Näheres über das Training erfahren. Thimo war zwar nicht sonderlich froh darüber, hatte jedoch Verständnis gezeigt. Er würde nichts tun, um Näheres über das Training zu erfahren, da er nur vermitteln und nicht spionieren wollte. Ich glaubte ihm dies und Frank eigentlich auch.

»»Ich auch!««, meldete sich Julian spöttisch zu Wort, »»Du denkst mal wieder zu viel.««

Noch immer lehnte er sich an mich und „tankte“ neue Energie. Der Kampf hatte ihn wirklich sehr mitgenommen und ich zweifelte so langsam daran, dass wir unser Nachmittagsprogramm noch erfüllen konnten.

»»Das können wir Tom und Lukas aber nun wirklich nicht antun. Wir haben es versprochen!««, mahnte Julian zu Recht.

Am Samstag vor einer Woche war es uns gelungen, Eric zum Telepathen und später sogar zum „Ghost“ zu machen, wie Lukas dies nannte. Zwar hatte es zwei Tage gedauert bis Eric schließlich „geistern“ konnte, doch jetzt war er ohne jeden Zweifel ein Mutant. Nun aber wollten wir versuchen, Tom und Lukas das Reiki „näher zu bringen“. Es hatte sich gezeigt, dass Robin, Frank und Eric das Reiki nur für sich selbst beherrschten. Ihre Möglichkeiten es auch auf andere wirken zu lassen, waren sehr eingeschränkt.

Wieder einmal war es Sammy, der nach Auswertung unserer Berichte aus Labor-23 darauf gestoßen war. Sowohl Julian als auch ich hatten praktisch unmittelbar nachdem wir das Reiki erhielten, auch andere behandeln können. Julian hatte es von Ralf, einem im Labor-23 verstorbenen Mutanten, erhalten, während ich es über Julian bekommen hatte. Schon kurz nachdem Tom gespürt hatte, dass ich anscheinend auch das Reiki beherrschte, war es mir möglich, es auf ihn und Lukas anzuwenden.

Doch Robin, Frank und Eric gelang dies nur sehr eingeschränkt. Wir hatten es zwar unterbewusst schon längst bemerkt, aber erst letzten Montag, als es um die Behandlung von Jan, Rene und Dorian ging, bewusst wahrgenommen. Ihnen gelang es lediglich, die Schmerzen zu neutralisieren und das obwohl zumindest Frank eigentlich mehr hätte tun können.

Frank war schon länger als die beiden anderen mit dem Qi Gong vertraut, und als Telepath war er es gewohnt, sich entsprechend auf Personen zu konzentrieren. Beides, sowohl das Qi Gong, als auch die entsprechende Konzentration, war aber erforderlich, um das Reiki so anzuwenden, wie wir es taten. Wenigstens entsprach dies unseren bisherigen Beobachtungen und Erkenntnissen. Bei sich selbst hatte er auch keine Probleme. Nur anderen konnte er offensichtlich nicht so recht helfen. Es gelang ihm kaum, die Reiki-Energie in anderen Personen fließen zu lassen.

So wie es im Moment aussah, war es nur Julian und mir möglich, das Reiki im vollen Umfang anzuwenden und zu übertragen. Sammy vermutete, dass es etwas mit unserer „speziellen“ Form zu tun hatte, wie wir zu Mutanten wurden. Dies wollten wir nun an Lukas und Tom ausprobieren. Wenn es uns gelang, beide zu vollwertigen Reiki-Heilern zu machen, würde dies die Theorie von Sammy stützen.

Außerdem mussten wir einfach sicherstellen, dass wir zur Not auch wirklich keine Heiler der Freien Mutanten benötigten. Es wäre einfach zu riskant, wenn nur Julian und ich das Reiki in der höchsten Stufe beherrschten und wir, oder die Hoods, auf fremde Hilfe angewiesen wären. Für Frank gehörte so ein Szenario bestimmt zum Schlimmsten, was er sich vorstellen konnte. Seine Erfahrung mit den Heilern und dem Großen Rat war für ihn ein wirkliches Trauma.

»»Da ist noch ein Punkt, auf den wir achten müssen. Thimo hat sich dafür interessiert, woher wir eigentlich so plötzlich kommen. Er hat dann Lukas ganz offen gesagt, dass der Große Rat sehr daran interessiert wäre««, teilte mir Julian fast beiläufig mit.

»»Davon weiß ich noch nichts! Hat er intensiv nachgeforscht?««

»»Nein, das nicht. Lukas meint, es habe sogar eher wie eine Warnung geklungen. Anscheinend ahnen oder vermuten da gewisse Leute etwas. Thimo will uns bestimmt nicht schaden.««

»»Davon bin ich auch überzeugt. Doch irgendwann wird auch dieser Teil unserer Geschichte rauskommen.««

»»Robin und Frank sind sich sicher, dass zumindest die Hoods dennoch zu uns halten werden««, versuchte er mich zu beruhigen.

Ich musste lächeln: »»Da habe ich eigentlich auch keinerlei Bedenken. Die Jungs sind einfach viel zu pragmatisch. Sie haben die Vorteile einer gemischten Gruppe erkannt. Da ist es ihnen sicherlich egal, weswegen jemand Mutant ist, ob geboren oder transmutiert wie wir.««

»»Und Thimo?««

Nachdenklich zog ich ihn noch fester an mich heran: »»Ich denke, Thimo hat da so eine Ahnung. Ich glaube nicht, dass er auf der richtigen Spur ist, aber er weiß sicherlich, dass wir keine „normalen“ Mutanten sind.««

»»Er hat NeckTech im Verdacht! Oder was meinst du?««, in Julians Gedanken schwang ein wenig Besorgnis mit.

»»Ja! Er interessiert sich sehr für die Verbindung zwischen uns und NeckTech««, sanft küsste ich seinen Nacken und war einfach nur froh, ihn bei mir zu haben.

»»Diese Verbindung ist auch sehr auffällig. Nicht nur die Freien Mutanten werden sich darüber wundern««, grübelte Julian.

2. - Keep Talking

Campus-Occursus, Sonntag, 09.12.2035

Nach dem Training waren wir in unser Schwimmbad „übergesiedelt“. Dieses befand sich unter der halbtransparenten Glaskuppel des Zentralbereichs unseres Wohnblocks. Die Kuppel selbst war kleiner als die des Zentralgebäudes, doch für unsere Bedürfnisse war sie mehr als ausreichend. Die gesamte Mannschaft hatte sich hier versammelt, auch Kim und Nico waren aus „Camelot“ herüber gekommen.

Kim, einer der „befreiten“ Mutanten von „King Roy“, war, wie Nico auch, Teleporter. Doch er beherrschte dazu noch die Exoteleportation. Im Mittelalter hätte man wohl gesagt, er könne Personen oder Dinge „weghexen“. In Wirklichkeit war es ihm möglich, Gegenstände oder Personen zu teleportieren, ohne dass er sich selbst dabei teleportierte. Er musste das Objekt nur fixieren, um es an einen beliebigen Ort zu befördern. Er würde die nächsten Wochen zusammen mit Nico hier auf dem Campus trainieren, dabei überwand er schon jetzt Entfernungen von über 400 Kilometern.

Kim war ein ruhiger, sehr zurückhaltender Typ mit einem etwas skurrilen Humor. Im Februar wollte er hier seinen 18. Geburtstag feiern. Kim und Nico waren, praktisch vom ersten Tag an, auf einer Wellenlänge. Sie verstanden sich unglaublich gut, aber mehr als Freundschaft schien es dennoch nicht zu sein.

Julian und ich lagen eng aneinander gekuschelt am Whirlpool. Tom und Lukas dösten neben uns, während Remo, Mischa und Heiko im großen „Zentrumspool» planschten. Kim und Nico testeten den Whirlpool und diskutierten über die letzten Ereignisse.

Von den 17 befreiten „Spartanern“, Thimo, Metin und Patrick zählte ich da nicht mit, waren acht zurück zu ihren alten Gruppen gegangen. Kim, Heiko, Danny, Jens, Igor und Pedro hatten sich fest den Hoods angeschlossen. Die verbliebenen drei machten uns allerdings ein wenig sorgen. Louis, Dirk und Marc waren, bevor sie unter Patricks Hypnoblock zu „Spartanern“ wurden, als „Freelancer“ unterwegs gewesen. Sie waren ohne jeden Zweifel starke Mutanten und gehörten zu den letzten acht, die wir im Thronsaal überwältigt hatten.

Weder wir noch „King Roy“ hatten es in der Aufregung bemerkt, aber Patrick hatte verhindert, dass die acht in den Kampf eingriffen – wenigsten so lange, bis Eric sie mit den Schockdrohnen ausgeschaltet hatte. Wir wären wahrscheinlich auch mit ihnen fertig geworden, doch ob es dann ohne Tote oder Verletzte ausgegangen wäre, dessen war ich mir inzwischen nicht mehr so sicher.

Louis zum Beispiel war Aerokinet, Teleporter und konnte sich mittels Occultation unsichtbar machen. Dabei wurde das Licht um seinen Körper herum gelenkt. Dies führte zwar nicht wirklich zu einer absoluten Unsichtbarkeit, doch der Tarneffekt war dennoch stark genug, um ihm im Kampf einen entscheidenden Vorteil zu bringen. So lange Louis sich nicht bewegte, war die Tarnung annähernd perfekt. Erst bei schnellen Bewegungen kam es zu dem „Wasser-Effekt“, wie wir es nannten.

Es sah dann aus, als ob sich eine Person aus absolut klarem Wasser bewegen würde. Man sah durch ihn hindurch, aber dennoch konnte man ihn schemenhaft sehen. In der Dunkelheit, oder bei Nacht, war er aber überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Die Occultation wirkte auch eingeschränkt auf die Teleortung, wir konnten ihn nur nebelhaft erfassen.

Bei Lukas musste Louis jedoch aufpassen, da dieser als Frequenzseher auch im Infrarotbereich sah. Direkt konnte Lukas ihn nicht sehen, jedoch die Wärmespur, die er hinter sich herzog, sah er. Auch der Fußboden, auf dem Louis stand, wurde erwärmt und begann dann bald die Wärme abzustrahlen. Bei Regen und besonders bei Schnee hatte er dann auch das Problem, dass er Fußspuren hinterließ oder der Regen von ihm abfloss und ihn so verriet.

Eine Kombination aus Occultation und Larualisation wäre wahrscheinlich nur noch psionisch zu erfassen. Da wir, wenn wir in „Phase“ gingen, noch immer schwach sichtbar waren, wäre die Occultation wirklich interessant. Neben Danny, auf den wir in der 16. Etage gestoßen waren, war Louis also der zweite unsichtbare Mutant, auf den wir trafen.

Dirk hingegen war da fast das absolute Gegenteil. Er war schon von Geburt an blind, dennoch konnte er besser sehen als so mancher Sehende. Er beherrschte die Teleortung in Perfektion! Dagegen waren wir alle armselige Stümper. Außerdem beherrschte er die Telekinese und eine Abart davon, die selbst Sammy bisher nicht kannte. Die Photokinese war eine Fähigkeit, die sich alleine auf Photonen beschränkte. Aber wie jede dieser spezialisierten Telekinese-Fähigkeiten war der Wirkungsgrad exorbitant.

Er konnte Lichtexplosionen mit gewaltiger Blendwirkung herbeiführen, und in diesem Fall war seine Blindheit für ihn ein gewaltiger Vorteil. Da die Teleortung nichts mit sichtbarem Licht zu tun hat, konnte er sich selbst nicht blenden. Aber die Blendwirkung war nur der harmlose Aspekt seiner Fähigkeit. Denn es war ihm auch möglich, diese Erscheinung bis zu Verbrennungen und laserartigen Effekten zu steigern. Die Jungs nannten ihn nicht umsonst „Flash“.

Marc Kazuya, das letzte unserer Sorgenkinder, beherrschte die Levitation wie Mischa, nur eben wesentlich besser. Noch immer war dies eine der Fähigkeiten, die mich mit am meisten reizte – fliegen wie Superman blieb noch immer nur ein Traum für mich. Seit wir die Larualisation beherrschten, konnte ich „wenigstens“ schweben, auch wenn ich dazu in „Phase“ gehen musste.

Außerdem war unser „Zerro“, wie ihn die Jungs nannten, auch noch Elektrokinet. Auch das war wieder eine spezialisierte telekinetische Fähigkeit. Marc konnte telekinetisch elektrische Ladungen verschieben. Dies bedeutet, er konnte in jedem Objekt Spannungen erzeugen, in dem er die Ladungsträger (Elektronen) verschob. Wenn er die Elektronen in einem Metallstab an einem Ende „zusammenzog“, so entstand zwischen den beiden Enden des Stabes eine gewaltige Spannung. Diese konnte sich gegen den Boden oder eine Person entladen. Er konnte sogar gewisse Vorzugsrichtungen vorgeben, in dem er einen Kanal aus ionisierter Luft erzeugte. Tatsächlich war Marc der stärkste und fähigste Elektrokinet, den wir kannten. Er musste sich kaum noch anstrengen, die Blitze ganz gezielt zu „schleudern“.

Seine Blitze hatten es zudem wirklich „in sich“. Danny, der unsichtbare Elektrokinet, auf den wir in der 16. Etage der Residenz getroffen waren, war an ihm gemessen nur schwach. Die Elektrokinese von „King Roy“ war im Vergleich zu Marc geradezu lächerlich.

Und das waren dann auch unsere Probleme. Die drei waren, im Vergleich zu den Hoods, wirklich wesentlich stärker und – sie wussten dies auch. Von Louis stammte der Spruch, dass sie „Mutanten erster Klasse“ wären und sich doch nicht den Hoods anschließen könnten. Nicos Frage, was wir, die „Iratus Lemurum“, dann wären, ließ er allerdings unbeantwortet.

Fakt war jedenfalls, dass die drei es nicht über sich brachten, sich den Hoods anzuschließen, da die eben „bestenfalls“ zweitklassig waren. Am liebsten hätten sie sich uns angeschlossen, wobei sie dann allerdings selbst sagten, dass sie uns damit „schwächen“ würden. Sie konnten oder wollten einfach nicht einsehen, dass auch schwächere Mutanten eine „Bereicherung“ sein konnten.

Andererseits wollten sie zusammenbleiben und waren auch zu einer Zusammenarbeit mit den Hoods bereit. Zurzeit wohnten sie in „Camelot“, unserer „roten Burg“, und unterstützten die Hoods nach Kräften. Sie legten jedoch sehr viel Wert darauf, und unterstrichen dies bei jeder Gelegenheit, dass sie keine Hoods waren. Wie das Ganze weiter gehen würde, darüber waren wir völlig unschlüssig. Während wir dieser Sache ein wenig fassungslos gegenüber standen, hatten Thimo und Frank nur gegrinst, während Robin dies als völlig normal ansah. „Die haben lange für ihren „Status“ gekämpft, da fällt es ihnen nicht leicht, ihn jetzt einfach aufzugeben“, war Robins einziger Kommentar.

»»Wir sind eben keine „geborenen Mutanten“, deswegen können wir das wohl nie so recht nachvollziehen««, klinkte sich Tom unvermittelt in meinen Gedanken ein.

»»Sind wir jetzt eigentlich Mutanten der 1a-Klasse oder der 0-Klasse?««, fragte Lukas spöttisch in die Runde. Ihn hatte dieser „Standesdünkel“ von Louis am meisten gestört, obwohl der an sich ein wirklich netter Kerl war.

»»Wir sind einfach eine Klasse für sich! Was soll das Ganze auch, wir wissen doch, dass im Prinzip jeder Mutant sich weiterentwickeln kann««, grummelte Tom ein wenig.

»»Das schon, nur was sollen wir sagen, wenn die drei auch gerne Näheres über das Training wissen wollen? Frank hat schon angedeutet, dass er dagegen ist, so lange die drei sich nicht fest zu uns bekennen. Andererseits möchte ich sie nicht verlieren oder gar gegen uns haben««, gab Julian zu bedenken.

»»Frank hat dies nicht nur angedeutet, er hat es ihnen klar gesagt! Und sie haben es auch genauso klar akzeptiert««, meldete sich Nico in die Runde.

»»Gefallen hat es ihnen aber sicherlich nicht!««, vermutete ich. In Nicos Grinsen sah ich dann eine Bestätigung.

»»Vielleicht sollten wir wirklich Pascals Idee noch einmal überdenken!««

Pascals Idee! Da brachte Julian etwas auf den „Tisch“, was wir eigentlich erst als Fernziel vorgesehen hatten. Eine Neugründung der „Bruderschaft“, die aus dem Zusammenschluss der Hoods und uns entstehen sollte. Im Prinzip würde es nur das bisherige System auf eine neue Basis stellen. Schon jetzt sahen die wenigsten Außenstehenden einen Unterschied zwischen uns und den Hoods. Nur den drei war es, da sie auf so etwas Wert legten, sofort aufgefallen. Wir waren eben nicht die Hoods. Robin war der Chef der Hoods, während es bei uns keinen Chef gab.

»»Außer unserem widerspenstigen „Alphamännchen“, der das nicht wahr haben will««, spottete Tom mal wieder.

»»Der Vorteil wäre ganz klar der, dass die drei und mögliche andere Kandidaten keinen Grund hätten, sich der Bruderschaft nicht anzuschließen. Mehr oder weniger deutlich hat es Louis auch gesagt.««

Ich musste grinsen, als ich Julians Bild des kleinen Franzosen, das er mit Louis assoziierte, empfing. Louis war zwar mit 1 Meter 75 nicht der Größte, aber ein kleiner Napoleon war er sicherlich nicht. Außerdem sah er wirklich schnuckelig aus, fand ich jedenfalls. Aber warum piekt mich Julian jetzt in die Seite? Es war doch völlig harmlos, was ich da dachte.

»»Lügner! Du dachtest gerade daran, wie du ihm den „Ghost“ machen könntest, und dabei ging es nicht um die „Eric-Methode“««, grummelte Julian gespielt entrüstet.

Doch als ich mich dann auf ihn wälzte und ihm einen Versöhnungskuss gab, grinste er auch schon wieder. Wir waren uns viel zu nahe, als dass wir deswegen wirklich besorgt wären. Julian würde ich sicherlich nie verlassen. Mochten da auch noch so viele schnuckelige Jungs meinen Weg kreuzen.

»»Apropos „Ghost-Machen“, war da nicht noch etwas im Bezug auf Reiki geplant?««, unterbrach Nico Julians und meine orale Interaktion.

»»Unser kleiner Spanner erhofft sich da wohl eine geile Show?««, stichelte Lukas, was bei Nico doch tatsächlich für einen ungesunden Rot-Ton sorgte.

Ich ließ von Julian ab und sah zu Nico und Kim hinüber. Nico hatte Kim die Hand in den Nacken gelegt, damit er an unserer telepathischen Unterhaltung teilnehmen konnte. Als ich dies sah, fiel mir natürlich wieder ein, was ich vor einer Woche bei Eric erreicht hatte. Andererseits war es nicht ein wenig gefährlich, wenn plötzlich Kim ebenfalls die Telepathie beherrschte?

»»Erstens ist er ja noch jung, also noch in der „Entwicklung“, und zweitens könnte die ja durch das Training hervorgetreten sein««, nahm Tom meinen Gedanken auf. Uns allen war klar, wie sinnvoll die Kombination von Telepathie und Teleportation war. Er konnte jederzeit einen Mutanten anpeilen und ihn aus einer Gefahr herausbringen oder mittels Telepathie gerufen werden, oder...

»»Zuerst seid aber ihr dran! Wir müssen einfach sicherstellen, dass wir nicht die Einzigen sind, die das Reiki voll beherrschen!««, mahnte Julian und da gab ich ihm Recht. Es wurde Zeit für die Tom- und Lukas -Aktion.

3. - Wir haben's getan

Campus-Occursus, Sonntag, 09.12.2035

Frank wird es sicherlich nicht so gut finden, aber wir haben's getan! Die Übertragung des Reiki auf Tom und Lukas ging wesentlich einfacher als wir angenommen hatten. Julian und ich brauchten überhaupt nicht viel Energie aufzuwenden, um dies zu bewerkstelligen. Möglicherweise war das Reiki bei ihnen aber auch schon latent vorhanden gewesen. Denn schließlich hatten anfangs Ralf und Julian, und dann später Julian und ich, das Reiki bei beiden angewendet.

Jedenfalls war die „Übertragung“ oder „Aktivierung“ bei ihnen gelungen und es war ein voller Erfolg. Sie beherrschten, im Gegensatz zu Frank, Robin und Eric, das Reiki wirklich vollwertig. Genügend „Opfer“ um dies zu erproben, hatten wir auch. Mutanten sind eben ein verdammt eitler Haufen. So stellten sich Heiko, Nico, Remo und Mischa gerne für „Studien“ zur Verfügung. Dies war aber wohl auch nicht das, was Franks Missfallen finden würde.

Nach der Reiki-Aktion war Kim unser nächstes „Opfer“. Und nach einer 30-minütigen, allerdings diesmal wirklich energiezehrenden Aktion gehörte Kim nun auch zum „Club der Telepathen“. Bei ihm war es sogar noch schwerer gewesen, die Telepathie zu aktivieren als bei Eric. Noch standen wir vor dem Rätsel, wieso dies so war. Doch letztlich zählt ja nur, was dabei heraus kommt und das war bei Kim eben die Telepathie. Nun hatten er und Nico noch etwas, was sie gemeinsam trainieren mussten. Kim war der bessere Teleporter und Nico der bessere Telepath.

Julian und ich waren danach zwar etwas ausgelaugt, aber auch sehr zufrieden. Langsam wurde es doch noch etwas mit unserer „Mutantenarmee“. Demnächst mussten wir aber auch Frank noch zu einem vollwertigen „Iratus Lemurum“ machen. Es wurde wirklich Zeit, dass auch er „geistern“ konnte.

Da es bei Eric gut geklappt hatte, sahen wir eigentlich keinen Grund, warum es bei Frank nicht gehen sollte - außer Frank selbst. Denn der war nicht sonderlich begeistert, als wir ihn am Tag zuvor deswegen angesprochen hatten. Im Moment war er mit Eric zusammen im Sektor unterwegs, um sich mit ein paar Freelancern zu treffen. Auch hier zeichnete sich allerdings ab, dass eine Zusammenarbeit nur in Form einer Neugründung der Bruderschaft möglich sein würde. Viele sahen jedoch nicht ein, dass in der neuen Bruderschaft auch „Normalos“ vertreten sein sollten. Dieser Punkt war aber weder für uns noch für die Hoods verhandelbar.

Lukas hatte diesen Umstand mit dem Argument bekräftigt, dass er einen Bruder ja auch nicht aus der Familie drängen würde, nur weil der kein Mutant war. Die Normalos gehörten zu den Hoods und waren dort ein wichtiger Bestandteil. Wenn es zu einer Vereinigung mit uns zur „neuen Bruderschaft“ kommen sollte, so würden auch weiterhin Normalos aufgenommen werden. Es wurde einfach Zeit, mit dieser Trennung aufzuhören, denn jeder konnte seinen Beitrag leisten.

Viele Mutanten taten sich mit der Technik recht schwer, so waren nach unserem Wissen die Hoods die einzigen, die den Versuch unternommen hatten, eine PSI-Falle der Darwinianer zu untersuchen. Und natürlich waren es da eben die „Normalos“, die sich um so etwas kümmerten. „King Roy“ hatte sich lediglich eine PSI-Falle „organisiert“, weil er dachte, uns damit in Bedrängnis zu bringen. Auch Sammy brachte uns ständig weiter und fand für viele unserer PSI-Fragen eine Erklärung.

Doch das waren Probleme, die noch warten mussten. Am Montag begann unsere Schule und es stand außer Zweifel, dass wir da auch auf ein paar Leute aus Sektor 20 treffen würden. Nach Möglichkeit wollten wir natürlich verhindern, dass wir als Mutanten geoutet wurden. Dies war auch ein Grund, weshalb wir fast nur noch nachts oder mit Hilfe eines Teleporters im Sektor 20 unterwegs waren. Offiziell war Campus-Occursus ein Erholungs- und Schulungszentrum von NeckTech, in dem Träger von neuartigen Implantaten untergebracht wurden. Das war eine Idee von Arne, um uns zu schützen. Wieder einmal sollten wir die Versuchskaninchen spielen, nur dass es diesmal reine Show sein würde. Schon längere Zeit befasste man sich bei NeckTech mit der Bionik, also der Kombination von Biologie und Technologie.

Dazu gehören bei NeckTech inzwischen die Informatik, Elektronik, Sensorik, Mechanik, Metallurgie, Biologie, Chemie, Physik, Medizin und sonst noch einige Wissenschaftsbereiche. Sie hatten inzwischen auch Nervenverstärker, Kraftverstärker, künstliche Skelette und anderen Kram entwickelt. Dazu gehörten dann auch optische Implantate oder Nerventransmitter für Gelähmte. Die Technik an sich war dabei keineswegs neu, nur bei NeckTech hatte man teilweise neue Wege beschritten und Ungewöhnliches kombiniert.

In einer Vorführung hatten wir vor zwei Tagen einen neuen Kampfanzug vorgestellt bekommen, wobei Kampfrüstung die treffendere Bezeichnung gewesen wäre. Das Ganze hatte große Ähnlichkeit mit einer Kombination aus Raumanzug und Hightech-Rüstung. Über Sensoren und Rezeptoren wurden die Bewegungen, die der Träger ausführen wollte, erfasst und durch Kraftverstärker auf den Anzug übertragen. Dieser Panzeranzug war also eine Art Roboter, in dem ein Mensch steckt.

Sprünge von mehreren Metern Höhe oder Weite waren durchaus möglich, selbst ohne PSI-Einfuß und ForceFight. Auch lief diese intelligente Rüstung praktisch von selbst. Der Träger übertrug nur die Information, wie er gehen wollte und die eigentliche Bewegung führte der Panzeranzug aus. Stundenlange Gewaltmärsche bei extrem hohem Tempo waren auch in schwierigem Gelände möglich. Wir waren mehr als nur beeindruckt, doch mit unserem ForceFight konnte auch so ein „Anzugträger“ nicht mithalten.

Doch das war auch nicht das eigentliche Ziel, denn diese Anzüge sollten es der gepanzerten Infanterie ermöglichen, gegen Roboter zu kämpfen. Wir hatten ja schon erlebt, wie schlecht der Mensch bei so einem Kampf abschnitt. Mit diesen Anzügen sollten die Chancen wieder etwas verbessert werden. Doch ausgeglichen war so ein Kampf natürlich noch immer nicht. Roboter hatten einfach nichts zu verlieren – der Mensch aber schon.

Die Vorführung sollte uns in der Hauptsache nur zeigen, was momentan Stand der Technik war. Aber es gab auch einen zweiten, sehr viel ernsteren Grund für die Vorführung. Arne hatte Informationen, nach denen die Darwinianer ebenfalls in dieser Richtung forschten. Doch sie entwickelten nicht erst so einen Anzug, sie „bauten“ das ganze Zeug dann gleich in den Körper ein. Er war davon überzeugt, dass die Darwinianer innerhalb eines Jahres damit beginnen würden, die Catcher entsprechend auszurüsten.

Wir würden also in absehbarer Zeit mit „Cyborg-Catchern“ oder „Biomechs“ zu rechnen haben. Vor kurzem hatte ich noch in einem Albtraum davon geträumt, nun rückte es langsam in den Bereich des Realen. Dass sich die Darwinianer etwas einfallen lassen mussten, war uns allen klar geworden.

Eric hatte damit begonnen, die „Verluste“ der Catcher im Sektor 20 nach dem 27. Oktober zu erfassen. Nachdem er alles, was als Übertreibung und Gerücht im Umlauf war, herausgenommen hatte, hatten die Darwinianer innerhalb dieser Zeit mindestens 50 Leute im Sektor 20 verloren. Dies muss auch für sie ein sehr harter Schlag gewesen sein.

Für Arne waren die „Biomechs“ dann auch der Ansatzpunkt. Wir sollten uns selbst als solche ausgeben. Dies würde noch von allerlei Gerüchten etwas gestützt werden. Arne war aber der Überzeugung, dass es für uns besser wäre, als NeckTech „Versuchsmodelle“ aufzutreten. So war die Gefahr, als Mutanten enttarnt zu werden, wesentlich geringer.

Es konnte uns leicht passieren, dass wir etwas taten, was für uns völlig normal war, aber kein normaler Mensch tun konnte – beispielsweise eben mal schnell ein paar Meter weit springen, wie ich es neulich beim Waldlauf gemacht hatte. Ich war zu faul gewesen, einen Umweg von 20 Metern über eine kleine Brücke zu machen.

Dass die Idee der Biomechs nicht so futuristisch war, wie wir anfangs dachten, hatte uns Arne an diesem Tag bewiesen. Arne gab offen zu, dass man auch bei NeckTech ähnliche Überlegungen angestellt hatte, also die „Verbesserungen“ direkt einzubauen.

Doch man entschloss sich letztlich dagegen, da das menschliche Skelett nicht dafür ausgelegt war, solche Belastungen auf Dauer zu ertragen. Der Verschleiß an den Gelenken und die Beanspruchung von Muskeln und Sehnen würde einen Menschen innerhalb weniger Jahre zum Invaliden machen. Außerdem war der Umfang der dafür nötigen operativen Eingriffe enorm.

Einer der anwesenden Wissenschaftler war jedoch der Auffassung, dass man mittels Nanotechnologie und Naniten das gesamte Skelett verstärken bzw. ersetzen könne. Dabei wäre der operative Eingriff relativ gering, da es eben Nano-Roboter wären, die die Hauptarbeit verrichten würden. Bei NeckTech wäre dies zwar zurzeit noch untersagt, aber die Darwinianer hätten in dieser Hinsicht sicherlich keine so großen Bedenken.

Julian und ich sahen uns nur schockiert an. Was würden Wissenschaftler wie er wohl für Experimente durchführen, wenn es keine Kontrolle gäbe? Der Typ verstand unsere Blicke durchaus richtig, versuchte uns aber auch seinen Standpunkt darzulegen.

Für ihn war einfach nur die Möglichkeit interessant, auch die Naniten, also die Nano-Roboter, in vielen Gebieten der Medizin einzusetzen. Jedoch sah er auch die Probleme: Die Roboter waren eben noch lange nicht so „nano“, wie er es sich wünschte. Gefäßverletzungen waren eher die Regel als die Ausnahme. Dadurch konnten Blutgerinnsel mit allen negativen Begleiterscheinungen auftreten.

Sein Vortrag dauerte fast zwei Stunden und war relativ objektiv, soweit wir das überhaupt beurteilen konnten. Von Arne erfuhren wir, dass er einer der führenden Köpfe im Bereich der Bionik war. Er war auch schon mehrfach von Darwinianern angesprochen worden, die ihm „weitreichende“ Forschungsmöglichkeiten angeboten hätten. Ein Grund mehr für uns, bei zukünftigen Begegnungen mit den Catchern, vorsichtig zu sein.

In Form von Prothesen wurden jedoch auch bei NeckTech auf bionische Implantate zurückgegriffen. Dann wurde aber mit Kraftbegrenzern gearbeitet, die die Beanspruchung im „natürlichen Bereich“ hielten. Wer solch ein Implantat trug, konnte damit in der Regel nicht viel mehr tun, als er mit natürlichen Gliedmaßen tun könnte.

Zuletzt hatte Arne uns dann unsere neue Einsatzausrüstung präsentiert. Diese Kampfanzüge waren verbesserte Versionen derer, die wir im Kampf gegen „King Roy“ eingesetzt hatten. Da die alten uns zu steif und schwer waren, hatte man nun auf andere Materialien zurückgegriffen. Die neuen bestanden aus künstlicher „Spinnenseide“. Diese war extrem reißfest und dennoch sehr leicht und, nebenbei, mindestens fünfmal so teuer.

Durch eine neue Zwischenschicht war die elektrische Durchschlagsfestigkeit um den Faktor 10 erhöht worden. Dies war, angesichts der Elektrokineten, mit denen wir in letzter Zeit schon mehrfach zu tun gehabt hatten, von uns sehr positiv gewertet worden.

Einen Härtetest mit Danny überstand die Puppe, die den Anzug trug, jedoch nicht. Da waren wieder einmal einige der Weißkittel sehr blass geworden. Aber zu unserem Trost konnten wir davon ausgehen, dass nur wenige Elektrokineten so stark wie Danny waren. Außerdem konnten wir einen Teil der Energie auch abwehren, wenn wir einen Angriff rechtzeitig bemerkten.

Die Temperaturbeständigkeit des Materials hatte sich aufgrund einer neuen Beschichtung auf über 1.200 Grad für maximal 10 Minuten erhöht. Dies wurde uns wenigstens garantiert - »Ansonsten gibt es das Geld zurück«, scherzte Arne. Eine weitere Schutzschicht sollte uns vor Strahlung bewahren, falls Julian mal wieder Materie annihilierte.

Nur wenige wussten, dass ich dies inzwischen auch konnte, und dabei sollte es auch bleiben. Wir galten ohnehin schon als gefährlich, da musste nicht auch noch jeder wissen, dass Julian und ich „psionische Zwillinge“ waren.

Ansonsten waren alle möglichen Stellen noch durch Protektoren zusätzlich verstärkt, was uns beim ForceFight sehr entgegen kam. Mit Helm und den Handschuhen entstand fast ein kleiner Raumanzug, wobei das Ganze sehr martialisch und fast bedrohlich wirkte. Ich hoffte nur, dass wir diese Ausrüstung nicht so schnell benutzen müssten. Am Montag begann jedenfalls erst einmal die Schule und da würden wir sie sicherlich nicht benötigen.

4. - Mad World

All around me are familiar faces

Worn out places - worn out faces

Bright and early for their daily races

Going nowhere - going nowhere

Their tears are filling up their glasses

No expression - no expression

Hide my head I want to drown my sorrow

No tomorrow - no tomorrow

And I find it kinda funny, I find it kinda sad

Donnie Darko - Gary Jules (Orginal -- Tears For Fears)

Schule bei Paradise City, Montag, 10.12.2035

Den Lärm vernahmen wir schon vom Parkdeck aus und es hörte sich nicht wie eine freundliche Unterhaltung an. Es war kurz vor acht Uhr. Wir hatten gerade unseren Van in der untersten Ebene des Parkdecks abgestellt und waren auf dem Weg zum Schulgebäude, wo um 8 Uhr 30 der Unterricht beginnen würde. Dem Lärm nach zu urteilen handelte es sich um eine Gruppe, die da herumbrüllte, und dies schon am ersten Schultag des neuen Trimesters.

Wir folgten weiterhin dem gepflasterten Weg, der sich zwischen Bäumen und Büschen dem großflächigen, niedrigen Schulgebäude entgegenwand. Die Stimmen wurden lauter und Lukas, der sofort auf Teleortung gegangen war, lieferte uns die ersten Informationen. Eine Gruppe von acht Personen umringten einen Einzelnen, der immer mal wieder von einem der Umstehenden weggestoßen wurde. Zwei Personen standen etwas außerhalb des Kreises und schienen die Sache zu beobachten.

»... haben dir doch gesagt, dass du dich hier nicht mehr blicken lassen sollst. Du gehörst nicht hier her!«

»»Dass es immer und überall so „nette“ Leute gibt, die anderen beim Zurechtfinden helfen wollen««, vernahm ich Julians ironische Bemerkung.

Doch so, wie Tom gerade in die Richtung der Jungs sah, die abseits des Weges bei ein paar Eichen standen, war er nicht in Stimmung für Ironie. Der Junge, der von den anderen umringt wurde und nach deren Ansicht nicht hier her gehörte, war ca. 17 Jahre alt, sehr schlank, hatte kurzes strubbeliges Haar und unheimlich traurige Augen. Ach ja, anhand seiner wirklich schwachen Signatur erkannten wir – er war ein Mutant.

Einer der Jungs hatte ihm den Rucksack entrissen und auf einen Ast der alten Eiche geschleudert, was von dem Gegröle der Umstehenden begleitet wurde. Dieses verstummte jedoch augenblicklich, als sie uns bemerkten.

Vielleicht passten wir nach ihrer Ansicht auch nicht hier her? Aber im Moment schienen sie nur etwas irritiert von unserem Einheitslook zu sein. Wieder trugen wir unsere schwarzen Lederjeans, T-Shirts und knielange Mäntel, und dass wir außerdem „die Neuen“ waren, erkannten sie natürlich sofort.

»»Tom! Wir wollten uns zurückhalten!««, versuchte ich noch diesen etwas zu bremsen. Doch wenn es um so etwas ging, konnte man Tom eigentlich nicht bremsen. Aufgrund seiner und Lukas Vergangenheit reagierte er sehr empfindlich, wenn jemand schikaniert wurde. Einer gegen acht war schon extrem ungerecht, nicht nur nach Toms Überzeugung.

»»He – das sind „Drachen“! Auf ihren Jacken ist das Symbol der Drachen.««

OK, da hatte Lukas wohl Recht, so machte auch deren Frisur einen Sinn. Ein Teil der Jungs trug so was wie einen Irokesenschnitt. Der Streifen war nur ca. zwei Zentimeter breit und die Haare selbst auch nur unwesentlich länger. Dafür waren sie zu kleinen Spitzen geformt und „verkleistert“, mit was auch immer. Es sollte wohl einen Drachenkamm darstellen, der unterschiedlich gefärbt war.

Was die Sache für uns etwas problematisch machte, war die Tatsache, dass die Drachen eine Gang aus Sektor 20 war. Genauer gesagt, sie waren unsere „Nachbarn“ und kontrollierten Sektor-17. Dieser grenzte südlich an unseren Sektor-6. Eric bemühte sich, zusammen mit Robin, mit ihnen ins Gespräch kommen. Doch wenn die sich so benahmen, bezweifelte ich, dass Gespräche einen Sinn haben würden.

Wir waren Tom gefolgt, der den Weg verlassen hatte und langsam auf die Jungs zuging. Auch ihr Opfer, der, wie ich inzwischen durch Sondieren erfahren hatte, Benny hieß, war auf uns aufmerksam geworden. Doch es war offensichtlich, dass er sich von uns keinerlei Hilfe erwartete, denn jetzt sah er noch trauriger und resignierter aus als zuvor. Die beiden, die etwas abseits standen, hatten sich uns nun auch zugewandt.

Wenn mich nicht alles täuschte, mussten dies Boris und Manuel sein, der Chef-Drache und sein Stellvertreter. Der Name „Drachen“ kam von Boris, da er Drakon hieß. Bisher hatten wir eigentlich fast nur positives über ihn und seine Drachen gehört. Einzig die Tatsache, dass sie Mutanten nicht sonderlich mochten, hatte uns etwas gestört. Jedoch hatten sie zu den Hoods ein erfreulich entspanntes Verhältnis gehabt. Besonders nachdem wir „King Roy“ ausgeschaltet hatten, waren sie sehr entgegenkommend gewesen.

»Hallo! Ihr seid die NeckTech-Jungs?«, begrüßte Boris uns entspannt und recht freundlich.

»»Immerhin hat er nicht „Biomechs“ gesagt!««, lästerte Julian.

Tom hatte jedoch nicht seinen „diplomatischen Tag“, eigentlich war er immer sehr umgänglich. Brummig, aber umgänglich, meistens sogar eher zurückhaltend. Meistens heißt aber eben auch „nicht immer“ und in diesem Moment war er es definitiv nicht.

Ohne Boris überhaupt eines Blickes zu würdigen, wandte er sich an Benny: »Hast du Probleme mit denen?«, fragte er mit ruhiger, sehr freundlicher Stimme.

Die Reaktion war erstaunlich! Die Drachen und ihr Anhang wichen etwas zurück, so dass sich der Kreis leicht öffnete, und in Bennys Augen erkannte ich so was wie Erstaunen und einen Funken von Hoffnung.

Tom war offensichtlich nicht auf ein Gespräch mit Boris aus. Dessen Gesicht hatte inzwischen jede Freundlichkeit verloren, dafür starrte er zuerst Tom und dann Lukas überrascht an. Da sein muskulöser Körper sich nun bedrohlich anspannte, versuchte ich die Sache etwas abzukürzen.

»Was habt ihr für ein Problem mit Benny, dass ihr gleich zu acht gegen ihn anrücken müsst?« Bewusst hatte ich Bennys Namen genannt, dies gab ihnen etwas zum nachdenken. Benny jedoch auch, denn der sah uns ebenfalls etwas erstaunt an.

»Der Kerl ist kein Mensch, er ist ein Morlock, ein Monster und er hat hier nichts zu suchen!«, rief einer aus der Gruppe.

»Oh Ja! Jetzt wo du es sagst, erkenne ich es auch! Das ist ja wirklich ein ungeheuer mächtiges, geradezu furchteinflößendes Monster«, entgegnete Tom höhnisch.

Aber auch ich fand die Sache nun mehr als nur lächerlich. Gut, wir spürten, dass Benny ein Mutant war, doch so schwach, wie seine Signatur war, bezweifelte ich, dass er es selbst wusste. Da die Stärke der Signatur mit seiner Kapazität zusammenhing, konnte er nicht stark sein.

»»Ich kenne keine PSI-Fähigkeit, die mit so wenig Energie etwas zustande bringt. Wenigstens nichts, was ein „Normalo“ bemerken würde««, gab mir Julian Recht.

»OK, das war jetzt unheimlich witzig! Wo aber ist euer Problem?«, Lukas versuchte es mit etwas mehr Diplomatie. Er ging an Tom vorbei und betrat den Kreis, den die Drachen noch immer bildeten. Ohne auf die Umstehenden zu achten, legte er Benny beruhigend die Hand auf die Schulter: »»Der ist völlig durch den Wind! Er zittert und hat tierische Angst««, ließ er uns wissen.

Boris schien diese Entwicklung nicht sonderlich zu gefallen: »Was geht euch das an? Er ist ein Morlock und hat hier nichts verloren! Mehr gibt es da nicht zu sagen«, seine Stimme klang dabei sehr genervt.

Noch während Boris sprach, war Lukas aus dem Stand zu einem Ast, der sich zwei Meter über ihm befand, gesprungen. Mit einer spielerischen Bewegung zog er sich hoch und kletterte mit fließenden Bewegungen bis zum Rucksack. Mit einem Salto sprang er aus ungefähr sechs Metern Höhe auf den Boden. Ohne auch nur auffällig schneller zu atmen, reichte er Benny den Rucksack: »Ich glaube, das ist deiner.«

Tom lächelte Boris kalt und drohend an und dieser verstand die Drohung, die in dieser Aktion steckte. Die Gerüchte über unsere „Modifikation“ waren offensichtlich schon im Umlauf, und Lukas hatte auf diese Art für Klarheit gesorgt. Da Boris uns als die NeckTech-Jungs bezeichnete, glaubte er jetzt eine Ahnung zu haben, was dies bedeuten konnte. Zum Glück hatte es sich Lukas wenigstens verkniffen, die sechs Meter in einem Sprung zu überwinden.

Mit einem wütenden Blick in meine Richtung, zogen sich Boris und seine Jungs kommentarlos zurück. Auch einige andere Mitschüler, die sich zwischenzeitlich eingefunden hatten, gingen leise diskutierend auf das Schulgebäude zu. Aber wieso sah Boris mich so wütend an, ich habe doch nichts gemacht?

»»Alphamännchen erkennen sich eben! Der wusste, dass du unseres bist««, grinste Tom nun wieder wesentlich besser gelaunt.

»Danke, aber das hättet ihr lieber nicht tun sollen, Boris kann sehr nachtragend sein, in solchen Sachen«, sagte Benny schüchtern. Dies war überhaupt das erste Mal, dass er etwas sagte.

»Ist schon OK. Da gibt es noch mehr, die uns nicht mögen, wir sind das inzwischen gewohnt«, lächelte Lukas und zog Benny in Richtung Eingang.

»Wie kommt er nur auf diese blöde „Morlock“-Idee?«, fragte Julian und sah Benny dabei ernst an.

Dieser zuckte nur ein wenig mit der Schulter, doch instinktiv spürte ich, dass er da eine sehr konkrete Ahnung hatte. Aber bei dieser minimalen Kapazität, was konnte er da gemacht haben?

Drei andere, ebenfalls schwarz gekleidete, Jungs folgten uns in einem sicheren Abstand und tuschelten miteinander. Wie noch einige andere Mitschüler konnte ich auch sie nicht richtig sondieren. Etwas in oder um die Schule herum schien zu stören. Dass wir hier mit Mutanten zu rechnen hatten, darauf waren wir von Frank schon vorbereitet worden. Etliche Mutanten gingen hier mit Stipendien zur Schule, denn die Gebühren konnte sich niemand aus Sektor 20 leisten. Sicherlich war dies bei Benny genauso.

Auch wir hatten offiziell ein Stipendium, wobei wir als NeckTech-„Produkte“ galten. Darauf hatten wir uns einzustellen, aber es gab uns auch ein wenig Sicherheit. Denn früher oder später wäre so etwas wie die Aktion von Lukas ohnehin geschehen.

Langsam wurde es aber wirklich Zeit, wenn wir nicht noch mehr auffallen wollten. Im Gebäude angekommen, trennten wir uns von dem noch immer leicht mitgenommenen Benny und suchten unseren ersten Kursraum auf. Dort trafen wir dann auch Boris und Manuel wieder, die aber noch immer nicht sonderlich freundlich zu uns sahen.

{:-:}

Die erste Doppeltstunde Geographie hatte begonnen, und der Lehrer hielt zusammen mit dem Holotrainer eine Lehrveranstaltung ab. Er bevorzugte ganz offensichtlich den Stil einer Quiz-Show. Der Holotrainer fungierte dabei als eine Art Stichwortgeber und stellte somit sicher, dass alle vorgeschriebenen Lernziele eingehalten wurden. Auch während des Unterrichts stellte dieser immer wieder Kontrollfragen, die auf unseren Displays erschienen. Das alles wurde von der KI protokolliert und ausgewertet und ergab dann unsere Punkte, die auf unseren ID-Karten sogleich verbucht wurden.

Wer im Unterricht ein wenig eindöste, wurde unauffällig vom System durch einen Vibrationsalarm in der Sitzfläche zurück in die Realität gebracht. Außer den dadurch verpassten Punkten, hatte dies jedoch keine Konsequenzen. Nur falls das System permanente Unaufmerksamkeit diagnostizierte, war ein Gespräch beim Schulpsychologen fällig.

Wie nicht anders zu erwarten, war der Stoff nicht sonderlich anspruchsvoll. Noch war es mehr oder weniger nur eine Wiederholung dessen, was schon einmal durchgenommen wurde. Hier zeigte sich dann der Vorteil eines gesamteuropäischen Bildungssystems. Auch die Holotrainer, die mich in Afrika unterrichtet hatten, hielten sich an den vorgegebenen Plan. Der Vorteil der menschlichen Lehrer war nur der, dass sie wesentlich flexibler auf Fragen eingehen konnten.

Dementsprechend galt der Spruch: „Der unterrichtet wie ein Hologramm“ auch als üble Beleidigung für Lehrer, die etwas auf sich hielten. Dieser Lehrer gab sich jedenfalls Mühe, auch wenn er nur eine Wiederholungsstunde abhielt. Nach vier Wochen Unterrichtspause fing man auch hier eben sehr gemächlich an.

Auch Julian, Tom und Lukas, die aus meinen „Erinnerungen“ schöpfen mussten, würden mit diesem Stoff keine Probleme haben. Ich hatte jedenfalls genügend Zeit, mir unsere beiden „Kontrahenten“ näher zu betrachten. Boris war 18, 1 Meter 88 groß, fast 90 Kilogramm schwer und wirklich sehr muskulös. Er hatte blaugraue Augen, eine Narbe über dem rechten Auge, und sein Drachenkamm war Blauschwarz.

Eigentlich machte er einen sehr intelligenten Eindruck, was nicht erstaunlich sein sollte, da auch er nur über ein Begabten-Stipendium hier sein konnte. Selbst Sportler mussten eine gewisse Intelligenz vorweisen, wenn sie ein Stipendium bekommen wollten. Alleine die sportliche Leistung reichte hier in Europa nicht aus, im Gegensatz zu einem anderen Teil der Welt, wo selbst ein Neandertaler auf ein College gehen konnte, sofern er gut im Football war. War das jetzt überhaupt fair gegenüber dem Neandertaler?

Boris´ Nachbar Manuel war mit 1 Meter 86 etwas kleiner und mit ungefähr 85 Kilogramm auch leichter als Boris. Ansonsten glichen sie sich wirklich auffällig. Man könnte sie fast für Brüder halten. Im Gegensatz zu den anderen Drachen trug Manuel sein braunes Haar schulterlang und offen.

Etwas an dem Verhalten der beiden irritierte mich so sehr, dass ich beinahe die Antwortzeit für eine der Kontrollfragen überschritten hätte. Immer wieder sah ich zu den beiden und wusste einfach nicht, was mir da so seltsam erschien. Die Art, wie sie sich gaben, Haltung und Körpersprache, etwas daran irritierte mich.

»»Ich glaube, die beiden sind mehr als nur gute „Freunde“««, half mir Julian, der neben mir saß und wieder einmal bei mir „mitdachte“, auf die Sprünge.

Konnte das sein? Frank hatte so etwas nie erwähnt, er sprach von den „Drachen“ immer als einer Hetero-Gang, die weder etwas mit Schwulen an sich und schon gar nicht mit „schwulen Mutanten“ zu tun haben wollte. Wie passte das zusammen?

»»Gar nicht! Der Kerl ist einfach nur ein Arschloch««, selbst über Telepathie klang der Groll, den Tom gegen Boris empfand, extrem bedrohlich.

»»Warten wir doch mal ab! Wer weiß, vielleicht haben wir nur einen schlechten Start gehabt. Benny scheint auch nicht ganz so harmlos zu sein, wie es den Eindruck machte««, versuchte ich Tom ein wenig milde zu stimmen.

»»Also komm, Mike! Bei der geringen Kapazität? Was soll er denn da überhaupt machen können?««, protestierte Lukas und steigerte meine Verwirrung noch mehr.

Julian brachte es dann auf den Punkt: »»Es ist doch eigentlich nichts passiert, außer, dass wir einen nicht gerade unauffälligen Start hatten.««

Da hatte Julian sicher Recht, unauffällig war unser Start sicherlich nicht. Und etwas anderes als Abwarten blieb uns dann sowieso nicht.

{:-:}

Wieder lag eine Doppelstunde hinter uns, diesmal war es EuroSpeak, die neue europäische Amtssprache. Diese wurde nach der März-Revolution 2023 als neue Einheitssprache eingeführt. Die meisten europäischen Staaten, außer einem, hatten genug von der angelsächsischen Bevormundung. EuroSpeak war eine Plansprache, das heißt, sie war wie das Esperanto eine künstliche Sprache. In ihr werden die einzelnen Wortelemente ohne Veränderung aneinandergefügt. Allerdings basierte sie zu einem Teil auch auf dem Englischen, jedenfalls klangen viele Begriffe ähnlich, auch wenn sie anders geschrieben wurden.

Nun hatten wir aber erst einmal eine Stunde Pause, der nächste Kurs würde um 13 Uhr beginnen und uns die Mysterien der Physik näher bringen. Wir waren unterwegs ins Zentrum dieser noblen Bildungsanstalt. Genauer gesagt auf dem Weg zur Mensa, die sich im dritten Obergeschoss im Zentrum dieses achteckigen Gebäudes befand.

Der Raum war groß, ungefähr 40 Metern im Durchmesser, und von einer flachen Glaskuppel überdacht. An den Wänden befanden sich Ausgabeautomaten für die Speisen und Getränke. Je nach finanziellem „Hintergrund“ gab es unterschiedliche Speisen zur Auswahl.

Das Basismenü war für alle frei. Wer etwas anderes haben wollte, musste einen Aufpreis bezahlen. Subtil war jedoch die Anzahl und Verteilung der Automaten. Die für das Basismenü standen so dicht beisammen, dass immer Gedränge entstand, selbst wenn nur zehn Personen sich dort bedienen wollten. Die anderen Automaten waren wesentlich lockerer gruppiert. Wer sich nur das Basismenü leisten konnte, stand also länger am Automaten und somit im „Rampenlicht“.

Im Zentrum des Raumes, genau im Zenit der Kuppel, war ein mit Pflanzen umsäumter Brunnen. Größere und kleinere Tische waren um den Brunnen gruppiert. Dazwischen verteilt standen kleinere Blumentröge, die dem Raum eine angenehmere Atmosphäre geben sollten.

Als wir die Mensa betraten, wurde es auffällig still im Raum. Instinktiv gruppierten wir uns um und erwarteten einen Angriff, der natürlich nicht erfolgte. Zum Glück war Arne nicht in der Nähe, der uns wieder eine ausgewachsene Paranoia bescheinigt hätte. Nur wenige der Anwesenden hatten dieses Abwehrverhalten überhaupt bemerkt und reagierten etwas erstaunt. Wir waren eben inzwischen schon so eingespielt, dass solche Reaktionen ganz automatisch erfolgten, wenn sich auch nur einer von uns bedroht fühlte oder sonst eine Gefahr „witterte“.

Dieses synchrone Verhalten von uns schien jedenfalls diejenigen, die es bemerkt hatten, ein wenig nachdenklich zu stimmen, so interpretierte ich jedenfalls den Blick von Boris. Ohne weiter auf die Anwesenden zu achten, suchten wir uns das heraus, was wir wollten. Als NeckTech-„Produkte“ hatten wir keinen Grund, auf den Preis zu achten, ein weiterer Vorteil unserer „Tarnung“. Die Leute hier waren sicherlich intelligent genug, dass sie dies begreifen würden.

Doch jetzt kam das nächste Problem: Wo sollten wir uns hinsetzen? Auch hier herrschte offensichtlich Gruppenzwang. Den Tisch mit Boris und seinen Leuten hatte ich schon lange ausgemacht. Er saß mit seinen Leuten nahe am Zentrum, wo es ruhiger und gemütlicher war. Aber dann gab es noch etliche andere Gruppierungen, die wir auf die Schnelle nicht auch noch sondieren konnten. Während wir scheinbar auf Tom warteten, der sich auch extra viel Zeit ließ, versuchten wir einen Überblick zu bekommen. Ziemlich weit hinten, in einer stillen Ecke, was angesichts eines runden Saales etwas seltsam erscheinen mag, jedenfalls weit ab vom Zentrum, saß Benny alleine an einem Tisch. »»Was meint ihr?««

»»Warum nicht? Dann können die Leute hier sich wenigstens wieder normal unterhalten««, spottete Julian und wir machten uns auf Benny zu besuchen.

Doch der schien nicht sonderlich erfreut über unseren Besuch zu sein. Nickte dann aber doch, als ich ihn fragte, ob hier noch frei wäre. Der Kleine schien schon wieder furchtbar nervös zu sein.

»He, die haben euch extra einen Tisch im Zentrum frei gehalten«, flüsterte Benny und nickte in Boris´ Richtung.

»“Wer zu hoch fliegt, verbrennt sich die Flügel!“ Das hat schon Ikarus feststellen müssen. Wir haben kein Interesse an einem Platz im „Zentrum“«, grummelte Tom nicht sonderlich gut gelaunt.

»Sind Ikarus nicht die Federn ausgefallen? Die waren doch nur mit Wachs befestigt?«, fragte Benny etwas erstaunt.

»Ja schon, aber wenn ich sage: „Wer zu hoch fliegt, dem fallen die Federn aus!“ Dann hört sich das doch verdammt dämlich an, oder?« Wenigstens musste Tom nun selbst schmunzeln.

So hatte ich ihn noch nie erlebt. Alleine die Erwähnung von Boris schien ihm auf die Laune zu drücken.

»»Die beiden kennen sich von früher, waren eigentlich sogar mal befreundet««, meldete sich Lukas. Tom tat so als würde er es nicht hören und scherzte noch immer mit Benny.

»»Was ist passiert? Wieso jetzt diese Ablehnung?««, wollte nun auch Julian erfahren. Schließlich würden wir nicht nur hier an der Schule auf Boris treffen.

Lukas verzog ein wenig das Gesicht, dennoch erzählte er nun: »»Als Tom ihm sagte, dass er schwul und mit mir zusammen ist, da kam es zu ein paar unschönen Dialogen««, informierte uns Lukas weiter.

»»Wie schlimm waren sie, diese “unschönen Dialoge“?««, fragte Julian betroffen.

Aber Lukas schüttelte nur den Kopf: »»Die beiden hatten sich immer gut verstanden, bis zu diesem Tag. Boris ist völlig ausgerastet, Tom und ich sind dann gegangen. Es machte keinen Sinn mehr, mit Boris reden zu wollen.«« Tom schien es nicht sonderlich gut verkraftet zu haben, ausgerechnet „seinen alten Freund“ Boris wieder zu treffen.

»»War das noch vor dem „Zwischenfall“ mit Toms Vater?««, wollte ich nun wissen. Ich musste das ganze ja wenigstens zeitlich ein wenig einordnen können.

»»Ja, die Sache ist mehr als zwei Jahre her. Bald darauf habe ich dann seinen Vater erschlagen und wir haben uns abgesetzt««, erklärte Lukas relativ nüchtern.

Diesen Teil ihrer Geschichte hatte er schon einmal erzählt. Die Sache wurde als Notwehr klassifiziert und die beiden lebten völlig ohne Grund zwei Jahre im Untergrund, bevor die Catcher sie fingen und in das Labor-23 brachten.

Plötzlich fiel eine Gabel klirrend in einen Teller. Benny sah uns völlig entgeistert an und ich wusste einfach nicht, was er hatte. Während der Unterhaltung hatten wir völlig normal gegessen. Bei Telepathie war die Regel „mit vollem Mund spricht man nicht“ außer Kraft gesetzt.

Dann fühlte ich ein sehr schwaches und zaghaftes Ziehen. Ein äußerst mäßig begabter Telepath versuchte mich zu sondieren. Wäre ich ein echter Mutant, ich würde dies wohl schon als Beleidigung ansehen.

Als ich aufsah, blickte ich in die braunen, erschreckend weit geöffneten Augen von Benny. Damit wäre wenigstens etwas geklärt. Benny war der miserabelste Telepath, den ich bisher getroffen hatte. Selbst Eric, der erst durch mich zum Telepathen geworden war, hatte von Anfang an mehr zu bieten gehabt. Leichte Schweißperlen standen auf Bennys Stirn, als ich zu ihm sagte: »He Benny, lass das, so geht es nicht!«

»Ihr seid Telepathen? Richtige Telepathen und auch Biomechs wie alle sagen?«

»Benny, frag einfach nicht, OK? Offiziell sind wir das, was alle glauben!« Toms Stimme war nun eindringlich, aber keinesfalls bedrohlich. Benny sollte wissen, dass wir ihm nichts tun würden.

Der grinste plötzlich über das ganze Gesicht: »Wow, wie haben die das gemacht?« Er glaubte offensichtlich, dass NeckTech uns zu Telepathen gemacht hatte. Obwohl er ein „geborener“ Mutant war, schien ihm der Gedanke sogar zu gefallen.

Julian sah Benny ernst an: »He, das ist nicht bloß ein Scherz! Wir können uns doch auf dich verlassen?«

»Klar Mann! He, ich stehe doch quasi unter eurem Schutz, da wäre ich doch blöd, wenn ich euch hintergehen würde.«

»Äh, versteh mich bitte nicht falsch, aber wie war das mit dem Schutz?« Der Kleine wollte uns doch hoffentlich nicht erpressen? Nicht, dass wir ihm nicht geholfen hätten, aber falls er sich das so denkt, dann sanken seine Sympathiewerte bei mir drastisch.

»Äh –, ich dachte –, also, weil ihr euch zu mir gesetzt habt –, also, da dachte ich..., ich meine..., ich hatte gehofft...«

Offensichtlich hatten wir da etwas Nachholbedarf, was die hiesigen Gepflogenheiten angingen. So unterbrach ich das Gestammel von Benny: »He, ist schon gut. Sag´ uns einfach, was wir damit signalisiert haben und wie es hier zugeht. Wir werden dir auch weiterhin helfen! Ist das ein Deal?«

Erleichterung auf ganzer Front: »Klar! Also, da ihr mir heute geholfen und euch dann zu mir gesetzt habt, heißt das so viel, dass ihr zu mir steht. Ich meine, dass ich ab jetzt unter eurem Schutz stehe.«

Er sah uns mit seinen traurigen Augen ein wenig schüchtern an und erklärte dann weiter: »Ihr seid neu hier, also würde dies keiner als unumstößlich ansehen. Zumal ich ja eigentlich ein Niemand bin. Es gibt auch Typen, die so was nur als Verarsche machen, die wollen einen in Sicherheit wiegen, um ihn dann bei nächster Gelegenheit fallen zu lassen.«

»Also das trifft bei uns mit Sicherheit nicht zu! Wir werden dich sicherlich nicht fallen lassen. Nur, wir wohnen nicht im Sektor 20, das heißt, wir können dir nur hier helfen«, versuchte Julian ihm unsere Situation klar zu machen. Aber wer hätte auch ahnen können, dass er ein Telepath ist, wenn auch ein so miserabler.

»Was kannst du uns noch über die hiesigen Gepflogenheiten erzählen?«, fragte Tom.

Benny grinste breit, jetzt fühlte er sich offensichtlich wohler: »Wie ihr unschwer erkennen könnt, gibt es hier die unterschiedlichsten Gruppen. Da sind die Moneys, Sportys, Freaks, Technos und die Brains. Ihr zählt übrigens zu den Freaks, Spitzname MIBs. Die Drachen sind eigentlich Sportys, bilden aber schon eine eigene Gruppe.«

»MIBs?«, ich sah Benny fragend an.

Doch der kicherte: »Men in Black! Ihr kommt mit dem Outfit verdammt cool rüber.«

Ohne auf unser Stöhnen zu achten, fuhr er dann fort: »Die Moneys sind die arroganten Geldsäcke, die mit dem gewöhnlichen „Pöbel“ nichts zu tun haben wollen. Die spendieren den Drachen das Essen und die sorgen dafür, dass man sie in Ruhe lässt.«

Weil Tom ein gut vernehmbares Grunzen verlauten ließ, fühlte Benny sich genötigt zu erklären: »Ist aber keine Schutzgelderpressung, es war die Idee der Moneys. Die sind es gewohnt, alles zu kaufen oder mit Geld zu regeln. Würde mich nicht wundern, wenn sie euch auch bald ein Angebot machen – obwohl, mit Geld kommt man bei euch nicht weit, oder?« Dabei erhaschte ich seinen begehrlichen Blick auf meinen Eisbecher.

Nach den hiesigen Verhältnissen hatten wir uns schon das bessere Essen gegönnt. Schweigend schob ich Benny meinen Eisbecher hinüber, der für ihn anscheinend so etwas wie ein Luxusgut war. Als ich dann aufstand, um mir selbst noch einen zu holen, fiel der Kleine fast vom Stuhl. Hinterher erklärte er dann, dass er für solche Botengänge zuständig wäre, da er doch unter unserem Schutz stand und ..., und ich als Alpha... , völlig unmöglich, ich hatte mich bedienen zu lassen.

Tom bekam fast einen Lachkrampf, während ich mich an meinem neuen Eis verschluckte. War denn die gesamte Menschheit verrückt geworden, oder hatte ich einfach nur ein Problem? Doch mir war das so langsam egal, sollten die doch nach ihre idiotischen Regeln spielen, ich spielte mein Spiel.

»»He! Es ist unser Spiel. Wir spielen unser Spiel««, korrigierte mich Julian heiter. Jetzt fing ich doch wirklich schon an alles auf mich zu beziehen. Doch Julian streichelte mir nur unauffällig über den Oberschenkel, um mich ein wenig zu trösten. Auch ihm ging diese Hackordnung ziemlich auf die Nerven.

Benny stellte unterdessen noch die meisten anderen Gruppierungen vor, die für uns wichtig werden konnten. So sehr es uns auch störte, ein wenig sollten wir das System schon verstehen, gegen das wir uns stellen wollten.

Überraschenderweise schien Boris auch nicht viel Wert auf solche Konventionen zu legen. Jedenfalls räumte er sein Tablett höchst persönlich weg. An anderen Tischen hingegen, schienen sich einige tatsächlich regelrecht bedienen zu lassen. Wobei wir dann auch noch hämische Kommentare dazu mitbekamen. Ganz nach der Devise: „Wir sitzen doch alle in einem Boot, nur dass ihr rudert, während wir angeln.“

Bei diesen Beobachtungen fiel mir dann auch auf, dass Boris immer wieder zu uns sah. Er wirkte inzwischen mehr als nur ein wenig verunsichert. »»Tom, bist du dir sicher, dass er dich erkannt hat««, vergewisserte ich mich zum wiederholten mal.

»»He Mike, wir kannten uns schon über 10 Jahre und er kennt auch Lukas. Natürlich hat er mich sofort erkannt, genauso wie ich ihn. Er versteht wahrscheinlich nur nicht, wie wir wurden, was wir jetzt sind, oder was wir scheinbar sind««, zum ersten Mal schwang da kein Groll mit.

»»Er wird mit dir sprechen wollen! Ich denke nicht, dass er einen Konflikt will, das war nie seine Art!««, äußerte sich Lukas.

»»Ach nein? Ich kann mich daran erinnern, dass er dich verprügeln wollte. Da du eine hinterhältige Ratte wärst und mich umgedreht hättest. Und...««, wieder war der Zorn voll entfacht. Doch Lukas legte nur seine Hand auf Toms Schulter und sofort wurde dieser ruhiger.

»»Er hat es aber nicht gemacht, obwohl er mehr als einmal die Gelegenheit hatte. Damals, als ich dich gepflegt habe, bin ich ihm mehrmals begegnet. Er hat mir nie etwas getan. Allerdings wollte er offensichtlich auch nicht helfen, obwohl er wissen musste, was dein Vater dir angetan hatte. Er war nie der Typ, der seine Aggressionen auslebte, das war nie seine Art««, Lukas klang überzeugt. Doch ich hatte am Morgen einen anderen Eindruck und Benny sicherlich auch.

{:-:}

Der Rest des Tages verging dann ohne weitere Ereignisse und wir verabschiedeten uns gegen 17 Uhr von Benny. Wir mussten zurück zum Campus-Occursus, denn für den Abend stand wieder eine „Tafelrunde“ in Camelot auf dem Programm. Benny fuhr mit seinem Quad Richtung Sektor 20 davon, gefolgt von einigen „Drachen“ in ihren Autos und auf Motorrädern.

»»Er wird ihm nichts tun, wenigstens nicht solange er nicht mit Tom gesprochen hat««, meldete sich Lukas, der meinem nachdenklichen Blick gefolgt war.

»»Das will ich hoffen, Lukas. Ich mag Benny irgendwie.««

Bisher hatten sie Benny nichts getan. Das am Morgen wäre wahrscheinlich auch nicht viel schlimmer geworden, Sie hätten ihn „nur“ nicht in die Schule gelassen. Trotzdem ärgerte es mich. Was bildeten sie sich ein, darüber zu bestimmen, wer in diese Schule durfte und wer nicht?

5. - Shaking The Tree

Camelot, Montag, 10.12.2035

Zum Glück hatten wir nicht jeden Tag so ein volles Programm wie an diesem. Die vier Doppelstunden waren doch relativ heftig gewesen, auch wenn es eigentlich nur vier mal 90 Minuten waren. Aber wir wollten auch noch ab und zu mit den Jungs trainieren, und ein wenig Freizeit wäre auch nicht schlecht. Das heutige „gemeinsame“ Training bestand für Kim und Nico darin, uns nach Camelot und wieder zurück zu bringen.

Viel stand eigentlich nicht auf der Tagesordnung. Eric und Robin hatten Kontakt zu den „Drachen“ aufgenommen, und sie wollten sich am Samstag mit ihnen treffen. Die ursprüngliche Planung sah vor, dass wir auch dabei sein sollten. Doch inzwischen hielt ich dies nicht mehr für eine so gute Idee. Alleine schon, da Tom sehr allergisch auf Boris reagierte.

Andererseits wusste man hier in den Sektoren, dass NeckTech auch die Hoods unterstützt. Es wäre also nicht sonderlich abwegig, wenn mindestens zwei von uns bei diesem Treffen dabei wären. Doch das wollten wir erst am Freitag entscheiden, denn bis dahin konnte in der Schule noch einiges geschehen. Vielleicht gelang es uns doch noch, Tom zu einer Aussprache mit Boris zu bewegen, aber noch blockte er total ab. Und wenn Tom mal auf „stur“ schaltete, dann kam nicht einmal Lukas weiter.

Frank hatte zu einigen Freelancern Kontakt aufgenommen, und auch die standen einem Treffen aufgeschlossen gegenüber. Allerdings wollten diese eigentlich nur die „Iratus Lemurum“ sehen, an den Hoods reizte sie nichts. Auch diese Freelancer sahen in den Hoods nur unser „Fußvolk“ und meinten, wir wären diejenigen, die das Sagen hatten. Als ich dabei das Gesicht von Robin sah, wusste ich, dass wir in dieser Hinsicht bald etwas unternehmen mussten.

Franks kühle und nüchterne Art darüber zu reden, machte die Sache für Robin auch nicht leichter. Aber Robin wusste, dass nicht nur die Freelancer so dachten. Einige der Hoods verhielten sich uns gegenüber schon fast unterwürfig, so als müssten sie tun, was wir von ihnen verlangten. Nach unserer Ansicht hatte dies mit Respekt nichts mehr zu tun. Dass uns diese Entwicklung nicht gefiel und auch nicht gefallen konnte, war zum Glück allen Anwesenden klar.

Wie hatte Dr. Neckler einmal aus „also sprach Zarathustra“ zitiert:

Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname,

und auch nicht Herden und Gläubige.

Die Mitschaffenden sucht der Schaffende,

die, welche neue Werte auf neue Tafeln schreiben.

Wir brauchten wirklich keine „Gläubigen“, wir brauchten „Mitschaffende“, Leute, die uns halfen, Neues aufzubauen.

»Wir müssen das Training der Jungs forcieren, es reicht nicht mehr aus, nur ein paar wenige im Campus-Occursus auszubilden. Wir müssen das Training auch hier mit allen durchziehen«, folgerte Julian dann auch.

Im Prinzip hatte er Recht. Je schneller wir die Hoods voran brachten, desto eher würden sie auch von den anderen Mutanten ernst genommen werden. Doch da hatten wir ein Problem. Ein Problem, welches als stiller Zuhörer bei uns am Tisch saß und Thimo hieß. Und Thimo analysierte und sprach dann auch aus, was den meisten gerade durch den Kopf ging.

»Selbst wenn ich die Trainingsräume meiden würde, ich denke, ich würde trotzdem genug mitbekommen, um meine Schlüsse zu ziehen. Es gibt für euch nicht all zu viele Möglichkeiten. Entweder ich gehe, dies würde aber den Großen Rat wirklich sehr misstrauisch machen, was ihr sicherlich nachvollziehen könnt, oder ihr bringt die Jungs zum Campus-Occursus, dies würde aber eine Schwächung von „Camelot“ bedeuten.«

Frank sah ihn ernst an: »Oder ich versuche dir zu vertrauen und wir machen das Training hier.«

Das war jetzt wirklich mal was Neues. Normalerweise war Frank störrischer als ein Maultier, wenn es galt, einen gefassten Entschluss zu verteidigen. Entsprechend war diese Option von Thimo erst gar nicht in Erwägung gezogen worden.

Ich sah Thimo nachdenklich an: »Würdest du es bis auf weiteres für dich behalten, wenn wir dich darum bitten?«

»Ich habe auch niemandem etwas von Kims telepathischen Anwandlungen erzählt. Und sag jetzt bitte nicht, die wären durch das Training erst zutage gefördert worden. Es gibt keinen Teleporter, bei dem die Telepathie erst nach seiner Teleporter-Fähigkeit in Erscheinung getreten ist. Wenn einer mehrere Fähigkeiten beherrscht, dann tritt immer zuerst die Fähigkeit zutage, die weniger Energie benötigt. Dies ist aber in diesem Fall die Telepathie! Nicht wahr, Sammy?«

Als Sammys Gesicht eine ungesunde rote Farbe annahm, war klar, dass Thimo ihn mehr oder weniger hereingelegt hatte. Schnell stellte sich heraus, dass Sammy am Morgen von Thimo in ein völlig „harmloses“ Gespräch verwickelt wurde. Da Thimo noch einige PSI-Fähigkeiten kannte, von denen Sammy noch nie gehört hatte, war es für ihn auch sehr interessant geworden, bis Sammy irgendwann realisierte, dass er nur noch erzählte und Thimo nur noch zuhörte.

Was Thimo von Sammy alles erfahren hatte, wollte ich mir erst gar nicht vorstellen. Thimo war ein guter Telepath. Doch als solcher brauchte er die Telepathie nicht unbedingt anwenden, um die gewünschten Informationen zu erhalten. Bei Sammy wäre dies dank Blockadechip auch gar nicht möglich gewesen. Doch besser als mancher Psychologe verstand sich Thimo darauf, Leute in einem scheinbar harmlosen Gespräch auszuhorchen. Und wenn Sammy einmal in Fahrt war, dann war er sowieso kaum noch zu bremsen.

Die Frage, die uns bewegte, war nur „Warum?“, also stellte ich sie auch: »Warum hast du es für dich behalten, bisher hatten wir dich ja nicht darum gebeten?«

Jetzt war es an ihm, uns nachdenklich anzusehen: »Ich bin hier, weil ich vermitteln will. Ich will nicht, dass es zu einer Auseinandersetzung zwischen euch und denen kommt, die der Große Rat vielleicht noch mobilisieren kann. Bis jetzt habe ich den Eindruck, dass ihr so eine Auseinandersetzung ebenfalls vermeiden wollt. Warum sollte ich also den Ideologen auch noch die Grundlage liefern, Stimmung gegen euch zu machen?

Die Große Konvention war für mich immer nur die zweitbeste Lösung. Wenn ihr es ernst meint mit der Neugründung der Bruderschaft, dann wäre dies für mich die bessere Alternative.«

Frank hob die Arme zum Zeichen der Kapitulation und auch Eric signalisierte Zustimmung.

Doch nun war es Julian, der seine Bedenken äußerte: »Und was willst du tun, wenn sie dich konkret fragen. Wie zum Beispiel nach unserer Herkunft oder nach unseren Fähigkeiten? Ich meine, wir wollen dich nicht in Schwierigkeiten bringen oder in einen Gewissenskonflikt stürzen.«

»Mach dir da keine Sorgen, der Große Rat kennt meine Meinung! Die waren davon überzeugt, dass ihr mich sonst überhaupt nicht in eurer Nähe geduldet hättet. Dies schwächt natürlich die Aussagen etwas ab, die ich ihnen gegenüber gemacht habe. Aber sie kennen mich auch lange genug, dass ich mit euch brechen würde, falls ihr eine Entwicklung zeigen würdet, die in Richtung „King Roy“ oder gar Janus gehen würde.«

Alarmiert fuhr Tom auf: »Wer zum Teufel ist Janus? Noch so ein Möchtegern-Herrscher?«

Thimo lachte schallend los. Er verstummte aber sogleich, als er Franks betroffenes Gesicht sah: »Du hast ihnen von Janus noch nichts erzählt?«

Als Frank nur stumm den Kopf schüttelte und auch Robin einen ziemlich geknickten Eindruck machte, ahnten wir, dass da ein weiterer, sehr „spezieller“ Mutant auf unsere Bekanntschaft wartete.

Thimo sah mir ins Gesicht: »Wenn du nach dem Teufel suchst, könnte es sein, dass du Janus findest. Er ist nach allem was wir wissen ein Psychopath ersten Ranges. Er erfüllt so ziemlich alle Merkmale - er gilt als paranoid, schizoid, emotional instabil und ist durch und durch antisozial.

Zu eurem Trost, er lebt im Untergrund bei denen, die man Morlocks nennt. Die letzte große Aktion der Freien Mutanten war ein Einsatz gegen ihn und seine „Armee der Finsternis“, einer Horde von Mutanten, die zum größten Teil aus Morlocks bestand.«

»Wann war das und wie schlimm war es?«, Erics Stimme klang mit einem mal sehr rau.

»Es war Mitte Juni und es war schlimm, sehr schlimm sogar. Wir hatten viele Verletzte und auch einige Tote. Doch von seiner Horde blieben nicht mehr viele übrig. Seit ein paar Monaten versucht er anscheinend, positive Mutanten zu rekrutieren, doch er ist sehr vorsichtig geworden. Er traut sich nicht heraus und keiner geht da freiwillig hinunter.«

»Und warum habt ihr bei ihm keine endgültige Lösung herbeigeführt?«, wollte Lukas wissen. Ihn hatte es besonders gestört, dass die Freien Mutanten uns bei „King Roy“ zu einer „endgültige Lösung“ geraten hatten. Letztlich war „King Roy“ zwar doch gestorben, jedoch nur weil er wirklich völlig wahnsinnig geworden war.

»Wir haben es probiert, es gelang uns jedoch nicht, ihn zu fassen. Er konnte sich immer wieder unserem Zugriff entziehen. Dabei stießen wir dann auf immer mehr Probleme, auch mit Unbeteiligten«, Thimo klang bedrückt und ein wenig gequält, es musste wirklich übel gewesen sein. Doch dann fasste er sich wieder: »Im Moment stellt Janus aber keine Gefahr dar und es ist für euch auf jeden Fall wichtig die Hoods zu stabilisieren.«

Ich sah zu Robin und auch er nickte zustimmend: »Dann müssen wir uns einen Trainingsraum suchen, der entsprechende Möglichkeiten bietet. Sammy soll hier mit dem Basis-Training beginnen. Im Campus-Occursus werden wir danach das Training intensivieren und ausbauen.«

»Ähm!«, meldete sich Thimo erneut zu Wort, »Was habt ihr mit Kim denn nun gemacht? Oder bleibt dies weiterhin ein Geheimnis wie euer Auftauchen?« Thimo schien es amüsant zu finden, wie wir versuchten, uns um eine Antwort zu drücken.

»»Erfahren wird er es früher oder später sowieso. Also warum nicht gleich?««, vernahm ich Julians telepathische Stimme. So wie mich Tom, Lukas, Frank und Robin ansahen, hatten sie ihn auch vernommen. Alle anderen bemühten sich noch immer möglichst unbeteiligt zu wirken und den gespannt wartenden Thimo nicht anzusehen.

»Ich habe mir einiges zusammen gereimt, falls das für euch eine Hilfe ist«, sagte Thimo in die bedrückende Stille und hatte sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

»Inzwischen weiß ich, dass Tom und Lukas schon immer im Sektor 20 lebten. Sie kannten Boris Drakon und sie waren sogar mit ihm befreundet. Nach allem, was ich erfahren habe, nicht nur hier bei euch, galten sie bis vor einem Jahr noch als Normalos! Über Mike und Julian konnte ich im „Sektor“ nichts erfahren. Jedoch so, wie ihr euch manchmal benehmt, könnt ihr hier nicht lange gelebt haben.« Betretenes Schweigen, welches von Thimo wohl als Bestätigung seiner bisherigen Analyse gewertet wurde.

»Der „Überfall“ von Pascal und euch auf die Einrichtung der Darwinianer war kein Einbruch. Es war doch vielmehr ein Ausbruch! Oder nicht? Ihr seid aus dieser Forschungseinrichtung geflohen und Frank hat irgendwie dabei geholfen.«

Ich nickte anerkennend, er hatte das Wesentliche zusammengepuzzelt. Es machte keinen Sinn ihn noch weiter grübeln zu lassen. So begann ich ihm die Kurzform dessen, was mit uns passiert war, zu erzählen. Obwohl er es sich schon größtenteils zusammengereimt hatte, war er dennoch betroffen. Wie weit die Darwinianer gegangen waren, konnte er fast nicht glauben. Dabei hatte ich Julians Herkunft noch völlig ausgelassen, denn nur er durfte darüber informieren. Das hatten wir uns geschworen und daran hielten wir uns.

Doch Julian war anscheinend der Meinung, dass Thimo dies nun auch noch gleich erfahren sollte. Er selbst übernahm es, Thimo auch diesen Teil unserer Vergangenheit zu berichten. War Thimo bei meinem Bericht betroffen, so war er nun wirklich geschockt. Damit hatte auch er offensichtlich nicht gerechnet.

»Jetzt verstehe ich, warum ihr darüber nicht reden wolltet. Frank hatte absolut Recht! Für Mareck wäre dies genau das fehlende Glied. Er ist der Chefideologe im Großen Rat und versucht schon seit einiger Zeit Stimmung gegen euch zu machen. Dennoch denke ich, dass es einer Mehrheit unter uns, also den Freien Mutanten, egal wäre, wie ihr zu euren Fähigkeiten gelangt seid. Ihr habt doch längst bemerkt, den meisten Mutanten kommt es auf die Stärke an. Ihr seid Mutanten 1. Klasse – wen interessiert es da, wie ihr es geworden seid.«

»Machst du es dir da nicht etwas zu einfach?«, warf Frank nun ein und ergänzte, »Viele dürften doch auch noch Probleme damit haben, dass sie auch Heilen können und jetzt sogar Fähigkeiten replizieren!«

Doch Thimo schüttelte den Kopf: »Es wurde schon seid dem 27. Oktober vermutet, dass sie auch „Heilen“ könnten. Damals, als Nico verletzt wurde und dann plötzlich wieder gesund war, von Robins Heilung gar nicht zu sprechen, tauchten erste Vermutungen in dieser Richtung auf. Nein, der Große Rat weiß durch meinen Bericht, dass euer Reiki etwas anderes als „das Heilen“ der Heiler ist. Ein Heiler muss sich nicht so sehr anstrengen wie ihr es müsst. Bei ihm fließt die Energie durch ihn hindurch, während bei euch die Energie aus euch selbst kommt. Ein Heiler hätte Robin wesentlich schneller helfen können. Und das mit dem Replizieren, darauf haben einige im Großen Rat doch nur gewartet, seit ihr euch den Hoods angenommen habt. Es war doch ...«

Thimo wurde durch unser aufgeregtes Gemurmel unterbrochen. Etwas irritiert sah er uns an. »Hat euch Pascal davon nichts gesagt?«

Totenstille herrschte im Raum. Alle sahen sich gegenseitig an, um sich zu versichern, dass sie nichts wussten.

Thimo räusperte sich und erklärte dann. »Eigentlich wirklich wissen können es nur die Mitglieder der „Bruderschaft“. Aber einige im Großen Rat erinnerten sich daran, dass es eine Zeremonie gegeben haben soll. Jeder in der „Bruderschaft“ war Telepath. Wenn ein zukünftiges Mitglied kein Telepath war, dann wurde er angeblich dazu gemacht.

Dies soll eine Art von Zeremonie gewesen sein. Dazu muss Pascal doch etwas gesagt haben! Das Ganze hängt mit dem „Ghost-Tower“ und dem „Verbotenen Raum“ zusammen.«

Jetzt sahen alle auf Tom, Lukas, Julian und mich. Nur wir trugen das „Telin“, den schwarzen Anhänger, der als das Zeichen der Bruderschaft galt. Und nur wir konnten den „Verbotenen Raum“ betreten. In diesem war eigentlich nur ein schwarzer Obelisk. Dieser bestand aus demselben unbekannten Material wie das „Telin“. Pascal hatte sich immer darüber ausgeschwiegen, was es damit auf sich hatte und wir waren zu beschäftigt gewesen, um uns selbst darum zu kümmern.

»Pascal hat nie etwas davon erwähnt!«, versicherte ich unseren Zuhören schnell und nachdrücklich.

»Wie gesagt, es war eigentlich mehr eine Legende - doch ihr alle seid Telepathen und dann die anderen Fähigkeiten... Es schien einfach alles zu passen«, erläuterte Thimo jetzt etwas ernüchtert.

»Hast du etwas davon gehört, dass sie auch andere Fähigkeiten replizieren konnten?«,hakte nun Eric nach.

»Andere Fähigkeiten? Wie? Du meinst, ihr könnt mehr – mehr als Telepathie... ihr könnt noch andere Fähigkeiten als Telepathie replizieren?«, wieder einmal hatten wir Thimo „etwas“ aus dem Konzept gebracht.

Doch ich beeilte mich da ein wenig vorzubeugen: »Wie du erraten hast, haben wir Kim zum Telepathen gemacht, dass schien uns einfach sehr hilfreich. Dass Frank und Robin das Reiki eingeschränkt beherrschen, ist dir ja auch bekannt. Nun, Tom und Lukas beherrschen es inzwischen auch, allerdings im vollen Umfang.« Bis hierher war alles noch einfach und wirklich nichts aufregendes. Doch als Tom und Lukas mir ihre Zustimmung signalisierten, fuhr ich fort.

»In einer sehr speziellen, eigentlich schon eigenwilligen „Zeremonie“ haben wir die Larualisation an uns weitergegeben. Ursprünglich konnte nur Lukas „Geistern“«, etwas unsicher sah ich zu Thimo. Alle anderen hatten dies schon gewusst, doch für ihn war dies nun wirklich etwas Neues. Entsprechend schockiert sah er deswegen in Lukas grinsendes Gesicht. Dieser beschäftigte sich mal wieder mit der „Zeremonie“, mit der ich die Larualisation von ihm „bekommen“ hatte.

Als wir sicher waren, dass Thimo es einigermaßen aufgenommen hatte, erläuterte Julian weiter: »Wir wissen nicht, ob es auch bei jedem anderen Mutanten funktioniert! Bis jetzt ist es uns nur noch bei Eric gelungen, doch Eric ist in dieser Hinsicht sowieso eine Ausnahmeerscheinung.«

Nach dieser Erklärung herrschte für einige Zeit Schweigen. Jeder hing seinen Gedanken hinterher und beobachtete, möglichst unauffällig, die Reaktionen von Thimo. Uns war natürlich klar, dass dies nun wirklich sehr weit ging. Doch wir hatten uns entschieden, ihm zu vertrauen.

Er brauchte dann auch mehr als nur einen Augenblick, bis er sich zu einer Antwort durchrang: »Ich würde euch dringend raten, euch mit weiteren Experimenten zurückzuhalten, wenigstens, bis ihr euch mit Pascal besprochen habt. Niemand sollte erfahren, dass ihr selbst replizieren könnt, wenn überhaupt, dann muss es so aussehen, als wäre es ein „Ritual“ der Bruderschaft. Da Pascal das einzige noch „greifbare“ Mitglied der Bruderschaft ist, weiß niemand außer ihm, was wirklich möglich war und was nicht«, Thimos Stimme klang beunruhigt und ein wenig brüchig. Er erschien mir nun auch sehr nachdenklich. Dennoch war ich der Meinung, dass es richtig gewesen war, ihn in unser Geheimnis einzuweihen.

Dann plötzlich gab Thimo sich einen Ruck und sah uns der Reihe nach an: »Ich würde euch auch noch eine weitere Empfehlung geben. Ihr solltet Louis, Dirk und Marc offiziell in die Tafelrunde aufnehmen. Robin, verstehe das bitte nicht falsch, aber so wie es jetzt aussieht, solltet ihr euch ihrer versichern. Sie sind starke und vor allem „natürliche“ Mutanten. Es wäre auch ein Zeichen für die Freelancer, denn dass sie keine Hoods sind, kann niemand verborgen bleiben«, jetzt grinste er sogar wieder etwas spöttisch.

Nein, verborgen bleiben konnte es niemand. Besonders Louis verpasste keine Gelegenheit, dies zu unterstreichen. Er meinte es wirklich nicht böse, jedoch war es für die Hoods nicht sonderlich angenehm. Dies waren dann auch meine Bedenken, es würde die Hoods nur noch mehr verletzen. Doch Thimo überzeugte uns nach und nach von der „Notwendigkeit“, ihnen eine Mitgliedschaft bei den „Iratus Lemurum“ anzubieten. Es würde uns, die „Iratus Lemurum“ stärken und für die drei bestünde dann keine Notwendigkeit mehr, sich so stark von den Hoods zu distanzieren.

Dies alles natürlich mit dem Endziel, eine Neugründung der Bruderschaft voranzutreiben. Thimo war der Meinung, wir müssten jetzt Stärke beweisen. Da keiner der drei Telepath war, sollten wir sie in einer „Zeremonie“ zu Telepathen machen. Dies würde die Ideologen im Großen Rat schwächen, da dies etwas sei, das eben nur die „Bruderschaft“ könne. Genau diesen Anspruch von uns, versuchten die Ideologen und ihre Freunde jedoch, mit allen Mitteln zu widerlegen.

Nach weiteren Diskussionen wo, und wie, das Basistraining erfolgen sollte, kehrten wir reichlich müde wieder zurück. Für den nächsten Tag planten wir die Übungsräume in Augenschein zu nehmen, die sich unterhalb der „Burg“ befanden. Laut Robin waren sie bei weitem nicht so groß, wie die Räumlichkeiten die uns hier auf dem Campus zur Verfügung standen. Doch für die Qi Gong-Ausbildung reichten sie auf jeden Fall. Sammy würde sich gleich am Morgen darum kümmern, die Fähigkeiten der Jungs genau zu erfassen und einen individuellen Trainingsplan erstellen.

Wir würden nun auch jeden Abend nach Camelot kommen müssen. Wenigstens so lange, bis wir passende Trainingspartner zusammenstellt hatten, die sich dann gegenseitig helfen konnten. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dies alles würde uns über den Kopf wachsen. Und wieder einmal war es Julian, der mich in den Arm nahm und der mich zur Ruhe kommen ließ.

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